Schattenschlag - Monika Martin - E-Book

Schattenschlag E-Book

Monika Martin

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Beschreibung

Auf dem Gelände eines Windparks in Nordfriesland wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Wurde er Opfer militanter Windkraftgegner? Die Spur führt nach Nürnberg zur Familie des Mannes und zu einer Firma, die den Windpark mit innovativen Bauteilen beliefert. Kommissar Attila und sein friesischer Kollege Weglehner ermitteln parallel und stoßen auf eine unfassbare Tragödie.

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Seitenzahl: 318

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Das Buch:

Auf dem Gelände eines Windparks in Nordfriesland wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Wurde er Opfer militanter Windkraftgegner? Die Spur führt nach Nürnberg zur Familie des Mannes und zu einer Firma, die den Windpark mit innovativen Bauteilen beliefert. Kommissar Attila und sein friesischer Kollege Weglehner ermitteln parallel und stoßen auf eine unfassbare Tragödie.

Die Autorin:

Monika Martin, Jahrgang 1969, ist Sozialpädagogin und führt seit 1996 für das Institut für Regionalgeschichte, Geschichte für Alle e.V. historische Stadtrundgänge in Nürnberg durch.

„Schattenschlag“ ist ihr dritter Kriminalroman.

Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.

Außerdem von Monika Martin bei Books on Demand erschienen:

„Die Tote im See“, August 2008

„Hitzewelle“, August 2010

„Apfelrausch“, August 2013

„Hochgericht“, Dezember 2014

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Freitag, 06. Mai 2005, 22.00 Uhr

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5: Freitag, 06. Mai 2005, 18.30 Uhr

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Prolog

Der Winter war lang gewesen, lang und kalt. Die Bewohner der Halbinsel Eiderstedt in Nordfriesland waren Temperaturen unter Null Grad nicht gewohnt. Auch der viele Schnee, der monatelang die breiten Sandstrände in weiße Wüsten verwandelt hatte, war für die Leute zur Belastungsprobe geworden. Den Gemeinden war das Streusalz ausgegangen und so mancher einsam gelegene Bauernhof war tagelang von der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Hinter den Deichen hatte die Nordsee getobt und des Öfteren deren Standfestigkeit auf die Probe gestellt.

Die Deiche hatten gehalten, der Schnee war dann doch geschmolzen und der lang ersehnte Frühling hatte mit all seiner Kraft und Schönheit von der flachen Landschaft Besitz ergriffen.

Es war Anfang Mai.

Die Gärten warteten sehnsüchtig auf die ersten Gemüsepflanzen, die Bäume blühten und überall summte und brummte es. Der frische Westwind fegte von der Nordsee her über das Land und brachte neben dem Duft nach Salzwasser auch immer häufiger einen Hauch Frühling mit. Heute waren dicke Wolken am Himmel. Es sah nach Regen aus.

Hajo Utholm erinnerte sich an die Zeit vor wenigen Jahren, als er, wie alle anderen Gartenbesitzer in St. Peter-Ording auch, bereits im April seine Pflanzen gesetzt und den Rasen vertikutiert und gedüngt hatte. Auch er hatte anschließend auf einen ergiebigen Regenguss gehofft, um sich dadurch das Gießen mit dem Gartenschlauch zu ersparen.

Doch das war längst vorbei.

Sein Rasen war zugewuchert, und vom Gemüsegarten war kaum noch etwas zu erkennen. Er hatte keine Kraft mehr, sich um Haus und Hof zu kümmern.

Der Wind frischte auf und die Luft war erfüllt vom immer lauter werdenden Geräusch eines herannahenden Flugzeugs.

Utholms Puls beschleunigte sich. Er wusste, dass kein Flugzeug am Himmel war, denn dieses, er wusste nicht, wie man es beschreiben könnte, Rauschen oder Brummen, begleitete ihn nun schon seit über einem Jahr ununterbrochen. Es war mal lauter, mal leiser, mal schneller, mal langsamer, aber es war immer da - immer!

Früher konnte er mit seiner Familie hier in Ruhe leben, ohne Lärm und ohne…, er zuckte zusammen und hielt die Luft an.

Der Wind hatte die Wolken beiseite geschoben und die Sonne kam zum Vorschein.

Die Sonne!

Wie hatte er sich früher gefreut, wenn sie sich durch die Wolken gekämpft hatte. Jetzt versetzte ihn ihr Anblick in Panik. Er blickte auf die Uhr - es war soweit, es war genau die kurze Zeit des Tages, in der er die Sonne verfluchte.

Hajo Utholm rannte ins Haus. Da war er, der verdammte Schatten, dieses quälende Aufblinken der Sonne, das sein Haus im Sekundentakt beleuchtete und wieder verdunkelte, wie die Tanzfläche einer Disco im stroboskopartigen Licht.

Da war er wieder, der Schatten dieses übermächtigen Windrades, das seit genau 13 Monaten und 20 Tagen systematisch sein Leben zerstörte.

„Elke!“, brüllte er verzweifelt und nahm zwei Stufen auf einmal. „Elke, wo bist du?“

Er rannte den schmalen, dunklen Flur entlang und stolperte über ein paar achtlos liegengelassene Hausschuhe. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten und riss die Schlafzimmertür auf.

„Elke, nein!“

Er stürzte auf seine Frau zu, die auf dem Boden kniete und im blinkenden Licht der Sonne mit apathischem Gesichtsausdruck ihren Kopf gegen die Wand knallte. Der rote Fleck auf der vergilbten Tapete wurde größer, ebenso, wie der an Elke Utholms Stirn.

Hajo packte seine Frau an den Schultern und drückte sie an sich. Verzweifelt hielt er sie fest, streichelte ihr unbeholfen über das wirre, schweißnasse Haar und wiegte sie sanft hin und her wie ein kleines Kind.

