Diebesgut - Monika Martin - E-Book

Diebesgut E-Book

Monika Martin

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Beschreibung

Zum fünfzigsten Todestag des berühmten Südtiroler Malers Max Parer findet im Gartenhotel Moser in Montiggl/Südtirol eine Ausstellung unbekannter Gemälde des Künstlers statt. Christine Moser, Hotelchefin und Organisatorin der Ausstellung, hat in mühevoller Kleinarbeit bisher noch nie gezeigte Werke aus der ganzen Region zusammengetragen, doch am Tag der Eröffnung kommt es zum Eklat: Ausgerechnet die Aquarelle, die Wolfgang Moser kurz zuvor geerbt hatte, sollen angeblich Diebesgut sein. Zum Entsetzen aller Gäste werden die Gemälde gestohlen und Christine entführt ...

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Das Buch:

Zum fünfzigsten Todestag des berühmten Südtiroler Malers Max Parer findet im Gartenhotel Moser in Montiggl/Südtirol eine Ausstellung unbekannter Gemälde des Künstlers statt.

Christine Moser, Hotelchefin und Organisatorin der Ausstellung, hat in mühevoller Kleinarbeit bisher noch nie gezeigte Werke aus der ganzen Region zusammengetragen, doch am Tag der Eröffnung kommt es zum Eklat:

Ausgerechnet die Aquarelle, die Wolfgang Moser kurz zuvor geerbt hatte, sollen angeblich Diebesgut sein. Zum Entsetzen aller Gäste werden die Gemälde gestohlen und Christine entführt ...

Die Autorin:

Monika Martin ist Sozialpädagogin und arbeitet als Autorin und Stadtführerin in Nürnberg.

In ihrer Reihe „Krimis mit Geschichte“ verbindet sie ihre literarische Tätigkeit mit ihrem regionalgeschichtlichen Engagement zu Kriminalromanen mit Fakten aus der Nürnberger Stadtgeschichte.

In den Krimis der Reihe „Ermitteln, wo andere Urlaub machen“ nimmt sie die Leser mit an Orte und Schauplätze, die sie selbst oft und gerne bereist hat: Ungarn, Italien, die Nordseeküste und Südtirol.

„Diebesgut“ ist nach „Bilderrätsel“ der zweite Krimi, der in Zusammenarbeit mit dem Gartenhotel Moser entstanden ist.

Im November 2018 wurde ihr der Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis verliehen.

Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Prolog

12. Mai 1967

Frühling ist’s im ganzen Tal

Tausend Blütn an den Bäumen

Bunt und duftnd allemal

Ich wil es nicht versäumen.

Stebe raus in die Natur

mit Pinsel und Stafei

Mal mit meinen Farben nur

Komm, Frühling, komm herbei!

Meine hochgeschätzte Margarete,

und wieder ist es Frühling, und wieder, und wieder. Über achtzig Mal schon durfte ich dieses Schauspiel erleben, durfte sehen und spüren, wie die Natur nach dem langen Winter plötzlich wieder vor Kraft und Lebensmut strotzt.

Wie oft habe ich mich von dieser unvergleichlichen Schönheit anstecken lassen, habe es nicht erwarten können, endlich hinauszugehen, die Faszination der Landschaft in den schillerndsten Farben auf Leinwand zu bannen.

Am frühen Morgen, am helllichten Tag. Selbst nachts bei Kerzenschein.

Ohne Unterlass.

Ein innerer Drang trieb mich an. Es war eine Art Berufung, eine gottgegebene Gabe, winzige Körnchen von Gottes Schöpfung festzuhalten.

Doch langsam geht es mit meiner Kraft zu Ende. Ich habe keine Reserven mehr, bin ausgelaugt, leer, habe zu Ende gelebt.

Einzig du bist es, die mich jeden Morgen aufstehen lässt, die den langen, gleichförmigen Tagen Sinn verleiht. Mit deinem sonnigen Gemüt lässt du meine düstere Kammer erstrahlen, erwärmst du mich bis in mein Innerstes.

Du bist die Tochter, die ich nie hatte, du bringst mir nicht nur Brot und Käse, sondern vor allem Güte und Liebe, Achtung und Respekt.

