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Friedhelm Eck, ein erfolgreicher Nürnberger Gastronom, erhitzt mit einem neuen, makabren Projekt die Gemüter: Erlebnisgastronomie in den Lochgefängnissen, mit Büßerhemd, Daumenschraube und Henkersmahlzeit. Eine Bürgerinitiative versucht, mit Petitionen und Demonstrationen das Projekt zu stoppen. Eines Morgens wird die Sprecherin der Bürgerinitiative tot aufgefunden. Als bekannt wird, dass bei ihr die Nachricht "Grüße vom Meister Franz" hinterlassen wurde, ist allen Nürnbergern klar: Der Henker Franz Schmidt ist zurück ...
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Friedhelm Eck, ein erfolgreicher Nürnberger Gastronom, erhitzt mit einem neuen, makaberen Projekt die Gemüter:
Erlebnisgastronomie in den Lochgefängnissen, mit Büßerhemd, Daumenschraube und Henkersmahlzeit.
Eine Bürgerinitiative versucht, mit Petitionen und Demonstrationen das Projekt zu stoppen. Eines Morgens wirddie Sprecherin der Bürgerinitiative tot aufgefunden.
Als bekannt wird, dass bei ihr die Nachricht „Grüße vomMeister Franz“ hinterlassen wurde, ist allen Nürnbergernklar: Der Henker Franz Schmidt ist zurück …
Monika Martin ist Sozialpädagogin und führt seit 1996 für das Institut für Regionalgeschichte, Geschichte für Alle e.V. und die Nürnberger Unterwelten historische Stadtrundgänge in Nürnberg durch.
„Hochgericht“ ist der erste Band aus der Reihe „Krimis mit Geschichte“, in der die Autorin ihre literarische Tätigkeit mit ihrem regionalgeschichtlichen Engagement zu einem Kriminalroman mit Fakten aus der Stadtgeschichte Nürnbergs verbindet.
Im November 2018 wurde ihr der Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis verliehen.
Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.
In Gedenken an Martin Schieber
Inschrift einer Tafel an der Wand der Folterkammer im Nürnberger Lochgefängnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Anmerkung der Autorin
Danksagung
Zeittafeln
Bald wird es soweit sein.
Bald werden sie ihn holen.
Versteinert vor Angst saß Georg Carl Lamprecht, ein Müllner von Markt Bernheim, zitternd auf der harten Pritsche und starrte in die undurchdringliche Finsternis.
Er hörte nicht die Schreie der anderen Gefangenen, nahm nicht den bestialischen Gestank wahr, den Hunderte armer Teufel vor ihm in der winzigen, mit rohen Brettern verkleideten Zelle hinterlassen hatten.
Die entsetzliche Angst davor, was auf ihn wartete, schnürte ihm die Kehle zu, raubte ihm den Verstand.
Was werden sie mit ihm machen? Wie schlimm würde es werden? Was würde er aushalten können?
Würden sie ihm glauben, wenn er nochmals seine Unschuld beteuerte?
Er hatte nichts getan. Man hatte ihn verleumdet.
Er war kein Zauberer, kein Hexer, hatte keine Münzen gefälscht, niemanden betrogen.
Er war ein ehrbarer Müllner, der sein Handwerk verstand.
Die beiden anderen, der Heroldsschmied Zacharias und der Feylenhauer Carl, hatten ihn angeschwärzt. Sie waren die Drahtzieher. Wie sollte er jetzt noch im wahrsten Sinne des Wortes seinen Kopf aus der Schlinge ziehen?
Er hatte keine einflussreichen Fürsprecher, an die er sich in seiner Not wenden konnte.
Er saß zu Unrecht in diesem grauenvollen Loch.
Eiseskälte kroch durch seine dünnen weißen Socken die nackten Beine hinauf. Das steife, kratzige Büßerhemd hing wie ein Sack an seinem mageren Körper. Er schlotterte, klapperte mit den Zähnen, spürte nicht, wie er sich eins ums andere Mal die Lippen blutig biss.
Sein Herzschlag setzte kurz aus, als er hörte, wie sich schwere Schritte seiner Zellentür näherten. Ein Schlüssel wurde ins rostige Schloss gesteckt und quietschend umgedreht. Eine bullige Gestalt, die den Türrahmen fast vollständig ausfüllte, betrat den kleinen Raum.
Der Henker. Franz Schmidt. Meister Franz.
Seit nunmehr 40 Jahren richtete er hier in Nürnberg die Verbrecher. Er war ein Meister mit dem Schwert, eine respekteinflößende Person. Man hatte schon oft davon gehört, dass er selbst beim Rat der Stadt um Gnade für die Verurteilten gebeten hatte. Zwar hatte er keinen Freispruch erwirkt, aber die Umwandlung der Strafe vom Ertränken oder Rädern zum Tod durch das Schwert.
Ihm, dem mutmaßlichen Hexer und Falschmünzer, stand der Tod durch das Feuer bevor. Wenn nicht noch ein Wunder geschah, würde er in wenigen Tagen bei lebendigem Leib verbrennen.
Doch zuvor brauchten sie sein Geständnis, ohne das keine Verurteilung möglich war.
Man würde ihn foltern.
Er war kein Held, ertrug keine Schmerzen, würde vermutlich alles gestehen, was sie ihm in den Mund legten.
Er hatte grauenvolle Angst.
Meister Franz trug eine weite Hose aus dickem, braunem Wollstoff, die unter seinen Knien mit einem schmalen Riemen zusammengebunden war. Die Waden waren mit schmutzigen Strümpfen bedeckt, die Füße steckten in wuchtigen Stiefeln. Das beige, mit zahlreichen Blutflecken übersäte Hemd mit den weiten Ärmeln war halb aufgeknöpft und ließ die dichten Brusthaare herausquellen. Um die kräftigen Handgelenke trug er grobe Ledermanschetten.
Der Mann hielt eine Kerze in der Hand und blendete damit Georgs Augen. Zu lange hatten sie keinen Lichtstrahl mehr gesehen, hatten sich an die gnadenlose Finsternis gewöhnt.
Trotz schmerzender Augen wurde Georg von der riesigen, behaarten Pranke des Mannes grob am Arm gepackt und von der Pritsche gezerrt.
