Die Toten der Nefud - Stefan Murr - E-Book

Die Toten der Nefud E-Book

Stefan Murr

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Beschreibung

Dr. Martin Conrath, ein Deutscher, der den französischen Kernreaktor für den Irak mitentwickelt hat, überlebt als einziger den Absturz eines Kurierflugzeugs in der arabischen Wüste Nefud. Während er versucht, israelisch kontrolliertes Gebiet zu erreichen, ahnt er, daß ihn der Direktor der CIA für den Nahen Osten niemals aus den Augen verloren hat: Ein Zweikampf, der 1942 begann, als Conraths jüdische Mutter bei den Amerikanern in der Schweiz Schutz suchte, nähert sich der Entscheidung. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 622

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Stefan Murr

Die Toten der Nefud

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Für ihre Unterstützung bei [...]NEFUD (arabisch An Nafud), [...]Am 7. Juni 1981 zerstörte [...]12345678910111213Statt eines Epilogs

Für ihre Unterstützung bei der sachgerechten Darstellung atomtechnischer und atomwirtschaftlicher Einzelheiten danke ich meinen Freunden Dr. DIETER WALLHEINKE, Erlangen, und GUY RAYMOND , Paris.

 

Der Abdruck des Zitats aus ERNST JÜNGERS »Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt« erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgemeinschaft Ernst Klett – J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachf. Stuttgart.

NEFUD (arabisch An Nafud), ausgedehnte Sandwüste (Dünen) im Norden der arabischen Halbinsel, Saudi-Arabien; erstreckt sich etwa 300 km in O-W- und 200 km in N-S-Richtung; an ihren nordwestlichen Rändern übergehend in die bis zu 2500 m Höhe ansteigenden Flexurstufen des Djabal Al Lawz und des Djabal Ash Shifa.

(Meyers »Enzyklopädisches Lexikon«)

 

 

 

Am 7. Juni 1981 zerstörte eine Gruppe von 16 israelischen Kampfflugzeugen der Typen F-15 und F-16 den mit französischer und italienischer Hilfe entwickelten irakischen Kernreaktor in Al Tuwaitha, 20 km südostwärts von Bagdad. Eine in vermeintlicher Moral der arabischen Welt verpflichtete, ölabhängige und über die Tatsachen uninformierte westliche Öffentlichkeit beeilte sich, alsbald die OPERATION BABYLON ausschließlich als einen willkürlichen Piratenakt ungezügelten israelischen Hochmuts zu verurteilen. In Wahrheit erfolgte jedoch gerade diese Luftunternehmung nicht nur im Zuge israelischer strategischer Überlegungen, sondern darüber hinaus im existentiellen Interesse eines Großteils der arabischen Staaten sowie der übrigen zivilisierten Welt. Die Fakten sind bekannt. Der nachfolgende Roman spielt vor dem Hintergrund dieses Ereignisses.

1

Der Raum, in dem sich dies alles zutrug, liegt tief unter der Erde. Er gehört zu den weitverzweigten und unzerstörbaren Anlagen der Kommandobehörden der 6. US-Flotte, errichtet unter den Hügelketten, die das einstmals liebliche Neapel umgeben. Lage und Aufgaben dieser Einrichtungen sind zumindest den Einheimischen ziemlich genau bekannt. Aber die Eingänge sind streng bewacht, und das Personal, das hier arbeitet, ist zum Stillschweigen über alles verpflichtet, was seinen Dienst betrifft, sowie über das, was es hier sieht, hört, veranlaßt oder weitergibt.

Seit Enrico Berlinguer den Kurs der italienischen KP von Moskau unabhängiger gemacht hatte, saß man hier wieder etwas sorgloser, manche sogar nachlässiger als zu den Zeiten, da man ständig mit einem möglichen ferngesteuerten Umsturzversuch linksradikaler Kräfte hatte rechnen müssen.

So ging es auch dem Staff-Sergeant Tom Osborne, einem Mann, dessen Name nicht notiert zu werden braucht und der nur genannt wird, weil er zufällig an jenem Morgen, an welchem das verschlüsselte Fernschreiben aus Paris eintraf, im Auswertungsraum Dienst tat. Zwar standen der Central Intelligence Agency, im allgemeinen unter der Buchstabengruppe CIA bekannt, keinerlei Weisungs- oder Befehlsbefugnisse gegenüber den Kommandostellen der 6. Flotte zu, es gab jedoch eine interne Dienstanweisung, wonach Wünsche der Agency zu berücksichtigen waren, soweit die operative Lage es zuließ.

An diesem späten Vormittag des 7. September 1978 ließ die operative Lage es zu. Also schaltete Tom Osborne das Terminal ein und richtete von seinem Schaltpult aus die starren Teleskopaugen des über der nordostarabischen Sandwüste stehenden Aufklärungssatelliten TRW-1010, einer Weiterentwicklung des in der Öffentlichkeit unter dem Kosenamen »Big Bird« bekannten Musters, auf die Region, die das Fernschreiben in seiner Hand bezeichnete. Im schwärzlichen Tiefblau ihrer 165000 Meter Höhe bewegten sich die Objektive wie von Geisterhand berührt und richteten sich auf jene geographische Zone, die im Norden begrenzt wird von den in der steilstehenden Sonne kahl aufragenden Höhenzügen des Djabal Al Lawz, im Westen von dem wie ein blauer Zipfel in die arabische Halbinsel hineinragenden Golf von Aqabah und die im Osten und Süden übergeht in die endlosen, sandigen Weiten der Wüste Nefud sowie in die längs der Südostküste des Roten Meeres sich hinziehende Landschaft Hedschas, den ursprünglichen Kern des saudischen Königreichs.

»Something wrong?« Tom Osbornes Pultnachbar bemerkte die erwachende Aktivität neben sich und wollte wissen, was los sei, denn der Dienst in diesen unterirdischen Kommandoräumen war in der Regel eintönig. »Ein Flugzeugabsturz«, antwortete der Staff-Sergeant wortkarg. Nichts Besonderes also, schien das zu besagen. Doch diese Routineantwort sollte sich als untertrieben erweisen, denn in Wirklichkeit begann in dieser Minute eine Kette von Ereignissen, welche die Geschicke des gesamten Nahen und Mittleren Ostens in eine veränderte Richtung drängten.

Das Fernschreiben in seiner Hand informierte Tom Osborne darüber, daß vor 25 Minuten ein zweimotoriges Verkehrsflugzeug des deutschen Modells Dornier »DO28 D«, eine Skyservant, auf dem Flug vom ägyptischen Hurghadah nach Bi’r Ibn Hirmas in Saudi-Arabien abgestürzt sei. TRW-1010 solle die Absturzstelle ausfindig machen, dort Aufklärung betreiben, vor allem aber nach etwaigen Überlebenden forschen. Geschäftsmäßig, routiniert, doch nicht gerade übereilt legte Tom Osborne für die Objekte des Satelliten den angegebenen Kurs der Maschine koordinatenmäßig fest und ließ Big Birds Automatik anlaufen. Exakt folgten die brillant scharfen Späheraugen dem eingegebenen Kurs. Vor Tom Osborne zog auf dem Bildschirm die Küste des Roten Meeres vorbei, gefolgt von den teils sandigen, teils steinübersäten, teils felsigen Landstrichen der arabischen Wüste, die da, wo sie in Gebirge übergingen, scharf durchfurcht waren von den Schlagschatten lebloser Abgründe. Während Tom Osborne dieses Panorama langsam an sich vorübergleiten ließ, wobei er manchmal die Brennweite des Objektivs vorsichtig veränderte, um das eine oder andere Detail näher zu sich heranzuholen, überlegte er: Big Bird selbst hatte die gemeldete Flugbewegung nicht bemerkt. Allerdings handelte es sich bei dem Tom Osborne genannten Typ auch um eine Verkehrsmaschine mit Kolbenmotoren und einem weit geringeren Wärmeausstoß, als ihn die Kampfflugzeuge verursachten, die der Satellit gewöhnlich zu registrieren hatte. Auf das Rote Meer und die Straße von Tiran waren Big Birds Augen ohnehin nicht gerichtet gewesen, denn dort gab es eine see- und bodengestützte israelischamerikanische Luftraumüberwachung auf Radarbasis, der gewöhnlich nichts entging.

Während Tom Osborne noch darüber nachsann, welche Bewandtnis es wohl mit dem ihm vom Pariser Stützpunkt des CIA gemeldeten Flugzeug haben mochte, entdeckte er das Wrack. Big Birds Augen waren unbestechlich und von der Klarheit eines Spiegels. Und doch wären sie wertlos gewesen ohne den Scharfblick, das Training und die Aufmerksamkeit der Augen des erfahrenen Personals, das ihn bediente. Auf diesen geschulten Kräften lastete in Spannungszeiten eine schier unerträgliche Verantwortung. Und diese Phasen häuften sich, seit die durch unbeschränkte Waffenverkäufe der Industrieländer verschuldeten Weltkrisen in ihrem Ablauf mehr und mehr in den Griff einer von Tag zu Tag raffinierteren Technik gerieten.

Die abgestürzte Skyservant lag zertrümmert und ineinandergestaucht an der Steilhangflanke eines wulstförmigen, felsigen Höhenzuges, der von der Sonne beschienen war. Tom Osborne bemerkte das Wrack, weil ein kopfkissengroßes Metallstück hell in der Sonne glänzte. Der Staff-Sergeant wußte, daß das einzige, was in der leblosen Einöde Glanz ausstrahlen konnte, ein Produkt der Technik sein mußte und folglich nur zu dem vermißten Flugzeug gehören konnte. Mit einer fast gelangweilten Bewegung lenkte er die Folgeautomatik des Satelliten, bis das Objekt starr auf das glänzende Metallteil in der Steinwüste an den Ausläufern der Nefud gerichtet war. Dann regulierte er Fokus und Schärfe und holte das Bild so nahe zu sich heran, daß Einzelheiten erkennbar wurden. Er sah deutlich die verformten Umrisse der Kabine, einer Tragfläche sowie der beiden Motoren an einen mit großen Felsbrocken übersäten Steilhang geklebt. Das glänzende Stück Metall erkannte er als die Innenseite der halb abgerissenen und nach außen geschlagenen Kabinentür. Der Anblick war von einer gespenstischen, tödlichen Starre. Tom Osbornes Augen verweilten auf dem Bild, bis die Erdumdrehung das Aluminiumblech unendlich langsam von der Sonne fortbewegte und die Spiegelung erlosch.

