Schleuse 72 - Monika Martin - E-Book

Schleuse 72 E-Book

Monika Martin

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Beschreibung

Friedlich fließt der Ludwig-Donau-Main-Kanal durch die Nürnberger Gartenstadt. Doch mit der Idylle ist es vorbei, als in der Schleuse 72 ein Toter gefunden wird. Gibt es eine Verbindung zum kürzlich eröffneten Spirituellen Zentrum St. Wolfgang? Oder zum Filmteam, das eine Dokumentation über den Kanal dreht? In ihrem sechsten Fall ermittelt Kriminalhauptkommissarin Charlotte Gerlach entlang des Alten Kanals in einem Patrizierschloss und dem Quellheiligtum des Heiligen Wolfgang. Dabei kommt sie einem verschollen geglaubten Schatz auf die Spur ...

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Seitenzahl: 353

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Das Buch:

Friedlich fließt der Ludwig-Donau-Main-Kanal durch die Nürnberger Gartenstadt. Doch mit der Idylle ist es vorbei, als in der Schleuse 72 ein Toter gefunden wird. Gibt es eine Verbindung zum kürzlich eröffneten Spirituellen Zentrum St.Wolfgang? Oder zum Filmteam, das eine Dokumentation über den Kanal dreht?

In ihrem sechsten Fall ermittelt Kriminalhauptkommissarin Charlotte Gerlach entlang des Alten Kanals in einem Patrizierschloss und dem Quellheiligtum des Heiligen Wolfgang. Dabei kommt sie einem verschollen geglaubten Schatz auf die Spur …

Die Autorin:

Monika Martin ist Sozialpädagogin und führt seit 1996 für das Institut für Regionalgeschichte, Geschichte für Alle e.V., historische Stadtrundgänge in Nürnberg durch.

„Schleuse 72“ ist der sechste Band aus der Reihe „Krimis mit Geschichte“, in der die Autorin ihre literarische Tätigkeit mit ihrem regionalgeschichtlichen Engagement zu einem Kriminalroman mit Fakten aus der Stadtgeschichte Nürnbergs verbindet.

Im November 2018 wurde ihr der Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis verliehen.

Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.

DONAU UND MAIN FÜR DIE SCHIFF-FAHRT VERBUNDEN EIN WERK VON CARL DEM GROSSEN VERSUCHT DURCH LUDWIG I., KOENIG VON BAYERN NEU BEGONNEN UND VOLLENDET MDCCCXLVI

(Inschrift des Kanaldenkmals von 1846 am Erlanger Burgberg)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Prolog

November des Jahres 965

Der Weg war vom Regen der vergangenen Tage und Wochen schlammig und aufgeweicht. Von den kahlen Ästen der Bäume tropfte das Wasser herab. Überall auf dem durchnässten Waldboden standen Pfützen, der kleine Bach war über die Ufer getreten.

In diesem Jahr war der Herbst nicht golden gewesen, nicht mild und freundlich. Bereits Ende September hatte es begonnen zu regnen, im Oktober waren sogar schon die ersten Schneeflocken gefallen. Jetzt, vier Wochen vor Weihnachten, hatten die Menschen die Hoffnung auf etwas Sonne aufgegeben.

Der Winter war greifbar nah.

Zu dieser Jahreszeit waren die Tage kurz, wurde es manchmal gar nicht richtig hell.

Wolfgang stapfte durch den Morast, ein Lächeln auf seinen Lippen. Ihn störte weder die Kälte noch die Feuchtigkeit, die in jeder Faser seiner ärmlichen Kleidung steckte. Der Saum der grob gewebten, braunen Mönchskutte schleifte am Boden, die nackten Füße in den einfachen Sandalen starrten vor Schmutz. In sich gekehrt setzte er einen Fuß vor den anderen, suchte mit den glatten, abgelaufenen Sohlen Halt auf dem glitschigen Weg, stützte sich auf seinen knorrigen Wanderstab.

Seit Tagen war er nun schon unterwegs. Hin und wieder hatte er von freundlichen Bauern eine Scheibe Brot bekommen, ein Stück Käse oder einen Apfel. Doch meist war er allein, aß, was er im Wald finden konnte. Viel brauchte er nicht. Er war es gewohnt, mit wenig auszukommen, spürte im Verzicht und der Genügsamkeit die Nähe zu Gott und zu sich selbst.

Gott.

Was hatte der Herr nur mit ihm vor?

Er sollte Bischof werden. Bischof einer großen Stadt namens Regensburg.

Dabei wollte er nur in Frieden leben. In Ruhe und Bescheidenheit. Fernab aller Menschen, fern von Lärm und Gestank, weit weg von Hass, Gewalt und Neid.

Wehmütig dachte er an die Zeit zurück, in der er hinter dicken Klostermauern ein einsames, demütiges Leben führen durfte.

Doch diese Zeit war vorbei. Gott hatte ihn zu Größerem berufen. Und er, Wolfgang, würde folgen.

Schwer atmend blieb er stehen. Trotz der kühlen Temperaturen stand Schweiß auf seinem Gesicht. Er bückte sich hinunter zum Ufer des Baches, schöpfte mit seinen Händen einen kleinen Schluck Wasser heraus und trank. Es war eiskalt und hatte den köstlichen, erdigen Geschmack, den er so liebte.

Langsam müsste er sich nach einem Lager für die Nacht umsehen. Vielleicht hatte er Glück und fand einen hohlen Baum oder eine dicke Wurzel, die ihm etwas Schutz bieten würde. Er würde versuchen, ein kleines Feuer zu entzünden, um die Pilze zuzubereiten, die er einige Stunden zuvor gesammelt hatte. In seinem Beutel bewahrte er Feuerstein, Feuerschläger und Zunderschwamm auf. Es fehlte nur noch etwas trockenes Holz, doch das würde nicht einfach zu finden sein, denn es hatte wieder begonnen zu regnen.

Wolfgang war müde und hungrig, doch noch hatte er keinen geeigneten Rastplatz gefunden.

Er stutzte. Auf der anderen Seite des Baches ragte ein Hügel empor. Spielten ihm seine Augen einen Streich oder war am Fuß des Hügels ein dunkles Loch zu sehen? Eine Höhle?

Sein Herz machte einen Satz.

War dort wirklich eine Höhle?

Er ging näher heran, kniff die Augen zusammen.

Tatsächlich! Das, was da hinter einigen Sträuchern und Büschen zu erkennen war, könnte der Eingang in eine Höhle sein.

Ein warmes Glücksgefühl stieg in ihm auf. Dankbar blickte er nach oben und schickte ein Gebet in den dunkelgrauen Himmel. Wieder einmal hatte Gott ihm ein Zeichen der Hoffnung geschickt, hatte ihm gezeigt, dass er auf seiner langen Wanderung nicht allein war.