„Aufstehen“, knurrte Meister Franz ungnädig und stieß den Wehrlosen vor sich her auf den schmalen, schwach beleuchteten Gang hinaus. Georgs Knie gaben nach, er stürzte auf den kalten Boden. Der Henker beugte sich über ihn und riss ihn wieder auf die Beine.
Stets den heißen Atem des Henkers im Nacken, schleppte sich der Angeklagte keuchend den Gang entlang, vorbei an weiteren Zellen, aus denen teils klägliches Gewimmer, teils wütendes Geschrei oder einfach nur lautes Weinen zu hören war.
„Hier hinein!“, befahl der riesige Mann hinter ihm und wies auf eine offene Tür. Hinter dieser führten einige ausgetretene Stufen in einen schmalen, hohen Raum hinab, dessen Decke an das Gewölbe einer Kirche erinnerte. Deshalb nannte man die Folterkammer der Nürnberger Lochgefängnisse also Kapelle, schoss es Georg kurz durch den Kopf.
Der Raum war mit Öllampen beleuchtet.
Vor ihm stand eine Vorrichtung aus Metall, die auf einem schweren Holztisch befestigt war.
„Sieh genau hin!“, brummte der Henker und versetzte Georg einen heftigen Stoß in den Rücken. „Wenn du nicht gleich gestehst, was du verbrochen hast, quetsche ich dir deinen Daumen zu Brei!“ Damit trat er auf den Delinquenten zu und packte seinen Arm.
„Ich bin unschuldig“, wimmerte Georg verzweifelt. „Glaube mir, ich habe nichts getan.“
Georg spürte, wie eine warme Flüssigkeit zwischen seinen Schenkeln herab rann und eine kleine, gelbe Pfütze auf dem Boden hinterließ.
„Du bist angeklagt der Hexerei und Falschmünzerei!
Gestehe!“, brüllte der Henker ungnädig.
Georg schwieg mit gesenktem Kopf.
Meister Franz steckte Georgs Daumen in die Vorrichtung und drehte langsam zu.
„Gestehe“, hauchte der Henker in das Ohr seines Opfers.
Der faulige Atem, der Gestank nach Schweiß und Blut und die entsetzliche Angst davor, was nun kommen würde, ließ in Georg Übelkeit aufsteigen. Er würgte, war kurz davor zu erbrechen.
Ein entsetzlicher Schmerz bohrte sich in seinen Daumen, seine Hand, seinen ganzen Körper.
„Gestehe!“
Schluchzend sackte der Müllner zusammen.
„Ja! Ja, ich habe Münzen gefälscht und Leute bestohlen! Ich bin ein Zauberer und Betrüger!“
Er würde alles gestehen, alles! Wenn nur dieser Schmerz aufhörte. Sein Mund war trocken, das Herz schlug ihm bis zum Hals.
„Was hast du gesagt?“, bohrte der Henker nach. „Wir können dich nicht verstehen.“
„Ich bin ein Zauberer und Betrüger“, wiederholte Georg mit heiserer Stimme.
„Lauter!“
„Ich bin ein Zauberer und Betrüger!“, stieß Georg hoffnungslos hervor.
Der Henker lockerte die Schraube, der Gefolterte sank jammernd und schluchzend auf den Boden und krümmte sich weinend zusammen.
„Er hat gestanden!“, rief der Henker in Richtung eines Schachtes in der Wand, der in einen Raum über der Folterkammer führte. Hier saß der Richter zusammen mit den Lochschöffen, den Zeugen der peinlichen Befragung, und dem Lochschreiber, der die Aufgabe hatte, das Geständnis zu dokumentieren.
„Georg Carl Lamprecht, Müllner von Markt Bernheim“, donnerte die gewaltige Stimme des Henkers durch den kahlen Raum, „gesteht, dass er Hexerei und Falschmünzerei betrieben hat!“
Es war stockfinster und kalt. Anton Brugger, Mitarbeiter einer kleinen IT-Firma, saß in seinem weißen Büßerhemd auf einer harten Pritsche und wartete.
Man hatte an alles gedacht, um diesen Ausflug ins Mittelalter so authentisch wie möglich zu gestalten. In der winzigen Zelle des Nürnberger Lochgefängnisses stank es fürchterlich nach menschlichen Exkrementen. Man spielte sogar Schreie anderer Gefangener über eine Lautsprecheranlage ein.
Hätte Anton gewusst, was bei diesem Betriebsausflug auf ihn zukommen würde, hätte er eine schlimme Erkältung oder Ähnliches vorgetäuscht, um sich nicht dieser – im wahrsten Sinne des Wortes – Tortur aussetzen zu müssen.
Das war so ziemlich die geschmackloseste Idee, die sein Chef je hatte. Auf der anderen Seite bekam man wirklich eine Ahnung davon, was die Menschen früher einander angetan hatten, was die Leute hatten erleiden müssen.
Aber konnte man das nicht weniger drastisch darstellen?
Der Gestank war unerträglich, er fror, hatte Hunger und keine Lust auf das, was der Veranstalter sicherlich noch alles geplant hatte.
Da hörte er schwere Schritte vor der Tür.
Unwillkürlich zuckte er zusammen und dankte seinem Schicksal, dass er im 21. und nicht im 17. Jahrhundert lebte.
Obwohl er wusste, dass alles nur gespielt war, klopfte sein Herz schneller, war die Kälte plötzlich vergessen.
Die Tür wurde geöffnet und eine imposante Gestalt betrat den winzigen Raum.
„Du bist dran“, brummte der Mann, der mit seinem blutverschmierten Hemd und dem bärtigen Gesicht genau dem Bild entsprach, das Anton von einem mittelalterlichen Scharfrichter hatte.
Er folgte dem Henker durch den schmalen Gang zur Folterkammer. Die werden mich doch nicht wirklich foltern, schoss es Anton durch den Kopf. Das würde doch nun wirklich zu weit führen.
Die Folterkammer war vom flackernden Licht zweier Öllampen beleuchtet. Auf dem Boden kniete ein Mann mit wirrem Haar, schmutzigem, schmerzverzerrtem Gesicht und einem ebensolchen grau-weißen Büßerhemd wie Anton eines trug. Sein Daumen steckte in einer Vorrichtung aus Metall, die auf einem schweren Holztisch befestigt war.