Und dafür bin ich dir unendlich dankbar.

Es schmerzt mich zu sehen, wie hart es für dich ist, wie übel dir das Schicksal mitspielt, welch Ungerechtigkeiten du ausgesetzt bist.

Dabei hast du nichts anderes getan als andere Frauen auch.

Du hast unter Schmerzen einem Kind das Leben geschenkt, einem kleinen, fröhlichen Jungen, der genauso wie du darunter zu leiden hat, dass er nicht in eine Ehe hineingeboren wurde.

Aber ist er deshalb weniger wert? Bist du als Mutter deshalb weniger wert?

Die Menschen sind grausam und hart. Wie das Leben selbst.

Meine liebe Margarete, ich schreibe dir diese Zeilen in unendlicher Dankbarkeit und Liebe und in der Hoffnung, du mögest sie eines Tages lesen.

Ich wünsche mir nichts sehnlicher als dich und deinen kleinen Jungen glücklich zu sehen, umgeben von verständnisvollen Menschen, von wirklichen Freunden.

Doch ich weiß, dass das nicht leicht wird, vor allem, wenn dich tagaus tagein die Sorge um dein Auskommen plagt.

Die Welt ist voll von schlechten Menschen, Menschen, die nur ihren eigenen Vorteil sehen, die bereit sind, anderen zu schaden, sich am Besitz anderer zu bereichern.

Du weißt, wie oft ich Besuch von Leuten bekomme, denen ich angeblich so viel bedeute, die vorgeben, meine Gegenwart zu schätzen, die behaupten, ich sei ein großer, bedeutender Künstler. Sie bringen Geschenke mit, verwickeln mich in ein Gespräch und bilden sich ein, ich merke nicht, dass sie mich bestehlen.

Du bist anders, hast ein so reines Gemüt, so zart und gut, dass mir ganz warm ums Herz wird, wenn ich an dich denke.

Mein Kind, mein liebes Kind, meine Augen werden müde, meine Finger schwach.

Ich möchte dir als Dank für all deine Mühen, für all die schönen Stunden vier meiner liebsten Gemälde überlassen.

Mein Sohn hat sie schätzen lassen, hätte sie am liebsten gleich verkauft. Sie werden dir helfen, dein Leben und das deines Sohnes zu meistern.

Das Schönste zeigt den Moserhof im Frühling, mit blühenden Bäumen und den stattlichen Häusern meiner Heimat Montiggl. Wenn ich das Ende deutlich spüre, werde ich dir die Bilder und den Brief geben.

Behalte mich in guter Erinnerung.

Dein alter Freund

Max Parer

P.S. Dir zu Ehren habe ich in die linke untere Ecke der Rahmen ein kleines M eingearbeitet.

Es sind deine Bilder und niemand soll sie dir nehmen!

1

Der Wind heulte um die Mauern des alten Bauernhauses, ließ die maroden Fensterläden klappern, als wolle er sie mit sich reißen. Der trübe, düstere Wintertag neigte sich dem Ende entgegen. Es dämmerte, ohne dass es richtig hell geworden war. Wieder ein Tag ohne Sonne, ohne Licht, ohne Wärme.

Aloisia zog sich ihre löchrige Strickjacke fester um den mageren Körper, rückte näher an das knisternde Feuer im Herd heran, doch nichts schien die Kälte aus ihren Knochen vertreiben zu können.

Das schaffte nur die Sonne – und auf die würde sie noch warten müssen. Wie jedes Jahr sehnte sie sich nach dem Frühling.

Es würde ihr Sechsundachtzigster sein.

Ihr Blick fiel auf den kleinen Abreißkalender an der Wand.

Heute war der 29. Januar 2018.

Den ganzen Tag schon hatte sie an nichts anderes denken können, waren ihre Gedanken immer und immer wieder um ein Ereignis gekreist, das sich heute zum 50. Mal jährte:

Max Parers Tod.

Mühsam erhob sie sich, stützte sich auf ihren Stock und schlurfte aus der überheizten Küche hinaus in den eiskalten Flur. Vor der Kellertür blieb sie stehen.

