Die Tote im See - Monika Martin - E-Book

Die Tote im See E-Book

Monika Martin

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Beschreibung

Im Thermalsee des ungarischen Kurortes Héviz treibt die Leiche einer deutschen Frau. Der Kurarzt bescheinigt eine natürliche Todesursache. Erst als Helene Öchsner, eine rüstige Rentnerin aus Unterfranken auf einer Ungarnreise auf eine weitere Leiche stößt, schaltet sich Kommissar Attila Benkö ein und kommt gemeinsam mit Helene Öchsner einer Familientragödie auf die Spur, die weit in die Vergangenheit reicht.

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Seitenzahl: 283

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Das Buch:

Im Thermalsee des ungarischen Kurortes Héviz treibt die Leiche einer deutschen Frau. Der Kurarzt bescheinigt eine natürliche Todesursache.

Erst als Helene Öchsner, eine rüstige Rentnerin aus Unterfranken auf einer Ungarnreise auf eine weitere Leiche stößt, schaltet sich Kommissar Attila Benkö ein und kommt gemeinsam mit Helene Öchsner einer Familientragödie auf die Spur, die weit in die Vergangenheit reicht.

Die Autorin:

Monika Martin, Jahrgang 1969, ist Sozialpädagogin und führt seit 1996 für das Institut für Regionalgeschichte, Geschichte für Alle e. V. historische Stadtrundgänge in Nürnberg durch.

„Die Tote im See“ ist ihr erster Kriminalroman.

Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.

Außerdem von Monika Martin bei Books on Demand erschienen:

„Hitzewelle“, August 2010

„Schattenschlag“, Februar 2012

„Apfelrausch“, August 2013

„Hochgericht“, Dezember 2014

Für meine Mutter

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Prolog

Der alte Arzt legte die Unterlagen beiseite, nahm seine Lesebrille ab und sah Herrn Sándor Páhok ernst an.

„Sie ahnen schon, was ich Ihnen jetzt sagen muss, oder?“, fragte er sein Gegenüber.

„Ich will es von Ihnen hören, Herr Doktor. Wir kennen uns jetzt seit Jahrzehnten, Sie kennen jeden Winkel meines Körpers, sind mit all meinen Blutwerten und EKGs vertraut. Sie haben mir Wunden verbunden und ausgerenkte Knochen wieder eingerenkt, hunderte von Erkältungen kuriert und hatten immer ein offenes Ohr für meine Sorgen und Nöte.“

„Gut, wenn Sie meinen“, stimmte der Arzt zu und holte tief Luft. „Wir haben oft über Ihren Lebenswandel gesprochen, über das starke Rauchen und den Alkohol.

Über die fehlende Bewegung, die falsche Ernährung und alles, was dazu gehört. Jahrelang versuchte ich, Ihnen die Risiken deutlich zu machen, die Sie damit eingehen, dass Sie ihren Körper ausbeuten. Jetzt müssen Sie leider den Preis dafür zahlen, einen sehr, sehr hohen Preis, wie ich meine. Sie haben Lungenkrebs im Endstadium.“

Sándor Páhok schluckte. Er hatte es geahnt, aber es dann so deutlich zu hören ließ ihm den Atem stocken. Eine heiße Welle der Panik ergriff ihn. Er ließ sich ermattet in die Lehne seines Sessels sinken und bekam feuchte Augen.

Der Arzt beobachtete ihn einfühlsam und reichte ihm ein Glas Wasser.

„Bitte etwas Ordentliches“, bat Sándor Páhok.

Der Doktor öffnete seufzend die rechte Tür seines alten Schreibtisches. Er nahm eine Flasche mit einer goldenen Flüssigkeit und zwei einfache Gläser heraus und goss in jedes Glas einen ansehnlichen Schluck. Sie prosteten sich zu und sahen sich lange an.

„Wie lange noch?“

„Lange genug, um das alte Leben in Ordnung zu bringen, aber zu kurz um ein Neues zu beginnen.“

„Wie lange noch?“, wiederholte Sándor Páhok und wirkte gefasst.

„Zwei Monate, vielleicht drei“, antwortete der Arzt und kippte den Rest des Glases hinunter.

„Das reicht!“ Sándor Páhok stellte das leere Glas ab.

„Danke für den Drink!“

1

Es wurde ruhiger und der große Ansturm auf den Thermalsee legte sich langsam. An so schönen Tagen wie diesem trieben die Menschen Schulter an Schulter in ihren dicken schwarzen Schwimmreifen im lauen Heilwasser.

Die wenigen Seerosen, die sich gegen die menschliche Übermacht behaupten konnten, tauchten erst gegen Abend wieder auf und breiteten sich dann genüsslich an der Wasseroberfläche aus.

Klara Bauerschmidt vermied es stets, im größten Gedränge zu baden, da sie nicht schwimmen konnte und somit großen Respekt vor dem Wasser hatte. An sauberes, gechlortes Schwimmbadwasser, in dem man bis auf den Grund sehen konnte, hatte sie sich einigermaßen gewöhnt, aber diese – Heilwasser hin, Heilwasser her – dreckige Brühe in dem Thermalsee war da schon etwas anderes. Nach jedem Bad musste sie ihren Badeanzug waschen. Selbst eine Waschmaschine hatte Mühe, die braunen, schlammigen Flecken zu entfernen, die jedes Bad in diesem so gesunden Wasser hinterließen.