Langsam beruhigte sie sich und begann leise zu weinen. Auch Hajo spürte, wie Tränen in seine Augen schossen und auf das heiße Gesicht seiner Frau tropften. Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und tippte wieder einmal die Nummer ein, die er in den letzten Monaten schon so oft hatte wählen müssen.

Hajo Utholm stand mit versteinerter Miene am Gartenzaun und blickte dem Notarztwagen hinterher, der seine Frau in die Klinik bringen würde.

Seit über einem Jahr waren sie wieder da, die Depressionen, die sie nach der Geburt ihres Sohnes zum ersten Mal hatte. Es hatte Monate gedauert, bis sie sich damit abfinden konnte, dass Jens nie ein normales Kind werden würde. Er würde immer anders sein, nie eine Ausbildung absolvieren oder eigenes Geld verdienen können.

Aber er war doch ihr einziges Kind!

Hajo war damals vor über 25 Jahren alleine gewesen mit dem Baby und einer Frau, die beinahe im Wochentakt zwischen Klinik und zu Hause hin und her pendelte. Sie hatten es aber geschafft, Elkes Zustand hatte sich stabilisiert und sie waren eine glückliche Familie gewesen, bis dieser Jensen kam und ihnen von dem Windpark erzählte, der vor ihrer Haustür entstehen sollte. Hajo hatte es zunächst nicht ernst genommen, bis die ersten Baumaschinen angerollt waren. Sie seien das einzige Anwesen, das vom Schattenschlag betroffen sei.

Ja, so nannte er es: Schattenschlag!

Er würde ihnen 300.000 EUR zahlen und ihnen helfen, ein neues Zuhause zu finden.

Ein neues Zuhause! Hajo glaubte, sich verhört zu haben! Sie sollten ihr Haus verlassen, das seit Generationen in Familienbesitz war, in dem er seine Kindheit verbracht hatte und in dem er alt werden wollte? Nur damit dieser schmierige Jensen seinen Profit machen konnte? Strom für über 10.000 Haushalte würden die Windräder angeblich erzeugen.

Aber nicht hier und nicht, wenn er dafür seine Heimat aufgeben müsste. Er würde niemals sein Haus verlassen, niemals! Sollte sich Jensen doch selbst diesem unerträglichen Schattenschlag und dem ständigen Geräusch aussetzen, oder mit Sack und Pack ein neues Zuhause suchen.

Seit die gewaltigen Rotorblätter des Windrades regelmäßig ihren Schatten auf das Grundstück warfen, hatte sich Elkes Zustand zusehends verschlechtert. Die Klinikaufenthalte wurden häufiger, die Medikamente stärker und die Belastung für die Familie damit immer größer.

Auch Hajo Utholms Wut auf Peter Jensen und seine Firma WindInvest wuchs mit jedem Tag.

Er schwor bei seiner Frau, er würde nicht ruhen, ehe das Windrad abgeschaltet wurde, für immer!

1

Freitag, 06. Mai 2005, 22.00 Uhr

Langsam wurde es dunkel.

Gunnar Thiel knipste die Taschenlampe an und blickte auf seine Armbanduhr. Es war zehn Uhr. Vor einer halben Stunde hatte er seinen Dienst angetreten und war nun bis sechs Uhr morgens für die Sicherheit zuständig. Die Nächte waren oft lang und einsam. Es passierte so gut wie nie etwas, gab kaum Abwechslung im immer gleichen Ablauf, den er pünktlich einzuhalten hatte. Gunnar nahm seinen Job sehr ernst, war äußerst gewissenhaft und fühlte sich sehr wichtig mit all den Schlüsseln, die an seinem Gürtel baumelten. Immerhin trug er die Verantwortung für die Baustelle, die Werkstatt und die Bürocontainer. Es gab hier wichtige Unterlagen, Informationen und immense Werte, die es die ganze Nacht über zu bewachen galt.

Anfangs hatte er die Stelle nur als Übergangslösung betrachtet, war unzufrieden, immer auf der Suche nach dem, was er sich vorgestellt hatte: Einen Job als leitender Ingenieur einer bedeutenden Firma.

Doch das Leben hatte anderes mit ihm vor.

Er hatte zwar Informatik studiert, aber kurz vor dem Abschluss bei einer großen Elektronikfirma in Hamburg einen Praktikumsplatz als Werksstudent bekommen, den er gerne annahm. Man hatte ihm eine feste Anstellung in Aussicht gestellt, doch leider wurde nichts daraus.

Gunnar hatte das Studium nie beendet und war sich bisher immer zu schade für einen Job gewesen, der unter dem Niveau lag, das er sich eingebildet hatte. Er hielt sich für berufen und ärgerte sich ein ums andere Mal darüber, dass die eingebildeten Personalchefs dieses Potenzial nicht erkannten.

Die Arbeit war sein Leben.

Alles hatte er für die Firma getan, hatte im Privatleben zurückgesteckt, auf eine Beziehung verzichtet und keinen Sport mehr getrieben. Als Dank dafür hatte man ihn bereits bei der ersten Entlassungswelle weg rationalisiert.

Das war jetzt über zwei Jahre her, doch die Wut darüber ließ nur langsam nach. Er war in seine nordfriesische Heimat zurückgekehrt und hat seinen Eltern auf der Tasche gelegen, bis ihm ein Freund die Stelle bei der Sicherheitsfirma NordSecure vermittelte.

Seither war er für den Nachtdienst auf dem Gelände des Windparks von WindInvest zuständig.

Gunnar machte sich auf den Weg zu seinem ersten Rundgang. Er musste sich dabei genau an die Anweisungen halten und im Stundentakt Protokoll führen. Das Gelände des Windparks umfasste weit mehr als das, was in seiner Verantwortung lag.

Die Windräder wurden auf einer Fläche von mehreren Hektar errichtet. Einige von ihnen standen bereits und verbreiteten ein stetiges, etwas unheimliches Summen, so, als ob sich ein mutiertes Rieseninsekt auf dem Anflug befände.

