Die Träume anderer Leute - Judith Holofernes - E-Book
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Die Träume anderer Leute E-Book

Judith Holofernes

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Beschreibung

Album, Promotion, Tour. Beinahe zwanzig Jahre lang bestimmt die Dynamik des Musikbetriebs Judith Holofernes' Leben. In dieser Zeit wird sie, mit Wir sind Helden und ihrem Soloprojekt, zu einer der bekanntesten und prägendsten Sängerinnen ihrer Generation. In ihrem autobiografischen Buch blickt sie jetzt zurück auf die Zeit nach den Helden, auf Krisen, Träume und eine wegweisende Entscheidung – und zeigt sich dabei als feinsinnige Erzählerin. Mit großer Klarheit und Zartheit und dem ihr eigenen Witz schreibt Holofernes über Fluch und Segen des frühen Erfolgs der Helden; über die Vereinbarkeit von Familie und Frontfrausein; über die öffentliche Wahrnehmung des eigenen Körpers, das Aufwachsen mit ihrer lesbischen Mutter in Freiburg; über die tiefen Einschnitte in ihrem Leben, die Zweifel, den Schmerz. Immer wieder geht es auch um die Musikbranche, um das Verhältnis zu ihren Fans, eigenartige Konzerte im Hellen, aber auch um die starren Mechanismen des Betriebs und den Sexismus. Eindrücklich zeigt Judith Holofernes in »Die Träume anderer Leute«, wie sie sich nach und nach aus den kommerziellen Zwängen und der Enge des Musikbetriebs befreit hat. Wie sie zu der Künstlerin wurde, die sie so lange sein wollte – und damit ihr Leben zurückbekam.

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Seitenzahl: 430

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Judith Holofernes

Die Träume anderer Leute

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Judith Holofernes

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Judith Holofernes

Judith Holofernes, ehemals Frontfrau und Texterin der Band Wir sind Helden, hat nach dem Helden-Aus zwei Soloalben und ein Buch mit Tiergedichten veröffentlicht. Seit ihrem Rückzug aus dem Musikbusiness ist sie crowd-basierte Künstlerin, unterstützt durch monatliche Abos ihrer Community auf der Plattform Patreon. In ihrem Podcast »Salon Holofernes« spricht sie außerdem regelmäßig mit anderen Künstler*innen über ihre kreative Arbeit.

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Über dieses Buch

»Weniger Erfolg zu haben, als man einmal hatte, ist ein Tabu, besetzt mit schamvollen Bildern von Suff, Dschungelcamps und Auftritten in Möbelhäusern. Das, so dämmerte mir, war der Grund dafür, dass ich für meine Situation kaum Vorbilder fand. Wo waren sie, die erwachsen werdenden Popstars? Was machten sie in den Jahren nach dem großen Erfolg, was entwickelten sie für Überlebensstrategien, wie fanden sie ihr Glück nach dem Rausch?«

 

Album, Promotion, Tour. Beinahe zwanzig Jahre lang bestimmt der gnadenlose Takt des Musikbetriebs das Leben von Judith Holofernes. Als Frontfrau und Texterin der Band Wir sind Helden wird sie zu einer der prägendsten Stimmen der 2000er. Mit »Die Träume anderer Leute« liefert sie nun die Biografie, die sonst keiner schreibt: über das Danach, die Entwöhnung, die Zweifel, das Wiederankommen – und zeigt sich dabei als feinsinnige Erzählerin.

Inhaltsverzeichnis

Motto

Zyankaliträume

2017

Ein Federgewicht im selben Ring

2010

Ein Samurai in der Savanne

Ton, Steine, Hipp-Gläschen-Scherben

Im Bus von David Lynch

Ein rigoroser Engel

2011

Helden im Limbo

2011/2012

Bremsquietschen bis Gomera

2012

Die holistische Hängematte

Vater, Mutter, Kind und Derrick

Netzwerken oder Nichtsnutzen

Ian, Patti, Viv & Cyndi

Ich gründe eine Müßiggang

Gib mir das, ich kann es halten

2013

Ein leichtes Schwert

Even if nobody else sings along

Walter Holzbaur und die Farne der Sony

Ein Drache, ein Pin-up und das Quietschen der Maschine

Liebe Teil 2 – Jetzt erst recht

2014

Die Box von Jennifer Rostock

Studien zu meiner Bekanntheit

Schmallippiger Spagat mit Slashs Zylinder

Ein Möchtegernreh im Scheinwerferlicht

Noble Gesichtszüge und Lemuren-Make-up

Helenes Echo

Einhornfohlen auf der Koppel

Bongos für mein Seelenheil

Gesundheit! Danke schön.

