Apfelrausch - Monika Martin - E-Book

Apfelrausch E-Book

Monika Martin

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Beschreibung

Edith Kössler referiert bei der Obstgenossenschaft Kaltern in Südtirol über den Einsatz eines umstrittenen Verfahrens zur Lagerhaltung von Kernobst. Im Laufe der Veranstaltung kommt es zu Meinungsverschiedenheiten und Provokationen seitens einzelner Apfelbauern. Noch am selben Abend wird sie erschlagen und in einem verlassenen Haus am Mendelpass versteckt. Der eigensinnige Commissario Roberto Pagani, strafversetzt nach Bozen, nimmt die Ermittlungen auf. Zu seinem Entsetzen muss er mit seinem alten Bekannten Kommissar Attila zusammenarbeiten ...

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Das Buch:

Edith Kössler referiert bei der Obstgenossenschaft Kaltern in Südtirol über den Einsatz eines umstrittenen Verfahrens zur Lagerhaltung von Kernobst. Im Laufe der Veranstaltung kommt es zu Meinungsverschiedenheiten und Provokationen seitens einzelner Apfelbauern.

Noch am selben Abend wird sie erschlagen und in einem verlassenen Haus am Mendelpass versteckt.

Der eigensinnige Commissario Roberto Pagani, strafversetzt nach Bozen, nimmt die Ermittlungen auf. Zu seinem Entsetzen muss er mit seinem alten Bekannten Kommissar Attila zusammenarbeiten …

Die Autorin:

Monika Martin ist Sozialpädagogin und arbeitet als Autorin und Stadtführerin in Nürnberg.

„Apfelrausch“ ist der vierte Krimi der Reihe „Ermitteln, wo andere Urlaub machen“. In dieser Reihe nimmt sie die Leser mit an Orte und Schauplätze, die sie selbst oft und gern bereist hat: Ungarn, Italien, die Nordseeküste und Südtirol.

In ihrer Reihe „Krimis mit Geschichte“ verbindet sie ihre literarische Tätigkeit mit ihrem regionalgeschichtlichen Engagement zu Kriminalromanen mit Fakten aus der Nürnberger Stadtgeschichte.

Im November 2018 wurde ihr der Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis verliehen.

Monika Martin lebt mit ihrer Familie in Schwanstetten bei Nürnberg.

„Ein Volk, das um nichts anderes kämpft

als um sein natürliches und verbrieftes Recht,

wird den Herrgott zum Bundesgenossen haben.“

(Kanonikus Michael Gamper)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

1

Langsam, ganz langsam versank die glutrote Sonne hinter den Berggipfeln des Mendelkamms. Die heiße Luft des Spätsommertages lag noch schwer über dem Etschtal und würde erst im Laufe der Nacht einer erfrischenden Kühle Platz machen. Leise und doch allgegenwärtig rauschte die Autobahn durch das breite Tal. Endlose Autoschlangen durchpflügten den undurchdringlich wirkenden Teppich der Apfelplantagen.

Edith Kössler parkte ihren Wagen dort, wo sie immer kurz innehielt, wenn es sich einrichten ließ, um die Schönheit dieser Landschaft in sich aufzunehmen. Der Parkplatz lag in einer Kehre an der Straße zwischen Auer und Cavalese, etwa 200 Höhenmeter über dem Etschtal. Von hier aus bot sich eine atemberaubende Aussicht Richtung Bozen im Norden und der Salurner Klause im Süden, jener Stelle, an der sich das Tal deutlich verengt und das gleichzeitig die deutschitalienische Sprachgrenze markiert.

Als die Sonne ganz verschwunden war und lediglich ein faszinierendes orangerotes Farbenspiel auf den Wolken hinterlassen hatte, musste Edith lächeln. Wie schon so oft beglückwünschte sie sich innerlich zu der Entscheidung, vor über 16 Jahren ein Haus auf dieser Seite des Etschtals gekauft zu haben und nicht auf der gegenüberliegenden Seite, die bereits seit fast zwei Stunden im Schatten der Berge lag. Sie musste oft an den wirklich gelungenen Werbeslogan der Ferienregion Neumarkt – Montan – Aldein denken: „ … wo die Sonne länger scheint.“

Edith liebte die Abendstimmung hier im Süden Südtirols, wie sie auch dieses Land liebte. Seit Jahren und Jahrzehnten war sie regelmäßig hier unterwegs gewesen, mal in Bozen, mal in Meran oder irgendwo dazwischen. Sie kannte beinahe jeden der kleinen Orte, hatte jede Sehenswürdigkeit unzählige Male besucht und wurde es trotzdem nicht satt, hier zu sein. 1989 hatte sie sich schließlich entschieden, der Stadt den Rücken zu kehren, in der sie 40 Jahre lang gelebt hatte: Nürnberg. Es war, als sei sie endlich zu Hause angekommen, als habe sie eigentlich schon immer hierher gehört, hierher nach Südtirol.

Mit etwas Glück hatte sie damals eine Stelle als Lebensmittelchemikerin bei AgriControl in Bozen bekommen. Seither war sie dafür zuständig, die Einhaltung der Richtlinien für den integrierten Anbau der über 5000 Obstbauern in der Region zu überwachen. Sie führte Feldbegehungen durch, kontrollierte die Betriebshefte und die sachgemäße Nutzung, Reinigung und Wartung der Maschinen. Durch ihre Arbeit bekam sie schnell Kontakt zu den Menschen und hatte bald den Ruf, streng aber gerecht zu sein. Jeder Betrieb war froh, wenn Frau Kössler nach der Begehung nichts zu beanstanden hatte, denn ein möglicher Ausschluss aus der Genossenschaft oder der Verlust des Labels Südtiroler Apfel aus integriertem Anbau würde die Existenz dieses Betriebes massiv gefährden. Ein weiterer Aspekt ihrer Arbeit waren Vorträge, Informationsveranstaltungen und Podiumsdiskussionen zu verschiedenen Themen rund um den Obstanbau und die Vermarktung. Die Region Südtirol war nicht zuletzt wegen der strengen Richtlinien und des professionellen Marketings hervorragend am europäischen Markt etabliert.