Mittlerweile hatte sich Gunnar an das Geräusch gewöhnt, doch der Anblick der gigantischen Rotorblätter, die sich bei dem oft heftigen Wind beängstigend schnell drehten, verursachten nach wie vor ein flaues Gefühl in der Magengegend.

Zwar hatte er sich im Studium am Rande auch mit Windtechnik befasst und wusste, dass es so gut wie unmöglich war, von einem herabfallenden Windrad erschlagen zu werden, aber das flaue Gefühl blieb.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann das erste Windrad auf Eiderstedt aufgestellt worden war, er wusste nur, dass ihre Zahl beängstigend schnell wuchs. Fuhr man von Heide nach St. Peter-Ording, passierte man mehrere Windparks mit unzähligen unterschiedlich großen Rädern, die sich im nie nachlassenden Wind unablässig drehten.

Wo sollte das noch hin führen?

Würde man sich in ein paar Jahren im undurchdringlichen Dickicht der Windräder noch zurecht finden? Was würde aus seiner Heimat werden, wenn alle Bauern ihr Land verkauften und dort statt Mais in Zukunft Strom produziert wurde?

Inzwischen hatte er den Hof erreicht, der zwischen dem Bürocontainer und der Werkstatt lag. Im fahlen Licht der Dämmerung konnte er Baumaschinen, Stapel von Brettern und verschiedene Werkzeuge erkennen, die nach einem langen Arbeitstag sorgsam aufgeräumt wurden. Wie sein eigener, so war auch der Arbeitsplan der Beschäftigten von WindInvest genau vorgeschrieben und ließ keinen Raum für individuelle Entscheidungen.

Gunnar Thiel hatte den Chef der Firma, einen Mann namens Peter Jensen, noch nicht allzu oft zu Gesicht bekommen, aber man erzählte sich, er sei ein strenger, aber fähiger Chef, der sehr großen Wert auf Ordnung lege.

Gunnar erinnerte sich noch an ihre erste Begegnung, als Peter Jensen mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße und gut und gerne zwei Zentnern Gewicht vor ihm stand. Irgendwie schaffte er es, trotzdem sportlich, dynamisch, beweglich und aktiv zu wirken. Er kümmerte sich um alle Belange der Firma, schien an mehreren Orten gleichzeitig sein zu können und sein Geschäft zu verstehen. Insgeheim bewunderte Gunnar seinen Chef. Wenn er ehrlich war, beneidete er ihn sogar. Jensen hatte all das erreicht, wovon Gunnar schon immer geträumt hatte: Er war beruflich erfolgreich, hatte eine attraktive Frau, zwei wohlgeratene Kinder und eine beeindruckende Villa mit riesigem Grundstück. Trotz seiner 45 Jahre strahlte er eine Energie und Tatkraft aus, von der sich Gunnar, der fast 15 Jahre jünger war, zugegebenermaßen eine Scheibe abschneiden könnte. Peter Jensen wirkte auf ihn fast unverschämt jugendlich, was sicher nicht nur an seiner sportlich saloppen Kleidung und dem dichten blonden Haar lag, das er zu einem markanten Zopf gebunden hatte.

Jensen hatte es geschafft; während er, Gunnar, leider noch weit von einem solchen Zustand entfernt war.

Er seufzte kurz, straffte die Schultern und setzte seinen Rundgang fort. Nach ein paar Metern fand er hinter einem Stapel Paletten zwei achtlos auf dem Boden liegende Schaufeln, was ihn sehr wunderte. Jensen legte großen Wert darauf, dass die Baustelle abends ordentlich hinterlassen wurde.

Er lauschte in die immer dichter werdende Dunkelheit und blickte sich vorsichtig um. Das penetrante Geräusch der Windräder um ihn herum war aufdringlicher als sonst und schien immer lauter zu werden, als käme eines der gigantischen Räder auf ihn zu.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Gunnar richtete mit zitternder Hand den hellen Lichtstrahl der Taschenlampe auf die dunkle Ecke hinter den Paletten.

„Hallo!“, rief er mit belegter Stimme, „ist da jemand?“

Eine Gänsehaut überzog seinen Rücken, als er mit kleinen Schritten in Richtung Werkstatt weiterging. Sein Herz klopfte schneller und ein leichtes Angstgefühl machte sich in seinem Magen breit.

„So ein Quatsch“, flüsterte er vor sich hin, wie um sich selbst Mut zu machen. „Gunnar Thiel, du bildest dir etwas ein, jetzt reiß dich mal zusammen.“

Er hob die Schaufeln auf, lehnte sie an die Wand und setzte seinen Rundgang fort. Der Wind frischte auf und alles war ruhig. Trotzdem wurde Gunnar das Gefühl nicht los, dass an diesem Abend etwas nicht so war, wie es sein sollte.

Er erreichte die Werkstatt, die ebenso wie die Büros, in Containern untergebracht war. Die Schlösser waren abgesperrt und die Fenster geschlossen, alles schien in Ordnung zu sein.

Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch, ein Knarzen und Schleichen. Er erschrak heftig, sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Blitzschnell drehte er sich um und griff mit der linken Hand an seinen Schlagstock.

Mit weit aufgerissenen Augen rief er in die Richtung, aus der das Geräusch kam:

„Komm raus! Wer bist du?“

Er erhielt keine Antwort. Kleine Schweißperlen rannen ihm über die Schläfen.

Gunnar hielt den Atem an.

Sein Puls raste.

Da hörte er ein lautes Fauchen und eine schwarz-weiß getigerte Katze sprang vom Palettenstapel herunter, landete nur wenige Zentimeter neben ihm und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Gunnar japste, schnappte nach Luft und fuhr sich mit der Hand hektisch über das erhitzte Gesicht. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so erschreckt zu haben - wegen einer Katze!

All die Panik, das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmt, all das wegen einer Katze?

Gunnar wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus den Augen und von der Stirn und stolperte keuchend weiter. Noch einmal drehte er sich um und schüttelte den Kopf. Mit einem Mal stieß er mit dem rechten Fuß an etwas Weiches, verlor den Halt und stürzte zu Boden.