Saarbrücken ist mein Waterloo

2015

Ein unschmeichelhafter Vergleich mit Flake von Rammstein

Sleepless in Berlin und Tórshavn

Die Kunst des Bittens

Kein Ritt in den Sonnenuntergang

Erfolg ist, was man draus macht

Du bellst vor dem falschen Baum

2016

Imaginary Doomsday Orchestra

Sing, Vögelchen, Sing

Tragical Islands

2017

Chaos und Heldenkult

I’m gonna live forever and now what

Als Judith H. eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte

Immerhin nicht tot

Sing meinen Song, wenn du kannst

Ich brauche Licht

2018

Boomslang

Ein Kanarienvogel in der Mine

Exit Holofernes

2019

The Art of Asking Amanda

Epilog

Zitatnachweis

Sag: Schläfst du anderer Leute Schlaf

Zählst du anderer Leute Schaf

Bist du des Wahnsinns nette Beute

Du träumst die Träume anderer Leute

(Die Träume anderer Leute, Wir sind Helden)

Zyankaliträume

Als Kind habe ich wieder und wieder von Zyankali geträumt. Ich weiß nicht, wie das Gift seinen Weg in mein Kinderzimmer gefunden hatte. Da sind schemenhafte Erinnerungen an Kriegs- und Agentenfilme, in denen Bösewichte silberne Kapseln zerbeißen und sich schäumend und röchelnd dem Zugriff entziehen. Vielleicht hatte ich auch schon eine vage Vorstellung von dem, was Goebbels mit seinen Kindern im Bunker gemacht hatte.

Mal war es meine Freundin Sheila, die die Kapsel geschluckt hatte, mal ich. Das Gift war eine Bombe mit Zeitzünder, die Wirkung trat nicht sofort ein, anders als in den Filmen. Wer mein Zyankali schluckte, hatte noch etwa eine Stunde zu leben, aber sein Schicksal war besiegelt. Der Tod in diesen Träumen kam unaufhaltsam und unabänderlich und ließ mir Zeit, ihn bitter zu bereuen. Ich kann das Entsetzen noch heute spüren, bleiernes Bedauern und unversöhnliche, tiefe Trauer. Ich wollte auf keinen Fall sterben! Sheila sollte auf keinen Fall sterben! Aber es war zu spät. Ich wachte unter Tränen auf, und das Gefühl von Verderben und Verlust ließ mir tagelang die Hände zittern.

Jetzt, in meinen erwachsenen Fieberträumen, war das Gift wieder da. Vielleicht waren es die Opiate, die ich gegen die Schmerzen nahm. »Vernichtungsschmerz«, würde der Arzt später dazu sagen und damit erklären, warum ich wochenlang den Kopf nicht hatte heben können. Die Opiate und ich, auch das erklärte er mir, kamen offensichtlich nicht gut miteinander klar. Seit ich sie nahm, flossen die Tage und Nächte ineinander, ich war nie ganz wach, nie ganz weg. Das Gefühl, vergiftet worden zu sein, nahm ich mit in den Dämmerschlaf. Als ich das letzte Mal ins Bad gekrochen war, hatte ich im Flurspiegel winzige tiefrote Flecken auf meiner Brust gesehen.

Diese Flecken sah ich im nächsten Traum wieder: Ich hatte den Befehl bekommen, den Kindern ihre Kapseln zu verabreichen und danach meine eigene zu nehmen. Kein Verhandeln, kein Ausweg. Schmerz überschwemmte mich, kalter Horror griff nach meinem Herzen, als ich im Spiegel die Flecken zählte.

Und dann war da eine Pause. Ein Aufbäumen, eine plötzliche, gewaltige Welle der Hoffnung. In meinem Traum konnte ich mich atmen sehen. Wir würden in den Wald fliehen, zu viert, Pola, die Kinder und ich! In Neustrelitz, an der ersten Weggabelung im Naturschutzgebiet, würden wir uns ins Unterholz schlagen, da, wo man für Kilometer laufen konnte, ohne in die Nähe einer Straße zu kommen. Dort könnten wir überleben, eine ganze Weile. Ich hatte doch die Sendungen mit Bear Grylls gesehen, hatte mir vom Survival-Guru zeigen lassen, wie man am Yukon und Amazonas überlebte. Ich würde doch wohl mit dem deutschen Wald klarkommen! Zur Not sogar für Monate. Tief erleichtert zog ich den Kindern ihre Mäntel an und warf die Zyankalikapseln ins Waschbecken.