Doch noch war es nicht soweit. Womöglich war die dunkle Öffnung nur eine Nische im kalten Fels, eine kleine Vertiefung, die kaum dazu geeignet war, ihm Schutz für die Nacht zu bieten.

Und dann war da noch der Bach, der gurgelnd und rauschend zwischen ihm und dem erhofften Lagerplatz vorbeiströmte. Das Wasser wirkte in der einsetzenden Dunkelheit bedrohlich. Es war nicht zu erkennen, wie tief es war. Hätte er eine Chance, wohlbehalten das andere Ufer zu erreichen? Würde ihn die Strömung mit forttreiben?

Vorsichtig näherte er sich dem aufgeweichten Ufer. Die Füße versanken knöcheltief im Schlamm. Er zögerte, versuchte, mit Hilfe seines Wanderstabes zu ergründen, ob er es wagen konnte, den Bach zu überqueren. Kaum hatte er den Stock hineingesteckt, spürte er auch schon die Kraft des Wassers.

Seine Zuversicht schwand. Angst durchströmte seinen Körper – und doch zog ihn die schwarze Öffnung magisch an. Er schloss die Augen und hörte in sich hinein. Etwas in ihm wusste, dass er es schaffen könnte. Die Aussicht auf ein warmes, knisterndes Feuer in einer trockenen Höhle war so verlockend, dass er es riskieren musste.

Er raffte seine Kutte hoch, umklammerte den Wanderstab und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Die Kälte raubte ihm den Atem, schmerzte an seinen Beinen wie Nadelstiche. Bereits nach wenigen Schritten stand er bis zu den Oberschenkeln im Wasser, musste sich mit aller Kraft gegen die Strömung stemmen, Halt zwischen den glatten Steinen suchen.

Würde das sein Ende sein? Ertrunken im eiskalten Wasser eines wilden Baches?

Nein! Das würde nicht passieren!

Gott hätte ihn niemals hierher geschickt, um ihn dann hier und jetzt zu opfern. Niemals!

Wolfgang presste die Lippen aufeinander und kämpfte sich weiter voran. Er konnte seine Beine kaum noch spüren.

Verzweifelt presste er den Beutel mit Feuerstein und Zunderschwamm an seine Brust. Ohne deren Hilfe würde es kein wärmendes Feuer in der trockenen Höhle geben – vorausgesetzt er würde das rettende Ufer überhaupt erreichen und das dunkle Loch würde wirklich der Eingang in eine Höhle sein.

Noch ein Schritt, und noch einer …

Das Wasser schwappte hoch, ein herantreibender Ast traf ihn schmerzhaft an der Hüfte.

„Pater noster,

qui es in caelis,

sanctificetur nomen tuum ...“

Keuchend schickte Wolfgang mit zitternder Stimme innige Gebete gen Himmel.

Noch wenige Meter …

es war so kalt, so kalt …

„Adveniat regnum tuum,

fiat voluntas tua,

sicut in caelo,

et in terra ...“

Die Kräfte schwanden. Vielleicht sollte er sich fallen lassen, allen Widerstand aufgeben, aufsteigen in den Himmel …?

Nein! Er musste es schaffen! Noch einmal stemmte er sich gegen die Strömung. Er konnte das Ufer in der Dunkelheit kaum erkennen, doch es schien nicht mehr weit zu sein.

Noch ein Schritt.

Das Wasser ging ihm nur noch bis zu den Knien.

Noch ein Schritt und noch einer …

Geschafft!

Völlig durchnässt und zitternd ließ sich Wolfgang auf den feuchten Waldboden fallen. Er weinte schluchzend – vor Kälte und Erleichterung.

Doch noch war er nicht am Ziel. Mit letzter Kraft stemmte er sich hoch, kroch auf den dunklen Fleck in der Felswand zu und schob die Büsche zur Seite …

Ein verführerischer Duft nach gebratenen Pilzen lag in der Luft. Die kahlen Felswände der Höhle wirkten im flackernden Licht des Feuers beinahe gemütlich.

Wolfgang kniete mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen vor einer kleinen Vertiefung im Gestein, in die er sein selbstgeschnitztes und geweihtes Holzkreuz gestellt hatte.

Seine blaugefrorenen Lippen bewegten sich lautlos. Die Augen waren geschlossen.

Wieder einmal hatte der Herr seine schützende Hand über ihn gehalten, hatte ihn durch den Bach geführt und ihm diese Höhle gezeigt.

„Deo gratias“

Wolfgang erhob sich und trat ans Feuer, das er aus den herumliegenden dürren Zweigen schnell entfacht hatte.

Glücklich streckte er seine Hände der wohligen Wärme entgegen, spürte, wie seine Füße langsam wieder zum Leben erwachten. Er hatte in der Höhle so viel trockenes Holz gefunden, dass das Feuer noch lange brennen würde.

Es gab sogar eine kleine Quelle.

Wolfgang beschloss, ein paar Tage oder Wochen an diesem Ort zu bleiben, sich hier von den Strapazen der Reise auszuruhen, zu beten und zu meditieren.

Das Bischofsamt würde noch etwas warten müssen.

1

01.11.2006

Gleich würde er da sein. Die Vorfreude auf den Abend wuchs. Jürgen stellte seinen Wagen auf dem weitläufigen Parkplatz ab, warf einen letzten prüfenden Blick in den Rückspiegel und holte Sakko und Herrenhandtäschchen aus dem Kofferraum.

Er war bereit.

Bereit und voller Zuversicht, dass es heute klappen und er endlich für seinen langen Atem belohnt werden würde.

Aufgeregt legte er seine Hand auf das prall gefüllte Täschchen, in dem die fein säuberlich sortierten und gebündelten Geldscheine nur darauf warteten, vermehrt zu werden. In seinem grenzenlosen Optimismus hatte er kurz überlegt, noch eine weitere, voluminösere Tasche mitzunehmen, um all die zu erwartenden Gewinne auch transportieren zu können.

Bereits während der Fahrt hatte er sich ausgemalt, wie er an mehreren Spieltischen gleichzeitig erfolgreich sein und stapelweise Jetons gewinnen würde. Wie er hinterher unter den bewundernden Blicken der bedauernswerten, glücklosen Spielerinnen und Spieler den Berg an Jetons in eine ansehnliche Menge Bargeld eintauschen und hoch erhobenen Hauptes die Spielbank verlassen würde.

Heute würde er sicher eine Glückssträhne haben, würde mit dem gewonnenen Geld seine Schulden zurückzahlen, mit seiner Frau den lang ersehnten Urlaub machen und seiner Tochter endlich die teuren Turnschuhe kaufen.

Ab morgen würde eine neue Zeit anbrechen, eine Zeit ohne finanzielle Sorgen und ohne Angst.

Er spielte schon seit Jahren regelmäßig, fuhr abwechselnd zu verschiedenen Spielbanken, um nicht negativ aufzufallen.