Mit geschlossenen Augen nahm sie noch einen tiefen Atemzug und sog den im September allgegenwärtigen Duft nach reifen Äpfeln und prallen Weintrauben in sich auf, bevor sie sich wieder ans Steuer ihres Wagens setzte.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch eine Stunde Zeit hatte, bevor sie als Gastrednerin bei einer Podiumsdiskussion in der Obstgenossenschaft Kaltern über neue Methoden moderner Lagerhaltung referieren würde.

Es war der letzte Termin einer langen und anstrengenden Woche. Ab morgen würde sie sich endlich einer dringenden Familienangelegenheit widmen, die ihre ganze Aufmerksamkeit verlangte und für deren Klärung sie sich in der kommenden Woche Urlaub genommen hatte. Doch heute Abend würde sie ihre ganze Kraft brauchen, denn es war eine lebhafte Diskussion zu erwarten.

Edith war wie immer sehr gut vorbereitet. Und doch machte sich langsam eine gewisse Aufregung breit. Zum ersten Mal würde sie ihre Informationen mit Hilfe ihres Computers und eines Beamers vermitteln. Das Zeitalter der Tageslichtschreiber, die sie bisher für ihre Arbeit verwendet hatte, war endgültig vorbei. Sie hatte gewisse Bedenken, ob in dem großen Saal der Genossenschaft rechtzeitig die nötige Technik installiert sein würde oder ob sie improvisieren müsste. Aber mit ihren fast 60 Jahren fühlte sie sich erfahren und flexibel genug, um mit oder ohne Technik ihre Arbeit gut zu machen.

Die teils in den rohen Fels gehauene Straße schlängelte sich in mehreren Serpentinen hinab ins Tal, führte durch Auer und unterquerte die Autobahn, bevor sie auf die Südtiroler Weinstraße stieß. Wie so oft in dieser Jahreszeit waren auch heute wieder viele kleine, schmale Traktoren auf den Straßen unterwegs. Sie zogen Anhänger, die besorgniserregend hoch mit grünen Kisten voller frisch geernteter Äpfel beladen waren und wurden stets von einer langen Schlange Autos mit Kennzeichen aus ganz Europa verfolgt.

Edith heftete sich an das Ende einer solchen Schlange, öffnete das Seitenfenster und genoss die langsame Fahrt durch die Apfelplantagen.

Nach wenigen Kilometern bog sie in den Hof einer großen Wellblechhalle ein, die von riesigen Türmen leerer Obstkisten umgeben war:

Die Gebäude der Obstgenossenschaft Kaltern.

Der Parkplatz füllte sich langsam. Edith grüßte freundlich die vielen bekannten Gesichter, die auf die Tür des großen Versammlungsraums zuströmten. Stühle wurden gerückt, Hände geschüttelt, Neuigkeiten ausgetauscht. An der Stirnseite des Saales stand ein Podest mit einem langen Tisch und zwei Stühlen. Ein junger Mann war eifrig damit beschäftigt, die Mikrofone auszuprobieren, Kabel zu verlegen und einen Computer an den Beamer anzuschließen, der auf eine große Leinwand gerichtet war.

Die Luft war jetzt schon stickig, obwohl die erwartete hitzige Debatte noch gar nicht begonnen hatte.

„Früher ging das auch ohne all den technischen Schnickschnack“, raunte ein älterer Mann mit wuchtigem Schnauzbart seinem Nachbarn zu. Dieser nickte eifrig und nutzte sogleich die Gelegenheit, sich über die gute alte Zeit auszulassen. Kurz darauf erschien ein Grüppchen kichernder junger Mädchen, die sich mit gestärkten weißen Schürzen, Block und Bleistift bewaffnet ins Getümmel stürzten, um die durstigen Kehlen mit allerlei Köstlichkeiten zu verwöhnen.

Als nach einer weiteren halben Stunde jeder mit Getränken versorgt einen Platz neben der Person seiner Wahl gefunden hatte, trat ein beleibter Herr in Anzug und Krawatte auf das Podest und klopfte etwas unbeholfen auf das Mikrofon.

Das ohrenbetäubend laute „Hallo!“, begleitet von nervtötendem Quietschen und Pfeifen, riss alle im Saal aus ihren Gesprächen. Mit hochrotem Gesicht erschien wieder der junge Mann von der Technik, drehte an einigen Knöpfen, drückte mehrere Schalter und nickte in Richtung Mikrofon. Ignatz Klughammer, Obmann der Kalterer Obstgenossenschaft, rückte seine Krawatte zurecht und fuhr sich bereits zum wiederholten Mal nervös mit einem Taschentuch über sein Gesicht.

„Liebe Freunde“, begann er und räusperte sich vernehmlich. „Bevor wir mit dem Programm des heutigen Abends beginnen, möchte ich Frau Edith Kössler, die wir ja alle seit Jahren kennen und schätzen, zu mir nach vorne bitten.“

Galant schüttelte er Edith die Hand und rückte ihr den Stuhl zurecht.

„Schön, dass Sie sich heute Abend Zeit genommen haben, um mit uns gemeinsam ein brisantes Thema zu diskutieren“, begann er mit skeptischem Blick auf das Notebook, das Edith inzwischen vor sich auf dem Tisch platziert hatte.

„Wie wir alle wissen, geht es um das interessante Thema Nutzung von 1-MCP“, fuhr er fort. „Viele von uns wissen vermutlich bereits, was es mit diesem Gas auf sich hat. Ich habe aber trotzdem Frau Kössler gebeten, die Fakten noch einmal für uns zusammenzufassen. Bitte sehr, Frau Kössler.“ „Danke, Herr Klughammer“, übernahm nun Edith das Wort. Auf der Leinwand hinter ihr erschien in riesigen Buchstaben

1-MCP – Nutzen und Schaden für die Südtiroler Äpfel

„Methylcyclopropen, kurz 1-MCP ist ein gasförmiger, ungesättigter, cyclischer Kohlenwasserstoff, der dazu eingesetzt werden kann, Kernobst – vornehmlich Äpfel – deutlich länger haltbar zu machen“, begann Edith ihren Vortrag. Die Gespräche im Saal verstummten. Alle Augen waren auf sie gerichtet.