„Was tut man nicht alles für die Gesundheit?“ dachte Klara. Seit einigen Jahren litt sie an Rheuma und Gelenkschmerzen, hatte sich aber bisher nie die Zeit für einen längst überfälligen Kuraufenthalt genommen. Die aufregenden Ereignisse der letzten Tage und Wochen, die ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellen könnten und, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, auch sollten, hatten sie nach all den Jahren wieder einmal nach Héviz geführt.

Sie nutzte die Gelegenheit, neben ihren aufwühlenden Besuchen und Gesprächen auch das Heilwasser in Anspruch zu nehmen. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber sie hatte das Gefühl, dass sich ihre Beschwerden schon deutlich gebessert hatten.

So machte sie sich auch an diesem Tag wieder auf den Weg zu ihrer Umkleidekabine. Durch die kürzliche Modernisierung der gesamten Anlage hatte die Einrichtung zwar etwas von ihrem ursprünglichen Charme verloren, an Hygiene allerdings deutlich dazu gewonnen, was Klara sehr entgegenkam.

Sie schritt über die hölzernen Stege, die sich über den gesamten See zogen und die verschiedenen Kabinentrakte mit einzelnen Tauchbecken und Ein- und Ausgängen verbanden. Sie nickte der Bademeisterin zu, die sie zwar jeden Tag sah, deren Namen sie aber nicht kannte.

Wie alle Bademeisterinnen hier in Héviz brachte auch diese viel zu viele Kilo auf die Waage und war, wie alle anderen auch, in eine viel zu enge weiße Kittelschürze gepresst. Die ebenfalls weißen Clogs mit den kleinen Löchern, aus denen die Füße zu quellen schienen, konnten einem nur leid tun. Freundlichkeit, Service und Zuvorkommenheit kannten die Angestellten hier leider nicht und Klara war froh um jedes Anliegen, das sie nicht an das Personal richten musste.

Klara hatte sich zu Beginn ihres Kuraufenthaltes eine Kabine gemietet - die mit der Nummer 16, denn sie hatte am 16. Februar Geburtstag, der sich in diesem Jahr schon zum 50. Mal jährte. In der Kabine bewahrte sie ihren dicken schwarzen Schwimmreifen auf, den sie für ihr Bad benötigte. Da man sich in dem Wasser möglichst wenig bewegen sollte, wurden Schwimmhilfen verschiedenster Größe und Farbe angeboten. Kurgäste mit schwarzen Reifen unter dem Arm waren somit ein gewohntes Bild in den Straßen des kleinen ungarischen Ortes Héviz.

Als Klara ihre Kabinentür öffnen wollte, merkte sie, dass diese nur angelehnt war.

„Komisch“, murmelte sie vor sich hin, „ich sperre doch die Türe immer sorgfältig ab, wenn ich gehe.“ Vielleicht belasteten sie die Vorkommnisse der vergangenen Tage doch mehr, als sie wahrhaben wollte und hatte deshalb vergessen die Türe abzusperren.

Sie betrat die Kabine, schloss hinter sich zu und begann sich umzuziehen. Im Gegensatz zum Leibesumfang der Bademeisterinnen trug Klara Kleidergröße 36, worum sie nicht nur ihre Altersgenossinnen oft beneideten. Der Grund für ihre schlanke Figur war allerdings alles andere als beneidenswert: Sie hatte immer häufiger depressive Schübe und damit selten Appetit. Sie aß zu unregelmäßig, ungesund, einseitig und einfach zu wenig. Sie neigte deshalb zu niedrigem Blutdruck und musste jederzeit mit einem Zustand der Unterzuckerung rechnen. Es wurde ihr dann von der einen auf die andere Sekunde schwindelig und schwarz vor Augen. Erst wenn sie schnell etwas aß, im Idealfall Traubenzucker, einen Keks, einen Schokoriegel oder etwas ähnliches, ließ der Schwindel nach und Klara war wieder bei sich.

Sie hatte es sich angewöhnt, immer einige solcher Süßigkeiten bei sich zu haben und auch vor dem Bad im Thermalsee vorsichtshalber etwas zu naschen, um einer möglichen Unterzuckerung vorzubeugen. Wie bei jedem Aufenthalt in Ungarn hatte sie sich auch diesmal mit ausreichend ungarischen Mandelkeksen eingedeckt und gleich drei Packungen davon in ihrer Kabine deponiert.

Sie nahm sich drei Kekse aus der Schachtel, steckte sie sich genüsslich in den Mund und schlüpfte in ihren Badeanzug. Sie packte ihren Schwimmreifen und ihre Badeschuhe, sperrte die Kabine wieder ab und band sich den Schlüssel um das dünne Handgelenk.

Auf ihrem Weg zum Wasser begegneten ihr nur noch ganz wenig Leute und die waren unterwegs zu ihren Kabinen. Klara erreichte die Treppe, die sie in das brackige Wasser führte. Sie zog ihre Schuhe aus, legte den Reifen auf den Boden, stieg hinein, hob ihn hoch und stieg langsam die Stufen hinab. Im Wasser schwammen zwar keine Menschen mehr, dafür umspülten große Klumpen Moos, Schlamm und Pflanzenreste ihre Beine. Auch heute kostete es sie Überwindung, aber sie biss die Zähne zusammen und ließ sich ins heilende Nass gleiten.