Seine Taschenlampe flog in hohem Bogen davon und landete mit einem lauten Krachen auf dem Beton.

Gunnar schlug hart mit dem Kopf auf und blieb zunächst benommen liegen. Nach einigen Minuten öffnete er die Augen und fasste sich an den schmerzenden Kopf.

Was war passiert? Warum war er gestürzt? Er war gestolpert! Aber worüber?

Vorsichtig versuchte er sich aufzusetzen und griff mit einer Hand hinter sich. Doch statt des erwarteten harten Betonbodens spürte er etwas Weiches.

Als er realisierte, worauf er sich eben aufgestützt hatte, ergriff ihn Panik.

Mit einem lauten Schrei sprang er auf und starrte auf einen leblosen Körper hinab.

Bereits kurze Zeit später wurde das sonst übermächtige Geräusch der Windräder vom Heulen der Polizeisirenen übertönt und das flackernde Blaulicht warf gespenstische Schatten auf die unablässig kreisenden Rotorblätter.

Vier Wochen vorher

2

„Das darf doch nicht wahr sein!“

Peter Jensen, Chef der Firma WindInvest, hatte so laut geschrien, dass seine Sekretärin Heide Böhm besorgt herein gestürzt kam.

„Was ist denn passiert, Herr Jensen? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Nichts ist in Ordnung!“, brüllte Jensen, sprang mit hochrotem Kopf von seinem Schreibtischstuhl auf und ließ die Faust auf die Tischplatte krachen.

Heide Böhm, die nun schon seit 20 Jahren für Peter Jensen arbeitete, kannte seinen Jähzorn bereits und versuchte ihren Chef zu beruhigen.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie erneut und sah in diesem Moment den Brief unter Jensens mächtiger Faust. Es war einer der Briefe, die seit Monaten in gewisser Regelmäßigkeit in der Post waren: Auf vergilbtem Umweltpapier klebten ungelenk ausgeschnittene Buchstaben aus diversen Zeitungen und Zeitschriften. Die Aussage war immer dieselbe:

Stopp den Bau der Windräder, sonst bist du ein toter Mann! Jensen riss das Papier hoch, zerknüllte es und warf es Frau Böhm entgegen.

„Was soll denn schon sein?“, schrie er. „Da will mir jemand meine kostbare Zeit rauben! Mit so einem Schwachsinn!!“

Heide Böhm hob den Brief auf, strich ihn glatt und legte ihn in die Mappe, in der bereits elf ähnliche Papiere lagen.

„Hören Sie auf damit, Frau Böhm! Ich werde nicht zur Polizei gehen und wenn ich jeden Tag zehn solcher Briefe bekomme, merken Sie sich das endlich!“

Peter Jensen stürzte hinter seinem Schreibtisch hervor und machte Anstalten, seiner Sekretärin die Mappe aus der Hand zu reißen. Doch Heide Böhm war mit ihrer Geduld am Ende. Sie holte tief Luft und baute sich mit entschlossener Miene vor ihrem Chef auf.

„Herr Jensen! Nachdem Sie mir anscheinend nur dann zuhören, wenn ich auch laut werde, muss ich das leider tun! Sie lassen jetzt sofort die Mappe los!“

Peter Jensen zuckte völlig perplex zurück und nickte fassungslos. So hatte er seine Sekretärin noch nie erlebt. Seit über 20 Jahren arbeitete sie jetzt für ihn und war ihm in all der Zeit nie wirklich aufgefallen. Sie war immer da, unauffällig und zuverlässig, hatte ohne Aufhebens alle Arbeiten im Hintergrund erledigt und ihm jederzeit den Rücken frei gehalten. Sie hielt die Firma zusammen, kümmerte sich um alle Termine, sorgte dafür, dass Absprachen eingehalten wurden und war dafür zuständig, dass jeder Mitarbeiter zum Geburtstag ein Geschenk und eine Glückwunschkarte bekam.

WindInvest war ohne Heide Böhm gar nicht denkbar.

Sie war Anfang 60 und lebte alleine mit ihren Katzen. Jensen konnte sich nicht erinnern, sie jemals anders als in einem grauen Kostüm und mit hochgestecktem Haar gesehen zu haben. Wahrscheinlich würde er sie in Freizeitkleidung, falls sie so etwas überhaupt besaß, gar nicht erkennen.

Und diese Heide Böhm stand nun mit blitzenden Augen und erhobener Stimme vor ihm?

„Ich mache das nicht länger mit! Wenn Sie nach zwölf Drohbriefen, denn das sind sie für mich, noch immer nicht bereit sind zur Polizei zu gehen, dann werde ich das wohl für Sie übernehmen müssen. Guten Tag!“

Die Bürotür fiel ungewohnt laut ins Schloss.

Peter Jensen starrte Frau Böhm ungläubig hinterher, schloss den Mund und atmete erst einmal tief durch.

Vielleicht hatte er seine rechte Hand all die Jahre unterschätzt, und sie war doch nicht die graue Maus, für die er sie bisher gehalten hatte.

Er zuckte erneut zusammen, als sich die Tür wieder öffnete und Frau Böhm:

„Sie kommen im Laufe des Tages!“ herein rief.

Endlich erwachte Peter Jensen aus seiner Erstarrung und realisierte, was geschehen war. Er hatte schon wieder einen dieser widerlichen Briefe seines Erzfeindes bekommen, dieses Primitivlings, der ihn fast ebenso viel Energie kostete, wie das Projekt an sich.

Seit Beginn der Bauarbeiten vor fast zwei Jahren drangsalierte ihn dieser Kerl auf jede nur erdenkliche Art. Die Briefe waren dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Schmierereien an den Containern, Tierfallen auf den Baustellen und verschwundenes oder zerstörtes Baumaterial waren beinahe an der Tagesordnung.