„Die Äpfel werden kurz nach der Ernte einmalig mit diesem Gas bedampft, was zur Folge hat, dass der Reifungsprozess quasi zum Erliegen kommt. Die Äpfel werden dann bei drei bis fünf Grad gelagert und reifen erst dann weiter, wenn sie die Lagerhalle verlassen und bei Raumtemperatur aufbewahrt werden.“

„Das ist doch schon lange bekannt!“, rief Antonio Rizzoli, ein Mann Mitte Vierzig mit dichtem schwarzem Haar und auffallend buschigen Augenbrauen. „Erzählen Sie uns lieber, warum wir dieses Wundermittel nicht längst schon verwenden?“

„Weil es erstens für Italien noch nicht zugelassen ist und zweitens weder wir von AgriControl noch unsere Mitgliedsverbände eine eindeutige Meinung dazu haben“, erklärte Edith geduldig. Sie war überrascht, bereits nach den ersten drei Minuten in die erwartete emotionale Diskussion einsteigen zu müssen.

„Welche Nachteile hat denn das Zeug?“, wollte der Mann mit dem gewaltigen Schnauzer wissen.

„Gut, Herr Tozzi“, lenkte Edith Kössler ein. „Ich nehme an, Sie haben kein Interesse an einem Vortrag, sondern möchten gleich in die Diskussion einsteigen. Habe ich recht?“

Zustimmendes Gemurmel erhob sich, was Edith dazu veranlasste, ihren Laptop zu schließen. „Dann mal los“, meinte sie und blickte sich aufmunternd im Saal um. „Herr Tozzi hatte nach den Nachteilen von 1-MCP gefragt. Kurz gesagt: Es gibt eigentlich keine.“

Ein Raunen ging durch die Menge.

„Was heißt eigentlich?“, setzte Carlo Tozzi nach. „Gibt es nun welche oder nicht?“

„Es gibt keine messbaren Schäden für Mensch oder Umwelt. Man riecht es nicht, schmeckt es nicht, es schädigt weder die Ozonschicht, noch den Organismus des Menschen, ist für den Verzehr völlig unbedenklich und CO 2 neutral.“

„Aber?“

„Es wird synthetisch hergestellt und kommt nirgends in der Natur vor. Damit entspricht es nicht den Vorgaben des biologischen Anbaus“, erklärte Edith, während das Raunen zu einem lauten Geräuschpegel anschwoll.

„Freunde!“, mischte sich nun Ignatz Klughammer wieder ein. „Ruhe! Wer etwas zu sagen oder zu fragen hat, meldet sich bitte!“

Antonio Rizzoli sprang auf. „Aber ich bin keiner von diesen Bio-Bauern. Wenn es keine messbaren Nachteile gibt, können wir doch gleich loslegen. Ich habe heute drei Tonnen Golden Delicious geerntet.“

Zustimmende Rufe tönten durch den Saal. Auch Carlo Tozzi konnte sich nicht mehr auf seinem Stuhl halten.

„Die Deutschen dürfen das Zeug schon anwenden!“, rief er aufgebracht. „Wir verlieren immer mehr Marktanteile, wenn alle anderen Äpfel anbieten, die länger haltbar sind, länger ihre Farbe behalten und auch nach einem Jahr noch knackig frisch sind!“

Edith begann zu schwitzen. Wie erwartet, konnte diese Veranstaltung keine sachliche Diskussion werden. Es war klar, dass die Bauern ihrem Ärger Luft machen würden.

„Wir haben bereits mehrfach bei der EU den Antrag gestellt …“

„Ihr mit euren Anträgen“, unterbrach sie Carlo Tozzi. „Ihr habt doch keine Ahnung von der Arbeit draußen bei den Äpfeln.“

„Das mag sein“, versuchte Edith einzulenken, „aber dafür habe ich Ahnung davon, wie die Genehmigungsverfahren ablaufen, Herr Tozzi.“

„Carlo“, meinte Ignatz Klughammer, dem inzwischen der Schweiß in kleinen Rinnsalen über beide Schläfen, den speckigen Hals hinab bis über Brust und Rücken lief. Bestimmt hatten sich schon riesige nasse Stellen unter seinen Achseln gebildet. Er wagte es deshalb nicht, sein Sakko auszuziehen und beließ es vorerst dabei, die Krawatte zu lockern. „Frau Kössler ist doch nicht diejenige, die das zu entscheiden hat.“

„Ihr Bürokraten! Schreibtischhengste!“, brüllte nun wieder Antonio Rizzoli. Seine Augen funkelten Edith wütend an. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, er würde auf die Bühne stürmen und sie am Kragen packen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ihm zuvor zu kommen.

Unvermittelt sprang sie auf, packte das Mikrofon und lief auf ihn zu, so weit es das Kabel zuließ. Verblüfft starrte Rizzoli sie an und zuckte unwillkürlich zurück.

Plötzlich wurde es still im Saal. Eine knisternde Spannung lag in der Luft.

„Herr Rizzoli“, sagte Edith nun langsam und deutlich in das Mikrofon, während sie ihr Gegenüber mit stechendem Blick fixierte. „Der Antrag wurde gestellt und ich rechne noch in diesem Jahr damit, dass Italien die Genehmigung erhält. Wir müssen dann nur noch darüber abstimmen, ob die Mehrheit der Genossenschaften Südtirols für einen Einsatz dieses Mittels ist oder nicht. Ist das in Ihrem Sinne?“

Damit kehrte sie wieder auf das Podium zurück.

Alle hielten den Atem an und warteten auf eine Reaktion.

„Und wenn ich Ihnen sage, dass ich es bereits getan habe?“, rief ihr Rizzoli provokant hinterher.

„Wie bitte?“

„Wenn ich Ihnen sage, dass ich hier in der Genossenschaft in einem Nebenraum bereits mehrere Tonnen Äpfel mit 1-MCP bedampft habe?“ Seine Augen funkelten angriffslustig.

„Dann muss ich Sie aus der Genossenschaft ausschließen, Herr Rizzoli, das wissen Sie genau“, entgegnete Edith gelassen. Sie war nicht bereit, sich von dem jungen Mann provozieren zu lassen.

„Das werden wir noch sehen“, knurrte er und verließ demonstrativ den Saal.