Es war schon immer ein seltsames Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und mit den Beinen ins Nichts zu strampeln. Sie gewöhnte sich aber schnell wieder an die Schwerelosigkeit, lehnte den Kopf an die warme Gummiwand des Reifens und ließ sich treiben.

Von hier unten wirkte der See noch größer und die hölzernen Aufbauten noch mächtiger.

Klara schloss die Augen, spürte, wie das warme Wasser ihren Körper umspülte und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Sie dachte an ihre Freundin Helene, die schon öfter mit ihrem Mann eine Woche Kurlaub hier verbracht und ihr immer begeistert davon erzählt hatte. Sie hatte ihr schon oft dazu geraten, auch mal an sich selbst und die eigene Gesundheit zu denken, nicht nur an den Job, in dem es einem sowieso niemand dankt, wenn man sich selbstlos aufopfert.

Klara arbeitete als Chefsekretärin in einer großen Firma im unterfränkischen Schweinfurt und verwirklichte sich völlig in ihrer Arbeit. Es gab für sie auch nichts anderes als ihre Arbeit. Sie dachte früher oft daran, wie es wäre, auch eine glückliche Familie zu haben, wie Helene. Doch noch zu heiraten? Kinder zu haben?

Doch nichts davon wurde wahr. Sie heiratete nicht, hatte keine Familie und arbeitete immer mehr und noch mehr. Sie merkte langsam, dass sie in die Jahre kam, dass jüngere, belastbarere Frauen auf ihren Arbeitsplatz drängten und sie sich noch mehr anstrengen musste, um sich zu behaupten. Durch diese extreme Belastung kam es immer häufiger zu Depressionen, das Rheuma verstärkte sich, und im Lauf der Jahre kam noch ein anderes Problem hinzu, das sich leider nicht mit Heilwasser behandeln ließ: der Alkohol. Es war manchmal so einfach, so schnell und wirksam.

Klara schüttelte sich, um die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf zu bekommen und setzte ihren einsamen Weg durch den See fort. Bald trieb sie in der Mitte des Sees, als sie auf einem Steg eine Bademeisterin stehen und winken sah. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie wohl schon länger in Gedanken versunken war als üblich und das Bad bereits geschlossen war. Entgegen aller medizinischer Hinweise begann sie nun kräftiger zu paddeln und die Arme hinzuzunehmen. Die Bademeisterin auf dem Steg war noch da und rief ihr etwas zu, was sie aber nicht verstand. Klara schwamm noch schneller und spürte ganz langsam Panik in sich aufsteigen. Wenn das Bad nun geschlossen wird und sie nicht mehr über die Treppe den Kabinentrakt erreichte, wenn sie die Nacht im Wasser verbringen musste, oder auf irgendeiner Liege auf der Wiese, doch wie käme sie dorthin?

Plötzlich spürte sie, wie ihre Arme allmählich müde wurden und sie nicht mehr damit rudern konnte. Die Beine versagten ihren Dienst und das Atmen fiel ihr zunehmend schwer. Der Steg verschwamm vor ihren Augen. Klara röchelte, schnappte nach Luft, wollte um Hilfe rufen oder winken, aber ihr Körper reagierte nicht mehr. Die weiße Gestalt auf dem Steg wirkte plötzlich so klein und dünn und fremd und war dann ganz verschwunden.

Klara trieb leblos in ihrem Schwimmreifen auf dem Wasser.

2

Alles war fertig, bereit für den großen Sturm, den Taifun, wie es ihr ältester Sohn Christian oft bezeichnete, wenn er mit seiner Frau zu Besuch kam und die drei Söhne durch das Haus fegten.

Helene Öchsner hatte alle drei Kinder, Schwiegerkinder und fünf Enkelkinder zum Mittagessen geladen, um den gemeinsamen Urlaub nachzufeiern. Vor drei Monaten hatten sie anlässlich Helenes 60. Geburtstages 14 Tage Urlaub in einer modernen Ferienanlage in einem Ort namens Rezi, in der Nähe des berühmten Kurortes Héviz am Plattensee in Ungarn verbracht. Sie wohnten in zwei wunderschönen Ferienhäusern, gingen schwimmen, machten Ausflüge und genossen die Zeit miteinander.

Helene hatte eine besondere Beziehung zu Ungarn, da sie dort geboren wurde und nach dem Krieg mit ihrer gesamten Verwandtschaft vertrieben und in Unterfranken angesiedelt wurde.

Seither hatte Helene mit ihrem Mann Hartmut und den drei Kindern des Öfteren ihren Urlaub in Ungarn verbracht, um die einzige dort verbliebene Verwandte zu besuchen: Helenes Tante Terese, die in einem Kloster lebte und deshalb das Land nicht verlassen musste. Auch nach dem Tod der Tante haben Helene und Hartmut regelmäßig Reisen nach Ungarn unternommen, meist Kuraufenthalte in einem der vielen Thermalbäder. Bei diesen Gelegenheiten besuchten sie auch oft noch das Kloster und einige der Schwestern, die Helenes Tante Terese gekannt hatten. Eine der Schwestern, Schwester Johanna, mit der Helene seit vielen Jahren regelmäßigen Briefkontakt pflegte, kam sogar vergangenen Mai in die Ferienanlage nach Rezi und lernte Helenes ganze Familie kennen.

Heute an diesem Sonntag im August sollten nun die Fotos angeschaut und in Erinnerungen geschwelgt werden. Seit dem frühen Morgen war Helene schon auf den Beinen.

