Kabine 28 - Monika Martin - E-Book

Kabine 28 E-Book

Monika Martin

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Beschreibung

Das seit Jahrzehnten geschlossene Nürnberger Volksbad, die einstige Jugendstilperle, ist Schauplatz eines Verbrechens. Der Fotograf Ole Jakobs wird leblos in der Kabine 28 gefunden. Gibt es einen Zusammenhang zu seinem Jugendfreund, der inzwischen ein erfolgreicher Schönheitschirurg ist? Oder haben die illegalen Bewohner des leerstehenden Nachbarhauses etwas mit dem Mord zu tun? Kriminalhauptkommissarin Charlotte Gerlach tappt lange im Dunkeln, bis sie schließlich erkennt, dass das Volksbad doch nicht so verlassen ist, wie es scheint ...

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Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das Buch:

Das seit Jahrzehnten geschlossene Nürnberger Volksbad, die einstige Jugendstilperle, ist Schauplatz eines Verbrechens. Der Fotograf Ole Jakobs wird leblos in der Kabine 28 gefunden.

Gibt es einen Zusammenhang zu seinem Jugendfreund, der inzwischen ein erfolgreicher Schönheitschirurg ist? Oder haben die illegalen Bewohner des leerstehenden Nachbarhauses etwas mit dem Mord zu tun?

Kriminalhauptkommissarin Charlotte Gerlach tappt lange im Dunkeln, bis sie schließlich erkennt, dass das Volksbad doch nicht so verlassen ist, wie es scheint ...

Die Autorin:

Monika Martin ist Sozialpädagogin und führt seit 1996 für das Institut für Regionalgeschichte, Geschichte für Alle e. V., historische Stadtrundgänge in Nürnberg durch.

„Kabine 28“ ist der fünfte Krimi aus der Reihe „Krimis mit Geschichte“, in der die Autorin ihre literarische Tätigkeit mit ihrem regionalgeschichtlichen Engagement zu einem Kriminalroman mit Fakten aus der Stadtgeschichte Nürnbergs verbindet.

Im November 2018 wurde ihr der Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis verliehen.

Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.

Außerdem von Monika Martin bei BoD erschienen:

„Findelkind“, Oktober 2019

„Bilderrätsel“, Oktober 2018

„Teichwächter“, März 2018

„Rauschgoldengel“, Oktober 2016

„Hochgericht“, Dezember 2014

„Apfelrausch“, August 2013

„Schattenschlag“, Februar 2012

„Hitzewelle“, August 2010

„Die Tote im See“, August 2008

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

1

Toni, 16.08.2012, 17:00 Uhr

Der Sommer hatte die Stadt fest im Griff.

Nach den angenehmen Temperaturen der letzten Tage hatte der Hochsommer wieder volle Fahrt aufgenommen, zeigte der August auf beeindruckende Art und Weise, wozu er fähig war. Wie eine gläserne Glocke lag die schwüle Hitze über den Straßen. Unbarmherzig brannte die Sonne vom diesig-blauen Himmel herab, die Luft flirrte, kein Windhauch war zu spüren.

Alles schien langsamer zu gehen, wie durch Watte gedämpft. Die Menschen, die das Pech hatten, nicht im Urlaub, an einem See oder zumindest in einer kühlen Wohnung sein zu können, schleppten sich schwitzend über die Gehsteige oder suchten Erfrischung in ihren klimatisierten Autos. Bereits am frühen Morgen war die Quecksilbersäule auf über 25°C geklettert, jetzt, am späten Nachmittag stand sie bei 35°C.

Toni schaltete den Rechner aus und ordnete seine Unterlagen.

Feierabend.

Eine reichlich unpassende Bezeichnung für das, was da jetzt vor ihm lag: gleißende Sonne, unerträgliche Hitze und vor allem heller Tag. Kein Abend und auch kein Grund zum Feiern. Heute Morgen war er nach fünf Kilometern mit dem Fahrrad bereits völlig durchgeschwitzt gewesen. Allein die Vorstellung jetzt in diesen Backofen hinaus zu müssen, um am vielbefahrenen Frauentorgraben entlang nach Zerzabelshof zu strampeln, trieb ihm den Schweiß literweise auf die Stirn. Dabei war er leidenschaftlicher Radler – Ganzjahresradler, wie es hieß.

Es war nicht allein die Hitze, die ihn davon abhielt, schnell nach Hause zu fahren, es war auch die Stimmung, die zwischen ihm und seiner Frau herrschte, die Vorwürfe, die Anspannung, das Schweigen. Seit über 24 Jahren waren sie verheiratet, hatten sich immer etwas zu sagen gehabt, viel gemeinsam unternommen.

Doch das hat sich geändert.

Er konnte nicht genau sagen, wann es begonnen hat, es war langsam gegangen, schleichend.

Noch vor wenigen Jahren waren sie nach einem so heißen Tag abends bis Mitternacht mit einem Glas Wein auf der Terrasse gesessen, hatten geredet, Karten gespielt oder gemeinsam in die Sterne geschaut. Das war lange vorbei.

Jetzt verbrachte er seine Abende vor dem Fernseher oder dem Computer. Als Elektroingenieur beim städtischen Energieversorger gab es auch von zu Hause aus das eine oder andere zu tun. Sein Chef hat ihm auch schon mehrfach angeboten, im Homeoffice zu arbeiten, was er bisher immer abgelehnt hatte, da seine Frau ebenfalls den ganzen Tag daheim war. Petra hat sich im Keller ihres Reihenhauses eine kleine Steuerberatungskanzlei eingerichtet und empfing dort auch ihre Klienten. Sie hat ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass das Haus tagsüber allein ihr Reich war.

Gedankenverloren blickte Toni aus dem Fenster im elften Stock des Plärrerhochhauses hinunter auf den hässlichen Verkehrsknotenpunkt, den die Stadt angeblich schon lange aufhübschen wollte. Bisher war noch nichts davon zu sehen.

Im Großraumbüro herrschte Aufbruchsstimmung. Von überall her waren fröhliche Stimmen zu hören, jeder war erleichtert, den Arbeitstag hinter sich gebracht zu haben und endlich ins Freibad oder den eigenen Garten flüchten zu können. Petra lag sicher schon seit geraumer Zeit auf ihrem Liegestuhl im Schatten. Da war kein Platz für ihn.

Er wollte auch nicht mit den Kollegen zum Rothsee fahren oder ein kühles Bier trinken.

Er hatte andere Pläne.

Im Gegensatz zu den meisten Mitarbeitern der N-ERGIE nahm Toni nicht den Aufzug, sondern schlug den Weg zum Treppenhaus ein. Hier war er allein, es war kühl und ruhig.

Stufe für Stufe stieg er hinab, Stockwerk für Stockwerk. Es war zu einem liebgewonnen Ritual geworden. Egal in welcher Etage sein Büro war, er nutzte lieber die Treppe als sportliche Betätigung, als willkommenen Ausgleich zum Bürojob. Dabei nahm er schulterzuckend die fragenden oder gar amüsierten Blicke der Kollegen in Kauf, die zum Großteil mit dem Auto zur Arbeit, dem Aufzug ins Büro und am Abend dann wieder mit dem Auto ins Fitnesscenter fuhren.