„Hat noch jemand Fragen?“, fragte Edith schnell in die Runde, bevor heftige Diskussionen über die Aussage Rizzolis entstehen konnten. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die Auseinandersetzung mit Antonio Rizzoli aufgewühlt hat. Sie würde die nächsten Tage über seine Worte nachdenken und überlegen, wie sie in dieser Sache weiter verfahren würde. Es war doch schlichtweg unmöglich, dass dieser Kerl eine eigene Bedampfungsanlage in den Räumen der Genossenschaft stehen hatte, oder?

„Wann und wo wird darüber abgestimmt?“, fragte nun ein unauffälliger, hagerer Mann mit wettergegerbtem Gesicht und schütterem Haar mitten hinein in die plötzliche Stille.

„Danke für das Stichwort, Herr Hofer“, antwortete Edith, erleichtert darüber, dass wieder Ruhe eingekehrt und die Situation zumindest in diesem Moment nicht eskaliert war.

„Ich habe Fragebögen mitgebracht, die bitte jeder Betrieb ausfüllen soll. Wir wollen erfassen, wer in welchem Umfang Interesse am Einsatz von 1-MCP in seinem Betrieb hat. Es liegt auch noch eine Informationsbroschüre über Wirkungsweise, technische Voraussetzungen und die damit verbundenen Kosten bei.“

Edith stellte mehrere Kartons auf den Tisch und öffnete sie.

„Es ist wichtig, dass jeder Betrieb einen solchen Bogen ausfüllt, auch wenn kein Interesse an 1-MCP besteht. Sie können die Bögen jetzt hier bei mir abholen. Natürlich stehe ich noch für weitere Fragen zur Verfügung. Vielen Dank.“

Die Leute im Saal erhoben sich, einige gingen an die frische Luft, andere standen laut diskutierend in Grüppchen zusammen, wieder andere holten sich ihren Fragebogen ab.

„Tut mir leid, Frau Kössler“, meinte Klughammer entschuldigend, als sich kurze Zeit später die Aufregung wieder gelegt hatte und die Leute konzentriert über ihren Fragebögen saßen. „Es ist natürlich völliger Quatsch, dass Rizzoli hier bereits das Gas anwendet.“

„Lassen Sie nur, das ist mir klar“, antwortete Edith müde.

„Irgendwie kann ich die Bauern auch verstehen. Immerhin könnte ihre Existenz auf dem Spiel stehen.“

„Das rechtfertigt aber noch lange nicht, sich Ihnen gegenüber so zu benehmen.“

„Lassen Sie es gut sein. Ich habe nächste Woche Urlaub, da kann ich mich von allen Anfeindungen erholen.“

„Das wünsche ich Ihnen“, sagte Klughammer und begann, mit Edith gemeinsam die ausgefüllten Bögen einzusammeln.

Kurz nach 22:00 Uhr war der Spuk zu Ende, der Saal war leer und Edith hatte alles Material wieder in ihrem Wagen verstaut.

„Vielen Dank“, meinte sie und griff nach ihrer Handtasche, die noch auf dem Tisch lag, „und einen schönen Abend noch.“

Ignatz Klughammer lächelte sie etwas schüchtern an.

„Erlauben Sie mir, Sie noch zu einem Gläschen Wein in den Kalterer Keller einzuladen?“

Er errötete. Edith konnte nur erahnen, wie viel Überwindung ihn diese Frage gekostet haben musste. Sie wusste, er war alleinstehend und hatte seit geraumer Zeit Interesse an ihr, was sie allerdings in keinster Weise erwiderte. Die vorsichtigen Annäherungsversuche waren ihr unangenehm. Sie wünschte, er würde damit aufhören.

„Nein danke, Herr Klughammer. Ich hatte eine anstrengende Woche und bin froh, wenn ich im Bett liege. Gute Nacht.“

Damit ließ sie ihn stehen und eilte hinaus zu ihrem Wagen in der Hoffnung, er würde nicht noch einmal nachhaken.

Irgendwie tat er ihr leid, wie er so alleingelassen dastand.

Aber das war nicht ihr Problem. Sie hatte ganz andere Sorgen.

Es war ihr noch nie passiert, dass sich einer der Bauern so massiv gegen sie gestellt hatte. Zwischenzeitlich hatte sie sich richtig bedroht gefühlt. Seufzend startete sie den Motor.

Sie ließ den Wagen vom inzwischen fast leeren, dunklen Parkplatz rollen und fuhr in Richtung Auer. Wenn Rizzoli tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, würde es auch auf sie zurückfallen, schließlich war sie für die Einhaltung der AgriControl-Richtlinien zuständig. Trotz aller Erschöpfung ließ ihr der Gedanke keine Ruhe.

Plötzlich erwachte in ihr eine Idee, ein Plan, ein wirklich verrücktes Vorhaben, das sie nicht mehr losließ. Ihr Herz klopfte schneller, ihr wurde heiß und kalt, ihr Atem ging stoßweise.

Ja, sie musste es versuchen, musste versuchen, Gewissheit zu bekommen.

Edith Kössler bremste scharf, wendete den Wagen mit quietschenden Reifen und fuhr in rasanter Geschwindigkeit zurück nach Kaltern. Die Gebäude der Genossenschaft waren jetzt leer. Sie würde nur einen schnellen Blick durch das Fenster in die Lagerhalle und hinter das Gebäude werfen und sehen, ob sie Hinweise auf eine Bedampfungsanlage finden konnte. Aufgeregt stellte sie ihr Auto an der Straße vor dem Parkplatz ab, schloss leise die Tür und schlich auf das Gebäude zu, das im Schatten hoher Bäume lag.

Es war eine mondhelle Nacht. Grillen zirpten, ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Sonst war es still. Kurz überlegte sie, ob sie nicht doch einfach nach Hause fahren sollte. Schließlich war sie keine Jugendliche mehr, die das Abenteuer sucht, aber irgendwie war ihr Ehrgeiz geweckt. Sie musste sogar schmunzeln, als sie sich vorstellte, welchen Anblick sie bieten musste: Eine fast 60-jährige Frau, die mitten in der Nacht über einen verlassenen Hof schlich und in fremden Hallen durch die Fenster spähte.