Sie hat Klöße geformt, Rouladen gerollt, Blaukraut gekocht und auch an die extra Portion Soße gedacht. Das Tiramisu, das es zum Nachtisch geben sollte, hatte Helene bereits gestern vorbereitet. Gemeinsam mit ihrem Mann haben sie die beiden Zusatzplatten in den großen Wohnzimmertisch eingelegt und diesen anschließend mit weißen Tischdecken bedeckt. Wie immer bei solchen Anlässen wählte Helene das gute Service, das man leider mit der Hand spülen musste und das Silberbesteck, das ebenfalls keine Spülmaschine vertrug. Es wurden Stühle herbeigeschafft, Schüsseln, Vorlegebesteck und Gläser bereitgestellt, Getränke aus dem Keller geholt und eine Flasche Wein entkorkt.

Jetzt war alles fertig, alles bereit, bis auf... die Wickelunterlage und die Windeln für das jüngste Enkelkind.

Helene liebte diese Tage – andererseits graute es ihr immer sehr davor. Die viele Arbeit, Vorbereitungen, Aufräumen,... Sie wollte es immer allen recht machen – besonders natürlich den Schwiegerkindern, und hatte ständig den Druck, ob denn auch alles klappt, ob das Essen reicht, ob es allen schmeckt und alle zufrieden sind, was ja bisher auch immer der Fall war.

Noch ein letzter Blick auf die Festtafel und in die Küche – alles war bereit!

Da klingelte es. „Hartmut! Kannst du bitte die Tür öffnen, sie kommen!“, rief Helene aus der Küche, doch Hartmut ging nicht zur Tür, sondern ans Telefon: „Ja... , ist gut...,was? Das gibt`s doch nicht..., kann man nichts machen ..., bis dann, tschüß!“

„Was ist denn los?“, fragte Helene besorgt. „Die Nürnberger stehen im Stau. Bei Geiselwind steht ein brennender Laster und die Autobahn ist gesperrt. Sie fahren jetzt über die Landstraße. Es wird wohl noch eine gute Stunde dauern“, erklärte Hartmut. Mit den Nürnbergern war die Tochter Regina mit ihrem Mann Markus und den beiden Töchtern Jule und Emma gemeint, die in der Nähe von Nürnberg wohnten. Als Regina mit 20 Jahren beschloss, ihr Glück in der Großstadt Nürnberg zu suchen, war das ein harter Schlag für die Eltern – vor allem für Helene! Ihr kleines Mädchen in der großen Stadt...! Mittlerweile war aus dem kleinen Mädchen eine zweifache Mutter geworden, die mit ihrer Familie glücklich im eigenen Haus lebte.

„Diese Autobahn ist doch immer überlastet“, meinte Helene und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass ihre Tochter doch etwas näher an Helmstadt wohnen sollte.

Da klingelte es wieder – diesmal wirklich an der Tür. Hartmut öffnete seinem jüngsten Sohn Stefan und dessen Frau Christina. Stefan war der einzige der drei Geschwister, der in Helmstadt geblieben war und auch nicht vorhatte, wegzuziehen. Die beiden hatten erst vor kurzem geheiratet und keine eigenen Kinder. Dafür waren aber beide bei ihren Neffen und Nichten sehr hoch angesehen.

„Opa!“, schallte es durch das Treppenhaus: die Waldbüttelbrünner waren da! Jannik, mit seinen sieben Jahren der älteste Enkel von Hartmut und Helene, stürmte auf seinen Opa zu und fiel ihm in die Arme. Dicht hinter ihm folgte sein 5-jähriger Bruder Maximilian, der den kleinen Tom an der Hand hielt. Tom, der kurz nach Weihnachten zwei Jahre alt wurde, lief gleich plappernd zu Oma in die Küche, während Anne, die Mutter der drei Jungs, schwer bepackt ins Esszimmer kam. Sie begrüßte ihre Schwiegereltern, verteilte Hausschuhe an die Kinder, packte leere Marmeladengläser und Plastikschüsseln aus, verstaute alle Jacken an der Garderobe und ließ sich erschöpft auf einen Sessel im Wohnzimmer fallen.

„Christian kommt mit seinem neuen Rennrad, das habt ihr euch sicher schon gedacht“, erklärte sie die Abwesenheit ihres Mannes. „Wo sind denn die Nürnberger?“ Hartmut setzte sich zu ihr. „Im Stau! Es kann noch etwas dauern“, sagte er, doch damit war das Gespräch auch schon beendet, denn alle drei Enkelsöhne zogen ihn am Arm aus dem Sessel. „Spielst du mit uns Fußball? Der Stefan spielt auch mit!“ Anne, Hartmut und Helene einigten sich darauf, mit dem Essen noch zu warten, bis auch der Rest der Familie eingetroffen ist. Somit stand einem ausgiebigen Fußballspiel nichts mehr im Wege. Die Männer zogen sich in den Garten zurück, während die Frauen das Haus hüteten.

Anne setzte sich im Esszimmer auf den Ofen – ein seit Jahrzehnten sehr beliebtes Plätzchen – und ließ den Blick über die aktuellen Postkarten schweifen, die Helene immer auf dem Brett über dem Ofen ablegte.

„Oh, eine Karte aus Ungarn! Wer schreibt dir denn aus Héviz?“, fragte sie.

Helene öffnete die Schiebetüre zur Küche und schaltete den Dunstabzug aus.