Im Erdgeschoss angekommen trat er nicht ins Foyer, tauchte nicht ein in das Gewimmel der leicht Bekleideten, die alle eilig nach draußen drängten.

Er ging weiter.

Hinunter in den Keller.

Das Stimmengewirr wurde immer leiser, die Luft noch etwas kühler. Er fröstelte. Eine leichte Gänsehaut überzog seinen nassgeschwitzten Körper, während sich in seinem Inneren freudige Erwartung ausbreitete.

Kurz darauf stand er in einem riesigen Raum, in dem etliche große Maschinen brummten. Überall leuchteten Knöpfe und Schalter, Anzeigen und Messgeräte. Nach dem düsteren Treppenhaus blendete das helle Neonlicht in seinen Augen.

Blinzelnd sah er sich um. Im Moment war kein Arbeiter hier. Gut so. Niemand sollte sehen, wohin er ging.

Zügig durchquerte er den Raum und erreichte eine unscheinbare, graue Metalltür. Sie war abgesperrt. Toni zog ein dickes Schlüsselbund hervor, suchte den passenden Schlüssel heraus und sperrte auf.

Aus einem dunklen Tunnel schlug ihm kühle, feuchte, leicht modrige Luft entgegen. Lautlos ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Plötzlich war es still. Kein Brummen war mehr zu hören, kein Piepsen, Knistern oder Knacken. Nichts.

Er nahm lediglich das Rauschen seines Blutes in den Ohren wahr, seinen eigenen keuchenden Atem.

Da war er wieder, dieser besondere Geruch nach Feuchtigkeit und altem Öl, nach gammeligem Holz und rostendem Metall – der Geruch von Verfall.

Er lächelte, freute sich auf die kommenden Stunden. Sie gehörten nur ihm allein. Niemand wusste, dass er hier war, niemand würde ihn stören. Er würde keine Gespräche führen, kein Interesse heucheln, nicht Rede und Antwort stehen müssen. Nach der Hektik eines anstrengenden und doch ereignislosen Arbeitstages im überhitzten, schlecht gelüfteten Büro, spürte er bereits jetzt die wohltuende Kraft dieses Ortes.

Vorsichtig tastete er sich den schmalen Gang entlang, die weit aufgerissenen Augen starr auf die helle Öffnung am anderen Ende gerichtet. Natürlich hätte er die Taschenlampe an seinem Handy einschalten können, doch er verzichtete bewusst darauf. Schließlich kannte er sich hier aus, kam hier herunter, wann immer es seine Zeit zuließ.

Die dicken Rohre zu beiden Seiten des Ganges waren schmutzig und kalt. Fast achtzehn Jahre war es jetzt her, dass sie zum letzten Mal in Betrieb gewesen waren.

Wehmütig strich er darüber, wünschte sich wie so oft die Vergangenheit zurück.

Nach etwa zwanzig Metern mündete der Gang in eine riesige Halle voll von gigantischen stillgelegten Maschinen, Müll und altem Werkzeug. Durch die milchigen, von außen zugewachsenen Fenster drang nur wenig Licht herein, war der winzige, zugewucherte Innenhof kaum zu erkennen. Von der glühenden Hochsommerhitze jenseits der verdreckten Scheiben war nichts zu spüren.

Trotz oder vielleicht gerade wegen des fortschreitenden Verfalls des Gebäudes zollte Toni jeder Maschine, jedem Möbelstück, jedem noch so kleinen Gegenstand darin höchsten Respekt. Es waren alles Zeugen vergangener Zeiten, war doch vieles davon deutlich älter als er selbst.

Jedesmal, wenn er diese Räume durchschritt, war er von respektvoller Bewunderung und ehrfürchtigem Staunen erfasst, fühlte er sich beinahe wie ein Eindringling, der die Ruhe dieser morbiden Szenerie störte. Niemals würde er sich das Recht herausnehmen, auch nur die kleinste Kleinigkeit zu verändern, irgendetwas wegzunehmen oder umzustellen.

Alles sollte so bleiben, wie es war.

Soweit seine Vorstellung.

Die Realität sah leider anders aus.

Missbilligend, verständnislos und wütend musste er immer wieder feststellen, dass er nicht der Einzige war, auf den dieser verlassene Ort, dieser lost place, wie es neuerdings hieß, eine faszinierende Anziehungskraft ausübte. Immer häufiger entdeckte er Zeichen, die darauf hindeuteten, dass Menschen hier unterwegs gewesen waren, dieser angebliche lost place gar nicht so lost war. Dass es noch mehr Leute gab, die die einzigartige Stimmung dieses Gemäuers genießen wollten, leuchtete ihm ein. Allerdings hatte er kein Verständnis dafür, dass manche von ihnen hier wüteten wie die Vandalen, Einrichtungen mutwillig zerstörten und überall ihren Müll liegen ließen.

Sein Blick schweifte so gründlich durch den Raum wie ein Scanner über das Papier. Zufrieden stellte er fest, dass heute alles so aussah wie immer: die Sackkarre in der Ecke, der umgefallene Eimer, die alte Schreibmaschine mit dem eingespannten Papier.

Es war dämmrig geworden. Verwundert sah er auf sein Handy. 17:18 Uhr. Die Sonne würde erst in etwa vier Stunden untergehen. Da fiel ihm ein, dass der Wetterbericht für den späten Nachmittag Gewitter gemeldet hatte. Und tatsächlich erhellte in diesem Moment ein Blitz den Raum, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag und sintflutartigem Regen, der an die Scheiben der großen Fenster prasselte.

Toni mochte dieses Wetter, liebte das Naturschauspiel, das den Menschen so deutlich vor Augen führte, wer hier auf der Erde letzten Endes das Sagen hatte. Und trotzdem war er froh, nicht draußen mit dem Fahrrad unterwegs sein zu müssen, sondern sich das Spektakel aus sicherer Entfernung ansehen zu können. Wobei … so sicher war er hier doch nicht vor den Fluten, die weiterhin unaufhörlich an den Fenstern hinabströmten. Aus einem kleinen Nebenraum konnte er bereits deutliches Plätschern hören. Das marode Dach war nicht mehr überall in der Lage, sich gegen die eindringenden Wassermassen zur Wehr zu setzen.

Dieses heruntergekommene Gebäude war einst ein Schmuckstück gewesen, aus der stolzen Jugendstilperle war eine Ruine geworden, aus dem großartigen Nürnberger Volksbad ein Fall für die Abrissbirne.

Doch noch hatte er Hoffnung, gab es doch in regelmäßigen Abständen Bestrebungen von Seiten der Stadt oder privater Investoren, das Bad wieder in altem Glanz erstrahlen zu lassen. Ob oder wann das allerdings der Fall sein würde, stand nach wie vor in den Sternen.

Toni wurde nervös.

Durch das tosende Unwetter war die vormals meditative Stille einer inzwischen beeindruckenden Geräuschkulisse gewichen. Es würde schwer sein, zwischen dem Rauschen und Donnern noch zu hören, ob außer ihm noch andere Leute hier waren.