Da hörte sie hinter sich ein Geräusch. Ruckartig drehte sie sich um und starrte ängstlich über den leeren Hof.

Da war niemand.

Edith musste feststellen, dass auch das Nervenkostüm mit den Jahren immer dünner wird. Mit 20 hätte sie in dieser Situation kein Herzklopfen bekommen, keine Schweißausbrüche oder gar Panik. Jetzt, musste sie sich eingestehen, ließ sie dieses ganze Unterfangen nicht kalt. Sie nahm ihren Mut zusammen und drückte sich an die kalte Wand.

Langsam bewegte sie sich in Richtung Fenster und versuchte, einen Blick hineinzuwerfen, doch sie konnte nichts erkennen.

Vorsichtig umrundete sie das Hauptgebäude und erreichte den Hinterhof, in dem der Müll gelagert wurde. Es roch so intensiv nach faulen und gegorenen Äpfeln, dass es ihr beinahe den Atem verschlug. Sie fischte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und hielt es sich vor die Nase. Inzwischen fragte sie sich, was sie sich von dieser Aktion versprochen hatte. Sollte Rizzoli wirklich bereits mit der Substanz arbeiten, wäre er doch sicherlich nicht so dumm, irgendwelche Schachteln oder Ähnliches für jedermann sichtbar hier im Hinterhof liegen zu lassen. Abgesehen davon konnte man in diesem schummrigen Licht ohnehin nichts erkennen. Der Mond war inzwischen hinter dicken Wolken verschwunden. Dumpfes Grollen war aus der Ferne zu hören. Es roch bereits nach Regen.

Edith schüttelte den Kopf über sich selbst und trat den Rückweg zu ihrem Auto an. Sie wollte nicht unbedingt riskieren, auch noch in ein Gewitter zu geraten. Sie kramte den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche, als sie plötzlich ein Geräusch hörte.

Da waren Schritte, die immer näher kamen.

Reflexartig drückte sie sich in eine dunkle Ecke zwischen die Container. Es wäre ihr unendlich peinlich gewesen, hier im dunklen Hinterhof der Genossenschaft entdeckt zu werden. Sie konnte doch kaum zugeben, herumgeschnüffelt zu haben.

Die Schritte wurden langsamer.

Edith hielt die Luft an.

Ihr Herz pochte so laut, dass sie befürchtete, die Person könne es deutlich hören. Schweiß brach ihr aus allen Poren, während sie sich fragte, warum sie nicht einfach hervortrat und freundlich grüßte. Schließlich war sie doch niemandem Rechenschaft schuldig.

Die Person stand jetzt mit rasselndem Atem unmittelbar vor dem Container. Eine unheimliche Atmosphäre breitete sich aus.

Edith trat nicht hervor, zeigte sich nicht.

Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, es sei besser, sich zu verstecken.

Aber warum?

Wollte ihr jemand etwas Böses?

Wer war diese Person? Was wollte sie? Suchte sie gezielt nach ihr?

Edith wusste es nicht, drückte sich noch weiter in die Ecke und begann zu zittern.

Sie hatte Angst, ohne zu wissen wovor.

Da fiel ihr mit einem Mal der Autoschlüssel aus der Hand.

Das laute Scheppern durchbrach die angespannte Stille.

Panisch bückte sie sich und tastete in der Finsternis nach dem Schlüssel, als plötzlich eine Schuhspitze vor ihr auftauchte.

Sie schrie auf.

Langsam erhob sie sich mit wackeligen Knien. Im Halbdunkel hatte sie Mühe, die Person zu erkennen.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.

Jetzt wusste sie, wer da vor ihr stand.

„Was machen Sie denn um diese Zeit hier?“, keuchte sie und schnappte nach Luft.

Im nächsten Moment spürte sie einen entsetzlichen Schmerz am Kopf und sank zu Boden.

Sie merkte nicht mehr, wie der langsam einsetzende Regen das warme Blut, das aus ihrem Kopf quoll, in die Kanalisation spülte.

Edith Kössler war tot.

2

Wenige Minuten später wurde sie an ihren leblosen Händen gepackt und grob über den rauen Asphalt des Parkplatzes gezerrt. Ihr Rock bekam einen Riss, ein Schuh rutschte vom Fuß, die Handtasche landete unter einem der Müllcontainer und ihr langes dunkles Haar schleifte achtlos durch die Pfützen.

Es regnete in Strömen.

An einem Auto angekommen, stülpte ihr jemand eine schmutzige Plastiktüte über den noch immer blutenden Kopf, wickelte sie in eine alte Decke und stopfte sie in den Kofferraum. Hätte sie noch gelebt, hätte sie vermutlich auch mit verbundenen Augen erkannt, wohin die Reise ging:

Sie fuhren den Mendelpass hinauf.

Im Ort war die Straße zunächst sehr steil mit einigen scharfen Serpentinen. Später flachte die Passstraße etwas ab und schlängelte sich immer weiter den Berg hinauf. Nach etwa 15 Minuten bog das Auto auf einen holprigen Waldweg ab. Der Motor erstarb. Das Gewitter war inzwischen zu einem ausgewachsenen Unwetter angeschwollen.

Wie Gewehrsalven krachten riesige Regentropfen auf die Karosserie des Fahrzeugs. Der ohnehin weiche Waldboden wurde von den Wassermassen förmlich davon gespült und schien das Auto samt Inhalt mit in die Tiefe reißen zu wollen.

Allen Urgewalten der Natur zum Trotz wurde der Kofferraumdeckel aufgerissen, der leblose Körper herausgezogen, grob aus der schmutzigen Decke geschält und durch den Matsch geschleift. Durch den dichten Regenschleier wurden nach endlos scheinenden Minuten die Umrisse eines großen Hauses sichtbar. Es war bereits seit langem unbewohnt, von hüfthohem Gras und dichtem Gebüsch zugewuchert. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln und schlugen mit jeder Windbö kräftig gegen die Hauswand. Der Anblick war wenig einladend – sollte er auch nicht sein. Für den Zweck, für den das Anwesen vorgesehen war, war es sehr gut geeignet. Es lag auch bei gutem Wetter kaum sichtbar hinter hohen Bäumen verborgen – ein ideales Versteck für etwas, das am besten nie mehr gefunden werden sollte.