„Sieh genau hin!“, brummte der Henker und versetzte Anton einen heftigen Stoß in den Rücken. „Wenn du nicht gleich gestehst, was du verbrochen hast, geht es dir wie ihm!“
Damit trat er auf den knienden Mann zu und drehte an der Schraube, die eine kleine Metallplatte noch fester auf den Daumen des Mannes quetschte. Der Mann brüllte vor Schmerzen wie ein Tier.
Anton lief ein Schauer über den Rücken.
Das war so ziemlich das Übelste und Geschmackloseste, was er je erlebt hatte. Da quälte man zum Schein einen Menschen, um andere, die viel Geld dafür bezahlt hatten, zu unterhalten.
Ihm wurde übel.
Er wollte hier raus.
„Du bist ein Dieb!“, brüllte der Henker und drehte noch einmal an der Schraube. „Gestehe, dass du deinem Nachbarn fünf Schweine gestohlen hast! Gestehe!“
„Ja, ich habe gestohlen!“, schrie der Gefangene unter Schmerzen. „Ich bin ein Dieb!“
„Dann bist du des Todes!“
Fassungslos beobachtete Anton das grausige Spektakel.
Der Henker löste die Daumenschraube und wandte sich Anton zu.
„Und jetzt zu dir!“
Plötzlich hörte er Stimmen. Lautes, ausgelassenes Lachen.
Die Stimmen näherten sich der Folterkammer.
Anton blickte in Richtung der niedrigen Tür.
„Anton!“, hörte er jemanden rufen. „Wie siehst du denn aus?“
Es folgte vielstimmiges Gekicher und Gemurmel.
„Also, wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich ernsthaft glauben, du wärst ein echter Gefangener im finsteren Mittelalter und kein Teilnehmer einer erlebnisgastronomischen Aktion Anfang des 21. Jahrhunderts.“
Ein etwa 45-jähriger Mann – ebenfalls in Büßerhemd und weißen Socken – kam die Treppenstufen herab und half Anton beim Aufstehen.
Anton lehnte sich benommen an den Tisch mit der Daumenschraube und schüttelte sich.
„Klaus, das ist Wahnsinn“, krächzte er heiser. „Hat jemand etwas zu trinken für mich?“
„Ich fand es auch irre“, stimmte ihm nun eine Frau mit kurzgeschnittenem blondem Haar zu und reichte ihm eine Flasche Wasser. Anton setzte die Flasche an und trank sie in einem Zug leer.
„Danke, Sonja“, murmelte Anton leise vor sich hin. „Was haben die Leute damals gelitten.“
Es war ihm anzusehen, dass er noch immer nicht ganz aus der grausamen Welt des Mittelalters in die Gegenwart zurückgekehrt war. Zu intensiv und frisch waren die Eindrücke, die das inszenierte Schauspiel bei ihm hinterlassen hatten. Zu entsetzlich die Vorstellung, das eben Erlebte könne ihm in Wirklichkeit widerfahren.
Furchtbar.
Wie unfassbar grausam und brutal waren unsere Vorfahren damals gewesen?
Warum hatten sich die Menschen das gegenseitig angetan?
Das Entsetzlichste an der vergangenen Stunde war für Anton das Wissen, dass diese Szenen nicht erfunden waren, nicht einzig der lebhaften Fantasie diverser Schauspieler und Regisseure entsprungen. Diese Dinge sind tatsächlich passiert. Viele Tausende von Menschen wurden auf solch grausame Art und Weise gequält.
„Komm jetzt“, forderte ihn der Kollege gut gelaunt auf und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Ihm schien die Inszenierung nicht so zugesetzt zu haben. „Jetzt freue ich mich auf das Essen. Ich habe einen Bärenhunger.“
Fröhlich plaudernd setzten sich die zwölf Mitarbeiter der kleinen Firma in Bewegung, zwängten sich den engen, verwinkelten Gang entlang, vorbei an der Schmiede mit all den grausamen Folterwerkzeugen und erklommen die geschwungene, steile Treppe hinauf in einen Raum, der einst der Aufenthaltsraum des Lochhüters, also Gefängnisdirektors gewesen war.
Hier wurde die Gruppe von einem schick gekleideten Mann Ende 50 mit vollem, grauem Haar und einer randlosen Brille begrüßt. Sein teuer aussehender Designeranzug saß perfekt, die weißen Zähne leuchteten, die gepflegten Hände mit den offensichtlich frisch manikürten Fingernägeln sahen nicht so aus, als müssten sie schwere körperliche Arbeit verrichten.
Mussten sie auch nicht.
Friedhelm Ecks Hände bedienten lediglich Handys, Computer und ab und zu seinen goldenen Kugelschreiber.
„Willkommen im Gasthaus zum Grünen Frosch“, begrüßte er die Gäste mit seiner vollen, tiefen Stimme, die jede Frau dahinschmelzen ließ. „Ich hoffe, Sie hatten eine interessante und spannende Zeitreise ins finstere Mittelalter mit all seinen Schrecken und Grausen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: „Manch einer fragt sich sicher, woher der ohne Zweifel eigenartige Name dieses Etablissements stammt?“
Er lachte kurz auf und warf den Damen in der Gruppe einen betörenden Blick zu.
„Das ist tatsächlich der Name, den dieser Raum bereits im Mittelalter scherzhaft trug. Der Lochwirt selbst wurde dementsprechend Wirt zum Grünen Frosch genannt, ist das nicht erstaunlich?“
Friedhelm Eck strahlte amüsiert, breitete einladend beide Arme aus und lud seine Gäste ein, an dem rustikalen Holztisch Platz zu nehmen, der den kleinen Raum dominierte.
Der Tisch war gedeckt mit grob geschnitzten Tellern, riesigen, ebenfalls aus Holz gearbeiteten Humpen und unförmigen Löffeln. Edle Kerzen, Tafelsilber, Servietten oder Kristallgläser suchte man vergebens. Auch bequeme Stühle mit weichen Polstern und schicken Hussen gehörten nicht zur Ausstattung des Gasthauses. Sah man sich die Kleidung der Gäste an, schien die Aufmachung jedoch mehr als angemessen zu sein.