Neben all den Neugierigen, die sich meist unerlaubt Zutritt zu dem Gebäude verschafften, gab es auch ab und zu Leute, die sich ganz legal hier aufhielten. Da waren Architekten und Bauingenieure, Künstler oder Fotografen. Zwar fanden die Besichtigungen und Fotoshootings meistens in einer der drei vergleichsweise gut erhaltenen Schwimmhallen statt, doch waren immer wieder Einzelne dabei, die sich der magischen Anziehungskraft des verlassenen Gemäuers nicht entziehen konnten.

Toni musste vorsichtig sein, wollte unter keinen Umständen gesehen werden, wollte sich nicht rechtfertigen, nicht erklären müssen.

Mit offenen Augen und Ohren ging er durch den nächsten Raum mit seinem hübschen, schwarz-weißen Fliesenboden und großem, grünen Schaltkasten und von dort aus hinein in das weit verzweigte Labyrinth der Kellerräume.

Es wurde dunkel und zunehmend still.

Jetzt schaltete er nun doch die Taschenlampenfunktion seines Handys ein, leuchtete in alle Ecken und Winkel, las die verwitterten Hinweise an den Wänden, bewunderte die gusseisernen, teils hundert Jahre alten Maschinen. Die ständige Feuchtigkeit hatte den Mauern stark zugesetzt.

Überall blätterte der Putz ab, standen Pfützen auf dem Boden.

Gerade hatte er beschlossen, die Katakomben zu verlassen und hinauf in die Schwimmhallen zu gehen, als er plötzlich ein leises Quietschen hörte. Er zuckte zusammen, schaltete die Taschenlampe aus und drückte sich an die kalte Wand.

War da jemand?

Er hielt die Luft an, lauschte angestrengt.

Es war nichts.

Und doch spürte er, dass er nicht allein war. Seine Kopfhaut kribbelte, seine Augen starrten in die Dunkelheit.

Wurde er etwa verfolgt? War da womöglich jemand irgendwo in der Finsternis?

In den Schwimmhallen oder im Eingangsbereich hatte er schon öfter Leute gesehen und gehört, aber hier unten noch nie. Sonst war er derjenige, der im Verborgenen blieb, der aus einem sicheren Versteck heraus beobachtete, was vor sich ging. Jetzt hatte er das ungute Gefühl, als wären die Rollen vertauscht.

Er atmete flach, spürte sein Herz in der Brust hämmern.

Vollkommen unbewegt ließ er eine Minute nach der anderen vergehen.

Nichts passierte.

Langsam entspannte er sich wieder, schlich in die Richtung, in der sich der Trakt mit den Brausebädern und damit das Tageslicht befand. Lautlos huschte er in eine Kabine hinein.

In diesem Moment nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er fuhr herum und … musste schmunzeln.

Da war kein Verfolger, kein geheimer Beobachter. Da war einfach nur er selbst, ein 56-jähriger Spinner, der über sein eigenes Spiegelbild erschrocken war.

Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg hinauf in die Eingangshalle. Nach den engen, feucht-dunklen Kellerräumen, in denen die Baufälligkeit und mutwillige Zerstörung überall sichtbar waren, freute er sich auf die Treppenaufgänge mit ihren grün gestrichenen Geländern und kunstvollen Verzierungen, die ehemalige Handtuchausgabe in dem halbrunden Einbau und die Uhr, die seit Jahren die gleiche Zeit anzeigte. Auch wenn beim Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges viele der verspielten Jugendstilelemente durch nüchterne Nachkriegsarchitektur ersetzt worden waren, war hier in dieser Halle noch der Glanz des beginnenden 20. Jahrhunderts zu spüren.

Doch heute war Toni kein Schwelgen in vergangenen Zeiten vergönnt, denn zwischen den ohrenbetäubend lauten Donnerschlägen hörte er Stimmen und Gelächter aus der großen Männerschwimmhalle. Offensichtlich war dort wieder einmal eine dieser künstlerischen Aktionen im Gang, für die Toni kein Verständnis aufbringen konnte.

Geduckt lief er eine der Treppen hinauf und ließ dabei den Zugang zur Schwimmhalle nicht aus den Augen.

Einerseits ärgerte es ihn, wenn er das Volksbad nicht für sich allein hatte, wenn er nicht nach Herzenslust durch die einzelnen Trakte streifen konnte, andererseits war dieses Katz-und-Maus-Spiel auch aufregend. Manchmal fühlte er sich wie damals als kleiner Junge beim Verstecken.

Oben angekommen wollte er durch die Tür zum Saunabereich schlüpfen und … spürte eine Hand auf seiner Schulter.

Wie hatte ihm das nur passieren können?

Sein Puls raste noch immer. Mit Schweißperlen auf der Stirn saß er auf dem gammeligen Teppichboden im Ruheraum des ehemaligen Saunabereiches. Er hatte sich so sicher gefühlt, so überlegen. Natürlich hat er damit rechnen müssen, irgendwann einmal jemandem zu begegnen, hat sich für diesen in seinen Augen unwahrscheinlichen Fall schon lange eine passende Ausrede zurechtgelegt.

Jetzt war es soweit.

Er war entdeckt worden, hat sich erklären müssen, hat es als Niederlage empfunden, als Versagen.

Er starrte vor sich hin, spielte im Kopf zum x-ten Mal die Szene durch, überlegte, was er falsch gemacht hatte, an welcher Stelle er zu unvorsichtig war.

War dieser Mann auch derjenige gewesen, dessen Anwesenheit Toni bereits im Keller gespürt hatte? Er hatte ihn schlecht fragen können, ob er derjenige war, der ihm zuvor schon nachgeschlichen war.

Nein, das hatte er nicht gewagt.

Kurz hat er daran gedacht, nach diesem unangenehmen Vorfall nach Hause zu gehen, seine übliche Runde an dieser Stelle abzubrechen und in den nächsten Tagen noch einmal wiederzukommen.

Doch er hat sich dagegen entschieden, wollte sich nicht unterkriegen lassen. Er würde warten, bis die Leute weg waren und dann wie gewohnt den drei Schwimmhallen einen Besuch abstatten. Solange würde er hier sitzen bleiben und sich ruhig verhalten.

Die Blitze wurden weniger, das Donnergrummeln leiser.

Offenbar hatte sich das Gewitter ausgetobt. Lediglich der Regen prasselte nach wie vor beruhigend an die Fenster.

Tonis Blick wanderte nach oben zur dunkelbraunen Eichenholzdecke, die wie durch ein Wunder die Bombenangriffe überstanden hatte. Auch wenn sie inmitten des sonst herrschenden Chaos’ etwas deplatziert wirkte, strahlte sie doch eine gewisse Hoffnung aus, dass dieser Raum irgendwann wieder einmal zu dem werden würde, was er früher einmal war.

Die Stimmen aus der Schwimmhalle, leise Musik und das monotone Plätschern des Regens. Toni spürte, wie die Anspannung langsam aus seinem Körper wich. Die Augenlider wurden schwer, fielen schließlich zu.

Er schreckte hoch. Zunächst wusste er nicht, wo er war, sah sich verwundert um, zog sein Handy aus der Tasche.