Sobald das geschah, machte er sich daran, die Koordinaten festzulegen, um die sein unbekannter Auftraggeber gebeten hatte. Doch plötzlich schreckte er aus seiner akkuraten und abgemessenen Routine auf. In unmittelbarer Nähe des Flugzeugwracks bewegte sich etwas. Er verlängerte die Brennweite, das Bild kam näher zu ihm heran, wurde aber gleichzeitig etwas unscharf. Dennoch erkannte Tom Osborne hier 37 Meter unter der Erdoberfläche bei Neapel auf seinem Bildschirm, daß dort in den glühenden Randgebirgen der Wüste Nefud ein Mensch – nein, sogar zwei – den Absturz des Flugzeugs überlebt hatten. In einiger Entfernung voneinander begannen zwei staubbedeckte Bündel fast gleichzeitig, sich einander zu nähern. Aus der Langsamkeit ihrer Bewegungen schloß Tom Osborne, daß sie krochen. Der Staff-Sergeant hatte in Vietnam gekämpft und besaß sowohl Vorstellungskraft als auch Erinnerungsvermögen genug, um nachempfinden zu können, was in diesem Augenblick in der Nefud vorging.

»Just take a look«, sagte er zu seinem Pultnachbarn, worauf der hinter ihn trat, um auch auf den Bildschirm zu blicken. »Arme Hunde«, sagte Osbornes Kollege. »Schätze, die haben um die neunzig Grad Fahrenheit im Schatten! Und es gibt nicht mal einen. Was ist denn passiert mit dem Vogel?«

Tom Osborne hob ratlos die Schultern. Er besaß keine Information außer dem dürren, abgehackten Text des Fernschreibens. Aber der Anblick, der sich ihm auf dem Bildschirm bot, brachte ihn auf den Gedanken, daß seinen Auftraggebern in Paris an einigen Fotos von der Situation in der Nefud gelegen sein könne. Und so verwandelte er durch einen einfachen Knopfdruck, mit veränderten Brennweiten und in unterschiedlicher Schärfe, mehrere der Echtzeit-Fernsehszenen in Schwarz-Weiß-Vergrößerungen. Bereits nach wenigen Augenblicken lagen die entwickelten Aufnahmen in Hochglanz vor ihm. Der Beobachtungssatellit, der im arabischen Spannungsbereich unter Tom Osbornes Leitung für die Vereinigten Stabschefs sowie den Direktor des CIA im Nahen Osten arbeitete, stand in 165000 Meter Höhe ziemlich senkrecht über dem jordanischen Bay’ir. Das noch nicht zufriedenstellend gelöste Problem der Raumsonde bestand in der Diskrepanz von Vergrößerung und Tiefenschärfe. Tom Osborne hatte sich bemüht, einen brauchbaren Kompromiß zwischen beiden fotografisch festzuhalten. Er schickte die Aufnahmen nach Paris, begleitet von einem Fernschreiben, worin er den Absturz des deutschen Flugzeugs in der Nefud bestätigte, die Koordinaten lieferte und außerdem meldete, daß anscheinend zwei nicht näher identifizierbare Personen das Unglück überlebt hätten.

In den frühen Nachmittagsstunden erhielt er die Weisung, dafür Sorge zu tragen, daß in den kommenden Tagen regelmäßig über Situation und Verhalten der Überlebenden nach Paris berichtet würde. In der Auswertungsstelle bei Neapel herrschte die Meinung vor, solche Berichte würde man nicht über einen längeren Zeitraum hinweg zu geben brauchen. Diese Meinung änderte sich jedoch, als gegen vier Uhr nachmittags erkennbar wurde, daß die beiden Überlebenden des Flugzeugabsturzes, ungeachtet der mörderischen Hitze und der unwirtlichen Umgebung, das Wrack verlassen und offensichtlich den Entschluß gefaßt hatten, zu Fuß den etwa 60 Kilometer entfernten Golf von Aqabah zu erreichen. Auf diesem Weg begleiteten sie die ungeteilte Aufmerksamkeit Big Birds und das wachsende Interesse seines im Turnus wechselnden Bedienungspersonals.

 

Über dem Unglücksort stand die Sonne fast im Zenit. Der Raum, in dem er zu erwachen glaubte, mußte ein Dom von gewaltigen Ausmaßen sein. Von den hohen Mauern hallten seine eigenen Worte wider, die er abgerissen und unzusammenhängend stammelte. Er wußte natürlich noch nicht, wo die Schmerzen herkamen, die im Rhythmus seines laut pochenden Herzens in seinem Kopf hämmerten. Noch kannte er nicht die Ursache für das Maschenwerk beißender Schmerzen, die seine Hände und sein Gesicht als brennendes Geflecht überzogen. Es wurde ihm allerdings klar, daß seine Gehirnfunktionen noch intakt sein mußten, weil er sonst weder Schmerz empfinden noch seinen Herzschlag hören, oder die heißen Wellen hätte spüren können, die über seinen Körper strichen. Das zweite Gefühl, dessen er sich bewußt wurde, war das der Angst. Er hatte Angst davor, seine Augen zu öffnen, deren schmerzende Lider geschwollen schienen. Denn wenn er die Augen öffnete und wenn er mit ihnen wirklich sehen könnte wie vorher, so würde sich mit grausamer Deutlichkeit womöglich all das bestätigen, was er befürchtete. Er hielt also seine Augen bewußt geschlossen, doch nach einiger Zeit begann er unendlich langsam, seine Glieder zu erproben, in ungeheurer Anspannung darauf lauernd, ob alle Bewegungen durchführbar seien, ob alle Mechanismen sich in Gang setzen ließen. Wieder spürte er den brennenden Schmerz, als er mit den Händen um sich zu tasten begann. Bei dem Versuch, die Beine und das Becken zu bewegen, spürte er nichts, nur Hitze, und sein ganzer Körper sackte ein wenig tiefer. Er streckte die Arme aus und drehte den Kopf. Nichts. Nirgends der große Schmerz, den er fürchtete, nur wieder das Absacken, Versinken in etwas Unbekanntes, Fremdes.

Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung, die scheinbar die gesamte Kopfhaut straffte und zurückzog, stülpte er endlich die brennenden Lider nach oben, und im selben Augenblick schien das Räderwerk seiner Kombinationsfähigkeit wieder ineinanderzugreifen. Er erkannte, daß er den Absturz des Flugzeugs überlebt hatte. Sein Kopf schmerzte nach wie vor, aber er versuchte trotzdem, sich zu konzentrieren. Alle Denkvorgänge strengten an und waren ungeheuer mühsam. Nur zweierlei realisierte er mit übernatürlicher Deutlichkeit: die tödliche Stille ringsumher und die Tatsache, daß es sich bei den heißen Wellen, die er spürte, um einen leichten Wind handelte, der sich über zyklopenhaft aufgetürmten Steinmassen mit Hitze vollgesogen hatte, die sich nun mit jeder Bewegung der trockenen Luft über ihn ergoß. Ein unangenehmer Geruch nach Trockenheit, Staub und Sand drang in seine Nasenlöcher. Er konnte jetzt seine unmittelbare Umgebung ausmachen. Sein Körper lag, halb hängend und mit jeder noch so winzigen Regung weiter abrutschend, in der harten, bräunlichgrünen Wirrnis eines Dorngesträuchs, das sich steil an einer Felsbarriere hinaufzog. Über ihrem zerklüfteten Rand erblickte er einen von der Hitze ausgebleichten Himmelsstreifen. Jedesmal, wenn er Kopf oder Hände bewegte, überzogen die unnachgiebigen, zähen Dornen seine Haut mit schmerzenden Striemen. Das war es, was er vorhin gespürt hatte, als er die Lider noch geschlossen hielt. Zum Glück entdeckte er an keiner Stelle seines Körpers das verhaßte und verräterische Rot, spürte er nirgends die klebrige Konsistenz von gerinnendem Blut.

Beim Betrachten der Hände fiel sein Blick auf die Armbanduhr. Sie zeigte zwölf Minuten nach elf am Dienstag, den 7. September. Sie funktionierte wohl noch, denn er sah den Sekundenzeiger rotieren. Um ihn her war es so still, daß er vorübergehend sogar glaubte, das Ticken der Uhr zu vernehmen. Sein erster bewußter Impuls war das Bedürfnis, Hände und Gesicht vor der Sonne zu schützen. Er beobachtete mit Schrecken, daß Handrücken und Gelenke bereits eine hochrote Färbung annahmen, und fragte sich voller Bangen, wie wohl die Haut seines Gesichtes aussehen mochte. Langsam und mit äußerster Vorsicht darauf bedacht, nicht noch tiefer in das Gestrüpp zu geraten, manövrierte er sich in eine Art Hockstellung und befreite sich sorgfältig aus dem zähen Gezweig des Dornbuschs. Er durfte keinen Riß in seiner Kleidung riskieren, denn er hatte jetzt die Gewißheit vor Augen, daß er in den kommenden Tagen jeden Quadratzentimeter Stoff ebenso nötig brauchen würde wie Luft zum Atmen.