„Die Karte ist von meiner Freundin Klara, die dieses Jahr zum ersten Mal in Héviz zur Kur ist.“ Anne kannte Klara nur flüchtig und steckte die Karte wieder zurück in den Stapel.

Bei einem Blick aus dem Fenster sah sie einen gelben Blitz vorbei rasen – ihr Mann Christian war auf seinem Rennrad angekommen und Anne sprang vom Ofen, um ihn hereinzulassen.

Fahrradfahren war Christians Leidenschaft und er versuchte, wann immer es möglich war, diese Leidenschaft mit den Verpflichtungen der Familie und des Berufes in Einklang zu bringen. Dies war nur mit Unterstützung seiner Frau möglich, wofür er ihr sehr dankbar war. Mit Christians Eintreffen fuhr auch endlich der schwarze Opel aus Nürnberg auf den Parkplatz, aus dem zwei kleine blonde Mädchen hüpften. Jule, die vor Kurzem 4 Jahre alt wurde, stürmte in den Garten zu ihrem Opa und den Cousins, während ihr die kleine 2- jährige Emma dicht auf den Fersen blieb.

Jetzt waren alle da und nach einer weiteren halben Stunde saßen sie erwartungsvoll um den großen Tisch.

„Helene“, rief Anne in Richtung Küche, „es fehlt noch ein Gedeck und ein Stuhl!“ Doch Hartmut winkte ab.

„Du weißt doch, dass sie bei solchen Anlässen nicht die Ruhe hat, sich zu uns zu setzen. Sie isst wahrscheinlich in der Küche eine Kleinigkeit und kommt dann zum Nachtisch.“

Es war ein fröhliches Essen, alle langten kräftig zu, so wie es sich Helene wünschte. Der Nachtisch schmeckte, wie alles andere auch, köstlich und Christina nahm sich gerne noch eine dritte Portion. Regina, Anne und Christina spülten das gute Geschirr, während Helene bereits das noch kostbarere Kaffeeservice auspackte. Aus gegebenem Anlass deckte sie den Tisch mit original Páhok - Porzellan aus Ungarn, das sie leidenschaftlich gern sammelte und bei geeigneten Gelegenheiten ausgesuchten Gästen präsentierte. Jeden Ungarnaufenthalt versuchte sie, wenn möglich, mit einem Besuch der Páhok Porzellanmanufaktur zu verbinden, um ihre Sammlung um die eine oder andere Kostbarkeit zu erweitern.

Heute war so eine Gelegenheit und Helene platzierte stolz und liebevoll die filigranen Tässchen auf den feinen Untertassen, stellte die Zuckerdose dazu und füllte Milch in das Kännchen.

Nach einem kleinen Spaziergang für die einen, einem kurzen Nickerchen für die anderen und einem weiteren Fußballspiel für die Jüngsten, bat Helene zum Kaffee. Da sie den Kindern ihren Kuchen im Esszimmer servierte, konnten die Erwachsenen in Ruhe im Wohnzimmer sitzen und das eine oder andere ungestörte Gespräch führen.

Anschließend war es Zeit für die Multi - Media - Show, die Christian mit seiner Frau und seinen Söhnen vorbereitet hatte. Die begeisterten Zuschauer sahen über 100 Fotos, die zum Teil mit Musik, zum Teil mit Kommentaren der Jungs unterlegt waren und von einem Video - Beamer über den Computer an die Leinwand projiziert wurden.

Als die Präsentation zu Ende und der Applaus des begeisterten Publikums verklungen war, stand Christian auf und wandte sich an seine Mutter:

„Liebe Mama! Du hast uns mit dieser Reise eine sehr große Freude gemacht und als Dank dafür wollen wir dir noch ein kleines Geschenk überreichen. Wir alle schenken dir - anschließend an deine Frauenbund Rundreise durch Ungarn im Herbst - einen einwöchigen Porzellanmalkurs in der berühmten ungarischen Porzellanmanufaktur Páhok in Alsópáhok.“

Helene war sprachlos und bekam feuchte Augen vor Rührung.

„Aber das größte Geschenk für mich war doch, dass ihr alle mitgefahren seid!“, stammelte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Ihre Kinder blickten sie fröhlich an.

„Das wissen wir ja“, meinte Regina, „aber wir möchten dir trotzdem die Freude machen, die Porzellanmanufaktur näher kennenzulernen.“

„Aber, ich wäre ja dann ganz alleine, oder?“, fragte sie vorsichtig und blickte auf ihren Jüngsten, der seine Frau Christina liebevoll ansah: „Nein, du bist nicht alleine!

Liebe Christina, ich schenke dir zu unserem Hochzeitstag auch einen Gutschein für diesen Kurs mit Hotelunterbringung und Besuch des Heilbades in Héviz.

Ich weiß doch, dass du genauso begeistert von diesem Porzellan bist, wie deine Schwiegermutter. Viel Spaß euch beiden!“

Die Überraschung war geglückt und nach der ersten Aufregung tischte Helene, trotz ausreichend gefüllter Mägen, noch eine Brotzeit auf, nach der sich die Gäste nach und nach verabschiedeten. Alle mussten am nächsten Tag arbeiten oder in die Schule oder den Kindergarten gehen und bis dahin noch ausreichend schlafen. Helene lehnte alle Angebote ihrer Tochter und Schwiegertöchter ab, ihr beim Aufräumen zu helfen.