„Herr Eck!“, rief Klaus Markert, der Chef der Abteilung euphorisch und schüttelte seinem Gastgeber die Hand. „Es war fantastisch! So authentisch und echt. Manchen von uns lief wirklich ein Schauer über den Rücken.“ Er warf Anton Brugger ein verschmitztes Lächeln zu und fuhr fort.
„Was für eine großartige Idee, unsere Vergangenheit auf diese eindrückliche Art und Weise erlebbar zu machen.
Fabelhaft.“
„Es freut mich, Herr Markert, dass Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen etwas anderen Betriebsausflug genießen.“ Er lachte kurz auf. „Und das Beste kommt ja noch – die Henkersmahlzeit.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich.
„Um noch ein wenig im Thema zu bleiben, servieren wir Ihnen eine kleine Auswahl dessen, was die Todeskandidaten im Mittelalter tatsächlich in den letzten drei Tagen vor ihrer Hinrichtung bekommen haben. Schließlich soll unser kleiner Ausflug ja so authentisch wie möglich sein.“
„Vielleicht können Sie uns konkreter erläutern, welche Köstlichkeiten Sie für uns vorgesehen haben?“, fragte Markert gespannt.
„Aber gern doch“, nahm Eck den Faden auf. „Sie bekommen heute Eiergerste, zwei eingemachte Hühner, einen gebratenen Kalbsschlegel, 1,5 Maß Wein und sechs Semmeln.“
„Das klingt ja wirklich verlockend“, bemerkte Sonja Kahl amüsiert. „Wie lange haben wir denn Zeit zum Essen?“
„Für uns mag die Menge und Auswahl der Speisen fremd wirken“, erklärte Eck, als sich die vielen lauten Zwischenrufe gelegt hatten. „Für damalige Verhältnisse war die Verpflegung jedoch recht üppig. Man wollte die Gefangenen damit ruhigstellen.“
„Ich fürchte, uns müssen Sie auch bald ruhigstellen“, rief ein junger Mann dazwischen. „Mein Magen knurrt schon seit Stunden!“
Er griff nach dem rustikalen Holzbesteck und klopfte damit provokativ auf den Tisch. Schnell schlossen sich andere Teammitglieder an und binnen Sekunden war der kleine Raum von einem Höllenlärm erfüllt.
Friedhelm Eck fuchtelte beschwichtigend mit den Händen.
„Guten Appetit!“, schrie er in die Menge und verließ mit so manchem Schweißtropfen auf der Stirn den Raum.
Diese IT- Leute sind kein bisschen erwachsener, als Grundschüler, fuhr es ihm durch den Kopf, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Ihr könnt anfangen!“, rief er dem Küchenchef zu, der bereits ungeduldig auf das Zeichen gewartet hatte.
Mehrere junge Leute in mittelalterlichen Gewändern strömten aus der Küche in den Gastraum. Jeder trug ein Tablett mit kleinen Holzschalen, die mit schwer zu identifizierenden Speisen gefüllt waren.
Die Gesichter der Gäste wurden immer länger, als sie einen Blick auf den hellbraunen Brei warfen, aus dem hie und da eine Fleischfaser herausspitzte.
„Eingemachtes Huhn an Eiergerste mit einem Hauch von gebratenem Kalbsschlegel“, erläuterte einer der mittelalterlich Gewandeten mit ernster Miene, als handle es sich um ein Menü in einem Gourmetrestaurant.
„Dazu reichen wir ofenfrische Semmeln und fruchtigen Rotwein“, vervollständigte der junge Mann seine Erklärung und verschwand mit einer kleinen Verbeugung wieder in der Küche.
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickten sich die Gäste belustigt an.
„Das soll das angekündigte Festessen sein?“, fragte Sonja Kahl skeptisch und stocherte dabei in einer der Holzschüsseln herum. „Ich dachte, das mit der Henkersmahlzeit sei ein Scherz?“
„Sollen wir das wirklich essen?“, fügte ein Kollege hinzu.
Einzig Klaus Markert tauchte schwungvoll ein Stück seiner Semmel in den zähen Brei.
„Ich weiß gar nicht, was ihr habt?“, presste er gut gelaunt mit vollem Mund hervor. „Wir wollen doch so authentisch wie möglich ins Mittelalter abtauchen. Seid froh, dass das nicht wirklich eure Henkersmahlzeit ist.“
Er biss abermals in seine Semmel und lachte. „Abgesehen davon schmeckt diese Pampe besser als sie aussieht. Ihr solltet euch das auf keinen Fall entgehen lassen.“
Zögerlich griffen auch seine Mitarbeiter nach und nach zu den knusprigen Brötchen und steckten die Spitze der rustikalen Holzlöffel vorsichtig in den gelblichen Brei.
Markert hatte durchaus recht. Die angebotenen Speisen schmeckten wirklich weitaus besser als sie aussahen. Und doch war die Mahlzeit Lichtjahre von dem entfernt, was sich die Belegschaft vom versprochenen Festessen erhofft hatte.
In Erwartung eines schicken 5-Gänge-Menüs hatten sich die Damen neu eingekleidet, in neues Parfum oder eine weitere Handtasche investiert.
Und jetzt?
Jetzt saßen sie hier in diesen unförmigen, kratzigen Hemden und tauchten Brötchen in einen Grießbrei-Verschnitt.
Kurz bevor die Stimmung am Nullpunkt angelangt war, betrat erneut Friedhelm Eck den Raum „Und? Hat es Ihnen geschmeckt?“, begann er betont fröhlich. „Ist es nicht erstaunlich, was den Verbrechern damals für Köstlichkeiten vorgesetzt wurden?“ Er nickte seinen Kunden vielsagend zu. „Schön, dass wir Ihren Geschmack getroffen haben. Jetzt darf ich Sie in den historischen Rathaussaal bitten – der Fotograf wartet bereits. Sie wollen doch sicher eine bleibende Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag haben?“
Mit ungläubigen, enttäuschten Gesichtern und knurrenden Mägen folgte die Gruppe dem Veranstalter durch das altehrwürdige Gebäude.
„Ich will mich endlich umziehen“, knurrte Anton Brugger missmutig. „Mir reicht es langsam.“
„Ach Anton“, gab Sonja Kahl zurück, „sei doch nicht immer eine solche Spaßbremse.“
Für ihn war die ganze Aktion tatsächlich sehr fragwürdig und hatte nichts mit Spaß zu tun.