Peter Jensen war mit seinen Nerven am Ende! Wenn das nicht bald aufhörte, dann…

Er wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

Frau Böhm und viele andere Mitarbeiter hatten ihm schon oft geraten, endlich die Polizei einzuschalten, aber die Vorstellung, sich auch noch mit dem Arm des Gesetzes befassen zu müssen, war ihm zuwider. Vielleicht oder sogar wahrscheinlich würden sie innerhalb kürzester Zeit dem Spuk ein Ende bereiten, aber um welchen Preis?

Er müsste sich stundenlangen Verhören und Befragungen unterziehen und hätte tagelang schnüffelnde Beamte auf seiner Baustelle. Die Arbeiten würden sich noch länger hinziehen und an das Gerede, das dabei entstehen würde, wollte er gar nicht denken.

Da versuchte er lieber weiterhin, die sinnlosen Aktionen zu ignorieren und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Doch was hatte Frau Böhm eben gesagt? Sie kommen im Laufe des Tages? Vielleicht war es doch langsam an der Zeit, sich eine junge, attraktive Sekretärin zu suchen, die mehr Respekt vor ihm hatte und von solchen Alleingängen Abstand nahm? Seufzend wandte er sich wieder seiner Arbeit zu und starrte auf den Bildschirm.

Am frühen Nachmittag wurden seine Gedanken vom Klopfen an der Tür unterbrochen.

„Was gibt es denn?“, rief er unwirsch. „Lassen Sie mich in Ruhe!“

Die Tür öffnete sich trotzdem und zwei Männer standen vor ihm.

Einer war etwa Anfang vierzig, nicht sehr groß und sportlich. Er hatte dichtes, kurzgeschnittenes braunes Haar, kleine wache Augen und eine etwas zu groß geratene Nase. Er trug Jeans, ein kariertes Hemd und eine schwarze Softshelljacke.

Der andere Mann war groß, schlaksig und etwas älter als sein Kollege. Er hatte ein schmales Gesicht und dünnes blondes Haar. Seine braunen Augen schienen die Umgebung genau wahrzunehmen. Alles in allem wirkte er unauffällig, was durch seine eher biedere Kleidung noch verstärkt wurde. „Guten Tag, Herr Jensen“, begann der kleinere und jüngere von beiden.

„Kriminalhauptkommissar Weglehner, das ist mein Kollege Schielke.“

Peter Jensen erhob sich und schüttelte den beiden Beamten die Hand.

„Weglehner klingt so bayerisch, sind Sie nicht von hier?“, fragte Peter Jensen und Weglehners Blick verdüsterte sich. Seit er denken konnte, hatte er damit zu kämpfen, war ständig in Erklärungsnotstand und musste ein ums andere Mal erläutern, was es mit seinem Nachnamen auf sich hatte. Er hoffte, dass er doch irgendwann in seinem Leben einmal eine nette Frau kennenlernen würde, die erstens bereit war, ihn zu heiraten und die zweitens einen original friesischen Nachnamen trug, den er dann übernehmen könnte. Der erste Versuch in diese Richtung war leider gescheitert: Er war frisch geschieden. Abgesehen davon hatte sich seine Exfrau für seinen Namen entschieden.

„Mein Urgroßvater stammte aus Süddeutschland. Ihm habe ich diesen Namen zu verdanken“, erläuterte Kommissar Weglehner und bemühte sich, nicht allzu genervt zu klingen.

„Es gibt unangenehmere Namen. Was führt Sie zu mir?“

Kommissar Weglehner blickte sein Gegenüber erstaunt an. „Ich dachte, Sie haben uns verständigt?“

Jensen setzte sich wieder hin und deutete auf die beiden Besucherstühle in der Ecke des kleinen Raumes.

„Ich habe niemanden verständigt, das muss ein Irrtum sein“, antwortete Jensen und versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

Torben Schielke zog ein kleines, etwas zerknittertes Notizbuch aus der Tasche und blätterte eifrig darin herum.

„Es war eine Frau Böhm, die angerufen hat, Chef“, meinte er und klappte das Notizbuch wieder zu.

„Danke“, sagte Kommissar Weglehner, „ich nehme an, das ist Ihre Sekretärin, Herr Jensen, habe ich recht?“

Peter Jensen nickte zustimmend: „Ja, Frau Böhm ist die gute Seele der Firma, aber ich wüsste nicht, weshalb sie Sie verständigt haben soll.“

Jensens betont lässiger Tonfall, sein angespannter Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass er keinen Blickkontakt halten konnte, waren für Kommissar Weglehner deutliche Zeichen dafür, dass sein Gegenüber den Grund des Anrufes sehr wohl kannte.

Rasmus Weglehner wartete noch kurz, sah Jensen aufmunternd an und spürte dessen Anspannung wachsen.

„Meine Herren“, sagte Jensen und erhob sich, „es tut mir leid, dass Sie sich umsonst auf den Weg hierher gemacht haben, aber ich habe noch viel zu tun.“

Die beiden Kommissare machten jedoch keine Anstalten zu gehen.

„Interessiert es Sie gar nicht, warum Frau Böhm die Polizei alarmiert hat? Und zwar nicht nur einen Streifenwagen, sondern gleich die Mordkommission?“, fragte Weglehner provokant und nickte seinem Kollegen kurz zu. Dieser erhob sich und verließ den Raum, während Peter Jensen tief durchatmete und sich auf seinen schicken Lederstuhl zurückfallen ließ.

Als sich die Tür öffnete und Torben Schielke eine ältere, blasse, unauffällige Dame in den Raum schob, schien Peter Jensen diese mit Blicken töten zu wollen.

„Frau Böhm“, rief Kommissar Weglehner aufmunternd und bot ihr seinen Stuhl an, „setzen Sie sich.“

Frau Böhm senkte den Blick und hielt sich verkrampft an einer grünen Mappe fest.

„Mein Kollege sagte, Sie hätten uns angerufen und explizit nach der Mordkommission verlangt, ist das richtig?“, fragte Weglehner, der inzwischen einen weiteren Stuhl geholt hatte.