Mit zitternden Fingern zog sie den Schlüssel aus ihrer Schürzentasche und steckte ihn ins Schloss. Sollte sie es wirklich wagen, allein die steile Treppe hinabzusteigen?

Was, wenn sie stürzte? Die freiwillige Helferin vom weißen Kreuz würde erst morgen früh wiederkommen.

Sie zögerte, doch es musste sein.

Vor einem Jahr war sie zum letzten Mal dort unten gewesen, hatte es hinterher kaum geschafft, die steile Treppe wieder hinaufzusteigen. Jetzt war sie wieder ein Jahr älter, gebrechlicher, schwächer.

Und doch – sie musste es tun!

Feucht–kalte Luft schlug ihr entgegen. Auf der nackten Glühbirne lag der Staub vieler Jahrzehnte. Es war beinahe ein Wunder, dass sie noch immer in der Lage war, einen schwachen Lichtschein zu verbreiten.

Aloisia straffte sich innerlich, nahm all ihren Mut zusammen, krallte sich am rostigen Geländer fest und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Jeder Muskel schmerzte, die Knie wurden weich. Stufe für Stufe ging es weiter hinab in das düstere Gewölbe. Schweiß drang ihr aus allen Poren, sie keuchte vor Anstrengung und Angst.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie mit wackeligen Beinen am Fuß der Treppe. Tränen der Erleichterung rannen über ihr runzeliges Gesicht. Erschöpft ließ sie sich auf den schmutzigen Deckel der alten Truhe sinken, in der sie einst ihre Aussteuer aufbewahrt hatte.

Es war alles so lange her, so lange. Ein ganzes Menschenleben lag hinter ihr, ein anstrengendes, aber auch schönes Leben, ihr Leben.

Sie spürte, wie ihr Lebenswille schwächer wurde, die Kräfte schwanden. Viel Zeit würde ihr wohl nicht mehr bleiben.

Die Bilder!

Noch einmal wollte sie die Bilder sehen, die seit ziemlich genau fünfzig Jahren in ihrem Besitz waren, obwohl sie gar nicht ...

Sie schob den Gedanken beiseite, so, wie sie es seit Jahrzehnten getan hatte. Die Bilder gehörten ihr und sie allein würde bestimmen, wer sie nach ihrem Tod bekommen würde. Die Menschen waren so gierig, konnten nie genug bekommen, waren ständig geblendet von Macht und Geld, nahmen sich nie Zeit für die Schönheit der Natur und der Kunst.

Stöhnend stand sie auf, ging in den kleinen Raum, in dem das mächtige Möbelstück stand und öffnete die Tür. Mit leuchtenden Augen blickte sie glücklich auf die vier Aquarelle, die von Strahlern beleuchtet auf tiefrotem Samt lagen.

Zwei Bauernpaare beim fröhlichen Tanz, ein Ochsengespann bei der Feldarbeit, der Kalterer See. Das schönste von ihnen war das Bild vom Moserhof mit den zartrosa blühenden Apfelbäumen.

Gerührt setzte sie sich auf einen alten Hocker und ließ sich von den Motiven verzaubern. Ein ganzes Jahr lang hatte sie sie nicht mehr betrachten können.

Sie hatten ihr so sehr gefehlt.

Ihr geliebter Mann – Gott habe ihn selig – hatte ihr einst die Kostbarkeiten gebracht. Er hat diesen Schrank gebaut und sich gemeinsam mit ihr immer wieder an den Bildern erfreut. Woher sie kamen, hat er nie erzählt, hatte ihr das Versprechen abgenommen, mit niemandem darüber zu reden. Aloisia hatte ihn immer wieder danach gefragt.

Irgendwann hat sie damit aufgehört, es hingenommen, es genossen, das Geheimnis zu bewahren.

Niemand außer Toni und ihr war seither hier unten gewesen, niemand wusste von ihrem Schatz.