Leider war der große Gewinn bisher ausgeblieben. Die lächerlich kleinen Summen hatte er sofort wieder eingesetzt – und verloren.

Inzwischen hatte er seine gesamten Ersparnisse verspielt, stand bei Freunden und Verwandten in der Kreide und hatte sogar sein Haus verpfändet.

Und trotzdem – oder gerade deshalb – musste er es immer und immer wieder versuchen, musste es endlich schaffen, sein Geld zurückzugewinnnen. Es war ein mächtiger Sog, der ihn mit sich riss, gegen den er sich nicht wehren konnte.

Mareike wusste von nichts, dachte immer noch, alles sei in bester Ordnung. Er war inzwischen ein Meister im Ausdenken neuer Lügengeschichten und Finden neuer Geldquellen.

Es brach ihm das Herz zu sehen, wie ihm seine alte Tante Alma vertraute und er dieses Vertrauen wieder und immer wieder missbrauchte. Das hatte sie nicht verdient. Sie war immer großzügig gewesen, hatte ihn immer unterstützt.

Seine größte Angst war jedoch nicht die Enttäuschung der Tante, sondern die Forderungen derer, die ihm auf nicht ganz legalem Wege zu Geld verholfen hatten – mit horrenden Zinsen.

Dieses Geld, dieses letzte Geld, das man ihm gegeben hatte, war heute seine Chance, alles wieder gutzumachen, die Geldhaie auszubezahlen, seiner Familie etwas Gutes zu tun und endlich zur Ruhe zu kommen.

Er hoffte, seinen Lieben bald wieder in die Augen sehen zu können.

Bald.

Morgen.

2

26.10.2012

Der Tag hätte nicht schöner sein können. Die Sonne schien vom weiß-blauen Himmel herab, die warme Luft war erfüllt von den Düften des Herbstes und vom aufgeregten Gemurmel unzähliger Gäste, die sich entlang der neuen Wasserstraße drängten. Da waren Frauen in prunkvollen, bodenlangen Kleidern und ausladenden Hüten auf kunstvoll frisierten Haaren. Daneben feine Herren in Frack und Zylinder mit aufwändig verzierten Gehstöcken in den trotz der Hitze behandschuhten Händen.

Doch nicht nur die geladenen Gäste waren heute gekommen, auch einfache Bauern, Handwerksburschen, Knechte und Mägde. Alle wollten dabei sein.

Gleich würde es soweit sein, gleich würde der Mann vor sein Volk treten, der vor genau zehn Jahren den Bau dieses architektonischen Meisterwerkes in Auftrag gegeben hatte.

Ungeduldig reckten die Menschen die Hälse und spähten über das Wasser. Mit dem Schiff käme er, hieß es, von Kelheim her, durch achtundachtzig Schleusen, von Treidelpferden gezogen, seit Tagen unterwegs.

Es war kaum zu glauben.

Die Augen starr auf die Schleuse gerichtet, auf die mit der Nummer 89, warteten sie darauf, dass sich das Schleusentor öffnete und …

Endlich!

Hüte und Mützen flogen durch die Luft, Hunderte Hände winkten, Jubel brandete auf.

„Hoch lebe der König! Hoch! Hoch!“

Mit bunten Wimpeln und Fahnen geschmückt, glitt das prächtige Schiff lautlos heran. Unter einem gold glänzenden, aufwändig bestickten Baldachin stand der König höchstselbst und nickte seinem Volk würdevoll zu.

Das Schiff legte an und König Ludwig I. schritt zu den Klängen des eigens komponierten Kanalwalzers so würdevoll an Land wie es der wackelige Untergrund zuließ.

„Hoch lebe der König! Hoch! Hoch!“

Gefolgt von lauten, begeisterten Rufen erreichte der König schließlich den Teil der Mauer unterhalb des Erlanger Burgberges, der mit einem riesigen Tuch verhüllt war.

König Ludwig hob die Hand. Schlagartig verstummten alle Jubelrufe. Die Menschen hingen gespannt an den Lippen des Monarchen. Die meisten hatten ihn noch nie gesehen, waren beeindruckt und ergriffen von der Festlichkeit dieses historischen Momentes.

„Mein liebes Volk!“, begann Ludwig. „Wir stehen vor einem Bauwerk, das viele von uns nicht für möglich gehalten hätten, ein Bauwerk, das an Größe und Bedeutung seinesgleichen sucht. Bereits vor über tausend Jahren hatte Karl der Große den Traum, eine Wasserstraße zu bauen, die den Main mit der Donau verbindet, die Nordsee mit dem Schwarzen Meer. Jetzt endlich ist dieser Traum Wirklichkeit geworden. 174 Kilometer lang mit hundert Schleusen ist er ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte.“

Damit griff er das Tuch und zog kräftig daran. Unter tosendem Beifall kam ein beeindruckendes Denkmal mit vier Figuren und einer Inschrift auf dem steinernen Sockel zum Vorschein:

DONAU UND MAIN FÜR DIE SCHIFF-FAHRT VERBUNDEN EIN WERK VON CARL DEM GROSSEN VERSUCHT DURCH LUDWIG I., KOENIG VON BAYERN NEU BEGONNEN UND VOLLENDET MDCCCXLVI

„In der Mitte die allegorischen Figuren Danubia und Moenus für Donau und Main, flankiert von einer weiblichen Figur mit Füllhorn im Arm als Darstellung des Handels und einer männlichen Figur, die die erfolgreiche Kanal- und Flussschifffahrt symbolisieren soll“, referierte der König.

„So soll nun dieser Kanal Ludwig-Donau-Main-Kanal heißen. Möge er in den nächsten hundert Jahren und darüber hinaus für blühenden Handel und wachsenden Wohlstand sorgen!“

„So ein Schwachsinn!“

Dort, wo sich eben noch der stolze König von seinem Volk hatte bejubeln lassen, war lediglich ein schwarzer Bildschirm zu sehen.

„Das ist ja unerträglich!“ Jürgen Müller sprang wütend auf und holte sich eine kleine Flasche Cola aus dem Kasten. „Ich mache da nicht mehr mit!“ Er setzte die Flasche an den Mund und trank sie in einem Zug aus.

Stefan Meierhofer zog amüsiert eine Augenbraue nach oben.

„Ist das so? Warum denn? Ist irgendwas nicht in Ordnung?“

„Nichts ist in Ordnung.“ Jürgen warf die Flasche in die Ecke des Zeltes. „Tu nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine!“

„Und was genau meinst du?“ Es war offensichtlich, dass Stefan die Situation genoss. Schließlich war er der Regisseur dieser Dokumentation und Jürgen Müller nur der Kameramann. Somit hatte Stefan, oder Steve, wie er genannt werden wollte, das Sagen hier am Set. Alle anderen hatten das zu tun, was er wollte, ob sie es nun gut fanden oder nicht. Ober sticht nun mal Unter. Er war, wenn man es so wollte, der König, die anderen seine Untertanen, eine Interpretation, die er seine Mitarbeiter immer wieder spüren ließ, was sich nicht gerade positiv auf die Stimmung im Team auswirkte.