„Fahrt ihr nur, wir legen jetzt die Beine hoch und räumen morgen auf“, versicherte sie, als sie ihre Lieben verabschiedete. „Lasst das Telefon dreimal klingeln, wenn ihr daheim seid“, legte sie den Nürnbergern ans Herz und winkte noch den Autos, die hupend davonfuhren.

Stille legte sich über das Haus. Es war noch immer warm draußen und ein laues Lüftchen trug das Rauschen der Autobahn über den Ort. Helene stand noch kurz am Gartenzaun und blickte die Straße entlang. Es wäre schon sehr schön, wenn alle ihre Kinder nah bei ihr wohnen würden und sie die Enkel öfter und regelmäßiger sehen könnte. Andererseits hatte es auch Vorteile, wenn man nicht so dicht aufeinander sitzt, wie es bei manchen ihrer Freundinnen der Fall war.

Da kamen die Enkelkinder bereits im Schlafanzug zur Oma und blieben so lange, bis sie abends wieder ins Bett gingen. Nein, Helene war auch froh darüber, dass ihre Kinder ihr eigenes Leben führten und sie selbst alle Freiheiten hatte, das zu tun, was sie wollte.

Es war jedesmal ein komisches Gefühl, nach einem solchen Taifun wieder in das leere, stille Haus zurückzugehen. Nach wenigen Minuten schüttelte Helene ihre melancholischen Gedanken ab und schloss die Tür.

Sie freute sich auf einen ruhigen Fernsehabend und darauf, ihre dicken Beine hochlegen zu können. Nach einem ganzen Tag auf Achse, hatte sie abends Wasser in den Beinen, die diese richtig anschwellen ließen. Hartmut hatte bereits einen Stuhl für sie bereitgestellt, den Fernseher eingeschaltet und die Schachtel mit Weinbrandbohnen geöffnet, die die Kinder mitgebracht hatten. Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Helene in ihren Sessel fallen, legte die müden Beine auf den Stuhl, deckte sie etwas zu und entspannte sich.

Da klingelte es an der Tür.

3

„Martin? Was machst du denn hier? Zu dieser Uhrzeit?“

Hartmut stand an der Tür und blickte ungläubig auf Martin Roland, einen Nachbarn und ehemaligen Arbeitskollegen bei der Polizei.

Hartmut war bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren ebenfalls Polizist gewesen. Gerne erzählte er die Geschichte, wie er als 25-Jähriger direkt vom elterlichen Bauernhof zur Polizeischule gewechselt hatte, welche sportlichen Herausforderungen er dort in der Riege der „Späteinsteiger“ bewältigen musste und wie er mit seinen 1,75 m gerade groß genug war, um aufgenommen zu werden. Hartmut war dann unter anderem im Streifendienst tätig und hatte seine letzten Arbeitsjahre im Innendienst bei der Bearbeitung von Verkehrsdelikten verbracht. Sein Kollege und Nachbar Martin Roland hingegen war über 15 Jahre jünger und hatte mit seinem Abitur gleich den Sprung in den gehobenen Dienst geschafft. Er war seit einigen Jahren Leiter der Mordkommission in Würzburg und dort sehr erfolgreich.

Helene war froh, dass ihr Mann nie solch einen gefährlichen Job zu erledigen hatte, sondern sicher in seinem Präsidium saß und per Mausklick Verkehrssünder abmahnte. Andererseits fand sie die Arbeit eines Kommissars auch ausgesprochen spannend und fieberte jedesmal mit, wenn Elfriede, die Mutter von Kommissar Roland und gemeinsam mit Helene Mitglied im katholischen deutschen Frauenbund, Neuigkeiten aus dem Arbeitsalltag ihres Sohnes erzählte. Elfriede war in dieser Beziehung etwas exzentrisch und überspannt. Man konnte nicht alle Geschichten glauben, die sie während der regelmäßig stattfindenden Frauenbundsitzungen von sich gab – aber interessant war es schon!

„Darf ich reinkommen?“, fragte Martin Roland und Hartmut wusste noch nicht, ob er als sein Nachbar Martin, oder als Kommissar Roland gekommen war. Nach einem Blick in das Gesicht des Freundes vermutete Hartmut jedoch Letzteres. „Wer ist es denn?“, rief Helene aus dem Wohnzimmer und Hartmut führte den Besucher hinein. Auch Helene bemerkte schnell den ernsten Gesichtsausdruck des Polizisten und fragte besorgt:

„Hallo Martin, setz´ dich, ist etwas passiert?“ Sie wollte aufstehen, doch Martin Roland winkte ab und zog einen Stuhl heran.

„Helene, ich bin dienstlich hier und muss dir etwas Unangenehmes sagen“, begann er zögernd.

„Ist etwas mit den Kindern?“ Helene schrie schon fast auf, setzte sich aufrecht hin und starrte Martin mit weit aufgerissenen Augen an.

„Nein, nein, es geht um jemand anderen. Deine Freundin Klara Bauerschmidt wurde tot aufgefunden.“

Helene war fassungslos. „Klara? Klara Bauerschmidt?

Wo? Wann? Wie und warum? Das kann nicht sein, ich habe doch erst gestern eine Postkarte von ihr...“,

„Beruhige dich, eines nach dem anderen“, unterbrach sie Kommissar Roland. „Ein ungarischer Kollege hat mich heute angerufen und berichtet, Klara sei gestern Abend gegen 20 Uhr tot im Thermalsee von Héviz gefunden worden.“

Jetzt meldete sich auch Hartmut zu Wort: „Aber was ist passiert? Haben die Bademeisterinnen nicht aufgepasst?