Toni war vor zehn Jahren gegangen und sie spürte, dass sie ihm bald nachfolgen würde. Sie freute sich auf ein Wiedersehen im Himmel, beim Herrgott, wo alle Mühsal ein Ende hat. Sie war müde, unendlich müde, hätte sich am liebsten gleich hingelegt und wäre hinübergeglitten, doch eines hielt sie noch hier fest: die Sorge um die Bilder. Was würde mit ihnen passieren, wenn sie nicht mehr war? Sie hatte keine Kinder, keine Erben.

Sie musste die Bilder jemandem anvertrauen, dem sie genauso wichtig waren wie ihr.

Langsam zog sie ein gefaltetes Blatt Papier und einen Füller aus ihrer Schürzentasche und schrieb mit klammen Fingern:

Mein lieber Wolfgang ...

2

16. Februar 2018

„ ... nehmen wir nun Abschied von Aloisia Gruber, unserer Schwester im Glauben, die Gott der Herr zu sich gerufen hat in sein Reich.“

Andächtig spritzte der Pfarrer Weihwasser über den Sarg, die Ministranten schwenkten das Weihrauchfass.

„Lasset uns beten ... “

Mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf stand Wolfgang Moser neben seiner Frau und seiner Mutter inmitten der Trauergemeinde auf dem Eppaner Friedhof. Der Chef des nahegelegenen Gartenhotels in Montiggl war gekommen, um seiner ehemaligen Lehrerin die letzte Ehre zu erweisen, auch wenn er keine guten Erinnerungen an seine Schulzeit unter der Obhut der strengen Pädagogin hatte. Allzu oft hat er den Zeigestock auf seinen Handflächen zu spüren bekommen. Eigentlich waren Erziehungsmethoden dieser Art in den 60er Jahren nicht mehr zeitgemäß gewesen, doch das hatte Oberlehrerin Gruber nicht interessiert. Eiserne Disziplin war immer oberste Prämisse gewesen – sehr zum Leidwesen ihrer Schüler.

Wolfgang Moser hob den Blick und sah einige seiner früheren Klassenkameraden mit ernster Miene neben dem Grab stehen. Er war sich sicher, dass in so manchen Köpfen das Gleiche vorging wie in seinem eigenen. Sie waren schon Lausbuben gewesen. Damals, vor fast fünfzig Jahren, hatten die eine oder andere Züchtigung verdient gehabt – und geschadet hatte es keinem von ihnen. Aus allen war schließlich etwas geworden. Er selbst hatte noch zwei Brüder, die er neben deren Frauen ebenfalls unter den Trauergästen entdeckte.

Die pessimistische Prophezeiung der Oberlehrerin, aus den Moser-Buam würde sowieso nie etwas werden, hatte sich in keinster Weise bewahrheitet – im Gegenteil. Jeder der drei Brüder führte ein großes, modernes Hotel – und das mit beachtlichem Erfolg.

Die örtliche Blaskapelle spielte ein angemessen trauriges Stück, während der Sarg langsam abgelassen wurde. Alle Schwarzgekleideten stellten sich hintereinander auf, ließen mit Hilfe einer kleinen Schaufel Erde in das Grab rieseln.

Anschließend traf man sich zum Leichenschmaus in der Tennisbar in Montiggl. Marlies, die Betreiberin des Cafés, hatte Südtiroler Knödelsuppe und Spaghetti alla Carbonara vorbereitet. Da auch sie während ihrer Schulzeit in den Genuss der Gruber’schen Erziehungsmethoden gekommen war, hielt sich die ehrliche Trauer über das Ableben der verhassten Lehrkraft in Grenzen, was sie natürlich niemals offen zugeben würde. Als Aloisia Gruber schon vor längerem gefragt hatte, ob Marlies den Leichenschmaus ausrichten würde, hat sie selbstverständlich zugesagt.

Insgeheim hatte sie beschlossen, etwas mehr zu berechnen als üblich – als kleine, verspätete Wiedergutmachung für die erlittenen Demütigungen.

Die kleine Gaststube füllte sich. Nach der Zeremonie auf dem zugigen Friedhof freuten sich alle auf einen Teller heiße Suppe und Marlies’ unübertroffene Spaghetti. Bald schon wurde das laute Schwatzen vom Klappern der Teller und ab und zu einem Schlürfen oder wohligen Brummen abgelöst.