„König Ludwig war gar nicht bei der Eröffnung des Kanals, das weißt du genau.“

„Ach, sei nicht so eine Mimose. Die Leute wollen unterhalten werden.“

Ein Mann in prunkvoller Kleidung und weiß gepudertem Gesicht betrat das Zelt und blickte sich fragend um. „Aber, aber, meine Herren“, flötete er. „Natürlich war ich bei der Eröffnung meines Lieblingsprojektes anwesend.“ Er fuhr sich affektiert durch die Locken seiner ebenfalls gepuderten Perücke und zwinkerte in Jürgens Richtung. „Schließlich habe ich doch das vollendet, was mein Vorgänger vor tausend Jahren nicht auf die Reihe bekommen hat.“

„Ihr seid doch alle durchgeknallt!“, rief Jürgen und stürmte wutentbrannt hinaus.

Das Projekt hatte so vielversprechend geklungen: Eine sorgfältig recherchierte Doku-Serie über den Ludwig-Donau-Main-Kanal, den Alten Kanal, wie er im Volksmund inzwischen hieß. Drei Folgen sollte es geben. Die erste über den Bau und die Eröffnung, die zweite über die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg und schließlich die heutige Bedeutung als Ort der Freizeitgestaltung und Erholung. Außerdem einen Extrabeitrag über das Schloss Gugelhammer und die Brückkanäle.

Jürgen hatte im Vorfeld viel gelesen, sich informiert, war eingetaucht in die wechselvolle Geschichte dieses Bauwerks, das schon vor seiner Fertigstellung massiv an Bedeutung verloren und gegen die Konkurrenz eines anderen, neuen Verkehrsmittels der damaligen Zeit keine Chance gehabt hatte: der Eisenbahn.

Die Originaldokumente, Bilder und Darstellungen sollten von authentisch nachgestellten Filmszenen untermalt werden, um den Zuschauern einen möglichst detailgetreuen Einblick in die damaligen Geschehnisse zu ermöglichen.

Authentisch. Gut recherchiert.

Pah!

Verächtlich spuckte er aus.

Dieser aufgeblasene Lackaffe von Regisseur scherte sich keinen Deut um die Richtigkeit dessen, was er da als Dokumentation bezeichnete. Ereignisse, Örtlichkeiten, Personen, zeitliche Abläufe. Alles interpretierte er neu, gestaltete und veränderte es so, wie es ihm passte, wie es angeblich die Zuschauer sehen wollten.

Dann sollte er besser das Genre wechseln, sollte lieber Fantasy- oder Liebesfilme drehen, keine Dokus.

Jürgen kochte vor Wut. Er sah sich um. Das Filmset war am Ufer des Kanals aufgebaut, auf einer Wiese irgendwo in der Nähe von Neumarkt in der Oberpfalz. Geschätzte sechzig Kilometer von Erlangen entfernt, dem Ort, an dem tatsächlich die Eröffnungsfeierlichkeiten stattgefunden hatten – und das in Abwesenheit Ihrer Majestät. König Ludwig I. hatte nämlich zu diesem Zeitpunkt bereits das Interesse an seinem einstigen Prestigeobjekt verloren und seine Aufmerksamkeit einem noch vielversprechenderen Unterfangen zugewandt: der Königlich privilegierten Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft in Nürnberg.

Der Alte Kanal war schon vor seiner Eröffnung aus der Mode geraten, hatte den Wettkampf gegen Technik und Geschwindigkeit verloren. Bezeichnenderweise sind viele Gäste nach der Eröffnungsveranstaltung nicht mit dem Schiff abgereist, sondern … mit der Bahn.

Wie oft schon hatte Jürgen, der unbedeutende Kameramann, den ach so wichtigen und fähigen Regisseur und dessen mindestens genauso fähigen Drehbuchautoren darauf hingewiesen, dass in einer Doku nicht so lax mit der Wahrheit umgegangen werden darf?

Am liebsten würde er alles hinwerfen. Dummerweise hatte er aber einen Vertrag unterschrieben, der besagte, dass er in diesem Fall eine hohe Geldstrafe zahlen müsste.

Der tolle Steve saß also am längeren Hebel.

Jürgen setzte sich auf eine Bank und beobachtete ein paar Enten, die entspannt am Ufer lagen und die Köpfe ins Gefieder gesteckt. Das würde ihm jetzt auch gefallen:

einfach daliegen, an nichts denken, sich um nichts kümmern müssen. Keine Sorgen, kein Ärger. Kein Gedanke an seine Frau, die mittlerweile seine Exfrau war, kein Gedanke an seine Tochter, die ihm immer fremder wurde. Und kein Gedanke an das, was sein Leben verändert hatte …

„Hier, nimm ein Stück Schokolade. Du siehst so aus, als könntest du etwas Aufmunterung gebrauchen.“

Franziska Beer, die Teamassistentin, hielt ihm eine Tafel Zartbitter-Marzipan hin, seine Lieblingssorte.

„Danke, das hast du haarscharf erkannt.“ Jürgen brach sich ein ordentliches Stück ab und biss hinein. In dem Augenblick, in dem sich die grandiose Mischung aus dunkler Schokolade und köstlichem Marzipan in seinem Mund ausbreitete, sah die Welt gleich ein bisschen anders aus, besser, süßer.

„Na also“, grinste Franzi. „Ich wusste doch, was dir fehlt.“

Die beiden saßen nebeneinander, teilten sich die Tafel Schokolade und ließen den Blick über das ruhige Wasser gleiten.

„Schau doch, wie idyllisch es hier ist“, sinnierte Franzi.

„Das bunte Laub, die Enten, das wunderschön hergerichtete Schleusenwärterhäuschen …“

„… das traumhafte Wetter, die wunderbare Sonne, die supernetten Leute, das perfekte Drehbuch, der fähige Regisseur“, ergänzte Jürgen mit einem bissigen Unterton.

„Wolltest du das sagen?“

„Reg dich doch nicht immer so auf. Du kennst ihn doch.“

„Natürlich rege ich mich auf! Und natürlich kenne ich ihn.

Das ist wahrscheinlich das Problem.“

„Die Doku wird am Ende toll werden. Die Leute werden es lieben.“

„Es ist schlichtweg falsch und unprofessionell! Er kann nicht einfach die Geschichte verdrehen, nur weil sein Lieblingsschauspieler gern mal den König spielen will. Wenn es um Prunk, Gold und Glitzer geht, ist sein geliebter Alex-Schatzi zur Stelle. Aber wenn es schwierig wird, kalt oder gar schmutzig, dann muss jemand anders dafür herhalten. Klaus lag nach der Szene vom Heiligen Wolfgang in diesem Bach eine Woche lang flach.“

Jürgen schüttelte sich bei der Erinnerung an diesen Drehtag.