Endlich konnte er sich mühsam erheben. Unsicher und benommen stand er unter der lautlosen Hitzeglocke. Er lachte über sich selbst, als er sich dabei ertappte, wie er in einem verzweifelten Rückgriff auf alte Gewohnheiten den Binder zurechtzog. Von der in der Stille fast dröhnenden Lautstärke seines eigenen Gelächters fuhr er zusammen. Es war jetzt kurz nach elf, und dort, wo in etwa einer Dreiviertelstunde die Sonne stehen würde, mußte Süden sein. Er versuchte, in dieser Richtung irgendeinen Felsen, einen Berg oder einen anderen markanten Punkt auszumachen. Aber wohin er auch blickte, überall wellten sich gleichförmig ineinandergeschobene Höhenrücken, zwischen denen die steigende Sonne allmählich auch die letzten gnädigen Schatten fortbrannte. Unmittelbar zu seinen Füßen erstreckte sich ein wannenförmig ausgehöhltes Tal, dessen Sohle von Steinmassen unvorstellbaren Ausmaßes bedeckt war. Wie an ein imaginäres Ufer geschwemmt, klammerte sich das Dorngebüsch an den abschüssigen Talrand. In der Ferne bemerkte er zwei oder drei weitere unscheinbare Zeugen eines kümmerlichen Wachstums, in halbwegs geschützte Nischen hineingeweht, verloren zwischen Gestein, Sand und endlosen Halden rötlich-braunen Gerölls.

Wenn ich jetzt der Versuchung erliege, mich dem Selbstmitleid hinzugeben, dann werde ich wahnsinnig, dachte er. Oder bin ich’s etwa schon? Ich, Dr. Martin Conrath, 49 Jahre alt, Diplomphysiker, derzeit Chef de Département de la Sûreté des Materiaux Radio-actifs in dem Pariser Weltunternehmen Technucléaire, dieses beteiligt mit 45 % an dem Konsortium CERBAG, das beauftragt ist mit der Errichtung eines Atomreaktors für den Irak.

Allmählich reaktivierten seine Gehirnfunktionen sich wieder so weit, daß er sich daran zu erinnern vermochte, wie er hierhergekommen war. Dieser Flug in die Einöde im äußersten Nordwesten Saudi-Arabiens war nach monatelangen Vorbereitungen und zähen Verhandlungen in Paris mit saudischen Stellen und Unternehmen, die zum Konsortium gehörten, und darüber hinaus mit Mitgliedern der französischen Regierung zustande gekommen. Im Palais de l’ Élysée war man nämlich nach dem unter amerikanischem Druck erfolgten Sturz Chiracs, der Quittung für den französischen Flirt mit der Produktion einer pakistanischen Atombombe, in nuklearen Fragen gleichzeitig hell- und schwerhörig geworden. Den Ausschlag gegeben hatte schließlich das Interesse einer Gruppe hoher ägyptischer Offiziere, die angesichts der Fortschritte in der Herstellung israelischer Atomköpfe und Trägersysteme und der daraus erwachsenden Bedrohung für den Assuandamm eine zunehmende sowohl politische als auch strategische Isolierung ihres Landes befürchteten. Und das, wie sich in nicht allzu ferner Zukunft zeigen sollte, zu Recht. Mit der Unterstützung der ägyptischen Militärs war es Technucléaire schließlich doch noch geglückt, die moralischen Bedenken durch die Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile zu zerstreuen, und vor wenigen Tagen hatte sich die geheime Delegation, ohne jegliches Aufsehen zu erregen, in einem Kairoer Hotel zusammengefunden. Gestern abend, erinnerte sich Martin Conrath, hatte ihn Paul Mialhe durch eine Reihe von Bars geschleppt und versucht, ihn noch einmal darauf festzulegen, welche Bedenken bei den Verhandlungen mit den Saudis herunterzuspielen und welche gar nicht erst aufzurollen waren. Die arabischen Partner bei diesen Gesprächen hielten große Stücke auf die Franzosen, von denen es hieß, sie seien mit ihren Sicherheitsanforderungen weit weniger kleinlich als die Deutschen. Der Champagnertour der vergangenen Nacht, rekonstruierte Martin Conrath, verdankte er wohl auch seinen entsetzlich schweren Kopf, dem darüber hinaus die Folgen der Bewußtlosigkeit zusetzten.

Heute morgen war man schon sehr früh von einem Kairoer Militärflugplatz aus gestartet und die 350 Kilometer nach Hurghadah, einem Eldorado für Korallentaucher an der Rotmeerküste, geflogen. Von dort aus sollte ein deutsches Verkehrsflugzeug benützt werden, das regelmäßig ägyptische und britische Ingenieure zu den Baustellen der Hedschasbahn in Saudi-Arabien beförderte und das offiziell von der saudischen, der israelischen sowie der amerikanischen Luftüberwachung an der Straße von Tiran akzeptiert war und bei Radarkontakt eine entsprechende Kennung abstrahlte. Martin Conrath erinnerte sich noch daran, daß man die Maschine gewechselt hatte.

Das war, schätzte er nach einem prüfenden Blick auf seine Uhr, vor etwas mehr als vier Stunden geschehen. Dann konnte er also schätzungsweise höchstens dreieinhalb Stunden mit ungeschütztem Gesicht und bloßen Händen in der mitleidlos auf ihn herunterbrennenden Sonne gelegen haben. Wenn bereits eine so kurze Zeitspanne genügte, um der sonnenungewohnten Haut derart zuzusetzen … er wagte nicht weiterzudenken. In diesem Augenblick spürte er zum erstenmal den Durst; zwar noch schwach und unterdrückbar, aber immerhin stark genug, um eine neue Befürchtung in ihm aufkeimen zu lassen. Was würde geschehen, wenn er unter den Trümmern des Flugzeugs nichts Trinkbares fand? Unter den Trümmern des Flugzeugs, fuhr es durch sein Gehirn, zum Teufel, wo war es denn eigentlich, dieses Flugzeug? Martin Conrath blickte an sich hinunter. Er stand in dieser schier endlosen Wüstenei in einem eleganten, von Geröll und Dornen schon reichlich strapazierten dunkelblauen Anzug, mit schmalgestreifter Krawatte in Hell- und Dunkelblau, passend zum hellblauen Hemd. Der Kragenknopf war korrekt geschlossen. Die schlichten, aber sündteuren schwarzen Straßenschuhe hatte er erst vor einer knappen Woche bei Charles Jourdan in der Rue Saint Honoré in Paris gekauft. Er schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab und merkte auf einmal, daß er sich in der Gefahr befand abzurutschen. Die Stelle, an der er stand, glich einer abschüssigen Geröllhalde, deren unteres Ende einen steilen Absturz zu dem wannenförmigen Tal hin bildete. Als Martin Conrath versuchte, sich ein paar Schritte zu bewegen, lösten sich einzelne Steinbrocken und polterten mit dumpfem Aufschlag ins Tal hinab. Er blieb wie angewurzelt stehen, denn noch bevor er die Trümmer des Flugzeugs entdeckte, bemerkte er de Rovignant.

Der war freilich kaum zu erkennen. Er saß seitlich an einen riesigen Felsbrocken gelehnt und hatte die gespreizten Beine ausgestreckt. Sein rechter Arm hing schlaff am Körper herab, blasse Finger krallten sich in lockeres Geröll. Der linke Arm war bemitleidenswert abgeknickt. De Rovignant saß starr und in einer so unnatürlichen Haltung da, als habe er Angst, sich zu bewegen. Daß er lebte, schloß Conrath nur aus seinen Augen, die tränend und blaßrosa gerändert jeder seiner Bewegungen so mißtrauisch folgten, als sei Martin sein persönlicher Feind, der ihn zusätzlich zu den Schrecken des alptraumhaften Erlebnisses bedrohe. Auch auf de Rovignants Gesicht und Händen zeichnete sich das gefährliche Rot des beginnenden Sonnenbrandes ab. Zum Glück hatte die Sonne den Zenit bereits überschritten. Sie bildete an der Nordseite des Steinbrockens, an den de Rovignant sich lehnte, schon einen Schattenstreifen von der Tiefe einer Handkante. De Rovignants sonst wohlgepflegtes, ergrauendes Haar fiel ihm jetzt wirr in die Stirn und über die Augen. Sein hellgrauer Anzug und der leichte Mantel waren bedeckt von einem feingemahlenen, weißlichgrauen Gesteinsstaub. Unter dem zurückgeschlagenen Mantel glänzte es rot und naß. Martin Conraths Blick fiel auf de Rovignants zerrissene Hose. An der Außenseite des rechten Oberschenkels lag das Fleisch offen. Bisweilen senkte de Rovignant die Augen auf seine Verletzung, dann richtete er sie erneut auf Conraths Gesicht, zuerst mitleidheischend und gleich darauf wieder mißtrauisch.

»Sie dürfen nicht in der Sonne bleiben«, wandte sich Conrath an de Rovignant. »Kommen Sie rüber in den Schatten.«

»Ich kann nicht«, stieß der Franzose hervor. Martin Conrath mußte sich überwinden, um die offenliegende Wunde zu betrachten, aus der langsam ein wenig Blut sickerte. Sie war flach und ziemlich breit, aber nirgends war die weißliche, harte Substanz bloßen Knochens zu sehen. Charles de Rovignant hatte eine einfache Fleischwunde.

»Schmerzen?« fragte Conrath. »Es brennt wie verrückt«, stöhnte de Rovignant wehleidig. »Los«, drängte Conrath. »Sie müssen in den Schatten. Ich helfe Ihnen.«

Martin Conrath kniete sich vorsichtig in das lockere, abrutschgefährdete Gestein und kroch langsam auf de Rovignant zu. Der Franzose machte eine ebenso verzweifelte wie vergebliche Bewegung, um seine Lage zu ändern. Dies war der Augenblick, in dem Big Birds Echtzeitdarstellung den Staff-Sergeant Tom Osborne im vollklimatisierten, abgedunkelten Auswertungsraum nahe Neapel darauf aufmerksam machte, daß sich am Unfallort zwei Überlebende befanden.