18:10 Uhr. Er hat doch tatsächlich zwanzig Minuten lang hier auf dem verdreckten Boden geschlafen. Nicht wirklich lange, aber lange genug, um einen steifen Nacken und drückende Kopfschmerzen zu bekommen. Diese angeblich so wohltuenden, kurzen Schläfchen haben ihm noch nie gut getan. Statt frisch und ausgeruht fühlte er sich danach immer wie durch den Fleischwolf gedreht. Er fluchte innerlich über sich selbst und rappelte sich mühsam auf.

Langsam kam die Erinnerung zurück.

Da waren Leute in der Schwimmhalle, ein Team von Fotografen und Models. Außerdem hat es ein Gewitter gegeben.

Er lauschte.

Alles war ruhig.

Kein Regen mehr, keine Stimmen, keine Musik.

Aber was hat ihn dann geweckt? Ein letzter Donnerschlag?

Er sah aus dem Fenster. Die Sonne hat sich wieder durch die Wolkendecke gekämpft, die Stadt dampfte. Durch die Ritzen der Fenster drang der Geruch von nassem Asphalt.

Toni riss eines der Fenster auf, atmete tief durch und massierte seinen Nacken. Allmählich wurde er wieder klar im Kopf, wurden die Kopfschmerzen weniger.

Vielleicht sollte er jetzt doch den Heimweg antreten. Mit wackeligen Knien stolperte er aus dem Ruheraum hinaus und sah hinunter in die Eingangshalle.

Wie es schien, waren alle weg, hatte er das Volksbad endlich wieder für sich allein. Er schlenderte hinüber zu den Schwimmhallen.

Gedankenversunken stand er wenig später am Beckenrand.

Wie so viele Nürnberger hatte auch er in diesem Bad schwimmen gelernt, hatte sich in seiner Jugend als Bademeister ein paar Mark dazuverdient.

Auch nach all den Jahren hörte er noch das Lärmen der Kinder, roch das gechlorte Wasser, spürte die nassen Fliesen unter den Fußsohlen.

Es war eine schöne Zeit gewesen, damals … Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen.

Es war wieder da, dieses beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden, nicht allein zu sein. Wieder kribbelte seine Kopfhaut, stellten sich seine Nackenhaare auf. Aus Reflex schlüpfte er in eine der Umkleiden hinein, wohl wissend, dass es sinnlos war. Sein Verfolger – so es ihn überhaupt gab – würde sich nicht so leicht abhängen lassen.

Toni dachte fieberhaft nach. Sollte er in die Offensive gehen? Laut rufen? Dem Unbekannten zeigen, dass er ihn wahrgenommen hat?

Nein! Er würde den Spieß umdrehen, den Jäger zum Gejagten machen. Doch dazu müsste er ihn erst einmal finden. Doch wo sollte er anfangen zu suchen?

Plötzlich hörte er einen spitzen Schrei.

Fußgetrappel.

Die Geräusche waren von oben gekommen.

Er stürmte zur Treppe, nahm zwei Stufen auf einmal.

Wo sollte er zuerst nachsehen? Im Ruheraum, in dem er vorhin eingenickt war? Nein, lieber im Trakt mit den ehemaligen Wannenbädern. Dort gab es zahlreiche kleine Abteile, in denen man sich verstecken konnte.

Die gefliesten Parzellen rechts des Ganges waren allesamt in einem katastrophalen Zustand. Türen, Wannen und Spiegel waren größtenteils herausgerissen, Fliesen lagen verstreut auf dem Boden. Toni sah überall hinein. Vergeblich.

Vor der Kabine mit der aufgemalten Nummer 24 zögerte er kurz. Ein Stück Dachlatte war quer an den Türstock genagelt worden. Daran hing ein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift: Vorsicht Absturzgefahr!

Er wusste, was es mit dieser Absturzgefahr auf sich hatte, hat er doch schon oft in den winzigen Raum hineingesehen.

Vielleicht fühlte sich sein Verfolger dort sicher?

Langsam drückte Toni die Klinke herunter und schob die Tür auf. Der Boden des Zimmerchens war nur noch zur Hälfte vorhanden. Die verbliebenen Dielen wurden mit Balken abgestützt. Man konnte ungehindert hinunter in die darunterliegende Kabine sehen.

Hier war niemand. Nicht auf dem Rest des Bodens, nicht im Raum darunter.

Hat er sich alles nur eingebildet? Geträumt? Den Schrei, das Getrappel? Den vermeintlichen Verfolger?

Nein, da musste etwas sein.

Er ging weiter den schmucklosen Gang entlang.

Kabine 25, 26, 27 … nichts.

Die Tür der Kabine 28 stand einen Spalt offen.

Fetzen von rot-weißem Flatterband hingen am Türstock, lagen auf dem Boden. Ein süßlich-würziger Geruch strömte heraus. Er kannte diesen Geruch, fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, in der er mit seinen Freunden heimlich Hasch geraucht hatte.

Er zögerte kurz, linste durch den Spalt hinein, stutzte.

Alles lag voller bunter Kissen und Decken. Womöglich saßen seine vermeintlichen Beobachter gemütlich eingekuschelt und rauchten ein Pfeifchen?

Toni stieß die Tür auf und erstarrte.

2

Benno und Ella, 16.08.2012, 17:00 Uhr

„Diese Hitze macht mich fertig“, jammerte Benno und wischte sich mit seinem schmutzigen T-Shirt über das schweißnasse Gesicht. „Da kann sich doch kein Mensch konzentrieren.“ Er sprang auf und warf einen verzweifelten Blick auf den klapprigen Campingtisch, der unter der Last unzähliger Bücher und Ordner beinahe zusammenbrach.

„Schau dich doch um! Wie soll ich hier vernünftig lernen – bei über 35°C? Und dann kann man nicht einmal die Fenster aufmachen!“ Genervt lief er auf und ab wie ein Tier in seinem Käfig. „Strom wäre auch nicht schlecht und vielleicht ein ordentliches Bett oder zumindest mal frische Luft! Diese ständige Qualmerei geht mir gewaltig auf die Nerven!“

Ella grinste, nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und pustete Benno provokativ den Rauch ins Gesicht. „Bist du fertig?“

„Nein, bin ich nicht!“ Er funkelte sie wütend an. „Wir hatten ausgemacht, dass wir nur vorübergehend hier einziehen.

Jetzt hängen wir schon über drei Monate in dieser stinkenden Bude rum. Ich muss hier raus!“

„Dann geh doch“, gab Ella ungerührt zurück. Sie maß dem emotionalen Ausbruch ihres Freundes keine übermäßige Bedeutung bei, kam es doch regelmäßig vor, dass er sich über die angeblich untragbaren Zustände ihres Domizils aufregte. Mal waren es die bunten Tapeten aus den 70er Jahren, mal die unzuverlässige Klospülung, dann wieder der angeblich viel zu beschwerliche Zugang durch den Keller.

Irgendetwas hatte er immer zu meckern. Für Ella waren all diese Unzulänglichkeiten kein Problem, waren sie doch im Vergleich zu den Vorteilen geradezu lächerlich. Was war schon eine orange-rot gemusterte, an vielen Stellen abgerissene Tapete gegen die Tatsache, dass diese Unterkunft keinen Cent kostete?