Bei Regen und kühlen neun Grad hatte der Kollege in einer groben Mönchskutte einen reißenden Bach überqueren müssen. Tagelang hatten sie nach dem passenden Bach gesucht und auf das passende Wetter gewartet. Mit Schaudern erinnerte er sich daran, wie sie die Ausrüstung durch den Schlamm geschleppt und unter tropfnassen Planen aufgebaut hatten. Alles war kalt und nass gewesen. Jürgen hatte sich ernsthaft Sorgen um seine Kamera gemacht. Aber zumindest hatte er nicht bis zur Hüfte durch eiskaltes Wasser waten müssen. Nicht für viel Geld hätte er mit dem Kollegen tauschen wollen.

Doch auch wenn die Bedingungen für die Dreharbeiten heute deutlich besser waren, an seinem Ärger über Steve änderte es nicht viel.

„Außerdem ist diese Pension, in die er uns einquartiert hat, alt und schäbig. Wir haben doch sicher Besseres verdient als winzige Zimmer, in denen es nach Schweinestall riecht, oder?“ Jürgen war nicht mehr zu bremsen, wollte all seinem angestauten Ärger endlich Luft machen, auch wenn Franzi in diesem Zusammenhang sicher nicht die richtige Adresse war. „Ich bin froh, wenn wir mit dieser angeblichen Doku endlich fertig sind und ich mir ein seriöseres Projekt suchen kann. Warum muss ich überhaupt mit euch in diesen zweifelhaften Unterkünften schlafen? Ich habe in Nürnberg eine schöne Wohnung, in der ich meine Ruhe hätte.“

Franzi seufzte. Die ständigen Streitereien innerhalb des Teams waren anstrengend und nervenaufreibend. Sie wünschte sich von beiden Seiten mehr Gelassenheit und Diplomatie. Oft war sie diejenige, die zwischen den Fronten stand und zu vermitteln versuchte .

„Du weißt doch, wie Steve das sieht. Er will nicht morgens auf alle möglichen Leute warten, die erst noch mit der Familie frühstücken wollen, Kinder in die Schule bringen müssen oder im Stau stecken. Schau, ab morgen sind wir im Schloss Gugelhammer. Das Gästehaus dort ist total schick.

Ich habe mir die Zimmer gestern noch einmal auf der Homepage angesehen“, versuchte sie erneut, die Wogen zu glätten. „Und das ganze Thema rund um diesen Heiligen Wolfgang ist wirklich spannend.“

Jürgen sah sie skeptisch an.

„Das Schloss wurde komplett umgebaut und erst vor zwei Jahren als Spirituelles Zentrum St.Wolfgang eröffnet“, fuhr Franzi fort. „Stell dir vor, es wurde sogar die Wolfgangshöhle wieder freigelegt – samt Quellheiligtum.“ Ihre Begeisterung war deutlich zu spüren. „Dieser Ansgar ist der Chef und spirituelle Leiter der Einrichtung. Da werden richtig interessante Seminare angeboten.“

„Spiritueller Leiter? Quellheiligtum? Ich habe im Drehbuch davon gelesen, kann mir aber nichts darunter vorstellen.“

Franzis Ablenkungsmanöver zeigte langsam Erfolg.

„Die Wolfgangshöhle liegt am Gauchsbach direkt hinter dem Schloss Gugelhammer. Das war im Mittelalter eine vielbesuchte Pilgerstätte.“

„Und ist es wohl heute wieder, oder?“ Jürgen zwinkerte die junge Frau amüsiert an. So richtig ernst nehmen konnte er das ganze Thema allerdings nicht.

Franzi warf ihm einen missbilligenden Blick zu. „Ich kann mir schon denken, dass du für solche Themen kein Verständnis hast. Ich habe mir jedenfalls schon das aktuelle Seminarprogramm besorgt. Sobald die Doku fertig ist, gönne ich mir …“ Sie zog eine etwas zerknitterte Broschüre aus ihrer Hosentasche „… eine Woche Entspannung in der ruhigen Abgeschiedenheit dieses wunderschönen Schlosses.

Wir lassen uns ein auf die Schwingungen des Heiligen Wolfgang, finden Ruhe und sinnliche Erfahrungen im Höhlenbaden und spüren die heilende Kraft des frischen Wassers aus der Wolfgangsquelle.“ Franzi strahlte. „Genau das werde ich tun.“

3

Es roch so vertraut. Nach feuchtem Laub und kühlem Wasser, nach Herbst.

Alma saß auf der Bank vor ihrem kleinen Häuschen, spürte die warme Sandsteinmauer im Rücken und die letzten Sonnenstrahlen im Gesicht. Lange würde sie nicht mehr hier sitzen können, vielleicht noch ein paar Tage.

Der Wetterbericht hatte Regen und Höchsttemperaturen von zwei bis drei Grad vorhergesagt. Nachts würde es Frost geben. Schade. Sie vermisste die Zeit schon jetzt, die Zeit, in der sie hier sitzen und die Geräusche und Düfte der Natur genießen konnte – und in der sie all die vielen Menschen traf, die vor allem an den Wochenenden vorbeikamen:

Radfahrer, Eltern mit Kinderwagen, Jogger, Gruppen von schwatzenden Wanderern oder eifrige Fotografen mit ihren Kameras.

Ja, am Alten Kanal waren schon immer viele Leute unterwegs, Erholungssuchende, die dem Lärm und Gestank der Großstadt für ein paar Stunden entfliehen wollten. Viele von ihnen kamen regelmäßig und kannten die alte Frau auf ihrer Bank, grüßten freundlich oder setzten sich für ein paar Minuten zu ihr.

Sie hatte den Großteil ihres Lebens in diesem Haus verbracht, dem Schleusenwärterhäuschen der Schleuse 72.

Hier wurde sie geboren und hier wollte sie auch sterben.

Kurz vor ihrer Geburt, also vor über sechsundachtzig Jahren, hatte ihr Vater die Stelle als Schleusenwärter bekommen und war mit seiner Frau in das kleine Haus mit dem großen Garten eingezogen. Ihr Vater war sehr stolz darauf gewesen, in einem der neunundsechzig Wärterhäuschen entlang des Kanals wohnen zu dürfen. Die Arbeit war abwechslungsreich gewesen. Neben dem Schleusendienst war er auch für die Instandhaltung der Schleuse zuständig. Die Mauern mussten repariert, Dämme ausgebessert, Schilf und Gras gemäht und im Winter das Eis zerstoßen werden. Außerdem gehörte es zu seinen Aufgaben, sich um die Obstbäume links und rechts des Kanals zu kümmern.