Martin Conrath hatte de Rovignant erreicht. Er richtete sich halb hoch, faßte ihn unter den Achseln und versuchte, ihn auf die andere Seite des Felsens zu zerren. Endlich gelang es ihm, den Verletzten halb in den Schatten zu schleifen. De Rovignant wirkte abwesend, ja abgestumpft und gleichgültig. Conrath ging es besser als ihm, denn er versuchte wenigstens, irgend etwas Nutzbringendes zu tun, um ihre Lage zu erleichtern. Aber er brauchte de Rovignants Hilfe, denn er selbst hatte geschlafen und wußte nicht, wann, wo und wie das Unglück sich zugetragen hatte. Er verfluchte jetzt seine Beeinflußbarkeit und Labilität, die es Paul Mialhe ermöglicht hatten, ihn zu der nächtlichen Champagner- und Bauchtanztour zu überreden. Heute morgen hatte ihm einer der beiden Piloten, wahrscheinlich Hilary, zynisch die Angst vor der Luftkrankheit in der kleinen zweimotorigen Propellermaschine suggeriert. Er hatte daraufhin zwei oder sogar drei Tabletten gegen Reisebeschwerden geschluckt, war eingeschlafen und vor kurzem hier im spröden Dorngesträuch erwacht. Er empfand sich selbst in dieser Einöde wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Die Lücke in seinem Gedächtnis konnte nur de Rovignant ausfüllen. Aber den würde er nicht zum Reden bringen, solange der Franzose wie gebannt auf seinen blutenden Schenkel starrte.

»Können Sie das Bein bewegen?« fragte Conrath. De Rovignants Antwort bestand aus einem kaum merklichen Schulterzucken. »Versuchen Sie es«, drängte Conrath, und als de Rovignant nicht reagierte, schob er sein Handgelenk unter die Kniekehle des anderen.

»Was wollen Sie denn?« keuchte de Rovignant undeutlich. »Was haben Sie mit mir vor?« Was Katrin nur an diesem Menschen findet, fuhr es Conrath durch den Kopf, an einem Mann, der sich hier, in diesem Augenblick, als ein ganz gewöhnlicher Waschlappen erweist und angesichts einer ordinären Fleischwunde in Verzweiflung gerät. Martin Conrath hob den Unterarm. Das Bein des Franzosen knickte ab. Wenn der Schenkel gebrochen wäre, müßte de Rovignant jetzt vor Schmerz brüllen. Doch der stöhnte nur leise vor sich hin.

»Versuchen Sie es selbst«, sagte Conrath und ließ das Bein zu Boden gleiten. De Rovignant stöhnte erneut und vollführte mit dem verletzten Bein eine winzige Bewegung. Aber Conrath atmete erleichtert auf. Seine Spannung ebbte ab, da er aus dieser kleinen Regung schloß, daß de Rovignant zumindest gewillt war, zu seiner Rettung beizutragen und sich selbst fortzubewegen. Es war ihm klar, daß er die Wunde würde verbinden müssen, wenn er de Rovignants Aufmerksamkeit von seiner Verletzung ablenken und auf lebenswichtige Fragen konzentrieren wollte.

»Ihr Unterhemd, Rovignant«, befahl er. »Ziehen Sie Mantel, Jackett und Hemd aus, rasch!«

De Rovignant bemühte sich mit zusammengebissenen Zähnen zu gehorchen, wobei sich der kranke Arm als schweres Hindernis erwies. Wie Katrin wohl reagieren mochte, wenn ihr klar würde, daß sie im Begriff stand, gleichzeitig mit gesellschaftlicher Karriere auch die Stelle einer Krankenpflegerin zu übernehmen?

»Warum nicht das Oberhemd?« fragte de Rovignant.

»Weil Sie das noch dringend brauchen werden«, erwiderte Conrath, half dem Verletzten aus Mantel und Jackett und löste seine Krawatte. Dann schälte er ihn aus dem Oberhemd und zog ihm vorsichtig das Unterhemd über den Kopf.

»Hoch mit dem Hintern«, kommandierte er, und als de Rovignant das Becken wirklich anhob, streifte er ihm die zerfetzte Hose von den Schenkeln nach unten. Dann zog Conrath seine eigene Jacke aus, breitete sie auf den Erdboden, legte de Rovignants Unterhemd darauf und zerriß es mühsam in zwei Teile. Schließlich wickelte er eine Hälfte so um den Oberschenkel des Verletzten, daß der weiße Stoff die Wunde voll bedeckte. Aus der Krawatte fertigte er eine Behelfsbinde, die den Verband zusammenhielt. Als die beiden Männer in gemeinsamer Anstrengung de Rovignants Hose wieder hochgezogen hatten, schien der Verletzte in etwas besserer Verfassung als vorher. Er wollte jetzt sogar rauchen.

»Lassen Sie den Unsinn«, sagte Conrath. »Ihre Kehle wird ohnehin noch genug strapaziert.«

Martin Conraths Blick glitt über die wilde Szenerie ringsum, schweifte über ein Meer von Höhenrücken und Taleinschnitten, von Steinbrocken, Felsbändern und Abstürzen. Schließlich folgten seine Augen einem Wink de Rovignants schräg nach oben, und dort entdeckte er endlich das Flugzeug oder vielmehr das, was davon übriggeblieben war. Ein zusammengedroschener Haufen verbogenen Blechs ragte aus einer Mulde in der Felswand über ihnen, die fast senkrecht stehenden Tragflächen waren geknickt, verbeult und verschrammt. Einer der Motoren war aufgerissen, den anderen erblickte Conrath nach einigem Suchen weiter unten zwischen Geröll und Felsbrocken. Ein Rest der Kabine klebte nach vorn zusammengestaucht am Gestein. Das Fahrwerk lag in einiger Entfernung, wie von einem Kind, das keine Lust mehr zum Spielen hat, zwischen die Felsen geworfen. Mit Schrecken bemerkte Conrath, daß all diese Trümmer matt und glanzlos im Gelände verstreut waren, mit Ausnahme eines kopfkissengroßen Aluminiumteils. Dieses Metallstück gehörte zur Kabinentür, die nach außen geschlagen war und von welcher sich die Kunststoffverkleidung losgerissen hatte, die nun im Wind hin und her flatterte. Ein solch spärlicher Blickfang würde die Suche nach der Maschine, selbst wenn jemand sie eingeleitet haben sollte, außerordentlich erschweren.

Conraths Schreck über diese Entdeckung wurde im nächsten Augenblick von einem zweiten überlagert. Als er einen prüfenden Blick hinauf zum Hauptteil des Wracks warf, entdeckte er zwischen verbeulten Zellenteilen und zerknicktem Gestänge ein schmales Rinnsal hellen, glitzernden Rots, das aus dem Schatten, der dort oben schon herrschte, ins Sonnenlicht rann und versickerte. Magisch angezogen folgte Conraths Blick der Blutbahn bis zu ihrem Ursprung. Zwischen den Trümmern sah er die schrecklich verdrehten Körper der beiden Piloten, die heute morgen so munter ins Cockpit geklettert waren, der eine im kurzärmeligen blauen Fliegerhemd, in einem grünlichen Lumberjack mit blaugrauem Halstuch der andere. Über dem Schädel des Copiloten spannte sich noch immer der Bügel des Kopfhörers, über welchen er den Funkverkehr verfolgt hatte. Jetzt war dieser Kopfhörer ebenso tot wie der Flieger. Was hatte der Mann als letztes gehört? Was hatte er gesagt? Und zu wem? Es gab nur eine einzige Möglichkeit, das zu erfahren: Conrath mußte aus de Rovignant herausbekommen, was der von den letzten Minuten vor dem Absturz wußte.

Es wurde eine mühsame Unterhaltung. Erst nach mehreren gescheiterten Versuchen brachte Martin Conrath den Franzosen dazu, sich zu erinnern. Jawohl, man sei drüben in Ägypten gestartet, die Maschine sei gestiegen, er habe die Insel Gezair Gifatin rechts und später die Insel Gezirat Shadwan links unter sich liegen sehen.

»Auf welche Höhe ist die Maschine gestiegen?« wollte Conrath wissen, aber de Rovignant zuckte nur mit den Schultern.

»Ich bin schließlich kein Experte, wissen Sie.«

»Aber Sie sind doch schon selbst geflogen. Erinnern Sie sich: eintausend, zweitausend, dreitausend? Was konnten Sie unter sich erkennen? Häuser vielleicht?«

»Häuser!« De Rovignant verzog den Mund.

»Also, was dann?«

»Verdammtes blaues Wasser«, antwortete de Rovignant. »Und ab und zu eine Sandinsel drin.«

»Sonst nichts?« forschte Conrath. »Keine Schiffe?«

»Schiffe, ja. Ein paar Schiffe haben wir überflogen.«

»Was konnten Sie denn darauf erkennen?«

»Ich habe bloß gesehen, daß es Kriegsschiffe waren«, sagte der Franzose.

»Das ist doch völlig unwichtig«, meinte Conrath ungeduldig und ohne auch nur im geringsten zu ahnen, in welch schwerwiegendem Irrtum er sich befand. »Konnten Sie denn nicht aus Einzelheiten und Größe Rückschlüsse auf die Flughöhe der Maschine ziehen?«

»Ich könnte es bestenfalls schätzen. Aber legen Sie mich nicht fest«, sagte de Rovignant nach einer Weile in einer Mischung aus kleinlauter Verzagtheit und seinem gewohnten listigen Mißtrauen.

»Wie käme ich dazu, Sie festzulegen«, antwortete Conrath gereizt. »Also los, Mann, schätzen Sie schon!«

»Zweitausend Meter«, sagte de Rovignant und schwieg. »Dann kam plötzlich aus heiterem Himmel eine furchtbar dröhnende Erschütterung«, berichtete er nach einer Pause weiter. »Sie haben sich zwar im Schlaf bewegt, sind aber nicht aufgewacht. Paul Mialhe und ich, wir sind in Panik geraten. Die beiden Piloten haben uns zugeschrien, daß wir beschossen worden seien und notlanden müßten.«

»Beschossen? Von wem?«

»Für Einzelheiten war keine Zeit. Die beiden wollten wenden und entweder im Schutz der Schiffe oder einer Insel runtergehen, aber sie stellten fest, daß die Maschine seitwärts steuerlos war.« De Rovignant brach ab und durchlebte noch einmal den Schrecken, der ihn in diesen Sekunden durchzuckt hatte.