„Wie kann man nur eine so geschmacklose Aktion anbieten“, stieß er verächtlich hervor. „Mit dem Leid so vieler Menschen Reibach zu machen, halte ich für völlig daneben.
Hast du keine moralischen Bedenken?“
Sonja legte ihm den Arm über die Schultern. „Jetzt mach dich locker. Das ist doch alles lange her.“
„Das macht es nicht besser“, gab Anton ärgerlich zurück und schüttelte Sonjas Arm ab. „Abgesehen davon war das Essen eine Unverschämtheit. Markert hat ein Vermögen für diese Veranstaltung bezahlt.“
„Da gebe ich dir allerdings recht. Aber aufregend und interessant war es trotzdem. Wir können ja nachher noch eine Bratwurst essen.“
Der Fotograf arbeitete schnell und professionell. Nach nur zehn Minuten hatte er alle Aufnahmen gemacht.
„Meine Damen und Herren“, ergriff nun Friedhelm Eck wieder das Wort. „Manche von Ihnen mögen vielleicht geglaubt haben, die Henkersmahlzeit sei das Einzige, das wir kulinarisch für Sie vorbereitet haben.“
Er blickte sich amüsiert um. „Ich sehe es doch an Ihren enttäuschten, hungrigen Gesichtern“, setzte er verschmitzt hinzu. „Für all diejenigen habe ich jetzt eine gute Nachricht.
Während wir hier beim Fototermin waren, hat unser Küchenteam neu eingedeckt. In wenigen Minuten wartet ein köstliches Festessen auf Sie. Doch zunächst dürfen Sie sich umziehen. Wir haben Ihre Kleidung – ihr Einverständnis vorausgesetzt – in unsere modernen Umkleideräume gebracht. Sie können sich dort auch etwas frisch machen. Wir treffen uns in, sagen wir 20 Minuten, im Gasthaus zum Grünen Frosch, einverstanden?“
Viele Gruppenmitglieder nickten dankbar und erleichtert bei der Aussicht, das unbequeme, kratzige Hemd endlich ablegen und die neu gekaufte Garderobe zeigen zu können.
Wenig später saß die Gruppe fröhlich plaudernd um den gewaltigen Holztisch. Die Frauen trugen frisches Make-up, schicke Blusen, kurze Röcke und hochhackige Schuhe, während die Männer eher zum bequemen Casual-Look gegriffen hatten. Sie begnügten sich mit Polohemden und Jeans. Auch die Tischdekoration war kaum wiederzuerkennen.
Die Holzschüsseln waren edlem Geschirr gewichen, statt der rustikalen Löffel lag nun glänzendes Silberbesteck bereit.
Die harten Holzbänke waren mit feinen, weichen Polstern belegt, aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte dezente klassische Musik.
So hatte man sich das vorgestellt.
Die Tür zur Küche öffnete sich und mehrere riesige Holzbretter mit verführerisch duftenden und künstlerisch angerichteten Köstlichkeiten wurden hereingebracht.
Klaus Markert lief beim Anblick der Speisen augenblicklich das Wasser im Munde zusammen. Trotz gespielter guter Laune hatte er schon Bedenken gehabt, die Henkersmahlzeit würde sich tatsächlich auf einen unansehnlichen Getreidebrei mit matschigem Gemüse und zähem Fleisch beschränken. Doch was hier aufgetischt wurde, rechtfertigte endgültig den stolzen Preis, den er für diese Veranstaltung gezahlt hatte.
Mit großem Appetit griff er zum Besteck und füllte seinen Teller. Auch seine Mitarbeiter ließen es sich nicht zweimal sagen und langten erleichtert zu. Für kurze Zeit war in der Gruppe Ruhe eingekehrt.
„Ich hoffe, die Überraschung ist gelungen?“, fragte Friedhelm Eck als er sich eine knappe Stunde später wieder zu seinen Kunden gesellte.
„Großartig, wirklich großartig“, gab Klaus Markert euphorisch zurück. „Diese Eiergerste zu Beginn hat manche von uns etwas irritiert, aber das eigentliche Menü hat uns dann für alles entschädigt.“
„Das freut mich. Ich werde das Kompliment gern an unser Küchenteam weitergeben.“
Da öffnete sich die Tür und ein schmächtiger, blasser junger Mann in Jeans, Sweatshirt und Turnschuhen betrat den Raum. Seine kurzen, blonden Haare waren noch feucht, um die Augen und an den Schläfen noch die Reste brauner Schminke zu erkennen.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren. Zum Abschluss unserer Reise in die mittelalterliche Kriminalgeschichte möchte ich Ihnen noch die Schauspieler vorstellen, die Ihnen die Zustände unten in den Lochgefängnissen so eindrücklich demonstriert haben.“
Friedhelm Eck zog den jungen Mann näher zu sich heran, was diesem sichtlich unangenehm war.
„Das ist Alex. Er spielte den Schweinedieb, der mit der Daumenschraube gefoltert wurde.“
Eck griff in Alex’ Tasche und zog ein ekliges, schwabbeliges Etwas daraus hervor.
Die Damen kreischten, als sie erkannten, was es war. Es handelte sich um eine Art Handschuh aus Silikon, der einer menschlichen Hand zum Verwechseln ähnlich sah und dessen Daumen zerquetscht und blutig war.
„Unsere Demonstrationen sollen so echt wie möglich wirken, ohne die Gesundheit unserer Kunden oder Mitarbeiter zu gefährden. Deshalb müssen wir zu einigen Tricks greifen“, erläuterte Eck mit einem gewissen Stolz in der Stimme, während sich einige der Damen angewidert abwandten.
In diesem Moment polterte ein großer, kräftiger Mann um die 50 in den Raum. Er hatte eine spiegelblanke Glatze, dunkle Augen, eine beachtliche Nase und wulstige Lippen.
Seine Oberarme strotzen vor Muskeln und schienen die Ärmel des T-Shirts sprengen zu wollen. Alles in Allem eine Erscheinung, der man nur ungern allein in der Dunkelheit begegnen möchte.