So ein Leichenschmaus hatte doch immer etwas: man traf sich, schwatzte, bekam eine warme Mahlzeit, die man nicht einmal selbst bezahlen musste. Dafür kramte man doch gern die schwarzen, nach Mottenkugeln riechenden Klamotten aus dem Schrank und stellte sich für eine halbe Stunde auf den Friedhof. Im kleinen Ort Montiggl mit seinen 99 Einwohnern kannte jeder jeden, gab es mit allen etwas zu plaudern, konnte man den neuesten Tratsch erfahren. Auch Wolfgang und Christine Moser genossen das Essen und freuten sich, Freunde und Bekannte zu treffen, was während der Saison nur selten möglich war. Jetzt, Anfang Februar, war nur ein kleiner Teil des Gartenhotels offen und die Mosers hatten Zeit, sich ausgiebig mit allen auszutauschen.

Die Suppenteller wurden gerade abgeräumt, als die Tür aufging und ein schick gekleideter, allen Anwesenden unbekannter Herr hereinkam – und mit ihm ein Schwall kalte Winterluft.

„Guten Tag“, grüßte er höflich in perfektem Hochdeutsch, nahm seinen Hut ab und sah in die Runde. Die Gespräche verstummten. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

„Mein Name ist Dr. Wollberg. Ich suche einen Herrn Moser.“

„Wir haben viele Mosers hier. Sie können sich den Schönsten aussuchen“, rief jemand aus der Runde und erntete damit schallendes Gelächter. Schick gekleidete Herren, die hochdeutsch sprachen und einen Doktortitel trugen, verirrten sich nicht allzu oft nach Montiggl – und im Februar schon gar nicht.

Der Mann verzog keine Miene und wartete geduldig, bis es wieder ruhiger geworden war.

„Wolfgang Moser“, ergänzte er nüchtern.

„Oh! Wolfgang! Hast du was angestellt?“ Jetzt sahen alle lachend zu Wolfgang Moser hinüber.

„Ja, worum geht es denn?“, antwortete der Hotelchef und schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“, fuhr Dr.

Wollberg ungerührt fort.

Wieder fröhliches Gelächter. „Werden die Strafzettel jetzt schon persönlich vorbeigebracht?“

„So, Herrschaften“, meldete sich nun Marlies energisch zu Wort. „Ihr esst jetzt mal eure Pasta und Sie können gern im Stübchen Platz nehmen. Wolfgang? Kommst du?“ Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Nebenraum.

Dr. Wollberg nickte ihr zu. „Danke.“

Kurz darauf waren die beiden allein. Das Gelächter und Gerede der Dorfbewohner drang gedämpft durch die Tür.

Wolfgang blickte sein Gegenüber neugierig an.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich denke, ich kann etwas für Sie tun.“

Dr. Wollberg stellte seinen Aktenkoffer auf den Tisch, öffnete ihn und zog eine graue Mappe daraus hervor.

„Es geht um den Nachlass von Frau Gruber.“

Wolfgang blickte erstaunt auf. „Ach, Sie sind ...“

„Notar, richtig. Ich kümmere mich im Auftrag der Familie Gruber um den Nachlass der verstorbenen Frau Aloisia Benedikta Gruber, geborene Hirscher.“ Er klappte die Mappe auf und entnahm ihr ein einzelnes Blatt Papier.

„Sind Sie Wolfgang Moser, geboren am 09.03.1961 in Montiggl?“

„Ja, aber was habe ich mit dem Nachlass der Gruberin zu tun?“ Er kam aus dem Staunen nicht heraus. „Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?“

Wolfgang Moser beäugte den vornehmen Herrn skeptisch.

War das etwa eine neue Betrugsmasche? Erst kürzlich hatte sich ein ominöser Mann bei seiner Mutter gemeldet und sich als ihr Enkel ausgegeben. Angeblich brauchte er dringend 10.000€, die sie eine Woche später wieder zurückbekommen würde. Sie sollte schnellstmöglich die Summe von der Bank abheben und niemandem etwas verraten. Zum Glück hatte seine Mutter Verdacht geschöpft und die Polizei alarmiert. Bei der fingierten Geldübergabe hatte der Mann gefasst werden können.