Alma lächelte in sich hinein, ließ wie so oft die Zeit in ihrer Erinnerung Revue passieren. Die schönen, ereignisreichen Sommer und die oft einsamen Winter in dem abseits der Stadt gelegenen Haus. Sie und ihre Geschwister mussten nach der Schule stets mithelfen, bei der Obsternte oder der Versorgung der Treidelpferde, die die Schiffe durch den Kanal zogen. Ihr Bruder Alfred war ein sogenannter „Schiffsreiter“ gewesen, ein Junge, der den Pferden während des Schleusungsvorgangs den Futterbeutel brachte. Sie hatte ihn dafür beneidet, wäre selbst gern Schiffsreiterin gewesen, aber sie war nun einmal ein Mädchen und hatte deshalb andere Aufgaben.

Als der Kanal 1950 schließlich stillgelegt wurde, musste sich der Vater eine andere Arbeitsstelle suchen – und eigentlich auch eine andere Wohnung für die Familie. Doch man hatte ihnen angeboten, das Haus zu kaufen. Dafür hatte die Familie all ihre Ersparnisse zusammengekratzt. Kurz darauf hatte Alma geheiratet und war zu ihrem Mann gezogen.

Doch nach seinem Tod vor über 30 Jahren war sie wieder heimgekommen und wohnte seither wieder hier, an der Schleuse 72.

„Zieh das über, Oma, es wird langsam kalt.“ Lilla, ihre Enkelin, legte ihr liebevoll die dicke Strickjacke über die Schultern und setzte sich neben sie.

„Sind die Enten wieder da?“ Alma kuschelte sich in die warme Jacke. „Ich höre sie gar nicht.“

Alma hatte schon ihr Leben lang Probleme mit den Augen gehabt, hatte immer eine Brille tragen, mehrere Operationen über sich ergehen lassen müssen. Inzwischen war sie so gut wie blind, konnte kaum noch zwischen Tag und Nacht unterscheiden. Sie musste sich auf ihre anderen Sinne verlassen.

„Nein, im Moment sehe ich keine. Sie kommen bestimmt bald wieder.“ Lilla griff nach der eiskalten Hand ihrer Großmutter. „Komm, wir gehen rein. Ich habe Feuer im Kamin gemacht.“

Als Lilla vor über zwei Jahren mit ihrem Lehramtsstudium begonnen hatte, war sie zu Alma in das kleine Sandsteinhaus am Alten Kanal gezogen. Sie unterstützte ihre Großmutter im Alltag, dafür finanzierte ihr Alma das Studium – eine Vereinbarung, von der beide profitierten. Auch Lilla genoss das Leben im ehemaligen Schleusenwärterhaus, fühlte sich manchmal zurückversetzt in die Zeit, als ihr Urgroßvater noch hier gearbeitet hatte. Alma hat ihr schon oft davon erzählt, wie es war, das Leben am Kanal während des Krieges und in der Zeit danach. Manchmal fühlte es sich für Lilla so an, als sei sie selbst dabei gewesen. Es war ein bescheidenes Leben, nicht direkt arm, aber auch weit entfernt von jeglichem Wohlstand oder gar Luxus.

Damals wie heute trug der große Gemüsegarten dazu bei, sich ein Stück weit selbst zu versorgen. Lilla liebte das Gärtnern und bewirtschaftete die Beete, Sträucher und Bäume mit ebenso großer Leidenschaft, wie es ihre Großmutter jahrelang getan hatte. „Kanaläpfel“ und „Kanalbirnen“ habe es früher gegeben, hatte Alma erzählt, Obst von den Bäumen entlang des Kanals, das die Schleusenwärter ernten und verkaufen durften und das einen wichtigen Beitrag zum Lebensunterhalt der Familien geleistet hatte.

„Du hast ja recht, Kind. Komm, hilf mir.“ Schweren Herzens stand Alma auf und hakte sich bei ihrer Enkelin unter. „Lass uns doch noch ein paar Schritte laufen, bevor wir hineingehen.“

„Gute Idee. Ich war heute viel zu wenig draußen.“

Lilla genoss es, mitten im Grünen zu wohnen. Im Gegensatz zu ihren Kommilitonen musste sie nicht erst mehrere Stationen Straßenbahn, U-Bahn oder Bus fahren, bis sie im Wald war. Die Natur war sprichwörtlich direkt vor der Haustür. Die beiden schlugen den Weg stadteinwärts ein.

Bereits nach ein paar Minuten hatten sie das Steinerne Brücklein erreicht, eine romantisch aussehende, kleine Brücke, die regelmäßig als Fotomotiv genutzt wurde.

„Es ist wunderschön, Oma, die Blätter leuchten in allen Farben, an manchen Stellen ist das Wasser unter all dem Laub gar nicht mehr zu sehen. Der Herbst am Kanal ist schon besonders schön“, schwärmte Lilla und drückte Almas Hand.

„Ich wünschte, ich könnte diese Farben noch einmal sehen, das Spiegelbild des Steinernen Brückleins im Wasser und die fleißigen Eichhörnchen“, seufzte Alma wehmütig.

Lilla legte ihr den Arm um die schmalen, knochigen Schultern. Es kam nur selten vor, dass die Großmutter mit ihrem Schicksal haderte, doch Lilla wusste, dass dieser melancholische Moment schnell wieder vorbei sein würde.

Eine leise Melodie war aus ihrer Jackentasche zu hören.

„Entschuldige, Oma, mein Handy.“ Sie holte das Gerät heraus und schielte Alma von der Seite an. „Was gibt’s? … ja … nein … bis später.“

„War ER das?“

„Lass uns nach Hause gehen und einen schönen Pfefferminztee trinken“, lenkte Lilla ab. „Ich habe deine Lieblingskekse gekauft.“

„Das war ER, stimmt’s?“

Lilla atmete tief ein. Es war klar, dass Alma nicht locker lassen würde. „Ja, das war er.“

ER, das war Dirk, ihr neuer Freund, der leider überhaupt nicht dem Mann entsprach, den sich Alma für ihre Enkelin gewünscht hätte. Deshalb nahm sie auch seinen Namen nur äußerst ungern in den Mund. Die Liste seiner Sünden und Verfehlungen war lang, sehr lang. Und wurde mit jedem Besuch länger.

ER hatte keine abgeschlossene Ausbildung und kein Studium, jobbte mal hier mal da, hatte keinen geregelten Tagesablauf, keine anständige Familie – was auch immer darunter zu verstehen war.

Angeblich nutzte ER Lilla nur aus, spielte mit ihr, mogelte sich auf ihre Kosten durch’s Leben, war unfreundlich, faul, ungeschickt und bequem.

Alma war überzeugt davon, dass ER regelmäßig Drogen nahm und ihre geliebte Enkelin in schlechte Kreise einführte. So harmonisch das Zusammenleben der beiden Frauen sonst auch war, in diesem Punkt war Streit vorprogrammiert. Lilla war verliebt, fasziniert von dem Mann, den sie vor Kurzem kennengelernt hatte. Leider war sein erster Besuch im Schleusenwärterhaus 72 nicht besonders harmonisch verlaufen. Er hatte alles falsch gemacht, sich nicht besonders diplomatisch verhalten.