„Guten Tag“, brummte er mit tiefer Stimme. „Mein Name ist Kai Siebert. Ich bin Geschäftspartner von Herrn Eck und spiele den Henker. Ich denke, Sie haben mich erkannt?“
Er grinste und warf Anton Brugger einen amüsierten Blick zu. „Ich hoffe, unser kleiner Ausflug in die Vergangenheit war interessant für Sie. Wir bemühen uns stets, mit unseren Inszenierungen so nah wie möglich an die Realität heranzukommen, um Ihnen ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie sich das Leben vor ca. 500 Jahren angefühlt haben könnte.“
„Das ist Ihnen gelungen“, murmelte Anton Brugger missmutig vor sich hin.
„Was sagten Sie?“, hakte Friedhelm Eck überrascht nach, doch Anton zuckte nur mit den Schultern.
„Ihre Meinung ist uns wichtig. Nur so können wir die Qualität unserer Angebote verbessern.“
„Qualität verbessern?“, wiederholte Anton fassungslos.
„Was genau verstehen Sie in diesem Zusammenhang unter Qualität? Noch kratzigere Hemden, kältere Zellen, entsetzlicherer Gestank, grausamere Pseudo-Folterungen? Oder vielleicht eine inszenierte Hinrichtung? Ein hübscher Scheiterhaufen mit qualitativ hochwertigem Feuer und einem Schauspieler im Asbestanzug?“
Anton redete sich in Rage, sein Gesicht war rot angelaufen.
„Diese ganze Veranstaltung sollte verboten werden!“
Friedhelm Eck versuchte, Fassung zu bewahren, lächelte schief und blickte hilfesuchend zu Klaus Markert.
„Aber Herr …“
„Mein Name tut nichts zur Sache“, unterbrach ihn Anton. Er sprang auf und funkelte Eck wütend an.
„Wie kann man nur mit dem Elend Tausender Menschen Reibach machen? Haben Sie keine moralischen Bedenken?
Kein schlechtes Gewissen?“
Klaus Markert eilte um den Tisch herum und legte seinem aufgebrachten Mitarbeiter beruhigend die Hand auf den Arm.
„Aber Anton“, begann er, doch dieser schüttelte die Hand angewidert ab.
„Das Gleiche gilt auch für dich! Warum musstest du uns heute hierher schleppen? Es gibt doch wirklich genug angenehmere Möglichkeiten für einen Betriebsausflug, als eine fingierte Foltersituation!“
Damit packte er seine Tasche und stürmte hinaus.
Eine peinliche Stille erfüllte den Raum.
„Ja, meine Damen und Herren“, ergriff Friedhelm Eck wieder das Wort. „Es passiert immer wieder, dass Teilnehmer von den intensiven Eindrücken des Erlebten überwältigt sind. Das gibt sich bald wieder. Darf ich Ihnen zum Abschluss der Veranstaltung noch auf Kosten des Hauses einen kleinen Digestif servieren lassen?“
„Danke, sehr gern“, stimmte Klaus Markert zu, in der Hoffnung, der Alkohol würde die gedrückte Stimmung nach Bruggers Abgang wieder heben.
Plötzlich drang Lärm und Geschrei von draußen durch die dicken Mauern des alten Gebäudes.
Klaus Markert trat an das kleine Fenster mit den bunten Butzenscheiben und weitete erschrocken die Augen.
„Was ist das denn?“, fragte er leise, als er sah, was sich vor dem alten Rathaus abspielte.
Trotz des schlechten Wetters patrouillierten mehrere Dutzend Menschen vor dem Eingang auf und ab. Sie schwenkten riesige Transparente mit der Aufschrift Schluss mit der Erlebnisgastronomie im Lochgefängnis, Kein Reibach mit der Folter oder Nieder mit der Sensationsgier und brüllten einstimmig:
„Eck muss weg! Eck muss weg! Eck muss weg!“
Auch Markerts Mitarbeiter starrten ungläubig auf die wütende Menge. Nur Friedhelm Eck blieb scheinbar gelassen sitzen und goss sich erneut sein Glas voll.
„Ach, das ist gar nichts“, antwortete er herablassend.
„Lediglich ein paar Spinner, die den ganzen Tag nichts Besseres zu tun haben, als sich hier in der Kälte herumzutreiben.“
„Aber“, Markert drehte sich um und sah Eck erstaunt an, „macht es Ihnen denn gar nichts aus, dass sich so viele Leute offensichtlich gegen Ihr Projekt engagieren?“
Hatte Klaus Markert die Idee mit dem Ausflug ins Mittelalter zunächst sehr gelungen und angenehm gruselig empfunden, so machten sich nach dem Ausbruch Anton
Bruggers und der Demonstration vor dem Rathaus auch in ihm langsam Zweifel über die moralische Vertretbarkeit der Veranstaltung breit.
War es wirklich in Ordnung, Geld damit zu verdienen, in dem man Folter, Grausamkeit und Willkür spielte? Sich von oben herab, aus sicherer Entfernung am Leid der Menschen zu ergötzen? Einen wohligen Schauer dabei zu empfinden, dass das Ganze nur ein Spiel war?
Seine Hochstimmung war verflogen.
Er räusperte sich.
„Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!“ Er blickte in einige betretene Gesichter. „Wir sind jetzt am Ende unseres diesjährigen Betriebsausfluges angelangt. Ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende. Bis Montag in alter Frische.“
Die Mitarbeiter antworteten mit zögerlichem Applaus und verließen leise tuschelnd den Raum.
„Herr Markert“, meinte Friedhelm Eck versöhnlich, „lassen Sie sich doch die Laune nicht von ein paar Langweilern verderben. Sie hatten doch einen interessanten Nachmittag mit vielen spannenden Eindrücken, oder?“
Klaus Markert schüttelte ihm die Hand.
„Ja und nein“, gab er zu. „Aber lassen wir das. Schicken Sie mir bitte die Rechnung – und vielen Dank für Ihre Mühe.“
In der Eingangshalle stieß er auf einige seiner Mitarbeiter, die von Teilnehmern der Demonstration belagert wurden.
Eine etwa 40 jährige Frau mit langem, dunklem Haar, einer bunten Strickmütze und einem dicken, roten Wollmantel redete laut auf Sonja Kahl ein.
„Das ist geschmacklos und verhöhnt all die armen Menschen, für die das Ganze bitterer Ernst war.“
Sonja lachte betont lässig.