Warum sollte man sich über fehlenden Strom aufregen, wenn man das Glück hatte, dass frisches Wasser aus der Leitung kam?

Es war alles eine Frage der Perspektive, des Maßstabes, der Erwartungen. Und in diesen Punkten konnte der Unterschied zwischen den beiden nicht größer sein.

„Du kannst jederzeit nach Hause gehen, in den Schoß deiner Familie, in das gepflegte Vorstadthaus mit Rollrasen und Gartenhäuschen. Mami wird dir sicher gern nach deinen Lieblingspfannkuchen noch eine kühle Eisschokolade servieren.“

„Hör auf damit und lass meine Mutter aus dem Spiel!“

„Dann entscheide dich endlich mal.“ Ella wurde schlagartig ernst. „Ich kann dein Gejammer nicht mehr hören. Du hattest die Idee, hier zu wohnen, fandest die Atmosphäre cool und spannend. Hast mir vorgeschwärmt, wie toll das Haus ist und dass wir es ganz für uns allein hätten. Und jetzt? Ist das Abenteuer für dich schon vorbei? Geh doch zu deinem Papa und bitte ihn um Geld. Dann kannst du in eine luxuriöse, klimatisierte Studentenbude einziehen und in Ruhe lernen.

Ich komme auch allein zurecht.“

Ella schnappte sich die Zigarettenschachtel und ging.

Benno fluchte laut und trat gegen den Türstock. Natürlich hatte Ella recht. Das leerstehende Haus war ein Glücksfall gewesen. Anfangs hatte er es auch noch genossen, dieses Gefühl von Freiheit und Abenteuer, etwas Verbotenes zu tun, mit Ella zusammen sein zu können. Doch langsam hatte er diese Geheimniskrämerei satt. Niemand durfte wissen, dass sie hier wohnten, sie durften sich nicht am Fenster zeigen, abends kein Licht machen, was ihnen ohne Strom allerdings nicht weiter schwer fiel. Das störte ihn eigentlich am meisten: Sie konnten nicht fernsehen, ihre Handys und Laptops nicht aufladen, nicht ordentlich kochen. Nicht, dass Benno ein leidenschaftlicher Koch gewesen wäre, aber ohne Herd gab es nun mal auch keine Tiefkühlpizza, ohne Kaffeemaschine keinen Kaffee, ohne Kühlschrank kein kühles Getränk. Und doch war es keine Alternative für ihn, zurück zu seinen Eltern zu ziehen oder sie um Geld zu bitten. Beim Gedanken an die ständigen Fragen, die vorwurfsvollen Blicke und die angespannte Stimmung schüttelte er sich innerlich.

Er musste akzeptieren, dass es momentan keine andere Möglichkeit gab, als sich mit dieser heruntergekommenen Absteige zu arrangieren – und sich mit Ella zu vertragen.

Zähneknirschend holte er zwei lauwarme Fläschchen Bier aus dem Vorratsraum, öffnete sie und kletterte durch die zerbrochene Glastür hinaus auf das Dach. Trotz aller Anspannung musste er schmunzeln, als er sich vorstellte, was wohl seine Mutter zu ihrem überdachten Außenbereich sagen würde.

Im Gegensatz zur gepflegten, blumenumsäumten, mit duftenden Holzdielen belegten Terrasse und dem Blick ins Grüne, gab es hier lediglich zwei Bierkästen als Sitzgelegenheit unter löchrigem, moosbewachsenem Wellblechdach.

Nirgendwo war auch nur das kleinste Fitzelchen Grün zu erkennen, die Aussicht beschränkte sich auf heruntergekommene Hauswände, von denen der Putz abblätterte.

Doch genau das machte es für Benno und Ella so attraktiv:

Sie konnten draußen sitzen, ohne befürchten zu müssen, von irgendjemandem gesehen zu werden. Nur an der Ausstattung müssten sie noch arbeiten.

„Tut mir leid.“ Er hielt seiner Freundin mit einem entschuldigenden Lächeln das Fläschchen entgegen und setzte sich auf den zweiten Bierkasten.

„Passt schon“, lenkte Ella ein. „Mich nervt es ja auch.“ Sie gab ihm einen Kuss, setzte die Flasche an den Mund und verzog das Gesicht. „Warmes Bier ist widerlich.“

Benno grinste. Das liebte er so an ihr: Jeder Streit war schnell vergessen, sie war überhaupt nicht nachtragend.

Schweigend saßen sie nebeneinander, tranken und schwitzten.

Verstohlen schielte er zu ihr hinüber. Sein Herz machte einen kleinen Satz. Es ließ sich nicht leugnen: Er war Hals über Kopf in sie verliebt, in ihr zerzaustes Haar, ihre bunten Tattoos an Armen und Beinen und in jedes einzelne ihrer Piercings. Noch vor wenigen Monaten hätte er es sich nicht träumen lassen, dass es ihm einmal gefallen würde, beim Küssen einen metallenen Stecker an der Zunge zu spüren oder liebevoll über zarte Haut zu streicheln, die mit einem feuerspeienden Drachen verziert war. Es war nun einmal der Mensch unter all dem Metall und der Farbe, der ihn faszinierte und dem er mit Haut und Haar verfallen war.

Die Luft stand, die schwüle Hitze auf dem Blechdach war kaum auszuhalten. Der Schweiß lief in Bächen an ihren Körpern herab.

Plötzlich wurde es dunkler.

Benno sah verwundert nach oben.

„Haben sie für heute Gewitter gemeldet?“

Tatsächlich waren inzwischen dicke Wolken aufgezogen, hatten sich vor die Sonne geschoben. Weit entferntes Grollen war zu hören, es roch bereits nach Regen.

„Sieht so aus.“ Ella sah auf die Uhr. 17:17 Uhr. „Komm, wir gehen, bevor es anfängt zu regnen.“ Abenteuerlust funkelte in ihren Augen. „Der Alte ist sicher auch schon unterwegs.“

Sie ließen die leeren Flaschen stehen, nahmen sich an der Hand und liefen über das schräge Dach hinüber zu einer hölzernen Luke, die in das Nachbargebäude führte. Gerade als sie den Riegel aufgeschoben hatten, erleuchtete ein beachtlicher Blitz den dunkelgrauen Himmel, gefolgt von einem gewaltigen Donner, der das ganze Gebäude erzittern ließ. Erste dicke Regentropfen knallten auf das Blech.

Wenige Sekunden später brach das Unwetter los.

„Komm schnell!“ Benno schob Ella durch die Luke. Bis er hinterher krabbeln konnte, war sein T-Shirt schon völlig durchnässt.

Ella lachte. „Das war knapp.“

„Für dich vielleicht“, murmelte Benno, schnitt eine Grimasse und wrang demonstrativ sein Shirt aus.

„Ach, hab dich nicht so. So eine schnelle Wäsche tut dir gut – und deinem T-Shirt auch.“ Sie zwinkerte ihm verschmitzt zu und stieg die steile Treppe hinunter.