„Natürlich. Bitte entschuldigen Sie.“ Der Notar zeigte Wolfgang Moser seinen Ausweis und reichte ihm eine Visitenkarte. Die Gestaltung des Kärtchens war so nüchtern und sachlich wie der Mann selbst. Schlichte schwarze Schrift auf weißem Papier.

Dr. Eugen Wollberg

Notar

Darunter noch die Adresse. Fertig. Keine Farbe, keine Blümchen, keine Goldschrift.

Sehr stimmig und seriös.

„Verraten Sie mir jetzt, was ich mit dem Erbe von Frau Gruber zu tun habe?“

„Das kann ich Ihnen jetzt und hier nicht sagen. Bitte kommen Sie am Donnerstag um 10:00 Uhr in meine Kanzlei in Bozen. Dort werden wir alles klären.“ Dr. Wollberg verzog keine Miene und leierte seinen Text beinahe mechanisch herunter. Es könnte auch ein Roboter sein, der da akkurat gekleidet etwas deplatziert in Marlies’ Stübchen saß, schoss es Wolfgang Moser durch den Kopf.

„Aber warum kommen Sie persönlich vorbei? Sie hätten doch einfach anrufen oder einen Brief schicken können.“

„Das ist Teil der testamentarischen Verfügung. Frau Gruber hat vor ihrem Ableben festgelegt, dass die Einladung zur Testamentseröffnung am Tag ihres Begräbnisses von mir persönlich zu erfolgen hat.“ Damit packte er seinen Aktenkoffer wieder zusammen und setzte seinen Hut auf.

„Guten Tag.“

3

„Wenn ich nicht befürchten müsste, bei der langweiligen Prozedur einzuschlafen, würde ich schon gern mitkommen“, gab Christine Moser zu, als sie auf dem Weg nach Bozen waren. „Ich bin ja so neugierig.“

Wolfgang schielte grinsend zu seiner Frau hinüber. „Da wirst du dich wohl oder übel gedulden müssen.“ Er lenkte das Auto ins Parkhaus und zog ein Ticket aus dem Automaten.

Christine Moser hatte beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und ihren Mann in die Stadt zu begleiten. Trotz ihrer Neugierde darauf, was die ungeliebte Lehrerin einem ihrer damaligen Lausbuben vermacht haben mochte, war Christine froh, den vorfrühlingshaften Tag nicht in einer staubigen Amtsstube, sondern in den Gassen der Bozner Fußgängerzone verbringen zu können.

Sie hatte die Kreditkarte ihres Mannes eingesteckt und freute sich auf das eine oder andere Schnäppchen.

„Viel Spaß und sag Bescheid, wenn du fertig bist.“

Voller Erwartung suchte Wolfgang Moser nach der Adresse, die auf der Visitenkarte vermerkt war: Laubengasse 22.

Unter den Arkaden, zwischen teuren Läden und üppig bestückten Schaufenstern wurde er fündig. Neben der Eingangstür befand sich ein goldenes Schild, in das der Name des Notars, ein Klingelknopf und ein kleiner Lautsprecher eingearbeitet waren.

Er klingelte.

„Ja, bitte?“, tönte eine freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher.

„Moser, ich habe einen Termin bei Herrn Wollberg.“

„Guten Tag, Herr Moser. Zweiter Stock, bitte.“

Das Türschloss machte leise klick.

Wolfgang Moser schob die schwere Tür auf und fühlte sich augenblicklich in die Vergangenheit zurückversetzt. Vor ihm lag ein Eingangsbereich, der eher die Bezeichnung Atrium verdient hätte. Der Boden war mit edlen Marmorfliesen belegt, an den Wänden hingen Ölgemälde, die hohe Decke war aufwendig bemalt, in einer Ecke plätscherte Wasser in einem kleinen Brunnen. Beeindruckt stieg Wolfgang Moser gemessenen Schrittes die breite, geschwungene Freitreppe hinauf. Er wagte es kaum, den vergoldeten Handlauf zu berühren, rechnete jeden Moment damit, Leonardo da Vinci mit einem Pinsel in der Hand zu begegnen. Mit offenem Mund nahm er Stufe für Stufe, konnte sich an der Pracht des Gebäudes nicht satt sehen.