2017

Ein Federgewicht im selben Ring

Im selben Jahr im Herbst, sechs Jahre nach dem Ende von Wir sind Helden, sitze ich neben Henning May auf einem ausgesessenen Sofa. Ohne rote Flecken auf der Brust, die Schmerzen nur noch ein Schatten im Hinterkopf, da, wo ihn später auch das MRT zeigen würde. Gerade habe ich mit Hennings Band einen Heldensong im Radio gesungen. Ich hätte gerne was Neues gespielt, aber Henning hatte sich »Von hier an blind« gewünscht, und weil ich ihn so gern mag, hatte ich nicht gemeckert.

Jetzt sitzen wir zusammen an einem Couchtisch voller Bierflaschen und Aschenbecher, auf einer spontanen Party im Hof eines unanständig schönen Proberaums. Die AnnenMayKantereits, denke ich, sind ein bisschen so, wie wir früher waren, neu und lustig in ihrem Welpencharme. Ich hingegen fühle mich wie ein alter Hund mit Staupe und kämpfe gegen eine Traurigkeit, für die ich gerne zu cool wäre. Es ist dunkel und Sommer, alle außer mir sind angeschickert, und Henning versucht gestikulierend, mich einem beisitzenden Amerikaner zu erklären. »She’s so badass! She basically decided to leave the ring as a heavyweight champion … and then come back into that same ring … as a featherweight!« Ich lache und sage so was wie: »Klingt cooler, als es sich anfühlt. Außerdem wiege ich deutlich mehr als damals.« Es klingt cool, was der Welpe sagt, nach Rocky und Phönix aus der Asche, ist es aber nicht. Ein bisschen heroisch vielleicht, aber auch masochistisch und dumm. Dumm auf eine Art und Weise, die man sich nicht leisten kann, wenn man Kinder hat, denke ich. Dumm im Sinne von fahrlässig. An diesem Abend, nach sechs Jahren Federgewicht, fühle ich mich grün und blau geschlagen. Meine Gegenüber sind noch immer dieselben Schwergewichte, die Schiedsrichter sitzen weiter an ihren Plätzen. Und ich? Ich wollte doch einfach nicht mehr kämpfen.

Was ich gebraucht hätte, 2011, nach dem Abschied von meiner Band, wäre ein radikaler Schnitt gewesen. Mit meiner Muse Hand in Hand in den Sonnenuntergang zu reiten und ein neues Leben anzufangen, eins, das sich grundsätzlich anders anfühlen würde. Ich hatte aufgehört mit den Helden, weil ich aus der Tiefe meines Seins nicht mehr wollte, weil ich ausgebrannt war, unglücklich, krank und kaputt.

Jetzt sitze ich hier, sechs Jahre später. Ausgebrannt, unglücklich, krank und kaputt. Wie tapfer ich in der Zwischenzeit versucht habe, meinen Beruf zu etwas zu machen, womit ich glücklich sein kann. Immer darauf bedacht, niemanden wirklich vor den Kopf zu stoßen. Ich habe diese Jahre in einer Art Selbstexperiment verbracht. Wie macht man aus einem Märchen ein echtes Leben? Wie kommt man würdevoll aus der Sache wieder raus? Ich habe an so vielen Schrauben gedreht, ich könnte ein hilfreiches kleines Handbuch herausgeben, für die fünf Leute, die es interessiert. In den Momenten, wo das Drehen und Schrauben nicht funktioniert, reißt eine alte Verzweiflung auf wie eine schlecht verheilte Wunde. Und dann sitze ich zwischen meinen Geschenken und Hauptgewinnen, bis auf die Knochen unglücklich und voller Scham, weil ich nicht dankbarer sein kann. Fassungslos, wie hart und unfreiwillig sich mein Leben immer noch anfühlt. Wie wahnsinnig viel Arbeit es macht, diese Judith Holofernes zu sein, und wie unglaublich, beinahe unmöglich schwierig es ist, daneben eine Familie zu haben, die man ernst meint. Unglücklich, weil ich einen ruinös hohen Preis bezahle für etwas, das ich gar nicht mehr haben möchte.

Wie bin ich also wieder hier gelandet, im Boxring, in den Seilen, mit platter Nase und zugeschwollenem Auge? Wo ich doch so klug bin (frag ALLE! Steht sogar in der ZEIT!) und immer meditiere. Und so schlaue Songs geschrieben habe, über das Aufhören und Loslassen, das Absagen und Verweigern.

Was ist passiert?