„Ja, ja, mach dich nur lustig über ...“

„Psst!“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich hab da etwas gehört. Da ist jemand.“

Sie blieben auf dem nächsten Treppenabsatz stehen und lauschten angestrengt, doch außer dem lauten Prasseln des Regens und immer dichter aufeinander folgenden Donnerschlägen war nichts zu hören.

Leise schlichen die beiden weiter.

Es war ein Spiel, ein aufregendes Spiel, interessant und spannend, nicht wirklich legal, mit einer unbekannten Anzahl von Mitspielern und eigentlich nur einer geltenden Regel: Unsichtbar bleiben!

Benno und Ella spielten dieses Spiel schon lange hier im Nürnberger Volksbad, diesem riesigen, verlassenen, weit verzweigten Gebäude. Es war schon fast ein Jahr her, dass sie den versteckten Eingang gefunden hatten. Seither waren sie regelmäßig hier unterwegs, hatten vom Keller bis hinauf zu den Dachböden alle Ecken, Winkel und Räume erforscht und dabei den Weg durch die Luke, über das Dach hinüber zu dem leerstehenden Haus entdeckt.

Sie wussten, dass die Schwimmhallen immer wieder vermietet waren, hatten schon oft heimlich Fotoshootings oder Modenschauen beobachtet, die Gespräche von Architekten belauscht. Das war zwar interessant, stellte aber keine besondere Herausforderung dar. Viel aufregender war es dagegen, den zu beobachten, der selbst unentdeckt bleiben wollte, der sich in seinen verborgenen Winkeln sicher und unantastbar fühlte, den Mann, den sie immer nur den Alten nannten.

Er kam selten vor 17:00 Uhr und blieb etwa zwei Stunden, startete im Keller und bewegte sich geräuschlos bis hinauf in die Dachböden, bevor er wieder durch einen dunklen Gang im Keller verschwand.

Am liebsten besuchten sie ihn dort unten, im unheimlichen Labyrinth zwischen den zahllosen Rohren und stillgelegten Maschinen. Hier fühlte er sich besonders sicher, wagte sogar, eine Taschenlampe zu benutzen.

Sie mussten sich beeilen.

Je tiefer sie in die Eingeweide des Gebäudes eindrangen, desto leiser wurde es – und das war gut so, galt es doch, jedes noch so kleine Geräusch wahrzunehmen. Vorsichtig schlichen sie hinein ins lautlose Dunkel und verbargen sich hinter einer morschen Holztür.

Jetzt hieß es warten.

Benno zitterte. Das nasse Shirt klebte an seinem Körper, er begann zu frieren. Ella schmiegte sich dicht an ihn und wärmte ihn. Sie liebte diese Minuten in völliger Ruhe und undurchdringlicher Schwärze, diese Minuten, in denen sie sich ihm so nah fühlte, das unstillbare Bedürfnis hatte, in ihn hineinkrabbeln zu wollen. Da standen sie nun, eng umschlungen, ein eingeschworenes Team, das sich auch ohne Worte verstand.

Der Alte!

Durch den Türspalt konnten sie einen schwachen Lichtkegel erkennen, leises Knirschen hören.

Die gerade noch erotisch knisternde Atmosphäre wich augenblicklich einer aufgeregten Anspannung.

Würde er heute auf die Idee kommen, in die Heizkammer hineinzuleuchten? Würden sie heute entdeckt werden? Sie kauerten sich hinter die alten, grauen Rohre und hielten die Luft an.

Seine Schritte waren deutlich zu hören. Er kam näher, blieb vor der Tür stehen.

Die Anspannung war kaum zu ertragen. Ellas Lungen brannten. Langsam ließ sie die Luft entweichen, starrte in Richtung der Tür.

Geh weiter! Los, geh schon weiter!

Das Licht der Taschenlampe blitzte kurz auf und verschwand wieder.

Die Schritte entfernten sich.

Erleichtert atmete Ella tief durch.

Geschafft!

Jetzt konnten sie sich aus der Deckung wagen, ihm hinterherschleichen.

Vorsichtig schob sie die Tür auf. Sie quietschte leise.

Ella und Benno erstarrten. Der Lichtschein, der gerade noch zwischen den Rohren zu sehen gewesen war, erlosch.

Der Alte hatte sie gehört.

Vollkommen reglos standen sie da, die Herzen klopften ihnen bis zum Hals.

Jetzt galt es stillzuhalten, auch kein noch so kleines Geräusch zu verursachen. Wer sich zuerst bewegte, würde auffliegen.

Minute um Minute verging.

Nichts passierte.

Ella biss sich auf die Lippen. Es kitzelte in ihrer Nase. Sie würde doch nicht niesen müssen? Nur mit Mühe konnte sie den Reiz unterdrücken. Sie mussten durchhalten, einen längeren Atem haben.

Da, der Alte trat den Rückzug an, schlich erneut an der Tür zur Heizkammer vorbei zurück zum Trakt mit den Brausebädern – diesmal ohne seine Taschenlampe einzuschalten.

Ella drückte Bennos Hand. Sie hatten es geschafft, hatten gewonnen, auch wenn es knapp gewesen war. Aber gerade das machte ja den Reiz dieses Spiels aus.

Jetzt würde der Alte hinauf in die Eingangshalle gehen, das machte er immer so. Er würde sich in die Mitte stellen und womöglich noch mit ausgebreiteten Armen den Raum auf sich wirken lassen – und dabei von Ella und Benno beobachtet werden.

Eilig machten sich die beiden auf zu ihrem Beobachtungsposten. Sie nahmen dabei einen anderen Weg, um sicherzugehen, dass sie nicht gesehen werden konnten.

Vorbei an den Brausebädern der Männer stiegen sie die Treppe ins Erdgeschoss hinauf und näherten sich der Tür zur Eingangshalle.

Sie stutzen.

Obwohl das Gewitter noch in vollem Gange war, der Regen laut an die Fenster prasselte und ein Donner nach dem anderen das Gebäude erzittern ließ, waren Stimmen und Gelächter zu hören. Die Geräusche kamen aus der großen Männerschwimmhalle. Offenbar war der Raum wieder einmal vermietet. Benno und Ella grinsten sich an.

Das würde dem Alten vermutlich gar nicht gefallen, während ihr kleiner Ausflug für sie dadurch nur noch reizvoller wurde. Es gab einfach noch mehr Leute, die sie beobachten konnten, ohne selbst entdeckt zu werden.

Vorsichtig lugte Ella um die Ecke.

Die Eingangshalle war leer.

Wo war er hin? Hatten sie ihn verloren?

Hier im offenen, großen Eingangsbereich war es viel schwieriger, sich unentdeckt zu bewegen als unten in den unbeleuchteten Kellergängen.

Benno sah sie fragend an, doch Ella zuckte nur mit den Schultern. Vielleicht hat der Alte noch einen kleinen Umweg gemacht und würde jeden Moment auf der gegenüberliegenden Seite der Halle auftauchen? Diesmal steckte Benno seinen Kopf hinter dem Treppengeländer hervor und erschrak. Auf der Balustrade über dem Eingang in die große Schwimmhalle stand ein Mann mit einer Zigarette zwischen den Fingern. Er lehnte sich mit den Armen auf die steinerne Brüstung und blies genüsslich den Rauch in die Luft.