»Und dann?« fragte Conrath nach einer Weile.

»Dann war die Rede von einem Wadi Al Afal«, murmelte de Rovignant. »Das lag angeblich direkt auf unserem Kurs, und dort hätten sie vielleicht landen können, weil da eine Piste verläuft.«

»Ein Flugplatz?«

»Nein, sie sprachen von einer Autopiste. Aber sie konnten sie nicht erreichen.«

»Warum nicht?« fragte Conrath.

»Weil sie das Flugzeug nur mit Hilfe des einen Motors und der Flächenverwindung auf einem Kurs halten konnten, der in einem flachen Rechtsbogen verlief. Außerdem verloren wir ständig an Höhe.«

»Wenn es wenigstens ein Linksbogen gewesen wäre«, murmelte Conrath mutlos. »Dann hätte die Maschine möglicherweise die Golfküste erreicht. Haben die Piloten denn nicht versucht, über Funk Hilfe zu bekommen?«

»Sie hatten überhaupt keinen Funkkontakt«, sagte de Rovignant. »Hurghadah hatte sich abgemeldet, und vom Tower in Tabuk kam noch keine Antwort.«

»Tower ist gut«, höhnte Conrath. »So, wie ich die Lage einschätze, gibt es dort allenfalls eine Baracke zum Schutz gegen den Wüstensand, und in der schlafen die Burschen vermutlich, statt zu arbeiten. Aber wie kam es denn zu dem Absturz hier?« fragte er weiter und machte mit der Hand eine vage Bewegung in die Runde. »Wo ist eigentlich Paul?«

Der Franzose deutete mit dem Kinn nach Westen. »Mialhe ist tot«, sagte er müde. »Die Maschine sank tiefer und tiefer. Hilary und der Copilot konnten sie nicht mehr hochreißen. Schließlich schlug sie mit dem Leitwerk auf eine Felsrippe, die ihr das Heck abriß. Irgendwo da drüben muß das gewesen sein. Mialhe wurde nach hinten ins Freie gezogen, durch den Luftsog, oder was weiß ich. Jedenfalls gab es eine riesige Staubwolke, und dann ging alles wahnsinnig schnell. Sekunden später müssen wir gegen diesen Steilhang gerast sein. »Ich glaube«, fügte de Rovignant schaudernd hinzu, »ich bin zusammen mit meinem Sitz aus der aufschlagenden Maschine geschleudert worden. Diesem Umstand verdanke ich vermutlich mein Leben.«

»Rovignant«, beschwor Conrath den Franzosen, nachdem er stockend seinen Bericht beendet hatte, »strengen Sie jetzt mal Ihr Gedächtnis an und versuchen Sie, sich zu erinnern, wieviel Zeit zwischen dem Überfliegen der arabischen Küste und dem Aufprall hier vergangen ist.« De Rovignant legte sein Gesicht in Falten, dachte nach und erklärte schließlich, daß er das unmöglich präzise angeben könne. Conrath beugte sich über ihn und rüttelte ihn an beiden Schultern.

»Sie müssen es versuchen. Denken Sie nach, Mann! Davon hängt es ab, ob wir lebend hier rauskommen oder nicht. Sie müssen doch wissen, ob es Stunden gedauert hat. Viertelstunden oder Minuten. Was haben Sie denn getan, als wir die Küste überflogen? Geträumt?«

»Ich habe meine Fingernägel gerichtet«, antwortete de Rovignant trotzig. »Hier, mit diesem Messer.« Er griff mit der gesunden Hand in die Jackentasche, brachte ein Kombimesser zum Vorschein, an dem auch ein Maniküreset befestigt war, und reichte es Conrath.

»Immerhin haben Sie es hinterher wieder zusammengeklappt und eingesteckt«, sagte Conrath und ließ das Instrument zwischen zwei Fingern wippen. »Na los doch, Mann! Besinnen Sie sich! Was haben Sie dann gemacht?«

De Rovignant hob die Schultern. »Ich habe schrecklichen Durst«, sagte er.

Conrath sah ihn nur mitleidig an. Ein paar Sekunden lang schwiegen beide. Plötzlich verfärbte sich de Rovignant, und sein Gesicht wurde unter dem Sonnenbrand so blaß wie ein Leichentuch. Er hatte begriffen, welches Schicksal ihnen wahrscheinlich bevorstand. Schon bei dem Gedanken an die drohende Gefahr nahmen seine Augen jenen gehetzten, angstvollen Ausdruck an, den Martin Conrath bis ans Ende seines Lebens nicht mehr vergessen sollte. »Rovignant«, sagte er so ruhig wie möglich, »was haben Sie getan, als Sie mit Ihren Nägeln fertig waren?«

»Ist denn das so wichtig?« jammerte der Franzose. »Mein Gott …«

»Was haben Sie gemacht?« wiederholte Conrath mit mühsam erkämpfter Geduld.

»Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe zum Fenster hinausgesehen«, fuhr de Rovignant plötzlich unbeherrscht auf. »Fünf Minuten vielleicht, oder auch zehn, ich weiß es nicht, Sie hartnäckiger Idiot! Sie Perfektionist mit Ihrer albernen deutschen Gründlichkeit!«

»Die Ihnen möglicherweise das Leben rettet«, entgegnete Conrath kühl. »Aber lassen wir das. Weiter, was haben Sie dann gemacht?«

»Als wir die Küste überflogen, habe ich auf die Uhr gesehen.« De Rovignant war zurückgesunken, und seine Stimme klang jetzt resigniert.

»Das ist schon etwas«, sagte Conrath, immer noch geduldig. »Und wie spät war es da?«

»Das weiß ich nicht mehr«, antwortete de Rovignant niedergeschlagen. »Ich weiß nur noch, daß wir zu dem Zeitpunkt ziemlich genau eine halbe Stunde in der Luft waren. Ich wollte feststellen, wie lange wir über dem Wasser flogen. Bloß … wie spät es da war, weiß ich nicht mehr.«

»Aber ich«, sagte Conrath. »Denn ich habe auf die Uhr gesehen, als wir in Hurghadah starteten. Und da war es genau fünf nach acht. Also muß es, als Sie auf die Uhr schauten, acht Uhr fünfunddreißig gewesen sein. Wie lange hat es dann noch bis zur Explosion gedauert?«

De Rovignant starrte Conrath eine Weile sprachlos an. »Die kam sofort«, sagte er schließlich. »Daran kann ich mich jetzt, wo Sie danach fragen, genau erinnern.«

»Was heißt sofort?« bohrte Conrath weiter. »Nach einer Minute? Zwei? Fünf?« De Rovignant war wieder im Begriff, die Beherrschung zu verlieren. Conrath sah es ihm an.

»Mann, so begreifen Sie doch, Rovignant«, redete er deshalb beschwörend auf ihn ein. »Jede Minute Flugzeit sind genau sechs Kilometer Luftlinie Fußmarsch.«

Jetzt verstand de Rovignant endlich. »Es geschah gleichzeitig«, versicherte er. »Es waren keine Minuten mehr dazwischen und auch keine Sekunden. Ich sah vor uns die Küste auftauchen, und im selben Moment erfolgte die Explosion.«

Erleichtert lehnte Martin Conrath sich in den schmalen Schattenstreifen des Felsblocks zurück. »So«, sagte er. »Und wieviel Zeit lag zwischen der Explosion und der Bruchlandung hier?«

»Eine Ewigkeit«, stöhnte der Franzose.

»Das reicht mir nicht. Wie lange dauerte diese Ewigkeit?«

De Rovignant zermarterte sein Gehirn, doch ohne Erfolg. »Schätzen Sie mal eine bestimmte Zeit ab, wenn Ihr Leben auf dem Spiel steht. Sie haben gut reden. Sie haben geschlafen und von allem nichts gemerkt.«

»Philosophieren führt uns nicht weiter«, sagte Conrath. »Denken Sie nach, Mann, oder wir verrecken hier beide.«

»Ich krepiere sowieso«, brachte de Rovignant kläglich heraus.

»Und Sie meinen wohl, was mit mir passiert, kann Ihnen dann egal sein? Haben Sie sich mal vor Augen gehalten, wie Sie hier umkommen werden, wenn Sie nichts unternehmen?«

»Ich weiß seit Jahren, auf welche Weise ich zugrunde gehe«, murmelte de Rovignant, »wenn ich einmal in so eine Situation komme wie diese hier.« Er machte eine Pause, dann schrie er Conrath an: »Ich bin hochgradig zuckerkrank! Diabetes mellitus, verstehen Sie?«

»Das habe ich nicht gewußt.«

»Ich sehe nicht ein«, erwiderte de Rovignant hochmütig, »weshalb ich vor meinen Mitarbeitern meine Schwächen bloßstellen sollte. Damit sie mich nachher in der Hand haben, vielleicht? Allerdings dachte ich, Ihre Frau hätte es Ihnen erzählt.«

»Über Ihre Krankheiten habe ich mit Katrin nicht gesprochen«, sagte Martin Conrath leidenschaftslos. »Sie überschätzen mein Interesse an dieser Affäre. Im Herbst, sobald ich wieder in Paris bin, wird die Scheidung über die Bühne gehen. Damit ist das Kapitel für mich abgeschlossen. Im übrigen wünsche ich Ihnen viel Glück mit Katrin. Das Vergnügen hatten Sie ja schon, soviel ich weiß.« Conraths Sarkasmus angesichts dieser ausweglosen Situation verschlug de Rovignant die Sprache.