2010

Ein Samurai in der Savanne

Mein schwarzer Samurai-Mantel war viel zu warm für einen Julitag, aber ich wollte ihn nicht ausziehen. Schwarzes Leinen, grob und schwer, beinahe hundert Jahre alt. Geborgen aus einem Lager mit alten Militärsäcken, über und über bestickt mit ornamentalen roten und goldenen Blüten, dazu zwei goldene Streifen entlang der Ärmel. In diesem Mantel fühlte ich mich mit meinem Humpeln beinah heroisch. Ein Mantel, der einen aufrecht hält, mit scharfen Konturen, genäht für Dichterfürstinnen, für Patti Smith, Baudelaire, Jack Sparrow. Oder eben für einen Samurai. Das ist es, beschloss ich, während ich über den Parkplatz des Festivalgeländes hinkte. Ein Samurai. Angeschlagen, zermartert, verwundet, aber fest entschlossen, sich wieder ins Gemetzel zu stürzen. Diesem erhebenden Gefühl konnte auch die getrocknete Babyspucke auf meiner bestickten Schulter keinen Abbruch tun. Die Kinder waren mit Isa und Julia auf einem Spielplatz in der Nähe. Am Vormittag hatte ich ein paarmal versucht, eins von ihnen auf den Arm zu nehmen, dann hatten meine Freundinnen beschlossen, dass es besser wäre, ich hätte heute nur mich selbst zu tragen. Mir war es recht, ein Samurai mit Kleinkind auf dem Arm ist weitaus weniger beeindruckend als einer mit, sagen wir mal, einem Schwert in der Hand. Ein Samurai mit Kleinkind auf dem Arm ist wahrscheinlich bald ein toter Samurai.

Mit Kind auf dem Arm hätte das Humpeln wieder so ausgesehen, wie es zu Hause in Berlin ausgesehen hatte, mit Sweatshirt und Leggings und runden, weichen Schultern. Nach kaputter mitteljunger Frau, die niemals schläft und niemals Ruhe gibt. Von hinten vielleicht auch nach alter Frau in altersunangemessener Kleidung. Aber jetzt, hier, alleine auf diesem desolaten, postapokalyptischen Festivalgelände, in diesem vorletzten Heldensommer, humpelte ich wie ein Krieger. Zwischen den riesigen weißen Cateringzelten und den Alucontainern, die als Künstlergarderoben fungierten, schienen Kilometer zu liegen. In der Ferne erahnte man, angedeutet durch subtiles Bassgewummer, den lustigen Teil des Festivals. Den Teil, wo hinter einem großen Planenzaun, gesichert von Security in orangen Westen, das Publikum tanzte, Würstchen aß und auf Wiesen lag.

Zwischen den Garderoben und dem Bühnenaufgang lag ein monumentaler, trister Parkplatz. Gleißende Autodächer, diesiger weißgrauer Himmel, staubiger Boden. Das Licht, das milchig durch die Wolken fiel, reflektierte hart von den weißen Zeltplanen, den Autoscheiben, den Kieselsteinen. Auf meinem Weg über das Gelände musste ich die Augen zusammenkneifen. Mühsam hatte ich mich am Morgen die steile Treppe des Nightliners heruntergekämpft und mich eiernd und taumelnd zum Frühstückszelt gequält, vorbei an versprengten Grüppchen von Band- und Crewleuten, die in wackeligen Liegestühlchen versuchten, den Tag rumzubringen. Diejenigen, deren Auskommen von mir und meiner Einsatzfähigkeit abhing, beobachteten mich besorgt. »Kann sie so denn überhaupt auftreten?« Nein, auftreten konnte ich absolut nicht, zumindest nicht mit dem rechten Bein. Aber selbstverständlich würde ich heute Abend auf der Bühne stehen.

Nach dem Frühstück hatte mich mein erster Erkundungsgang direkt zu Lars geführt, einem der schwarz gewandeten Bühnenarbeiter, in dessen Richtung mich ein anderer, ratloser Lars mit Walkie-Talkie gewinkt hatte.

»Du bist Lars, oder?«

»Hm.«

»Ich wollte mal fragen, ob du mir für unseren Auftritt vielleicht einen Barhocker auf die Bühne stellen könntest.«

»Was?«

»Ich hab Probleme mit meinem Bein, ich muss im Sitzen spielen.«

»Barhocker.«

»Ja, na ja.«

»Ich kann dir einen Stuhl geben.«

»Nee, ein Stuhl ist zu niedrig. Ich brauche einen Barhocker. Aber einen coolen.«

»Was?«

»… einen coolen Barhocker.«

»Es gibt keine coolen Barhocker«, feixte Lars mit dem charmanten Selbstbewusstsein, das so vielen Festivalmitarbeitern zu eigen ist.