Vermutlich war es einer aus der Gruppe, die in der Schwimmhalle beschäftigt war. Der Mann nahm noch ein paar tiefe Züge, trat die Zigarette aus und verschwand aus Bennos Blickfeld.

Im selben Moment tauchte der Alte in der Halle auf. Im Schutz des Treppengeländers konnten Benno und Ella sehen, wie er zusammenzuckte, als er den Lärm aus der Schwimmhalle hörte. Er duckte sich und lief die Treppe hinauf, die Augen immer auf den Eingang in die Schwimmhalle gerichtet. Er wollte bestimmt in den Saunabereich, um dort abzuwarten, bis die Leute das Volksbad wieder verlassen haben.

Benno winkte grinsend Ella heran und wies mit dem Kopf hinauf auf die Balustrade. Der Mann, der gerade noch seine Zigarette ausgetreten hatte, stand neben der Treppe im Schutz eines steinernen Pfeilers und beobachtete belustigt, wie der Alte mit gebeugtem Rücken die Stufen nach oben schlich. Schließlich legte er ihm theatralisch die Hand auf die Schulter.

Ella hätte beinahe laut losgelacht.

Er hat sich erwischen lassen wie ein Anfänger. Jetzt musste er sich rechtfertigen, eine glaubhafte Geschichte servieren.

Zu gern hätte Ella gehört, was die beiden miteinander redeten, aber das Gewitter hatte noch einmal richtig aufgedreht und für eine beachtliche Geräuschkulisse gesorgt.

Nach dem kurzen Wortwechsel ging der Alte in den angrenzenden Saunabereich, der andere lief kopfschüttelnd die Treppe hinunter.

Benno und Ella machten sich bereit. Sobald der Mann in der Schwimmhalle wäre, würden sie schnellstmöglich dem Alten folgen – in der Hoffnung, ihn wiederzufinden.

Mittlerweile könnte er überall in den weit verzweigten Gängen und Räumen der ersten Etage sein, im Saunabereich, im Ruheraum oder dem Trakt mit den Wannenbädern. Oder er war bereits auf einem der Dachböden.

Sie wollten dringend los, doch der Fremde hatte es offensichtlich nicht eilig.

„Hier bist du! Was verstehst du denn unter fünf Minuten Pause? Wir warten seit einer Viertelstunde auf dich. So angenehm ist es auch nicht, halbnackt in diesem alten Kasten rumzulaufen.“ Ein junger Mann in Bademantel und Adiletten war aus der Schwimmhalle in den Eingangsbereich gelaufen. „Machen wir weiter oder können wir gehen? Tami hat sich jedenfalls schon angezogen.“

„Genau das habe ich“, bestätigte eine junge, hübsche Frau und hakte sich bei ihm unter. „Der Wetterbericht sagt, das Gewitter ist in einer halben Stunde vorbei. Wollen wir nicht zusammen …?“

Benno und Ella hatten genug gehört. Es war ihnen ziemlich egal, was die Dame in ihrem kurzen Röckchen noch vorhatte. Eines stand jedenfalls fest: An eine gefahrlose Durchquerung der Halle war in absehbarer Zeit nicht zu denken.

Seufzend schlichen sie zurück ins Untergeschoss. Jetzt hieß es Geduld haben. Kurz vor dem Bereich der ehemaligen Brausebäder gab es einen Raum, in dem sich irgendjemand häuslich eingerichtet hatte. Da standen mehrere alte Stühle und Sessel, ein durchgesessenes Sofa, und ein gammeliger Kühlschrank, der zu Ellas Leidwesen leider nicht in Betrieb war. An einer Seite des Raumes waren einige Bühnenelemente aufgebaut und die Wände mit schwarzen Stoffbahnen verhängt. In einer Ecke stand sogar eine veraltete Stereoanlage. Das ganze Szenario sah so aus, als würden sich hier ab und zu Rockmusiker treffen, proben und dabei ordentlich Bier trinken.

Benno ließ sich auf das Sofa fallen und zog sein Handy aus der Tasche. Ella blieb unschlüssig stehen.

„Sollen wir warten, bis die Typen weg sind oder gehen wir lieber wieder nach Hause?“

Benno schielte sie über das Display hinweg an. „Nach Hause? Du meinst wohl hinüber in die andere Bruchbude?“

Ella verdrehte die Augen. „Du nervst! Ich gehe mal kurz rüber in unsere Bruchbude aufs Klo. Du kannst ja so lange hier rumliegen und den Akku verbrauchen.“

„Apropos Akku – bring doch bitte mein Ladegerät mit, mein Schatz!“, flötete ihr Benno grinsend hinterher.

Auf einem ihrer Streifzüge hatten sie neben einem Schaltkasten mit unzähligen Sicherungen mehrere funktionierende Steckdosen entdeckt, die sie seither gern über Nacht zum Aufladen ihrer Handys nutzten.

Das Gewitter ließ tatsächlich langsam nach, wie es die leicht bekleidete Blondine prophezeit hatte. Ella war den umständlichen Weg zurück in ihr Domizil gelaufen, hatte die Toilette benutzt und endlich in Bennos Chaos das Ladegerät gefunden. Jetzt war sie auf dem Weg über das Blechdach zurück zu Benno. Es tröpfelte noch etwas, während sich auf der anderen Seite der dunkelgrauen Wolkenwand bereits wieder die Sonne hervorgekämpft hatte.

Ein leuchtend bunter Regenbogen spannte sich über die Dächer der Stadt. Ellas Herz machte einen kleinen Satz. Für sie war ein Regenbogen immer eine Art Wiedergutmachung der Natur nach einem Unwetter, eine Entschuldigung für die Blitze, den Donner und die Regengüsse. Der Wettergott schien zu lächeln, nachdem er sich vorher ordentlich ausgetobt hatte.

Wie gern würde sie jetzt mit Benno hier stehen und mit ihm philosophieren. Leider sprachen zwei Tatsachen gegen einen romantischen Regenbogen-Plausch: die Zeit und Bennos fehlender Sinn für Romantik.

Sie seufzte. Vielleicht beim nächsten Mal.

18:05 Uhr. Inzwischen war sie seit fast zwanzig Minuten unterwegs und es war sehr unwahrscheinlich, dass sie den Alten heute noch einmal finden würden. Schade.

Sie kletterte durch die Luke und schloss leise die Tür hinter sich.

Im Volksbad war es ruhig. Kein plätschernder Regen mehr, kein Donner. Auch der Mann im Bademantel und die junge Frau waren verschwunden. Ella huschte in den Umkleidetrakt im ersten Stock der Männerschwimmhalle und lugte hinunter in das leere Becken. Wobei – so leer war das Becken gar nicht. Alles stand voller aufgebauter Scheinwerfer, Kabel und diverser anderer Gerätschaften.

Offensichtlich hat dort ein Fotoshooting stattgefunden.

Vielleicht sollten sie morgen statt des Alten lieber die Models mit ihren perfekten Körpern beobachten. Wahrscheinlich würden sie wieder halbnackt in diesem alten Kasten rumlaufen, wie sich der Bademantelträger ausgedrückt hatte.