Alma mochte ihn nicht, konnte sich nicht erklären, was Lilla an diesem Kerl fand. Am liebsten hätte sie ihm Hausverbot erteilt und ihm untersagt, sich mit ihrer Enkelin zu treffen.

Sie hatte es zwar nicht nicht explizit ausgesprochen, es war Lilla aber klar, dass es genauso gemeint gewesen war.

Lilla litt sehr unter dieser Situation, musste sich immer zwischen ihrem Freund und der Großmutter entscheiden, musste oft die Wahrheit verdrehen, ihrer Oma etwas vormachen – und das hasste sie.

Sie trafen sich heimlich, mal in einer Kneipe, mal ließ sie ihn durch das Fenster in ihr Zimmer klettern, in der Hoffnung, die Großmutter merkte nichts davon.

Alma war zwar fast blind, aber nicht taub. Lilla wusste nicht, ob die nächtlichen Besuche tatsächlich unbemerkt blieben.

Zumindest hatte sie Alma bisher noch nicht darauf angesprochen.

Im Wohnzimmer war es warm und gemütlich. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Pfefferminztee und Kaminfeuer. Alma machte es sich in ihrem Lieblingssessel gemütlich und schaltete die Stereoanlage an.

Mozarts Kleine Nachtmusik erfüllte den Raum.

Lilla goss beiden den dampfenden Tee in die Tassen und sah auf die Uhr.

In drei Stunden würde er kommen. Vielleicht würde er über Nacht bleiben. Es kribbelte auf ihrer Haut bei dem Gedanken an seinen warmen Körper, seine Zärtlichkeiten.

So gern würde sie mit Großmutter über ihre Liebe sprechen, über die Schmetterlinge in ihrem Bauch und darüber, wie sie sich ihre Zukunft mit ihm vorstellte. Er könnte mit ins Schleusenwärterhäuschen einziehen, ihr bei der Betreuung und Versorgung der Großmutter helfen.

Sie wünschte sich so sehr, die beiden liebsten Menschen in ihrem Leben würden sich gut verstehen. Doch leider war genau das Gegenteil der Fall. Alma meckerte über Dirk und Dirk ließ kein gutes Haar an der verkalkten Alten, wie er sie einmal genannt hatte. Er hatte sich zwar sofort dafür entschuldigt, aber Lilla konnte es nicht vergessen.

Nach einer Stunde Mozart und Pfefferminztee ging Lilla in ihr Zimmer. „Gute Nacht, Oma.“ Sie gab Alma einen Kuss auf die Wange. „Ich muss noch einiges für morgen vorbereiten. Du kommst doch zurecht?“

„Aber natürlich, liebes Kind. Sei nur recht fleißig. Gute Nacht.“

Lilla konnte sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren.

Immerzu musste sie an Dirk denken, konnte es nicht erwarten, ihn zu sehen.

Alma klapperte in der Küche herum. Trotz ihrer Sehschwäche kam sie in ihrer gewohnten Umgebung noch einigermaßen zurecht. Sie würde sich dann vor den Fernseher setzen und einen Liebesfilm ansehen.

Wahrscheinlich würde sie Lilla noch einmal bitten, aus dem Programmheft vorzulesen und dann die Hörfilmfassung einzustellen. Sie würde schnell in ihrem Sessel einschlafen und gegen 22:00 Uhr ins Bett gehen.

Der Wecker tickte leise. Aus Almas Schlafzimmer war leises Schnarchen zu hören. Lilla kuschelte sich an Dirks warmen Körper, während er ihr sanft über den Rücken streichelte.

Einen Augenblick lang war sie vollkommen glücklich, doch leider war das Glück nur von kurzer Dauer.

„Ich muss gehen, mein Schatz.“ Dirk befreite sich aus Lillas Umarmung und stand auf.

„Oh, bitte bleib doch hier“, bat Lilla enttäuscht. „Ich möchte so gern in deinen Armen einschlafen und dich die ganze Nacht nicht mehr loslassen.“

„Du weißt doch, dass das nicht geht. Wir haben das schon so oft besprochen“, gab Dirk mit einem leicht ungeduldigen Unterton zurück. „Ich habe einen neuen Job und muss früh raus.“

„Das weiß ich ja, aber ich verstehe nicht, warum du mir nicht sagen willst, wo du arbeitest und was du dort machst.“

Dirk holte tief Luft. Lilla wusste, dass er nicht gern darüber sprach. Nicht über seinen neuen Job, nicht über seine Familie, nicht über sich selbst.

Er sagte immer, er lebe in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit. Aber für Lilla existierte der Mensch nicht nur im im Hier und Jetzt. Er war das Ergebnis all seiner Erlebnisse und Erfahrungen, aller Kontakte und Begegnungen mit anderen.

„Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären soll.“

Genervt zog er sich den Pulli über. „Ich brauche noch etwas Zeit, mich dort einzugewöhnen. Außerdem muss die Wohnung noch eingerichtet werden.“

„Aber dabei kann ich dir doch helfen.“ Lilla wollte sich nicht so schnell geschlagen geben. „Ich liebe dich. Lass mich doch Teil deines Lebens sein.“

Dirks Gesichtszüge wurden hart. Er griff nach seiner Jacke.

Lilla befürchtete, sie war zu weit gegangen, wollte aber auch nicht zurückstecken, sich nicht einschüchtern lassen. Sie war bereit, auf ihn zuzugehen und seine Macken in Kauf zu nehmen – aber nicht um jeden Preis.

„Lilla“, zu ihrer Erleichterung wurde seine Stimme wieder weicher. Er setzte sich an den Bettrand und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Du bist meine große Liebe. Ich will dir nicht wehtun und will dich nicht verlieren. Lass mir noch ein bisschen Zeit, dann werden wir beide gemeinsam eine großartige Zukunft haben. Vertrau mir.“

4

„Herzlich willkommen im Spirituellen Zentrum St.Wolfgang. Ich freue mich sehr, Sie und Ihr Team hier bei uns begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Leander. Ich bin während Ihres Aufenthaltes Ihr Ansprechpartner hier im Haus und auf dem ganzen Gelände.“

Franziska Beer strahlte den überaus freundlichen, jungen Mann an der Rezeption glücklich an. „Vielen Dank. Wir freuen uns auch sehr, dass Sie uns für die nächsten Wochen Ihr Gästehaus zur Verfügung stellen und die Dreharbeiten auf dem Gelände ermöglichen.“

Leander lachte. „Danke schön, aber dafür müssen Sie sich bei Ansgar bedanken. Solche Entscheidungen sind immer noch Chefsache.“ Er schenkte Franzi sein charmantestes Lächeln und legte eine Handvoll Schlüssel auf den Tresen.