»Mein Gott, Sie müssen mich ja hassen«, murmelte er schließlich. »Und ich bin vollständig hilflos. Ich bin Ihnen ausgeliefert.«

»Davor haben Sie Angst, nicht wahr? Aber ich will Ihnen die Wahrheit sagen: Wenn ich hier jemals wieder rauskomme, dann ist es nur in meinem Interesse, daß Sie es auch tun. Daß Sie durch Ihre Krankheit umgekommen sind, könnte ich nicht beweisen. Zwar könnte umgekehrt niemand meine Schuld an Ihrem Tod bezeugen, und ich würde freigesprochen, aber ein Verdacht bliebe an mir hängen. Angestellter rächt sich an Vorgesetztem, der ihm die Frau ausgespannt hat. Moralischer Sumpf bei der Technucléaire. Aus dieser Wüste allein rauszukommen wäre das Dümmste, was mir passieren könnte. Also nehmen Sie endlich Vernunft an.«

Eine Weile schwiegen die beiden Männer erschöpft und starrten vor sich hin, während die Sonne langsam weiterkroch. Endlich raffte Conrath sich auf. »Lassen Sie uns die Uhren vergleichen«, sagte er. »Die Zeit ist das Wichtigste, was wir im Augenblick haben. Wie spät ist es auf Ihrer Uhr?«

De Rovignant hob den gesunden Arm und schüttelte den Mantelärmel zurück. »Acht Uhr fünfzig«, sagte er, lehnte den Kopf wieder an den Felsen und schloß die Augen. Die Antwort des Franzosen elektrisierte Martin Conrath. Die Zeitangabe stimmte auf keinen Fall. An das Glück, das diese Tatsache verhieß, wagte Conrath zunächst freilich nicht zu glauben. Die Zeiger seiner Armbanduhr wiesen auf zwanzig Minuten vor eins. Er beugte sich zu Rovignant hinüber und rüttelte ihn an der Schulter, bis er endlich langsam den Kopf drehte.

»Schauen Sie noch mal auf die Uhr«, drängte er mit kaum verborgener Spannung in seiner Stimme. »Prüfen Sie, ob sie geht.«

De Rovignant hob den Arm erst vor die Augen, dann hielt er ihn ans Ohr. »Sie steht«, sagte er resigniert, aber Martin Conrath hätte über diese Mitteilung in Jubelrufe ausbrechen mögen.

»Sie muß einen Schlag bekommen haben«, sagte er. »Und das kann nur beim Aufprall geschehen sein. Wenn meine Theorie stimmt, dann ist das Flugzeug genau um acht Uhr fünfzig hier aufgeschlagen.«

De Rovignant hatte Conrath das Gesicht zugewandt. Sein Oberkörper lehnte noch immer am Felsen. Er bot einen kläglichen Anblick. »Und was schließen Sie daraus, Conrath?« fragte er verständnislos.

Von diesem Mann war keine Hilfe zu erwarten. Er würde allenfalls eine Last sein. Dennoch setzte Conrath ihm seine Überlegungen auseinander. »Daraus schließe ich«, sagte er geduldig, »daß wir nach dem Überfliegen der Küste noch eine Viertelstunde in der Luft waren. Eine Viertelstunde bei leichtem Gegenwind entspricht bei durchschnittlicher Fluggeschwindigkeit einer Strecke von knapp hundert Kilometern. Da unsere Maschine beschädigt und außerdem ein Triebwerk ausgefallen war, dürfte sie eine wesentlich geringere Entfernung zurückgelegt haben. Das bedeutet, daß wir nach meiner Berechnung nicht weiter als fünfzig oder sechzig Kilometer vom Roten Meer entfernt sind. Etwa genauso weit dürfte es auch bis zum Golf von Aqabah sein. Und da liegt unsere Chance.«

»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden«, klagte de Rovignant. »Es wird uns doch jemand hier rausholen.«

»Geben Sie sich keiner falschen Hoffnung hin«, sagte Conrath. »Woher sollen die in Tabuk denn wissen, daß wir überhaupt gestartet sind, wenn Hilary noch keinen Funkkontakt mit ihnen hatte? Die Ägypter können hier ohne Sondergenehmigung keine Suchaktion durchführen und die Israelis erst recht nicht. Bis die dazu erforderlichen juristischen und diplomatischen Vereinbarungen getroffen wären, würden Tage verstreichen, und selbst wenn sie die Erlaubnis bekämen, wäre es noch sehr fraglich, ob man uns finden würde. Da müßte schon einer im Hubschrauber oder im Tiefflug direkt über diese Stelle hier kommen und dabei höllisch aufpassen. Nein, bevor uns hier in ein, zwei Wochen vielleicht einer durch Zufall findet, sind wir verdurstet und verhungert. Da mach’ ich mich lieber auf den Weg zum Golf rüber.«

Martin Conrath gebrauchte das saloppe Wort »rüber«, weil ihn der unerwartete Hoffnungsschimmer so optimistisch stimmte, daß ihm in diesem Augenblick fünfzig Kilometer durch die Ausläufer der Nefud als ein bloßer Katzensprung erschienen. Doch hatte er dabei nicht bedacht, daß de Rovignant verletzt war, an Diabetes litt und überdies durch einen von Geburt an verkrüppelten Arm behindert wurde. Ging ihn das, was mit de Rovignant geschah, eigentlich etwas an? Mußte er überhaupt darauf Rücksicht nehmen, daß de Rovignant verletzt und zuckerkrank war und einen verkrüppelten Arm hatte?

»Ich bleibe hier«, sagte de Rovignant hartnäckig. »Und Ihnen gebe ich die dienstliche Anweisung, sich nicht von der Stelle zu rühren. Überlegen Sie mal, Conrath, was wollen Sie denn am Roten Meer? Dort ist nur unbesiedeltes Gebiet, genauso schlimm wie hier.«

»Ich will nicht ans Rote Meer«, korrigierte Conrath. »Ich will an den Golf.«

»Nein, das werde ich verhindern!« De Rovignant bemühte sich, seinem Tonfall einen Anflug jener Autorität zu verleihen, die er in seinem chromblinkenden Pariser Büro, ausgestattet mit kubistischen Gemälden von Gris, Delauney und Gleizes, um sich verbreitete. Doch dieser Versuch mißlang kläglich. »Am Golf haben Sie nur dann eine Chance, wenn Sie auch hinüberkommen.«

»Sie wissen selbst«, antwortete Conrath, »daß unser Geschäft hier illegal ist.«

»Nicht das Geschäft ist illegal«, widersprach de Rovignant, »nur die Leute, mit denen wir darüber verhandeln.«

»Und dennoch wollen Sie hier warten, bis vielleicht die Saudis Sie finden? Das kann unsere Gastgeber den Kopf kosten. Und uns auch.«

»Trotzdem nützt Ihnen der Golf nur dann etwas, wenn Sie auch auf die andere Seite kommen. Und auf dem Sinai sitzen die Israelis. Was, meinen Sie, werden die über das Projekt Tammuz 17 von uns wissen wollen? Und welche Methoden werden sie wohl anwenden, um es rauszukriegen? Das kann den Zusammenbruch des Konsortiums bedeuten. Zumindest einen Milliardenverlust. Von der entscheidenden Stärkung der israelischen Strategie ganz zu schweigen.«

In diesem Augenblick wurden die beiden Männer durch ein häßliches, metallisch scharrendes Geräusch aufgeschreckt. Steine kollerten, Sand rutschte, dann war es wieder so still wie vorher. Die Männer starrten mit angehaltenem Atem zu dem Flugzeugwrack hinauf, das aus seiner halb schwebenden Lage etwas abgesackt war. Ob die in der Gluthitze fortschreitende Ausdehnung des Materials oder ob die stetige Einwirkung des schwachen, aber gleichmäßigen Windes diese Veränderung verursacht hatte, wußte weder Conrath noch de Rovignant zu sagen. Aber beiden war klar, daß es Gefahr bedeutete, an dieser Stelle zu bleiben. Auch durften sie nach diesem Vorfall nicht mehr daran denken, das Wrack, das dort oben am Felsen klebte, zu untersuchen.

»Stellen Sie sich mal vor«, sagte Conrath, »wie diese paar Trümmer hier, wir selbst und unsere unmittelbare Umgebung aus der Luft aussehen. Ein Nichts, eine Winzigkeit. Ich lass’ es nicht darauf ankommen, ob jemand eine solche Winzigkeit durch Zufall bemerkt. Außerdem besteht die einzige Möglichkeit, an Nahrungsmittel und Getränke zu kommen, darin, die Notration zu finden, die im Heck des Flugzeugs verstaut war. Die Heckteile müßten westlich von uns abgerissen sein, wenn Ihre Beobachtung stimmt.«

»Ich bleibe hier«, wiederholte de Rovignant eigensinnig, »und warte, bis sie mich holen.«

»Dann warten Sie, bis Sie schwarz werden«, sagte Conrath. Er hatte den Versuch aufgegeben, de Rovignant zu überreden oder gar zu überzeugen. Er würde nachts marschieren. In der letzten, durchzechten Nacht hatte er beobachtet, daß Vollmond bevorstand. Er würde also Glück haben und die Kühle der Nacht ausnutzen können, ohne in der Finsternis umherirren zu müssen. Dr. Conrath überprüfte den Trick, mit Hilfe des kleinen Zeigers seiner Armbanduhr am Sonnenstand die Südrichtung zu bestimmen, ein Trick, den Parteigenosse Hoelzner ihm und seinen Klassenkameraden vor mehr als dreißig Jahren bei Geländespielen und Wanderungen beigebracht hatte. Er kannte diesen Trick noch, und er funktionierte. Um vier Uhr nachmittags brach Martin Conrath auf, um noch bei Tageslicht nach den Hecktrümmern des Flugzeugs zu suchen. Sein Taschentuch hatte er sich mit Hilfe der Krawatte um den Kopf gebunden. »Sie haben jetzt noch die Chance, mitzukommen«, sagte er zu de Rovignant. »Anderenfalls marschiere ich allein.«

»Sie sind verrückt, Conrath«, keuchte der Franzose. »Sie schaffen das nie. Sie sind wahnsinnig.«