Plötzlich stand jemand am Beckenrand.

Der Alte!

Schnell ging sie in Deckung und spähte verstohlen über den steinernen Rand der Balustrade hinunter. Er hatte sie nicht bemerkt, fühlte sich unbeobachtet, tat ihr fast ein wenig leid, wie er so gedankenverloren da stand, ihre Blicke in seinem Rücken.

Sie freute sich, musste Benno holen, bevor der Alte wieder weg war. Unbemerkt verließ sie die Schwimmhalle, rannte die Treppe hinunter, durchquerte die Eingangshalle und erreichte den Raum, in dem sie Benno zurückgelassen hatte.

„Komm schnell, der Alte ist ...“ Verwundert hielt sie inne.

Das Sofa war leer, Benno nicht mehr da.

Hat er sich etwa ohne sie auf die Suche nach dem Alten gemacht? Wütend schleuderte sie das Ladegerät auf das Polster. Am liebsten hätte sie laut gerufen, aber das wagte sie nicht. Sie durfte unter keinen Umständen riskieren, entdeckt zu werden.

„Wo bist du?“, raunte sie und sah in alle Ecken und Winkel.

Er war nicht da. Langsam wurde sie ungeduldig. Sie hasste es, wenn er Katz und Maus mit ihr spielte, sie an der Nase herumführte.

„Jetzt komm schon.“ Sie ging ein Stück in den Trakt mit den Brausebädern, hinein in das Dunkel des Kellers.

Eine halbe Stunde zuvor hatte es ihr nichts ausgemacht, allein durch die Finsternis zu gehen, jetzt lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Der Gedanke, dass Benno irgendwo in einer Nische saß und sie beobachtete, ärgerte sie maßlos. Sie hatte die Kontrolle verloren, wusste nicht, was sie tun sollte.

In diesem Moment fiel ihr etwas ein.

Sie grinste. Warum war sie erst jetzt darauf gekommen?

Benno wartete auf sie.

Nicht hier auf dem durchgesessenen Sofa, sondern … Voller Vorfreude lief sie die Stufen hinauf in die Eingangshalle und hörte … einen erstickten Schrei, eine zufallende Tür, Schritte.

Ruckartig blieb sie stehen, sah sich erschrocken um, drückte sich an die Wand. Was war das gewesen? War dort oben jemand? Der Alte? Benno?

Ihr wurde heiß und kalt. Ihr Herz raste. Sie spürte einen dicken Kloß im Hals. Was war das für ein Schrei gewesen?

Und wo war Benno?

Ella hatte Angst, zwang sich dazu, klar zu denken.

Die Geräusche sind von oben gekommen, aus dem Gang mit den Wannenbädern.

Sie ließ alle Vorsicht außer Acht und lief die Treppe hinauf in den ersten Stock.

Benno! Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Tränen schossen ihr in die Augen.

Kabine 24, 25, 26, 27.

Keuchend stand sie vor der grauen Tür mit der Nummer 28.

Das rot-weiße Flatterband war wie ein großes X vor den Türstock gespannt, sollte ungebetene Gäste abhalten.

Benno und sie haben sich nie davon abhalten lassen – im Gegenteil. Die Absperrung übte eine besondere Anziehungskraft auf sie aus. Je verbotener ein Ort war, desto interessanter war er für sie. Vor allem als sie entdeckt hatten, was sich hinter der Tür befand. Das, was früher ein spartanisch eingerichteter Umkleideraum gewesen war, hatte jemand in ein gemütliches Liebesnest verwandelt.

Seither waren sie oft hier gewesen, hatten sich zwischen den bunten, flauschigen Kissen geliebt, das eine oder andere Haschpfeifchen geraucht, waren glücklich gewesen.

Sollte das alles vorbei sein?

Es hämmerte in ihrem Kopf, das Blut rauschte in ihren Ohren.

Sie musste wissen, was passiert war.

Mit ihrer schweißnassen Hand schob die Tür auf und schrie!

3

Ole, 16.08.2012, 17:00 Uhr

„Was soll das denn? Du sollst die Badehose in Szene setzen, nicht deinen Paradekörper, verdammt nochmal!“

Nur mit Mühe konnte Ole dem Drang widerstehen, die teure Digitalkamera auf den Boden zu schleudern und den braun gebrannten, muskelbepackten jungen Mann vom Laufsteg zu zerren. „Wenn du deinen Bizeps nicht unter Kontrolle hast, muss ich mich nach jemand anderem umschauen!“

Leo grinste den Fotografen an und ließ erneut die Muskeln an seinem Oberarm spielen. „Stell dich nicht so an. Du hast doch extra jemanden gesucht, der kein so ein Spargel ist wie du“, gab er ungerührt zurück und zwinkerte der Frau zu, die am Beckenrand saß. Sie ließ die Beine baumeln und musste sich das Lachen verbeißen.

„Schau, Tami findet es toll.“

Ole warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Dieser Typ mit seiner selbstverliebten, überheblichen Art machte ihn wahnsinnig. Dummerweise war er mit seinem Aussehen die ideale Besetzung für diesen Job: 186cm groß, kein Gramm Fett zu viel, dichtes blondes Haar – perfekt. Man müsste lange suchen, bis man einen gleichwertigen Ersatz gefunden hätte. Und die Zeit hatte Ole nicht.

Im Gegenteil.

Sein Auftraggeber machte ihm pausenlos Druck, hatte ständig etwas an den Fotos auszusetzen. Immer passte ihm irgendetwas nicht, war es zu hell, zu dunkel, zu düster oder zu altbacken. Kein Wunder – hier drinnen war es nun einmal entweder zu hell, zu dunkel, zu düster oder zu altbacken. Es war das Volksbad, die fast hundert Jahre alte angebliche Jugendstilperle.

Wie einfach wäre es gewesen, die Aufnahmen für den neuen Bademodenkatalog in seinem Studio zu machen? Sicher, den Charme dieses Gemäuers konnte sein Loft nicht bieten, dafür aber optimale Lichtverhältnisse, eine funktionierende Klimaanlage, saubere Toiletten und eine Küche mit Kühlschrank und Kaffeemaschine. Stattdessen verbrachte er die Sommertage in dieser staubigen, feuchten Halle und konnte froh sein, wenn er sich mit Wasser aus dem Wasserkocher einen löslichen Kaffee machen konnte.

Und dann noch der Ärger mit diesen eingebildeten Models, die vom Alter her seine Kinder sein könnten. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er es vor über 30 Jahren gewagt hätte, so mit seinem Chef zu reden. Natürlich hat er sich auch oft über den einen oder anderen Auftrag geärgert, nur zähneknirschend die Brotzeit für die älteren Kollegen geholt oder stundenlang Aufnahmen nochmal und nochmal überarbeitet. Aber so war das nun einmal – als junger Mensch hat man sich unterzuordnen.

Offensichtlich waren diese Zeiten vorbei.

Jetzt gehörte es wohl dazu, sich als gerade einmal Zwanzigjähriger pausenlos in den Vordergrund zu drängen und die Aufmerksamkeit an sich zu reißen.

Unerträglich!