„Hatten Sie Ihrem Chef gar nichts davon gesagt?“

Plötzlich straffte Heide Böhm die Schultern, setzte sich aufrecht hin, holte tief Luft und nahm augenscheinlich ihren ganzen Mut zusammen:

„Ja, ich habe die Mordkommission verständigt, weil mein Chef heute bereits den zwölften Drohbrief erhalten hat.“

Rasmus Weglehner hob erstaunt die Augenbrauen und wiederholte: „Drohbrief?“

„Ja, Morddrohungen“, sagte Frau Böhm aufgebracht. „Den zwölften Brief innerhalb der letzten zehn Monate, abgesehen von all den anderen Schmierereien!“

„Frau Böhm!“, rief Peter Jensen dazwischen. „Es reicht jetzt! Sie haben doch sicher noch etwas zu tun, oder?“

„Bitte beruhigen Sie sich!“, mischte sich Kommissar Weglehner ein, den die Sache zunehmend interessierte.

Da bekam ein Firmenchef offenbar seit Monaten Morddrohungen und hielt es nicht für nötig, die Polizei einzuschalten. Nahm er die Briefe nicht ernst oder gab es einen anderen Grund, ihn und seine Kollegen außen vor zu lassen?

„Von welchen anderen Schmierereien sprechen Sie, Frau Böhm“, meinte er und machte Peter Jensen deutlich, dass im Moment die Polizei das Sagen hatte.

„Erzählen Sie es ihm, Chef, es ist langsam Zeit!“

Peter Jensen schien nicht glauben zu können, was er eben gehört hatte und suchte nach Ausflüchten.

„Aber, was meinen Sie? Was soll das? Wie reden Sie überhaupt mit mir?“

Kommissar Weglehner stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, beugte sich vor und blickte Peter Jensen tief in die Augen.

„Was ist hier passiert?“

„Ach, das ist doch alles nicht der Rede wert! Ich weiß nicht, warum Frau Böhm derart panisch reagiert, das sind doch nur Dummejungenstreiche.“

„Dann spricht doch nichts dagegen, uns von diesen scheinbar lustigen Streichen zu erzählen, wir amüsieren uns auch gerne.“

Peter Jensen strich sich nervös über seinen Dreitagesbart und legte die Stirn in Falten.

„Es ist immer der gleiche Text“, begann er und gab Heide Böhm ein Zeichen, ihm die grüne Mappe zu geben.

Er öffnete den Deckel und zeigte den beiden Polizisten einen Stapel zerknitterter und wieder glatt gestrichener Zettel mit aufgeklebten Buchstaben:

Stopp den Bau der Windräder, sonst bist du ein toter Mann! Kommissar Weglehner dachte unwillkürlich an einen alten Western, den er in seiner Kindheit gesehen hatte, in dem sich die Revolverhelden auch mit …sonst bist du ein toter Mann… bedroht hatten. Nur mühsam konnte er ein Grinsen unterdrücken. Er atmete kurz durch und konzentrierte sich wieder auf die Briefe, die vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lagen.

„Zwölfmal derselbe Text“, überlegte er laut. „Dasselbe Papier, nahezu dieselben Buchstaben.“

„Sehr einfallsreich ist er wirklich nicht, dieser Utholm“, meinte Jensen herablassend.

Rasmus Weglehner blickte verblüfft auf.

„Wollen Sie damit sagen, Sie wissen, von wem diese Briefe sind?“

„Natürlich kenne ich den Kerl!“, brüllte Jensen und die ganze Anspannung, die sich seit Monaten angestaut hatte, schien sich zu entladen.

„Dieser Idiot raubt mir den Schlaf, kostet mich meinen letzten Nerv und außerdem viel zu viel Geld!“

Jensen war aufgesprungen und ging nun wutentbrannt in dem kleinen Raum auf und ab, wie ein Raubtier in seinem Käfig.

„Bitte langsam der Reihe nach, Herr Jensen, wer ist dieser Mann und was hat er alles getan? Und vor allem warum?“ Kommissar Weglehner wusste im Moment nicht, welche Frage er zuerst stellen sollte.

„Utholm heißt er, Hajo Utholm und er will mein Projekt boykottieren! Was ich dafür schon Geld ausgegeben habe, ich könnte ihn…“, Peter Jensen hielt erschrocken inne und warf einen schnellen Blick auf Kommissar Weglehner.

„Verstehen Sie mich nicht falsch…“, stotterte er, doch Kommissar Weglehner unterbrach ihn:

„Ich verstehe Sie im Moment ehrlich gesagt überhaupt nicht. Bitte beruhigen Sie sich, setzten Sie sich wieder und berichten Sie von Anfang an. Vielleicht kann uns Frau Böhm Wasser und Kaffee bringen?“

Die Sekretärin war froh, den Raum verlassen zu können und schloss leise die Tür hinter sich.

„So, jetzt noch einmal von vorne: Ein Herr Utholm boykottiert Ihren Windpark und bedroht Sie. Ist das richtig?“ Peter Jensen seufzte tief und nickte. Er wirkte plötzlich sehr müde und gestresst, aber auch irgendwie erleichtert darüber, endlich mit jemandem über die Vorkommnisse sprechen zu können. Die ganze Angelegenheit war ihm mit der Zeit über den Kopf gewachsen und hatte ihn mehr Energie und Kraft gekostet, als er sich bisher hatte eingestehen wollen.

Er blickte Kommissar Weglehner offen an, holte tief Luft und erzählte.

3

Die Sonne schien vom makellos blauen Himmel, und es wehte ausnahmsweise nur ein schwacher Wind. Die klare Luft war erfüllt vom Geruch nach Salz, Frühling und den frischen Hinterlassenschaften der unzähligen Schafe, die auf den endlosen Wiesen unterwegs waren.

Es war ein traumhafter Morgen, still und unberührt.