„Ach, ich bitte Sie. Das ist doch ewig her. Jetzt verderben Sie uns doch nicht den Spaß.“
Das Gesicht der Dame färbte sich dunkelrot.
„Spaß?! Sie bezeichnen das als Spaß?“
Sonja fühlte sich zunehmend unwohl und packte einen ihrer Kollegen am Arm. „Komm, Jürgen, wir bummeln noch etwas durch die Stadt. Auf Wiedersehen.“
So schnell sie konnte schob sie den jungen Mann durch die schwere Eingangstür nach draußen, gefolgt von den anderen Kollegen. Lediglich Anton Brugger blieb zurück und trat auf die Dame im roten Mantel zu.
„Bitte entschuldigen Sie, die jungen Leute sind manchmal etwas gedankenlos. Mein Name ist Brugger.“
Er schüttelte der Frau die Hand.
„Tietze, Kerstin Tietze“, antwortete diese überrascht. Bisher war es noch selten vorgekommen, dass ein Teilnehmer der in ihren Augen zweifelhaften Aktion hinterher auf sie zukam. Im günstigsten Fall schlichen sich die Leute mit gesenkten Köpfen verschämt hinaus, nahmen hoffentlich ein schlechtes Gewissen mit und dachten im Nachhinein darüber nach. Im viel häufigeren Fall mussten sich Kerstin Tietze und ihre Mitstreiter höhnisches Gelächter und unangemessene Bemerkungen gefallen lassen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, mit ihren Aktionen weiterzumachen. Nach dem Motto steter Tropfen höhlt den Stein schrieben sie wöchentlich Petitionen an den Bürgermeister und Leserbriefe an die Presse, sie demonstrierten möglichst nach jeder Veranstaltung, betrieben Infostände in der Innenstadt und machten dadurch Stimmung in der Bevölkerung gegen Friedhelm Ecks zweifelhaftes Projekt im Lochgefängnis.
Mit Erfolg.
In wenigen Tagen hatte sie einen Termin beim Oberbürgermeister. Er konnte sich nicht mehr gegen die massiven Proteste wehren, die im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor seiner Haustür stattfanden. Kerstin Tietze versprach sich viel von diesem Gespräch und hoffte, Ecks Machenschaften damit endlich ein Ende setzen zu können.
„Ich bin ganz Ihrer Meinung“, stimmte Anton Brugger zu.
„Diese fürchterlichen Aktionen müssen gestoppt werden, das ist menschenverachtend und absolut verwerflich.“
Kerstin Tietze blickte ihr Gegenüber interessiert an. Er schien etwa in ihrem Alter zu sein, wirkte allerdings durch seine altbackene Kleidung und die biedere Frisur um einiges älter.
„Haben Sie nicht auch an der Veranstaltung teilgenommen?“, fragte sie erstaunt.
„Natürlich, deshalb weiß ich ja genau, wovon ich spreche“, gab Anton ärgerlich zurück. „Mein Chef hat die Aktion gebucht, wir wussten nicht, was auf uns zukommt. Es war entsetzlich.“
„Wollen Sie uns nicht unterstützen? Wir treffen uns regelmäßig in einem Lokal, um unser weiteres Vorgehen zu planen“, schlug Kerstin Tietze vor, doch bevor Anton antworten konnte, erschien Friedhelm Eck auf der Treppe.
„Meine Damen und Herren!“, rief er laut durch die Halle.
„Bitte verlassen Sie das Rathaus. Sie wissen doch, dass Sie hier im Inneren des Gebäudes ihren Aktivitäten nicht nachgehen dürfen!“ Er bemühte sich um Geduld. „Warum halten Sie sich nicht an die Abmachungen?“
„Wir gehen, wenn Sie endlich damit aufhören, diese geschmacklosen Aktionen anzubieten, das müssten Sie doch inzwischen auch wissen, Herr Eck!“, gab Kerstin Tietze provokant zurück.
„Aber Frau Tietze, sparen Sie sich doch ihre Energie.“ Eck versuchte es zunächst mit Verständnis. „Sie haben doch sicher an einem Samstagnachmittag auch etwas anderes zu tun, als anderen Leuten den Spaß zu verderben.“
„Es ist einfach unfassbar, wie Sie in diesem Zusammenhang von Spaß sprechen können.“ Kerstin Tietze verzog angewidert das Gesicht. „In meinen Augen hat es nichts mit Spaß zu tun, dass Tausende Menschen zu Tode gequält wurden.“
„Jetzt ist es aber genug! Sie haben mit Ihren lächerlichen Aktivitäten keine Chance. Meine Angebote sind genial und werden gern gebucht. Allem Anschein nach sind Sie und Ihre Spießgesellen die Einzigen, die sich an dem Konzept stören. Auf Wiedersehen!“
Kerstin Tietze fixierte Eck mit zusammengekniffenen Augen.
„Eck muss weg“, begann sie leise und gab ihren Mitstreitern ein Zeichen.
„Eck muss weg! Eck muss weg! Eck muss weg!“, erklang es vielstimmig durch die Halle.
„Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!“, brüllte Eck wütend. Er rannte die Treppe hinab, als habe er nicht vor, mit der Räumung des Gebäudes auf die Polizei zu warten.
„Das ist nicht nötig“, erwiderte Kerstin Tietze mit fester Stimme und stellte sich dem heranstürmenden Mann in den Weg. „Wir gehen, aber wir kommen wieder, darauf können Sie sich verlassen. Guten Tag.“
Sie rollte ihr Transparent zusammen, nickte den anderen Demonstranten zu und ging nach draußen.
„Toll“, meinte Anton Brugger respektvoll, als sich die Gruppe vor dem Rathaus langsam aufgelöst hatte. „Wie Sie diesem Mann gegenübertreten, ist beeindruckend. Entweder Sie sind wirklich so gelassen und abgebrüht, oder Sie sind eine sehr gute Schauspielerin.“
Kerstin Tietze zuckte müde mit den Schultern.
„Vielleicht ist es beides“, seufzte sie. „Diese Auseinandersetzungen sind sehr anstrengend. Ich darf mir keine Blöße geben, keine Schwäche zeigen.“
Anton hatte unwillkürlich das Bedürfnis, die Frau in seine starken Arme zu schließen, ihr die Möglichkeit zu geben, schwach sein zu dürfen, doch er hielt sich zurück, schließlich kannte er sie erst seit einigen Minuten.