Conrath wandte sich wortlos um und stapfte entschlossen durch das Geröll. Gesteinsbrocken kollerten zu Tal. Etwas weiter unten kam er ins Rutschen, konnte sich aber aufrechthalten, blieb stehen und sah sich um. Hinter ihm hatte de Rovignant sich hochgerafft, stand zum erstenmal seit dem Morgen schwankend auf den Beinen, kam Conrath nach. »Sie können mich doch hier nicht allein lassen«, keuchte er. Conrath sah an einem dunklen Fleck auf dem Hosenbein des anderen, daß der Notverband, den er angelegt hatte, schon durchgeblutet war. Morgen früh, bei der nächsten Rast, würde er die Wunde mit der zweiten Hälfte des Unterhemdes umwickeln. Conrath gab de Rovignant, seit er von dessen Krankheit wußte, keine große Chance mehr. Seine eigene Hose hielt ohne Gürtel. Er zog ihn aus den Schlaufen und warf ihn dem Franzosen zu. Dann half er ihm, das Hemd zum Schutz gegen die Sonne um den Kopf zu binden. Nebeneinander rutschten und stolperten sie den steinigen Abhang hinunter in das wannenförmige Tal. Hoch über sich hörten sie ein Knirschen und Krachen. Die Reste des Flugzeugs gerieten aus ihrem labilen Gleichgewicht und stürzten, die Leichen der beiden Piloten unter sich begrabend, zu Tal. Noch lange stand eine graugelbe Staubwolke über der Aufschlagstelle, ehe der Wind sie langsam davontrieb. Die beiden Männer waren allein, nichts als zwei Ameisen in einer leblosen Steinwüste, deren Anblick Conrath an den Erdtrichter aus Dantes Inferno denken ließ. Seine Berechnungen erwiesen sich als zutreffend. Gegen halb sechs stießen sie in westlicher Richtung auf die Leiche Paul Mialhes. Ein paar Dutzend Meter weiter ragte das graugrüne Seitenleitwerk der Skyservant aus der Geröllwüste. Martin Conrath wandte sich um. Die Stelle, von der sie aufgebrochen waren, war von hier aus schon nicht mehr zu sehen. De Rovignant stöhnte. Die Hitze schlug sie fast zu Boden.

 

Es war der Abend des zweiten Tages nach dem Absturz, der 9. September, wie Conrath mit Hilfe seiner Armbanduhr feststellte. Die Sonne stand eine Handbreit über dem westlichen Horizont. In den beiden vergangenen Nächten hatten sie sich bemüht, bei Morgengrauen nicht in einem Wadi, auf der Talsohle eines Trockenbettes, haltzumachen, sondern oben auf dem Kamm eines Höhenrückens, um die Etappe der kommenden Nacht nicht mit einem Anstieg, sondern mit dem Marsch auf relativ ebener Fläche oder aber mit einem Abstieg zu beginnen. Auf diese Weise nutzten sie die letzten Strahlen der Abendsonne und hatten nach ihrem Untergang für eine weitere Stunde ihren schimmernden Widerschein am Horizont als Richtpunkt. Danach wurde es rasch dunkel, aber Martin Conrath orientierte sich am gleißenden Flimmern der Venus direkt vor sich und marschierte den ihn überholenden Planeten nach; zu seiner Rechten war der helle Glanz des Polarsterns. Sie brauchten ja nur die ungefähre Richtung einzuhalten, dann mußten sie irgendwann an eine Straße kommen oder ans Meer. Wenn es zu heiß wurde, rasteten sie – tagsüber im Schatten überhängender Blöcke, nachts an windgeschützten Plätzen, wo sie der eisige Lufthauch, in den sich der heiße Wüstenwind nach Eintritt der Dunkelheit verwandelte, nicht traf.

Immer wieder versuchte Martin Conrath, sich die Karte ins Gedächtnis zurückzurufen, die er unter dem hellen Tiefstrahler im Billardzimmer der ägyptischen Botschaft in Paris gesehen hatte, als Offiziere der Luftwaffe den vorgesehenen Kurs gewissenhaft überprüften. Er war dankbar dafür, daß er sich aus purer Neugier für die Ausführungen des jungen Majors und die Fragen Paul Mialhes interessiert hatte, statt wie de Rovignant seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Der Franzose hatte nur eine vage Ahnung von ihrem Standort, und sein Mißtrauen Conrath gegenüber war groß. Doch Martin Conrath täuschte ihn nicht. Wie eine Lanzenspitze ragt der Golf von Aqabah vom Roten Meer aus in Süd-Nord-Richtung zwischen die Gebirgswüsten des Sinai und des saudiarabischen Hochlandes hinein. Wenn sie den Westkurs ungefähr einhalten konnten, mußten sie auf den Golf oder auf die Wüstenpiste treffen, die unweit von ihm das Gebirge durchzieht. Falls Conraths Berechnungen zutrafen, war die Strecke, die sie von der Küste trennte, nicht länger als der Weg, den man daheim in Paris mühe- und bedenkenlos zurücklegte, um den Sonntagnachmittagskaffee einzunehmen. Hier wurde freilich ihr Marsch dadurch erschwert, daß die Wüste von mehreren Höhenzügen durchschnitten wird, deren erster As Shifa heißt und mit seiner höchsten Erhebung bis auf 2600 Meter ansteigt. Diesen höchsten Gipfel, den Djabal al Lawz, glaubte Conrath gestern nachmittag in nördlicher, später nordöstlicher Richtung ausgemacht zu haben. Er schloß daraus, daß sie den Höhenzug an einer seiner begehbaren Senken wahrscheinlich schon hinter sich gebracht hatten. Die Wüste war vor ihnen durchschnitten von zahllosen Tälern und Wadis mit weniger krassen Höhenunterschieden, die aber dennoch alle mühsam überwunden werden mußten, ohne daß sie der Versuchung erliegen durften, die bequeme Nord-Süd-Richtung einzuschlagen.

Den Tag über hatten sie geschlafen, falls der nervöse Zustand des Halbwachens, in den jeder von ihnen bisweilen vor Erschöpfung verfiel, diesen Namen verdient. Es ging um die letzten Kubikzentimeter trinkbarer Flüssigkeit, die sie bei sich hatten. Selbst im Schlaf lagen sie auf der Lauer, wachsam und gespannt, ob nicht der andere sich heimlich an die restlichen Viertelliterbüchsen Fruchtsaft heranmachte. Besonders Conrath durfte sich nicht von de Rovignant überrumpeln lassen, denn er verwahrte den Schlüssel für ihr weiteres Schicksal in Gestalt des Kombimessers, das er an der Absturzstelle an sich genommen und de Rovignant nicht zurückgegeben hatte. Daran befand sich ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich die Verlötung der Fruchtsaftdosen öffnen ließ. Die kleine, ebenfalls am Messer befestigte Feile benutzte de Rovignant normalerweise, um seine Insulin-Ampullen zu köpfen. Aber Ampullen und Spritze befanden sich bei seinem Gepäck im Heck der Maschine. Über zwei Stunden hatte er am Abend vor zwei Tagen in weitem Umkreis die Stelle abgesucht, an welcher sie Paul Mialhes Leiche und Heckteile des Flugzeugs gefunden hatten. Nach zwei Stunden zwang ihn der Einbruch der Dunkelheit, die Suche aufzugeben, ohne daß er auch nur eine Spur von dem Privatgepäck entdeckt hatte, das ihm das Leben hätte retten können. Es war, als habe der Teufel seine Hand im Spiel.

Conrath hatte während dieser Zeit bei seinem toten Freund gewacht. Pauls Mund war weit geöffnet, so als habe er im Angesicht des Todes laut aufgeschrien. Die Lider aber hielt er krampfhaft geschlossen, wie um die letzten Sekunden vor dem unweigerlichen Ende nicht sehenden Auges mitzuerleben. Der schonungslose Aufprall hatte seine Glieder zerschmettert und seinem Leben wahrscheinlich sehr schnell ein Ende gesetzt. Pauls Haar war wirr, staubig und blutdurchtränkt. Nur die lebensfeindliche, in ihrer Starre fast unwirkliche Einöde ringsumher hatte Martin Conrath den Gedanken ertragen lassen, daß er nie wieder die leichtfertigen Zynismen von Pauls spöttischen Lippen hören würde, die bisweilen hatten vergessen lassen, daß auch Mialhe einst als glühender Idealist der Durchsetzungskraft von Humanität, Vernunft und Gerechtigkeit vertraut hatte. Dr. Martin Conrath war einer der wenigen, die wußten, daß Pauls Zynismus lediglich ein Schutzmechanismus gewesen war, hinter dem er sich verschanzte, um sich das wirkliche Ausmaß der europäischen Dekadenz nicht eingestehen zu müssen.

Aus einem der kräftigen, wohlgeformten Ohren war ein dünnes Rinnsal Blut geflossen. Conrath hatte es bemerkt, als er den Leichnam umdrehte, um ihm den leichten, hellen Mantel sowie Hemd, Hose und Schuhe auszuziehen. Nachdem er das getan hatte, war auch er auf die Suche gegangen. Die Explosion hatte an den Wrackteilen, die weitverstreut umherlagen, deutliche Verbrennungsspuren hinterlassen. Manche Stücke waren scheinbar völlig vernichtet. Bis zum Einbruch der Nacht hatte Conrath in mühsamer Suche sechs Dosen Fruchtsaft gefunden. Jetzt, zwei Tage später, besaßen sie davon noch eine volle und eine angebrochene. Er war außerdem auf fünf Packungen einer Art Dauerbrot, drei Behälter mit energiespendender Schokolade deutscher Herkunft, zwei kleine Büchsen Milch- und eine Dose Eipulver gestoßen. Alles andere, was ihm bei seiner Suche in die Finger geriet, war entweder nebensächlich oder unbrauchbar.

Als sie sich an diesem ersten Abend hinter einem riesigen Stein zusammengekauert hatten, war die nahende Verzweiflung wieder ein wenig zurückgewichen, wie ein Raubtier auf der Jagd, dem sein Instinkt verrät, daß die Beute noch zu kräftig ist für den Vernichtungsschlag.