Barbara Konrad ließ ihren Blick über die flache Landschaft der Halbinsel Eiderstedt streifen, die nur aus Wiesen zu bestehen schien. Ab und zu sah man ein einsames Gehöft, ein reetgedecktes Dach, das aus dem frischen Grün üppig wuchernder Büsche und Bäume hervorlugte. Dazwischen grasten Schafe, Kühe und Pferde auf riesigen Weiden, um die sie jedes Tier, das in einem engen Stall sein Leben fristen musste, glühend beneiden würde. Die weite Marschlandschaft war durchzogen von schmalen Wegen und kleinen Bewässerungsgräben. Nur selten war hier jemand unterwegs. So weit das Auge reichte, bot sich das gleiche Bild, das auf die einen langweilig, auf die anderen beruhigend wirken konnte. In Richtung Nordwesten endete die flache Landschaft abrupt an einem von Menschenhand errichteten Wall, der zum Teil mit Schilf bewachsen war und keinen Blick auf das dahinter liegende Meer gewährte: Der Deich.

Besucher, die zum ersten Mal hierher kamen und an ihrem Anreisetag noch schnell vor dem Abendbrot die große Zehe ins salzige Nordseewasser strecken wollten, wurden nach einem Blick über den Deich schnell eines Besseren belehrt. Für einen kurzen Ausflug ans Wasser durfte man gut und gerne eine Stunde einplanen, denn hinter dem gewaltigen Deich wartete nicht das Meer, sondern ein weiterer etwa 500m breiter Streifen Salzwiesen, der bei Hochwasser und Sturm ebenfalls überflutet wurde. Daran anschließend folgte ein etwas niedrigerer Deich, bevor der ebenfalls über 500m breite Strand begann. Erst dann kam das Wasser - wenn nicht gerade Ebbe war!

Der St. Peter-Ording-Besucher war also gut bedient, für seinen ersten Ausflug zum meist kühlen Nass sowohl ein Fahrrad, als auch ausreichend Zeit mitzubringen.

Barbara saß auf ihrem alten Fahrrad, das sie notdürftig hergerichtet hatte, ließ sich die kühle Brise durch das lange blonde Haar wehen und sog all die vertrauten Eindrücke gierig in sich auf. Sie schüttelte sich leicht, was weniger an der noch kühlen Temperatur, als vielmehr an dem wohligen, unfassbaren Glücksgefühl lag, das sie in diesem Moment ergriffen hatte.

Sie war wieder zu Hause!

Warum war sie nicht früher zurückgekommen? Warum hatte sie freiwillig all diese Jahre auf all das hier verzichtet? Hatte es gegen gesichtslose, anonyme Städte eingetauscht? Warum hatte sie es nur vorgezogen, in einem fremden Land, einer fremden Kultur unter Menschen zu leben, die ihr auch nach sechs Jahren noch nicht vertraut waren?

War sie davongelaufen? Hatte sie sich vor der Verantwortung gedrückt, vor den Erwartungen ihrer Mutter, die ihr übermächtig erschienen waren?

Oder war sie nur vor sich selbst geflohen, auf der Suche nach einer anderen Barbara, einer, die vielleicht härter ist, widerstandsfähiger, stärker, besser, einfach anders?

Es war dieses Gefühl der Verlassenheit, der Einsamkeit, der Unvollständigkeit, das sie umtrieb, das ihr keine Ruhe ließ und sie ständig unterwegs sein ließ.

Seit sie denken konnte, also bereits seit über 30 Jahren, kannte sie nun dieses Gefühl. Es war mal stärker und mal kaum spürbar, aber es war immer da.

Barbara seufzte und trat etwas schneller in die Pedale. Früher hatte sie die Strecke zum Strandkaufhaus in weniger als 10 Minuten zurückgelegt, jetzt spürte sie bereits nach den ersten 100 Metern ein leichtes Ziehen in den Oberschenkeln. Sie nahm sich vor, an ihrer Kondition zu arbeiten und wieder mehr Sport zu treiben: Strandspaziergänge, Joggen, Radfahren! Früher war sie immer fit gewesen, war sportlich und schlank. Jetzt, nach fünf Jahren Studium in Hamburg und anschließenden sechs Jahren Aufenthalt im Ausland, zuletzt in Boston, hatte sie deutlich zugenommen, war rundlich geworden, unbeweglich und bequem.

Das Leben in der Großstadt hatte ihr nicht gut getan. Sie hatte sich hetzen lassen von ihrem Job, von den Menschen und nicht zuletzt von sich selbst. Am Ende konnte sie sich fast selbst nicht mehr in die Augen schauen, lebte ein Leben, das sie nie wollte, hatte die Kontrolle über sich und ihr Leben verloren. Nicht, dass Drogen oder Alkohol im Spiel gewesen wären, davon war sie weit entfernt. Es war mehr die Fremdbestimmtheit, die ihr die Energie geraubt hatte und die Unzufriedenheit hatte wachsen lassen. Sie führte eine kurze und oberflächliche Beziehung nach der anderen und beendete sie ebenso leidenschaftslos wieder.

Sie war auf der Suche, wusste aber nicht wonach, bis ihr in einem Gespräch mit ihrer Mutter klar wurde, was sie wollte: Sie wollte wieder nach Hause, in die Ruhe und Abgeschiedenheit ihrer Heimat.

Sobald ihr das klar war, brach sie ihre Zelte ab, suchte sich in der Nähe ihres Elternhauses einen Job und kehrte wieder nach Eiderstedt zurück.

Lächelnd dachte sie an die überraschten Gesichter in Boston, als sie ihnen ihren Entschluss mitteilte. Keiner von ihnen schien echt enttäuscht oder traurig gewesen zu sein, was Barbara in ihrer Entscheidung noch bestärkte.

Jetzt war sie wieder zu Hause und spürte eine tiefe Zufriedenheit und innere Ruhe.