Die Eingangstür wurde mit einem rostigen Schlüssel geöffnet. Feuchtkalte Luft strich Edith Kössler über das inzwischen fast völlig erkaltete Gesicht, als ihr Körper langsam über den schmierigen glitschigen Holzboden gezerrt wurde. Überall standen Pfützen, es tropfte von der Decke. Durch die lückenhaften Fenster peitschte der Regen herein. Offensichtlich war das alte Haus schon lange nicht mehr in der Lage, die von außen hereindrängenden Wassermassen abzuhalten. Generationen von Spinnen hatten von dem alten Gemäuer Besitz ergriffen und es mit einem beinahe undurchdringlichen Dickicht aus Spinnweben durchzogen. Wäre Edith nicht gerade leblos die rutschige, ausgetretene Kellertreppe hinunter geschleppt worden, hätte sie die Vielfalt der achtbeinigen Prachtexemplare schlichtweg in Panik versetzt.

Im Keller stand das Wasser knöcheltief. Holzstücke, durchgeweichte Papiere, Kisten und Körbe schwammen auf der stinkenden schwarzen Brühe und umspülten binnen Sekunden Ediths tote Beine. Im wackeligen Schein einer Taschenlampe erschienen schiefe Regale, auf denen unzählige alte Einweckgläser vergeblich darauf warteten, endlich geöffnet zu werden, um mit ihrem inzwischen ungenießbaren Inhalt hungrige Mäuler zu stopfen.

Eines der Regale wurde vorsichtig beiseite geschoben und die dahinter verborgene, niedrige Tür mühsam gegen den Druck des Wassers geöffnet. Drei grob in den Stein gehauene Stufen führten in eine trockene Kammer, die im Vergleich zum Rest des Hauses nahezu gemütlich wirkte.

Endlich hatte Ediths Körper sein Ziel erreicht. Er glitt auf den Boden, wurde von eiskalten Händen aufgesetzt und an die Wand gelehnt.

Hier würde er nun bleiben – für immer.

3

Der Motor heulte auf und der riesige Reisebus mit der Aufschrift Liebermann Reisen setzte sich ächzend in Bewegung.

„Das ist unfassbar“, knurrte Oberstudiendirektor a.D. Dr.

Hubertus Hochgesang in seinen gepflegten kurz geschnittenen Bart und fischte einen akkurat angespitzten Bleistift aus der Innentasche seines Sakkos. „Das war jetzt bereits der zwölfte Halt innerhalb von drei Stunden, und wir sind gerade einmal in Greding. Wenn das so weitergeht, kommen wir vor morgen Vormittag nicht in Kaltern an.“

Mit einem mürrischen Gesicht vermerkte er Greding, 12:03 Uhr in seinem kleinen Notizbuch und steckte es zusammen mit dem Bleistift wieder ein.

„Wir sollten uns beschweren, was meinst du, Liebes?“, fügte er an seine Frau gewandt hinzu. „Immerhin haben wir eine Reise zur Apfelernte nach Kaltern gebucht und keine Rundreise durch unsere fränkische Heimat.“

„Hmm“, murmelte seine Frau Hildegard abwesend. Sie starrte gebannt auf die in großer Schrift bedruckten Seiten eines Groschenromans, der ihre ganze Aufmerksamkeit verlangte. Immerhin war es endlich soweit:

Der Sohn des Wilderers hielt um die Hand der hübschen Wirtstochter an …

„Hildegard! Hörst du mir überhaupt zu?“

„Aber natürlich, Hase.“

„Wir sollten uns beschweren!“

„Aber natürlich, Hase.“

Hildegard atmete tief durch, lächelte beseelt und legte mit feuchten Augen das Heft beiseite. Glücklich griff sie nach dem bereitliegenden Taschentuch und tupfte sich die Tränen ab, die ihr bereits über die erhitzten Wangen liefen.

„Er hat sie doch noch bekommen“, seufzte sie leise. „Ist das nicht schön?“

Hubertus Hochgesang beobachtete mit hochgezogenen Augenbrauen, wie seine Frau das abgegriffene Heft zu den vielen anderen nicht unbedingt besser aussehenden Exemplaren in ihre voluminöse Handtasche steckte.

„Musst du unbedingt diese billigen Schundromane lesen?

Das ist doch Volksverdummung“, meinte er und schüttelte missbilligend den Kopf. Völlig unbeeindruckt tätschelte ihm seine Frau die Hand und zwinkerte ihm liebevoll zu.

„Es reicht doch, wenn sich einer von uns mit all den großartigen Schriftstellern befasst, die unser deutsches Vaterland hervorgebracht hat, meinst du nicht? Worüber wolltest du dich noch einmal beschweren?“

Ihr Mann holte gerade Luft, um zu einem Plädoyer über die Wichtigkeit wertvoller Literatur auszuholen, als ein lautes Räuspern über die Lautsprecher des Busses zu hören war.

„Liebe Fahrgäste, liebe Freunde“, ertönte die kratzige, aber ausgesprochen fröhliche Stimme Heinrich Liebermanns, der bei dieser Fahrt höchstpersönlich am Steuer saß. „Ich habe zwei gute Nachrichten für uns alle.“

Er machte eine kurze Kunstpause, in der so manche ärgerliche Zwischenrufe zu hören waren.

„Ich kann gut verstehen, dass sich mancher denkt, wir sind doch bereits drei Stunden unterwegs und haben gerade einmal die 60 km von Nürnberg nach Greding geschafft, aber wir mussten doch all die vielen Gewinner und Gewinnerinnen unseres Preisausschreibens aus unserem schönen Landkreis abholen. An dieser Stelle möchte ich euch noch einmal ans Herz legen: Der Urlaub beginnt bereits auf der Fahrt. Genießt es, lehnt euch zurück in die bequemen Sessel und entspannt euch.“

Die lauten Rufe wichen einem monotonen Gemurmel, als Liebermann seine Ansprache fortsetzte.

„Nun zu den beiden guten Nachrichten. Erstens: wir dürfen die letzten Gäste unserer fantastischen Reise ins wunderschöne Südtirol an Bord begrüßen. Herzlich willkommen.