„Hier die Schlüssel zu den Zimmern. Das Gästehaus befindet sich nur wenige Meter vom Haupthaus entfernt und ist neben den Schlafräumen zusätzlich mit mehreren kleineren Besprechungszimmern, einem großen Aufenthaltsraum mit Küchenzeile und einem Yogaraum ausgestattet.

Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen gern die Räumlichkeiten zeigen.“ Leander zögerte kurz. „Wo sind denn Ihre Kolleginnen und Kollegen?“

„Die packen in unserem bisherigen Quartier noch alles zusammen. Sie müssten gegen Mittag hier sein. Bis dahin soll ich alles vorbereitet haben. Und ja, es wäre schön, wenn Sie mir alles zeigen könnten.“

„Gut. Einen kurzen Augenblick.“ Leander nahm einen dicken Schlüsselbund von einem der Haken und rief durch die Eingangshalle hinüber ins angrenzende Büro: „Angelika, ich zeige der Dame vom Filmteam das Gästehaus.“

Schwungvoll kam er hinter dem Tresen hervor und hielt Franzi galant die Tür auf. „Bitte schön, nach Ihnen.“

Sie traten hinaus auf die Brücke, die über einen Graben führte und das Herrenhaus mit dem Rest des Geländes verband. In dem ehrwürdigen Gebäude waren neben der Rezeption und der Verwaltung auch der Speisesaal, einige Schulungsräume, Gästezimmer und die Privatwohnung von Ansgar, dem Chef des Hauses, untergebracht. Auf dem weitläufigen, mit einer Bruchsteinmauer umgebenen Grundstück standen weitere Gebäude, ein kleines Häuschen mit Uhrturm und das moderne Gästehaus. Dazwischen riesige alte Bäume, sorgfältig geharkte Kieswege, Blumenbeete, Büsche und Töpfe mit Kräutern.

„Das ist ja großartig hier!“ Franzi war begeistert. „So altertümlich und doch modern. Und so üppig grün und gepflegt.“

„Schön, dass es Ihnen bei uns gefällt. Wir wollen unseren Gästen ihren Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich gestalten. Sie sollen den Alltag für ein paar Tage hinter sich lassen und einfach abschalten.“

„Genau das werde ich tun, sobald es mein Terminkalender erlaubt.“ Franzi blieb auf einem kleinen, mit Blumenrabatten eingefassten Platz stehen und sah sich um. „Was ist das für ein Anwesen? Es sieht aus, als sei es schon mehrere hundert Jahre alt. Können Sie mir nicht etwas darüber erzählen?“

„Sehr gern.“ Leander freute sich über ihre Begeisterung.

„Das Schloss Gugelhammer oder auch Kugelhammer wurde bereits im 14. Jahrhundert erstmals erwähnt, man geht aber davon aus, dass es noch älter ist. Es war in Besitz vieler Nürnberger Patrizierfamilien, die das Anwesen gern als Brautgeschenk weitergegeben haben.“

„Toll! Und wer ist das?“ Sie wies auf die bronzene Statue, die auf einem steinernen Sockel inmitten bunt blühender Herbstblumen stand. „Das ist der Heilige Wolfgang, Benediktinermönch, späterer Bischof von Regensburg und Namensgeber des angrenzenden Ortes Röthenbach bei St.Wolfgang.“

Franzi vergaß für einen Moment ihren Auftrag, alles für die Ankunft des Teams vorzubereiten und hing an den Lippen des sympathischen und darüber hinaus auch noch äußerst gutaussehenden jungen Mannes. „Er hat hier in der Nähe in einer Höhle gewohnt, richtig? Gegen Ende des 10. Jahrhunderts.“

Leander nickte anerkennend. „Da sind Sie ja schon gut informiert.“

Franzi konnte nicht verhindern, dass sich ihr Gesicht mit einer leichten Röte überzog. „Ja, wir haben vor einigen Tagen die Szene gedreht, in der Wolfgang die Höhle gefunden hat. Morgen beginnen wir hier mit den Dreharbeiten zum Quellheiligtum. Es soll auch um die Zeit gehen, in der hier Ströme von Pilgern unterwegs waren. Ich bin schon ganz gespannt.“

„Ich zeige Ihnen erst einmal Ihre Unterkunft, dann können wir noch hinunter zur Höhle gehen.“ Er sperrte die Tür zum Gästehaus auf. „In diesem Trakt waren früher die Bediensteten untergebracht. Zum Bewirtschaften des Schlosses, des Gartens und der Mühle waren viele Arbeiter nötig.“

„Mühle?“

„Ja, bis 1732 war Gugelhammer auch ein Industriegut. Man betrieb eine so genannte schwere Mühle, einen Hammer.“

„Und was passierte dann?“

„Ein verheerendes Hochwasser hat die Mühle weggerissen, die Pilgertreppe zerstört und die Wolfgangshöhle zum Einsturz gebracht.“

Franzi wusste natürlich von der Mühle, vom Hochwasser und der Pilgertreppe. Schließlich sollte es genau darum in den kommenden Drehtagen gehen. Sie hatte das Drehbuch und die nötigen Hintergrundinformationen gelesen, wollte es sich aber nochmal von diesem wirklich interessanten Mann erzählen lassen. Vielleicht war er ja noch zu haben?

Das Gästehaus war ein Traum. Kaum hatte sie den Eingangsbereich betreten, fühlte sie sich schon wie zu Hause, oder sogar noch besser als zu Hause, denn hier lag nichts herum, war alles perfekt sauber und behaglich. Der helle Holzboden mit den gewebten Teppichläufern, die rustikalen Balken an der Decke, das knisternde Feuer im Kamin, der zarte Duft nach ätherischen Ölen – wie im Paradies.

Es war so wunderschön und heimelig, dass sie sich im Moment nicht vorstellen konnte, diese Räumlichkeiten jemals wieder zu verlassen. Sie sah sich schon vor ihrem geistigen Auge mit gemütlichen Leggings in eine flauschige Decke gewickelt auf dem Sofa vor dem Feuer sitzen und einen schnulzigen Liebesroman lesen. Neben sich eine bauchige Tasse mit heißem Tee und ein Teller voller leckerer Schokoladenkekse und – sie seufzte sehnsüchtig – der gutaussehende Leander …

„Frau Beer?“, riss sie ebendieser Leander aus ihren Tagträumen. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Schlafräume.“

Alles war perfekt. Genauso hatte sie sich das vorgestellt, besser gesagt, genauso hatte sie es sich erhofft. Manchmal täuschten ja die Bilder auf Broschüren oder im Internet und gaukelten Gemütlichkeit, Sauberkeit und Atmosphäre vor.

War man dann vor Ort, war die Enttäuschung groß.

Doch hier war alles so wie erwartet – und noch besser.