 

Am Morgen des nächsten Tages hatte de Rovignant erneut die Suche nach seinen Medikamenten aufgenommen. Conrath hatte ihn dabei beobachtet. Der Franzose mit seinem verdammten Diabetes, den er aus purer Profitsucht für die Technucléaire und aus privater Machtgier leichtfertig ignoriert hatte, als er sich in das Risiko dieser abenteuerlichen Reise stürzte, war weit anfälliger gegen Strapazen, Schmerz und Erschöpfung als Martin Conrath. Er war binnen kurzem auf Insulin-Injektionen angewiesen. Der Fruchtsaft, den Conrath gefunden hatte, war Gift für ihn, und außerdem steigerte er den Durst. Also hatte der Franzose mit Recht Angst. Er neigte instinktiv dazu, am Unglücksort zu bleiben, in der Hoffnung, möglichst bald gefunden zu werden. Für Conrath dagegen, der an eine rasche und erfolgreiche Suche nach dem verschollenen Flugzeug nicht glaubte, kam alles darauf an, so schnell wie möglich zur Küste zu gelangen. Der Franzose und er waren in dieser Situation also von Natur aus Todfeinde, und sie wußten es beide. Als de Rovignant erschöpft und entmutigt von der ergebnislosen Suche zurück in den kargen Schatten gekrochen war, hatten sie sich gegenseitig in die unrasierten, von den übergehängten Mänteln halb verhüllten Gesichter gestarrt, und jeder hatte gewußt, daß sein Leben in Gefahr war.

Von da an wurde jede Rast und jeder Erschöpfungsschlaf zu einem lauernden Kriegszustand, in welchem die übermüdeten Hirne mißtrauische Wachen aufstellten. Conrath hatte Angst davor, daß de Rovignant sich heimlich über den restlichen Fruchtsaft hermachte, und der Franzose rechnete ständig damit, daß Conrath ihn entweder umbrachte oder ihn zumindest bei der nächstbesten Gelegenheit verließ. Manchmal fuhren beide gleichzeitig aus dem Halbschlaf hoch, starrten einander sekundenlang an und legten sich dann wieder nieder, jeder den anderen im Auge behaltend, bis der halbwache Erschöpfungsschlaf sie erneut überfiel und alles von vorne begann.

Auf diese Weise waren sie in zwei Tagen und zwei Nächten bis zu der Stelle gelangt, an der sie sich jetzt, am 9. September gegen siebzehn Uhr, befanden. Sie sprachen kaum noch miteinander, und wenn sie es taten, waren ihre Stimmen rauh und unverständlich. Die Beine schmerzten vom Zusammenprall mit scharfkantigen Felsbrocken, die Knochen glühten im Fleisch wie Eisenstangen, die Schenkel waren an den Innenseiten aufgerieben und brannten, die Gesichter schmerzten in der Sonne.

De Rovignant verlangte etwas zu trinken. »Conrath, Sie haben noch eine volle Dose«, sagte er, »ja sogar noch etwas mehr. Und ich? Kaum noch ein paar Tropfen.«

»Wir hatten beide gleich viel«, entgegnete Conrath. »Sie können mich nicht für Ihre Krankheit verantwortlich machen.« Er trank den Rest seiner vorletzten Dose aus und warf sie zwischen das Geröll. De Rovignant hob sie gierig auf, kippte den Kopf nach rückwärts, setzte die Dose an und hoffte auf einen letzten, einen allerletzten Tropfen. Als er die Hand mit der geleerten Dose sinken ließ, hielt Martin Conrath das Kombimesser in der Hand, die lange Klinge herausgeklappt, um damit den Verschluß der letzten Dose zu öffnen. Conrath blickte auf, als de Rovignant plötzlich leicht schwankend vor ihm stand. Er hörte, wie der Franzose die leere Fruchtsaftdose wieder zwischen die Steine fallen ließ. De Rovignant konnte gar nichts anderes denken, als daß das geöffnete Messer ihm galt. Welcher Augenblick wäre günstiger, um ihn, den störenden Zögerer, den Kranken, der zuviel Flüssigkeit verbraucht, der Kräfte kostet und das Tempo verlangsamt, ins Jenseits zu befördern, als dieser an der Schwelle der dritten Nacht, die entweder für beide auf Tod oder für einen von ihnen auf Überleben erkennen würde. Conrath wußte in diesem Moment, daß kein Gericht je begreifen würde, was hier in dieser glühenden Steinwüste in ihm und seinem Gegner vorgegangen war, ehe Charles de Rovignant plötzlich seine einknickenden Beine in Bewegung setzte. Ob es die fast schon zur Routine gewordene Gewohnheit war, loszumarschieren, wenn die Abendsonne eine Handbreit über dem Horizont stand, ob es die Angst vor der vermeintlichen Lebensgefahr war, angestaute Verzweiflung, beginnender Irrsinn, was de Rovignant plötzlich aus dem Schatten trieb und vorantaumeln, dann torkelnd davonlaufen ließ, würde niemand je erfahren. Martin Conrath raffte sich hoch, in der einen Hand de Rovignants aufgeklapptes Messer, in der anderen die letzte Fruchtsaftdose. Charles, wollte er hinter dem Franzosen herrufen, Rovignant, ich würde es doch niemals tun. Nicht einmal, um mich selbst zu retten, könnte ich einen Menschen töten. Hören Sie, Charles, wenn ich das plante, hätte ich es doch längst getan. Schon als wir noch so viel zu trinken hatten, daß ich allein auf jeden Fall durchgekommen wäre. Das alles wollte Martin Conrath den davoneilenden, stolpernden, taumelnden Narren nachschreien, dessen Silhouette wie in einer tragikomischen Pantomime im mitleidlosen Sonnenlicht auf und ab tanzte, während sie sich weiter und weiter von ihm entfernte. Aber was aus Conraths Kehle kam, klang wie das rauhe Knurren einen Hundes, dem man seinen Knochen wegzieht, und war kaum über die nächsten Meter hin hörbar. Noch während sich Conrath gegen die Erkenntnis wehrte, daß er sich de Rovignant nicht mehr bemerkbar machen konnte, verschwand die schwankende Silhouette des Franzosen plötzlich aus seinem Gesichtskreis. Er hörte nur schwach aus der Ferne das trockene Rutschen von Schutt. Eine dünne, harmlose Wolke Sandstaub stieg ins Sonnenlicht, verbreiterte sich und zerging. Entsetzt ließ Martin Conrath Messer und Dose fallen und rannte de Rovignant nach. Zwanzig Meter, fünfzig, hundert, wie weit hatte die Angst den Franzosen in diesen wenigen Minuten vorangetrieben? Dann hatte Conrath plötzlich keine Felsbrocken und Gesteinstrümmer mehr vor sich, sondern nur noch rötlich schimmernde, in geheimnisvolle Schatten getauchte Tiefe, auf deren Grund kein Sonnenstrahl drang.

Conrath mußte die Hand schirmend über die Augen halten, um abschätzen zu können, wie tief der Abgrund war, in den die Hochterrasse mündete. Er warf sich auf den Bauch, kroch über das immer noch Hitze abstrahlende Geröll weiter nach vorne und starrte hinab. Nichts regte sich mehr dort unten, kein Stein kollerte, kein Stöhnen drang herauf. De Rovignant hatte nicht einmal mehr geschrien, als er abstürzte. Er war völlig entkräftet gewesen. Seinen Leichnam konnte Conrath nirgends entdecken. Er ließ den Kopf auf die Unterarme sinken und schloß die Augen. Ihn überkam zuerst ein Gefühl großer Einsamkeit, doch dann eine unbeschreibliche Erleichterung. Denn jetzt, nach dem Tode de Rovignants, würde er die Golfküste erreichen. Das spürte er.

 

Als die Sonne des 10. September aus den Weiten der Nefud hinter Martin aufglühte, machte er halt und bereitete die dritte Tagesrast vor. In seinem Auswertungsraum unter den lieblichen Hügeln, die Neapel umgeben, richtete Tom Osborne zur selben Zeit Big Birds starres Teleskopauge von den Flugplätzen, potentiellen Aufmarschräumen und Kasernen des Nahen Ostens weg auf die Gegend, in der vor drei Tagen die Skyservant abgestürzt war. Nach einigem Suchen stellte er dreierlei fest. Zum einen schleppte sich nur noch eine Person mühsam dem sattblauen Blinddarm des Golfs von Aqabah entgegen; zweitens hatte diese Person während der Nacht irgendwo und wahrscheinlich ohne es selbst zu bemerken, die 320 Kilometer lange Straße zwischen den Dörfern Haql und Ash Shayk Humayd überquert; und drittens trennten den Überlebenden nur noch 19 Kilometer Luftlinie von der Ostküste des Golfs.

»There’s only one guy left«, sagte Tom Osborne zu seinem Pultnachbarn, der ihm wie jeden Morgen über die Schulter blickte. »Da ist nur noch einer. Oder siehst du den anderen irgendwo?«

Sie veränderten die Einstellung, verlängerten die Brennweite, tasteten die Umgebung ab, aber es blieb bei jener einzelnen Person, die sie dabei beobachteten, wie sie sich hinter einem schattenspendenden Block zum Schlafen niederlegte. Von der Kälte der Nächte und der Hitze der Tage, von den Schmerzen, dem Durst und der Erschöpfung übertrug der Bildschirm nichts in die abgedunkelte Kühle des Auswertungsraums.

»Die wievielte Meldung ist das heute?« fragte Toms Pultnachbar.

»Die vierte. Warum?«

»Und es sucht immer noch niemand nach den Burschen?«

»Es ist nur noch einer«, wiederholte Tom Osborne.

»Eben«, sagte sein Kollege. »Weißt du, was ich allmählich glaube?«

Tom Osborne zuckte mit den Schultern.

»Die lassen die Kerle absichtlich da drüben verrecken. Sieht jedenfalls ganz danach aus, findest du nicht?«

»Geht’s dich was an?« fragte Tom Osborne.

»Nein«, kam widerstrebend die Antwort. »Aber trotzdem …«

»Kannst du was ändern?«

»Natürlich nicht, verdammt noch mal! Aber einfach zuschauen, wie man Menschen absichtlich verrecken läßt …«