Die zweite gute Nachricht lautet: Mittagessen! Ja, liebe Freunde, in nur 15 Minuten erreichen wir einen schnuckeligen Landgasthof, wo wir mit köstlichen Spezialitäten aus der Region verwöhnt werden. Ich freue mich darauf.“

„Was soll das?“, rief Willi Mack, ein bulliger Mann Anfang 60 mit lauter Stimme nach vorne. „Wir wollen nach Kaltern und uns nicht stundenlang im Dunstkreis von Nürnberg aufhalten! Wir könnten schon längst in Kufstein sein! Fahr endlich weiter!“

Eine kleine, zierliche Frau mit asiatischen Gesichtszügen legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm und flüsterte auf ihn ein.

„Lass mich, Frau! Ich habe doch recht, oder?“ Er sprang auf und blickte sich Beifall heischend im Bus um. „Jetzt sagen Sie doch auch mal was“, fuhr er einen schmächtigen Mann an, der eine Reihe vor ihm saß. „Ist Ihnen etwa alles egal, Herr …?“

„Seiler, Johann Seiler“, antwortete der Angesprochene leise.

Es war ihm sichtlich unangenehm, plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Sein faltiges, mit dünnen roten Äderchen durchzogenes Gesicht zuckte, während er sich nervös über das fettige Haar strich.

„Sie lassen wohl alles mit sich machen, was?“, bemerkte Mack abfällig, als klar wurde, dass Johann Seiler zu keiner weiteren Äußerung mehr bereit war.

„Liebermann“, brüllte er jetzt nach vorne, „gib endlich Gas!“

„Aber, aber“, unterbrach ihn die besänftigende Stimme Liebermanns aus dem Lautsprecher. „Wir sind alle hungrig und wollen uns kurz die Beine vertreten. Ich habe schon den köstlichen Duft von Schäufele mit Kloß in der Nase, geht es euch nicht auch so?“

„Wir sprechen uns noch“, brummte Willi Mack vor sich hin, während er sich wieder zurück in seinen Sitz fallen ließ.

Kurz darauf verließ der Bus die Autobahn und steuerte in Richtung Altmühltal. Die Stimmung innerhalb der Reisegruppe war angespannt, doch schien die Aussicht auf das angekündigte Mittagessen die Gemüter wieder zu beruhigen.

Die Sonne stand am nur leicht bewölkten Himmel, die frisch abgeernteten Getreidefelder wirkten sauber und aufgeräumt, der Herbst stand vor der Tür.

Mit einem lauten Seufzer erstarb der Motor des Busses vor einem kleinen, abseits des Ortes gelegenen Landgasthof, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Zwischen dem Kies auf dem Parkplatz, der von einem lückenhaften, wackeligen Zaun umgeben war, wuchsen dichte Grasbüschel. Der Spielplatz mit seiner rostigen Wippe und einer kaputten Schaukel war mit Unkraut und Brennnesseln zugewuchert.

Außer der Reisegruppe waren keine weiteren Gäste da, was angesichts des schönen Wetters, der tollen Lage und der besten Mittagessenszeit – Samstagmittag, 12:30 Uhr – doch sehr verwunderlich war.

Die Mitglieder der Reisegruppe schälten sich aus dem Bus, streckten die etwas eingerosteten Glieder und sahen sich skeptisch um. Diejenigen, die sich vorab über das Speiseangebot informieren wollten, suchten in dem verbeulten Glaskasten neben dem Eingang vergeblich nach einem Aushang.

Wie bei solchen Busreisen üblich, bildeten sich gleich nach dem Aussteigen die ersten – überwiegend weiblich besetzten – Grüppchen derer, die zunächst dringend die Toilette aufsuchen mussten.

„Zu den Toiletten bitte hier entlang“, rief in diesem Moment Heinrich Liebermann, der über die Gewohnheiten und Bedürfnisse seiner Kunden und vor allem Kundinnen bestens informiert war. Er wies auf einen kleinen Anbau neben dem Gasthof auf dem ein handgeschriebenes, vergilbtes Schild angebracht war: Zu den Toiletten.

Die Damen stürmten durch die Tür und bildeten binnen Sekunden die in solchen Situationen obligatorische Warteschlange vor der Damentoilette.

„Die anderen dürfen gern im großen Speisesaal Platz nehmen“, meinte Liebermann und öffnete schwungvoll die Eingangstür.

Dr. Hubertus Hochgesang, der als erster das Lokal betrat, wehte ein köstlicher Duft nach Braten und Blaukraut entgegen. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er war und beeilte sich, an einem der rustikalen Tische Platz zu nehmen.

„Setzen Sie sich, die Suppe ist schon seit einer halben Stunde fertig“, ließ sich nun die schnarrende Stimme einer älteren Frau vernehmen, die mit hochrotem Gesicht, auf Heinrich Liebermann zukam. „Sie wollten doch schon um 12:00 Uhr hier sein, Herr Liebermann. Können Sie nicht einmal pünktlich sein?“

„Bitte entschuldigen Sie, Frau Angerer, das nächste Mal klappt es bestimmt besser“, antwortete der Busunternehmer betont freundlich, während er damit begann, die Leute in Richtung Gastraum zu schieben.

Als wenig später Platten mit krossem Krustenbraten, würzigem Zwiebelfleisch und zarten Schnitzeln aufgetragen wurden, vergaßen die Mitglieder der Reisegruppe die Skepsis, die der erste Eindruck des Gasthofes bei ihnen geweckt hatte. Die Qualität des Essens machte den ungepflegten Parkplatz, das Fehlen der Speisekarte im Schaukasten und die einfache Ausstattung der Gaststube längst wett.

Eine halbe Stunde später lehnte sich Hubertus Hochgesang satt und zufrieden in seinem Stuhl zurück und lächelte.

„So stelle ich mir ein Mittagessen vor“, bemerkte er an seine Frau gewandt.

„Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat“, antwortete Hildegard glücklich. Sie wusste aus langjähriger Erfahrung, dass es nicht so einfach war, den hohen Ansprüchen ihres Gatten zu genügen.

Auch den anderen schien es geschmeckt zu haben. Von allen Tischen war anerkennendes Gemurmel zu hören.