Sie drehte sich um und ließ ihren Blick nach Osten schweifen, wo sich die unzähligen Windräder in den Himmel reckten, mit denen sie ab nächster Woche ihr Geld verdienen würde. Wie aufgeregt sie doch war, als sie vor einigen Tagen ihre Bewerbungsunterlagen persönlich beim Chef der Firma WindInvest vorbeigebracht hatte. In der Stellenausschreibung hatte es eher so geklungen, als würde ein Mann gesucht werden, aber sie wollte es trotzdem versuchen, hatte all ihren Charme und ihre Kompetenz in die Waagschale geworfen und gewonnen.

Peter Jensen war sehr offen und aufgeschlossen, hatte sich Zeit genommen und ihre Unterlagen genau studiert. Genau genommen gab es weder an ihrem Lebenslauf, noch an ihrer Qualifikation etwas auszusetzen, sie war die ideale Besetzung für den Job - dachte sie zumindest.

Zum Glück war Peter Jensen derselben Ansicht und sagte ihr bereits am nächsten Tag zu. Immerhin hatte sie ihr Studium im Bereich Maschinenbau mit 1,7 abgeschlossen und mehrere Jahre Erfahrung im Bereich Windkraft zu bieten. Die letzten drei Jahre hatte sie in Boston, USA, eine zwölfköpfige Projektgruppe geleitet und konnte somit auch mit Personalverantwortung aufwarten.

Barbara freute sich auf die neue Herausforderung, besonders wenn sie an den Mann dachte, der ihr als Zulieferer wichtiger Bauteile vorgestellt wurde. Sie sollte den Einbau und die Funktion der Umrichter überwachen, die von diesem Herrn Mittenhuber geliefert wurden.

Ihr Herz klopfte, wenn sie an ihre erste Begegnung im Büro des Chefs dachte. Peter Jensen hatte sie zur Unterzeichnung des Vertrages zu sich gebeten und sie im Zuge dessen auch mit Andreas Mittenhuber bekannt gemacht.

Er war nicht wirklich attraktiv, aber strahlte etwas aus, was Barbara magisch anzog. Sie standen sich in Jensens Büro gegenüber und starrten sich mit offenen Mündern an. Jensen hatte gefragt, ob sie sich denn bereits kannten, aber sowohl Andreas, als auch Barbara verneinten.

Nein, sie hatte diesen Mann noch nie gesehen, hatte aber das eigenartige Gefühl, zu Hause angekommen zu sein.

Seit dieser Begegnung vor ein paar Tagen hatten sie sich nicht mehr getroffen. Barbara wusste nicht, wo er wohnte und wollte auch nichts unternehmen, ihn zu finden. Sie vertraute auf das Schicksal und genoss unterdessen das wohlige Gefühl der Erinnerung.

Inzwischen hatte sie das Strandkaufhaus erreicht. Es war ein kleiner Laden, der in erster Linie zur Versorgung des angrenzenden Campingplatzes ausgelegt war. Man konnte dort alles bekommen: von Zeitschriften, über Postkarten, Lebensmittel, Sandspielzeug, Badeschuhe bis hin zu Backwaren.

Bereits als Kind liebte es Barbara hier frühmorgens Brötchen einzukaufen und so zu tun, als mache sie hier Urlaub. Sie stellte sich vor, sie würde eigentlich in Bayern wohnen, in diesem fernen Land, in dem die Leute so anders sprachen und manchmal so eigenartige Kleidung trugen. Oder aus irgendeiner anderen großen Stadt, in der es kein Meer gab, keinen Deich und so gut wie keinen Wind. Diese Gedanken waren so verlockend, aber auch so beängstigend und jagten ihr jedes Mal einen kleinen Schauer über den Rücken.

In dem Moment, als sie den Laden betrat, fühlte sie sich über 20 Jahre in der Zeit zurückversetzt. Alles war wie früher, es roch wie früher und auch heute waren bereits die ersten Gäste da, die in den unterschiedlichsten Dialekten ihre Brötchen bestellten.

Barbara merkte, wie sie feuchte Augen bekam und suchte verstohlen nach einem Taschentuch.

„Hallo Barbara“, hörte sie die ungewöhnlich hohe Stimme eines Mannes.

Sie blickte auf und sah einen jungen Mann, etwa in ihrem Alter, mit dunklem Dreitagesbart, moderner Brille und einer Schirmmütze auf dem sonst recht kahlen Kopf. Er war groß und muskulös und trug Sportkleidung. Barbara überlegte fieberhaft, woher sie diesen Mann kannte, der offensichtlich genau wusste, wer sie war.

„Kennst du mich etwa nicht mehr? Es sind doch erst 13 Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben“, erklärte er und zwinkerte ihr verschmitzt zu.

„Ja natürlich!“, rief Barbara plötzlich, „Gunnar! Gunnar Thiel, das Sporttalent aus der Oberstufe.“

Gunnar strahlte bis über beide Ohren.

„Na, also, geht doch! Ich hatte schon befürchtet, du hast mich vergessen.“

„Wer könnte dich schon vergessen?“, gab Barbara zurück und wusste nicht so genau, ob sie sich über die Begegnung freuen sollte. Gunnar gehörte früher zu der Sorte Mensch, die gerne, oft und eigentlich ausschließlich von sich selbst erzählten, was bei seiner eigenartig hohen Piepsstimme manchmal recht anstrengend war.

„Was hast du denn all die Jahre so gemacht?“, fragte Gunnar.

Barbara sah etwas unruhig auf die Uhr. „Ich war im Ausland, bin aber seit einigen Wochen wieder hier“, erklärte sie. „Wir können ja mal telefonieren, jetzt muss ich möglichst schnell wieder nach Hause, entschuldige bitte.“

Gunnar sah sie grinsend an. „Musst du schnell heim zu Mann und Kindern?“

„Nein, ich bin nicht verheiratet“, antwortete Barbara ungeduldig. „Ruf mich doch einfach mal an.“

„Ich freue mich!“, rief ihr Gunnar Thiel noch hinterher.