Ist sie ertrunken?“

Kommissar Roland hatte schon oft Todesnachrichten an Verwandte überbringen müssen und es war jedesmal unangenehm, aber bisher hatte er noch nie Leute informieren müssen, die er privat kannte. Er versuchte mit seiner gewohnt professionellen, einfühlsamen Art vorzugehen, doch auch das half nur wenig. Die entsetzten Gesichter, die Ungläubigkeit, die Hoffnung, dass doch alles, was er gesagt hatte, nicht stimmte, dies alles machte seine Aufgabe nicht leichter.

„Ich kann mir vorstellen, dass ihr es nicht glauben könnt oder wollt und dass ihr Zeit braucht, bis ihr mit dieser Tatsache umgehen könnt, aber ich muss euch, im Speziellen dich, Helene, noch um etwas bitten: Die ungarischen Kollegen haben im Gepäck der Toten deine Adresse gefunden und mich gebeten, dich zu fragen, ob du Frau Bauerschmidt identifizieren könntest. Erst dann kann sie nach Deutschland gebracht und hier beerdigt werden. Nachdem wir bisher keine Verwandten ausfindig machen konnten und du wohl diejenige bist, die den meisten Kontakt zu Frau Bauerschmidt hatte, fürchte ich, dass du, so bald wie möglich, nach Héviz reisen musst.“

Hartmut sah seine Frau an, die mit tränennassem Gesicht ins Leere starrte. Er wollte ihr noch etwas Zeit geben und fragte Kommissar Roland:

“Weiß man schon, woran sie gestorben ist?“

“Ja, der behandelnde Kurarzt hat zweifelsfrei einen Kreislaufzusammenbruch diagnostiziert, der zu Herzversagen geführt hat. Auch ihr Hausarzt hat bestätigt, dass sie oft zu niedrigen Blutdruck hatte und gelegentlich unterzuckert war. Es tut mir sehr leid“, erklärte der Kommissar. “Hattet ihr viel Kontakt zu ihr? Sie wohnte doch in Gerolzhofen.“

Helene antwortete mit dünner Stimme: „Klara und ich kannten uns seit unserer Kindheit. Ihre Eltern und sie wurden auch 1946 aus Ungarn vertrieben, da haben wir uns kennengelernt. Sie wohnten zwar in Gerolzhofen, also etwa 80 km weit weg, was in der damaligen Zeit eine gewaltige Strecke war, aber wir hatten trotzdem regelmäßig Kontakt. Zunächst waren es natürlich meine Eltern, die den Kontakt pflegten, aber später, als wir älter wurden, schrieben wir uns regelmäßig, telefonierten viel und trafen uns auch ab und zu. Sie hatte aber nie viel Zeit, da sie einen wichtigen Posten bei einer großen Firma in Schweinfurt hatte. Ihre Eltern sind vor einigen Jahren gestorben und ob es noch weitere Verwandte gibt weiß ich nicht. Arme Klara, sie war doch erst 50. Sie hätte noch so viel machen können, wenn sie nicht,...“ Helene zögerte.

„Wenn sie nicht, ...was?“, bohrte der Kommissar nach.

„Wenn sie nicht,..., nein, das tut nichts zur Sache“, beharrte Helene.

„Wenn sie nicht so versessen auf ihre Arbeit gewesen wäre!“, vollendete Hartmut den Satz.

„Sie arbeitete viel?“, fragte Kommissar Roland jetzt an Hartmut gewandt.

„Sie sprach immer nur von ihrer Arbeit! Es war in ihrer Gegenwart oft sehr anstrengend, weil sie ständig nur von sich erzählte und jammerte und klagte. Über ihre viele Arbeit, die Undankbarkeit ihres Chefs und neuerdings auch über ihre Krankheiten.“

Helene hatte sich nun gefasst „Wo ist sie, wo muss ich hinfahren?“

Kommissar Roland wirkte erleichtert, dass er keine weiteren Versuche mehr starten musste, um Helene davon zu überzeugen, in Ungarn die Identifizierung vorzunehmen.

„Da die Identifizierung so schnell wie möglich über die Bühne gebracht werden muss, habe ich bereits einen Dienstwagen für morgen früh bestellt und mit meinem Chef vereinbart, dass ich dich persönlich hinfahre. Erst wenn die Tote zweifelsfrei identifiziert ist und so genanntes Fremdverschulden ausgeschlossen werden kann, können die ungarischen Kollegen den Thermalsee wieder frei geben und die Überführung deiner Freundin nach Deutschland veranlassen. Ich hole dich gegen 7 Uhr ab, ist das recht?“, sagte Kommissar Roland und blickte Helene fragend an. Diese erhob sich mühsam aus ihrem Sessel und sagte beim Hinausgehen: „Ich gehe packen.“

Kommissar Roland verabschiedete sich gerade von Hartmut, als das Telefon dreimal klingelte - die Nürnberger waren zu Hause angekommen.

4

Pünktlich um 7 Uhr am nächsten Morgen hielt ein weißer Audi vor der Gartentür und Kommissar Roland stieg aus.

Helene hatte ihn bereits erwartet und nahm ihre Tasche zur Hand.