Abgesehen davon hatte er Zweifel daran, ob er wirklich stark genug war, dieser selbstbewussten Frau etwas zu bieten.
Keine Zweifel hatte er jedoch an der Tatsache, dass ihn Kerstin Tietze faszinierte und dass er in Begriff war, … „Herr Brugger“, riss ihn ebendiese Frau aus seinen Überlegungen. Er errötete leicht, als fürchtete er, sie könne seine Gedanken lesen.
„Entschuldigung, was sagten Sie?“, stotterte er verlegen.
Sie lachte, was sie in Antons Augen noch interessanter machte. „Wo waren Sie denn gerade? Ich habe gefragt, ob Sie nicht Lust haben, am kommenden Donnerstag um 20:00 Uhr in die Villa Leon zu unserem nächsten Treffen zu kommen?“
„Villa Leon“, wiederholte Anton und fühlte sich wie ein Teenager.
„Ein Kulturzentrum auf dem ehemaligen Schlachthofgelände“, erklärte Tietze amüsiert.
„Ja, das kenne ich. Ich wohne in St. Leonhard und habe die Bebauung des Geländes beobachten können.“ Er hatte sich wieder gefangen. „Ich komme gern am Donnerstag. Vielen Dank für die Einladung.“
„Das freut mich. Wir sind froh um jeden, der unser Anliegen mit seinen Fähigkeiten und Engagement unterstützt.“ Sie wandte sich zum Gehen.
„Dann bis nächste Woche also.“
Er schluckte und nahm all seinen Mut zusammen.
„Haben Sie, ich meine, ist Ihnen auch kalt? Wir könnten noch einen schnellen Kaffee zusammen trinken, und Sie könnten mir dabei von Ihrer Initiative erzählen.“
Kerstin Tietze lächelte ihn an. „Danke, aber ich habe noch etwas zu tun. Vielleicht ein andermal. Auf Wiedersehen, Herr Brugger.“
Sie dreht sich um und ging in Richtung Hauptmarkt davon.
„Auf Wiedersehen, Kerstin“, flüsterte Anton leise und sah ihr enttäuscht nach. „Bis bald.“
Dichter Nebel lag über der langsam erwachenden Stadt. Die matten Lichter der Straßenlampen vermochten es kaum, die schwere, feuchte Kälte zu durchdringen.
Wie durch Watte gedämpft durchbrach das Geräusch eines fahrenden Autos die unwirkliche, gespenstische Stille. Die Abgaswolke blieb zunächst wie festgefroren in der Luft stehen, bevor sie sich zögerlich auflöste.
Es war kalt, hatte einige Grad unter Null. Die Scheiben der Autos am Straßenrand waren zugefroren. Die Besitzer würden eine Weile brauchen, um ein kleines Guckloch in das Eis zu kratzen.
Der Winter war greifbar nahe.
Eine gebeugte Gestalt in einem zerschlissenen, viel zu großen dunklen Mantel schlurfte langsam den Gehsteig entlang. Die Sohlen der groben Stiefel waren abgelaufen, die braune Hose war starr vor Schmutz. Auf dem Kopf trug der Mann eine alte, lange aus der Mode gekommene gefütterte Ledermütze deren Ohrenklappen unter dem stoppeligen Kinn notdürftig zusammengebunden waren. Ein dicker, gestrickter Schal war mehrmals um Mund und Hals geschlungen, in der Hoffnung, dem müden Gesicht etwas Wärme zu verschaffen.
Lediglich die kleinen, lebhaften braunen Augen und die rote, stets tropfende Nase waren der Kälte ausgesetzt.
Der Mann blieb kurz stehen, stellte zwei prall gefüllte Plastiktüten ab und versuchte, sich mit einer Hand den Schal etwas aus dem Gesicht zu schieben, was angesichts der dicken Handschuhe nicht so einfach war.
Er sah sich zitternd um, schlug die eiskalten Hände aneinander und schickte wärmende, weiße Atemwölkchen in seine löchrigen Handschuhe.
Trotz der Kälte und Einsamkeit wirkte der Mann nicht traurig, nicht verzagt oder gar verzweifelt. Er kannte sich aus in seiner Stadt, wusste, wie sich Winter und Frost anfühlten, hatte Erfahrung mit langen dunklen Nächten im Freien, hatte sich damit abgefunden, morgens steif gefroren zu erwachen.
Es würde noch einige Zeit dauern, dann würden seine Lebensgeister wieder erwachen, die steifen Glieder wieder so beweglich werden, wie sie mit seinen 52 Jahren nur werden konnten.
Er haderte schon lange nicht mehr mit seinem Schicksal, hatte sich damit abgefunden, ein freies Leben auf der Straße zu führen, unabhängig von Vermietern, Chefs und Ehefrauen. Er war sein eigener Herr, musste sich nur um sich selbst kümmern, war niemandem Rechenschaft schuldig.
Man hatte ihm oft ein Bett in einer Obdachlosenunterkunft angeboten, doch er hätte das Zimmer stets mit anderen teilen, deren Geräusche und Gerüche ertragen, sich womöglich die Lebensgeschichten Unbekannter anhören müssen. Da war es ihm lieber, nach einer eiskalten Nacht in den frühen Morgenstunden durch sein noch ruhiges, friedliches Revier zu streifen und in den Tag hinein zu leben.
Bereits seit acht Jahren war er hier unterwegs, wohnte unter einer Brücke zwischen Altstadt und Wöhrder Wiese und wurde weitgehend in Ruhe gelassen, so, wie auch er alle Leute in Ruhe ließ.
Heute an diesem ungewöhnlich kalten Novembersonntag erwachte die Stadt noch später als sonst. Die Leute lagen sicher noch in ihren kuschelig warmen Betten in ihren überheizten Wohnungen. Manche von ihnen lagen dort nicht allein und würden das Bett vermutlich auch den ganzen Tag nicht verlassen.
Willi lächelte. Er würde es genauso machen, hätte er noch eine Wohnung, ein Bett und jemanden, der es mit ihm teilte.
Hatte er aber nicht.
Dafür hatte er seine Freiheit. War das nicht das Wichtigste?
Inzwischen hatte er den Bahnhof hinter sich gelassen.
Der Bahnhof.
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