Vielleicht sollte er über einen Umbau seines Gartenhotels nachdenken und auf die Faszination der spätmittelalterlichen Kunst setzen? Auf Hausbrunnen, Deckengemälde und vergoldete Handläufe? Der Hotelchef nahm sich vor, ernsthaft darüber nachzudenken, doch jetzt war er gespannt auf die Kanzlei des Notars. Wenn bereits das Treppenhaus derart edel gestaltet war, worauf musste man sich dann in den Büroräumen gefasst machen? Auf jahrhundertealte Schreibtische mit Intarsien? Lebensgroße Ölgemälde der Familie Wollberg? Schnitzarbeiten? Kupferstiche? Glasmalerei?

„Herr Moser?“, hörte er eine Frauenstimme durch das Treppenhaus rufen.

„Ja, ich bin gleich da“, gab er zurück und stand wenig später etwas außer Atem vor einer jungen Frau in dunkelgrauem Rock und weißer Bluse.

„Bitte kommen Sie doch herein“, begrüßte sie ihn freundlich. Sie stand in einer mindestens drei Meter hohen Tür, deren Griff sich etwa auf Schulterhöhe befand. Zu seinem Bedauern endete die üppige kunsthistorische Pracht gleich hinter der überdimensionierten Tür.

Keine Marmorfliesen mehr, kein plätschernder Brunnen, keine Gemälde, kein Leonardo. Kein imaginärer Geruch nach Ölfarbe, kein eingebildetes Hufgetrappel.

Nur schlichte, moderne Funktionalität.

Teuer, aber nichtssagend.

Wolfgang Moser war enttäuscht.

Vor einer langweiligen, völlig normal großen und mit Standardgriffen versehenen Bürotür blieb die Sekretärin stehen und klopfte leise an.

„Herr Dr. Wollberg erwartet Sie bereits.“

Hatte er sich getäuscht, oder hatte die Dame den Doktor besonders betont? Wollte sie ihn damit zurechtweisen? Ihn an die herrschende Etikette in diesen offensichtlich heiligen Hallen erinnern? Er beschloss, nichts dergleichen gehört zu haben und musste wieder einmal feststellen, dass er viel lieber mit Handwerkern oder Architekten verhandelte als mit diesen Doktoren und Bürohengsten. Zu seiner Überraschung öffnete der Notar persönlich die Tür und bat seinen Klienten herein.

„Guten Tag, Herr Moser. Bitte nehmen Sie Platz.“ Er wies auf eine nicht sehr gemütlich wirkende Sitzgruppe. „Kaffee?

Wasser?“

Wie auf Kopfdruck erschien die Vorzimmerdame in der Tür, um die Bestellung aufzunehmen.

Wolfgang dachte mit Bedauern daran, dass sich bei ihm der Genuss einer guten Tasse Espresso meist mit unangenehmem Sodbrennen rächte. „Wasser, bitte. Herzlichen Dank.“

Dr. Wollberg hatte bereits eine graue Mappe auf dem Glastisch bereitgelegt und setzt sich zu ihm.

„Schön, dass Sie diesen Termin so schnell wahrnehmen konnten.“

Es folgte eine nicht enden wollende Belehrung in feinstem Amtsdeutsch, nur unterbrochen von der Sekretärin, die nahezu lautlos Getränke und Gebäck hereinbrachte.

„Sie können das Erbe annehmen oder auch ablehnen“, schloss der Notar seine Ausführungen.

„Aber welches Erbe denn?“

Dr. Wollberg erhob sich und holte ein großes Paket, das in mehrere Schichten Luftpolsterfolie eingewickelt war. „Das hier.“

4

Ungläubig starrte Christine Moser auf das, was ihr Mann stolz und glücklich aus der Plastikfolie gewickelt und auf dem großen Tisch ausgebreitet hatte. Seine Augen leuchteten wie Kinderaugen unter dem Weihnachtsbaum.

„Ist das nicht großartig? Völlig unglaublich! Unfassbar!“