Heinrich Liebermann tupfte sich mit einer Serviette die Mundwinkel ab, rückte sein Goldkettchen am Handgelenk zurecht, fuhr sich noch einmal mit der Hand über das kurze graue, mit reichlich Gel am Kopf angeklebte Haar und räusperte sich.

„Liebe Freunde“, begann er mit übertrieben guter Laune, „ich denke, wir können ohne Übertreibung festhalten, dass dieses grandiose Mittagessen ein gelungener Einstieg in unseren wunderbaren Urlaub war. So kann er weitergehen.

Vielen Dank, Frau Angerer, Sie haben sich wieder selbst übertroffen.“ Damit lächelte er die Wirtin charmant an und warf ihr eine Kusshand zu. „Doch bevor wir unsere Reise fortsetzen, möchte ich es nicht versäumen, euch auf die fabelhaften Angebote unseres Hauses aufmerksam zu machen.“

Die Leute blickten ihn fragend an.

„Ja, ihr Lieben, ich bin nicht nur einer der erfolgreichsten Busunternehmer Nürnbergs, ich bin auch in der außergewöhnlich glücklichen Lage, euch hochwertigste Produkte zu sensationell günstigen Preisen anbieten zu können.

Nehmen wir zum Beispiel dieses einzigartige Topf-Set, bestehend aus fünf unterschiedlich großen Töpfen, die …“ Es folgte eine über zweistündige Präsentation verschiedenster Produkte, von Matratzen über Vitaminpräparate, bis hin zur neuesten Generation von Stützstrümpfen.

Willi Mack hatte mit seiner Frau bereits zu Beginn der Veranstaltung unter Protest das Lokal verlassen und lief seitdem wutschnaubend vor dem Bus auf und ab. Auch das Ehepaar Hochgesang und einige andere wollten sich keines der angeblich so preisgünstigen Produkte aufschwatzen lassen.

Als Liebermann, gefolgt von einigen Leuten, die mit Töpfen und Schachteln beladen waren, auf den Parkplatz trat, war die gehobene Stimmung, die unmittelbar nach dem Essen geherrscht hatte, verflogen und hatte einer angespannten Gereiztheit Platz gemacht.

In den folgenden Stunden beruhigten sich die Gemüter langsam wieder. Manche hatten mit den Nachwirkungen des üppigen Mittagessens zu kämpfen, während andere eifrig mit diversen Kekspackungen raschelten.

Gegen 19:30 Uhr erreichten sie die Passhöhe am Brenner, und weitere zwei Stunden später waren sie am Ziel.

Liebermann steuerte seinen Bus mit den schweigenden, erschöpften, teils eingeschlafenen Reisenden auf einen der Großparkplätze außerhalb des Ortes.

„Wir sind da, liebe Freunde“, durchbrach Liebermanns Stimme die Stille. „Steigt aus und atmet tief durch. Genießt den Duft nach Äpfeln, Weintrauben, Urlaub.“

Hubertus Hochgesang fuhr erschrocken hoch und wusste zunächst nicht, wo er war.

„Aufwachen, Hase“, hörte er die vertraute Stimme Hildegards dicht an seinem Ohr. Er öffnete die Augen und sah ein wildes Durcheinander an Leuten, Taschen, Tüten und Jacken.

„Endlich haben wir es geschafft“, tönte es in sein anderes Ohr, während die gewaltige Hand Willi Macks schmerzhaft auf seine schmächtige Schulter herab donnerte. „Steig aus, alter Kumpel“, fügte der grobschlächtige Mann hinzu, während sich Herr Oberstudiendirektor a.D. fragte, wie dieser Kerl dazu kam, ihn als alten Kumpel zu bezeichnen.

Langsam leerte sich der Bus. Der Berg an Koffern und Taschen, die Heinrich Liebermann eifrig aus den Eingeweiden des Fahrzeugs hervorzog, wuchs rasend schnell.

Nach nur 10 Minuten standen die Leute mit ihrem Gepäck auf dem Parkplatz und blickten sich suchend um.

Wo war nur das Hotel mit dem gemütlichen Zimmer, in dem man sich noch kurz frisch machen konnte, bevor die freundliche Wirtin noch eine schmackhafte Kleinigkeit servierte? Wo war das frisch bezogene, duftende Bett, in dem man die müden Glieder ausstrecken und sich von der fast 12-stündigen Fahrt erholen konnte?

Da war kein Hotel.

Weit und breit nicht.

Sie standen da und blickten verzweifelt den steilen Hang hinauf, an dem die Häuser des Ortes klebten, als abermals Heinrich Liebermanns stets gut gelaunte Stimme ertönte:

„Auf zum letzten Gefecht, liebe Freunde, sattelt die Hühner, wir reiten nach Westen!“

Mit diesen Worten griff er augenzwinkernd nach dem Griff seines Trolleys und setzte sich lachend in Bewegung.

Willi Mack starrte ihm fassungslos hinterher.

„Das glaube ich jetzt nicht“, stammelte er ungläubig. „Der Kerl will uns nach dieser Tortur ernsthaft zu Fuß diesen Hügel hinauf schicken?“

Die kleine asiatische Frau nickte ihm lächelnd zu, streichelte mechanisch seinen Arm und drückte ihm eine kleine, abgegriffene Reisetasche in die Hand.

„Lass das!“, bellte er. „Ich lasse mir das nicht bieten!“

Doch alles Schimpfen und Lamentieren half nichts. Wenn er die Nacht nicht zwischen Autos und Reisebussen auf dem Parkplatz verbringen wollte, musste auch Willi Mack seinen Koffer in die Hand nehmen und der weit auseinander gezogenen Gruppe folgen, die sich keuchend den Berg hinauf quälte.

So anstrengend dieser letzte Teil der Reise auch war, mit einer Aussage hatte Heinrich Liebermann völlig recht: Es roch tatsächlich nach Urlaub. Die warme Luft war angefüllt vom betörenden süßen Duft nach reifen Äpfeln und Sommer. Es hätte sich wirklich gelohnt, kurz innezuhalten und die Stimmung in sich aufzusaugen, doch es war nicht weiter verwunderlich, dass kein Mitglied der Reisegruppe in diesem Augenblick dazu in der Lage war.