„Mach´s gut und melde dich mal“, verabschiedete sich Hartmut mit belegter Stimme von seiner Frau.

Einerseits wäre er ihr gerne bei der Identifizierung beigestanden, andererseits war er auch froh, dass er nicht diese lange Fahrt auf sich nehmen musste. Gestern hatte er zunächst befürchtet, dass er selbst Helene nach Héviz fahren und die ganzen 800 km alleine am Steuer sitzen muss. Mit Erleichterung hatte er gehört, dass dies Sache der Polizei ist und dass sein Freund Martin Roland selbst diese Aufgabe übernahm. So wusste er Helene in guten Händen.

„Ich bin ja so aufgeregt, ist das nicht unglaublich spannend? Wie im Film oder in einem guten Krimi! Eine echte Leiche! Sie wurde zwar nicht umgebracht, aber...!“

„Mama! Bitte! Was soll das jetzt? Ich sagte doch, du sollst im Auto sitzen bleiben!“, unterbrach Kommissar Roland mit hochrotem Kopf den Redeschwall seiner Mutter.

Hartmut und Helene trauten ihren Augen kaum, als Elfriede Roland durch die Tür kam oder besser schwebte.

Sie schien frisch vom Friseur zu kommen, das Haar saß perfekt, die Schminke war sorgfältig aufgetragen und ein Duft von Rosenwasser umwölkte sie. Ihr weiches, feines Seidenkleid wehte ihr zart um die Beine und passte genau zu den hellgrünen Stöckelschuhen und der Sonnenbrille.

Helene war davon überzeugt, dass der Rest der Ausstattung, der sich wahrscheinlich im Auto befand, wie beispielsweise die Handtasche, das Schultertuch und das leichte Jäckchen, ebenfalls optimal auf die auffällige Gesamterscheinung abgestimmt war.

„Guten Morgen, Elfriede“, brummte ihr Hartmut nur mäßig begeistert entgegen. Elfriede blickte an ihm vorbei.

„Du weißt doch, dass ich diesen Namen nicht ausstehen kann, nenne mich doch bitte Elfi, das klingt nicht so plump!“

Hartmut, der weniger den Namen, als die Person Elfriedes nicht ausstehen konnte, wusste das genau, aber machte sich einen Spaß daraus, es immer wieder zu vergessen.

„Ist gut, Elfr..., Entschuldigung Elfi“, murmelte er und war froh, dass seine Helene eine so bodenständige und natürliche Frau war. Eine Person wie diese Elfriede war nur schwer zu ertragen.

„Was machst du denn hier?“, fragte Helene erstaunt und blickte abwechselnd von Kommissar Roland zu seiner Mutter.

„Na, mein Junge hat mir erzählt, dass er dich heute nach Helvis, oder wie das heißt, fährt und dass es dort ein Heilwasser gibt, das gut für die Gelenke und überhaupt gesund für alles ist. Vielleicht gibt es ja dort auch Massagen und Gesichtsbehandlungen? Heute morgen hatte ich wieder so große Probleme mit meinen Augenringen. Ich denke da an einen kräftigen, gut aussehenden Masseur mit zarten Händen, der all meine Verspannungen,...“

„Es reicht jetzt, wir müssen los, wir haben mindestens acht Stunden Fahrt vor uns. Und, Mama, wir fahren nicht zum Vergnügen nach Héviz, ich noch weniger als Helene, sondern weil wir dort eine unangenehme Angelegenheit erledigen müssen. Steig jetzt wieder ein!“

Kommissar Roland war die Peinlichkeit der Situation anzumerken. Er nahm Helenes Tasche und nickte Hartmut kurz zu: “Wir rufen an! Bis dann.“

Hartmut ging noch mit hinaus und half das Gepäck zu verstauen, was nicht einfach war, da der gesamte Kofferraum bereits randvoll war mit Taschen und Täschchen, Koffern und Köfferchen – in hellgrün!

Helene atmete schwer, nahm ihren Mut zusammen und wandte sich an Kommissar Roland:

„Martin, ich denke, du wirst dich jetzt entscheiden müssen, wer in diesem Fahrzeug mitfahren soll: ich oder das Gepäck deiner Mutter? Ich habe keine Lust, acht oder mehr Stunden zwischen Rosenwasser getränkten Taschen zu verbringen. Entschuldige, Elfriede!“

Nach 20 Minuten fuhr der weiße Audi in Richtung Autobahn davon, und Hartmut schleppte seufzend eine ansehnliche Menge duftender Gepäckstücke ins Haus.

Die Stimmung im Auto war etwas angespannt, aber als sie auf die Autobahn fuhren und Kommissar Roland das Radio einschaltete, entspannte sich zumindest Helene etwas. Sie hatte sich auch bei der Wahl der Sitze durchgesetzt und saß auf dem Beifahrersitz, da es ihr hinten oft übel wurde.

Ihr erster Ärger über die Tatsache, dass sich Elfriede aufgedrängt hatte, war verflogen und sie dachte daran, dass ihre Frauenbund-Mitstreiterin trotz ihrer exzentrischen Art oft eine Stimmungskanone war, mit der und über die man oft viel lachen konnte.

„Also machen wir das Beste daraus“, dachte Helene und lehnte sich zurück. Zumindest hatte sie dieser Auftakt etwas vom eigentlichen Zweck ihrer Reise abgelenkt.

Kurz nach Linz in Österreich einigten sie sich darauf, in ein Rosenberger