Damit hatte er natürlich recht, aber ich wollte keinen demütigenden wackeligen Schemel, richtig zu sitzen kam nicht infrage. Ich wollte stehsitzen, lässig an einen möglichst rock-’n’-rolligen hohen Hocker gelehnt, aus Holz musste er sein und mindestens drei Beine haben, um mein eigenes wackeliges Bein zu kompensieren oder zumindest nicht mitzuwackeln. Denn das besagt der Samurai-Code für Performer: Wackeln ist okay, aber nicht zu heftig. Es ist in Ordnung, krank zu sein, es ist in Ordnung, ein bisschen bedauert zu werden, die schönsten Konzerte sind oft die mit einem Makel. Was aber nicht geht, ist, dass das Publikum sich ernsthaft Sorgen um dich macht. Wer sich Sorgen macht, kann keinen Spaß haben.

Lars würde gucken, was sich auftreiben ließe. Eine halbe Stunde später tauchte er wieder auf, immer noch feixend, unterm Arm tatsächlich einen Barhocker. Ein chromblitzendes schwingendes Neunzigerjahre-Edeldisco-Lederding, das meine Dichterfürstinnenfantasien empfindlich störte. Ich würde das Beste daraus machen müssen.

Am Abend kämpfte ich mich, gestützt von Jean und Pola, zur Bühne. Mark hatte mich zuvor untersucht, mein Knie hin- und hergebogen, mir eine Salbe aufgetragen und in seiner onkeligsten Doktorstimme beruhigend auf mich eingeredet. Jean hatte mich den Tag über immer wieder verstohlen von der Seite angeschaut, aber nicht insistiert, als ich beteuerte: »Ich bin topfit, ich will spazieren gehen!« Nur Pola, immerhin mit mir verheiratet, konnte ich nicht blenden. Der hatte mich schon zu Hause humpeln sehen, in Leggings, ohne ablenkende Militärinsignien.

Mein Bein hatte schon vor Wochen beschlossen, mir den Dienst zu versagen. Nicht durchgängig, aber gerade so oft, dass ich mich nie sicher fühlen konnte. Tagelang war alles in Ordnung, dann machte ich einen unbedachten Schritt und mein Bein sackte ohne Vorwarnung unter mir weg, als hätte jemand alle Sehnen durchtrennt. Manchmal tat das noch nicht mal weh, war nur beunruhigend und ein bisschen eklig, so wie wenn man auf etwas tritt, das nicht weich und nachgiebig sein sollte, es aber ist. Meistens jedoch schoss mir dabei ein metallisch-harter Schmerz vom Knie bis in die Hüfte und nahm mir sekundenlang den Atem.

Wir kamen wenige Minuten vor unserem Auftritt hinter der Bühne an. Ich löste mich von den Schultern der anderen und trat vorsichtig auf. Mein Bein war instabil, aber die Salbe wirkte. Und vielleicht auch die drei Ibuprofen. Kaum hatten wir uns verkabelt und die Monitorstecker für den Bühnensound in die Ohren gefriemelt, erschallten die ersten Klänge unserer Einlaufmusik: »Caravan of Love«. Wir steckten die Köpfe zusammen und mein Herz machte einen Satz wie ein trainierter Hund, schwanzwedelnd und bereit, seine Tricks zu zeigen. Die Musik, aufgeladen durch unzählige Konzerte, funktionierte wie ein Portal in eine magische Welt voller strahlender Gesichter und erhobener Arme, in Zeitlupe und epischem Schwarz-Weiß. Unsere Fußballumarmung, hundertfach geprobt, ließ mir das Herz genau ein Mal springen, und dann wurde es still, in der Mitte zwischen uns ein ruhiger, heiliger Ort gemeinsamen Davors. Ich hatte gewusst, dass sich dieser Moment so anfühlen würde, und ich konnte damit planen, in den Momenten, da ich mit Larsen über Barhocker stritt. Zuverlässig, jedes Mal, würde mich dieser kurze Moment mit Dankbarkeit fluten, einer wilden, sturen Liebe, die mich bis zurück in den Backstage tragen würde.

Als die letzten Takte des Intros ausklangen, sprang ich deutlich zu energisch auf die Bühne, immerhin aber trugen mich mein Bein und das Adrenalin bis zu meinem Discostühlchen. Strahlende Gesichter, zum Himmel gereckte Arme, schwarz-weiß. Dazwischen ein paar freundlich-irritierte Blicke von meinem lachenden Gesicht zu meinem Bein, vom Bein zum Discostühlchen, vom Stühlchen zum Rest der Band. Ich sah direkt ins Publikum, riss meine Arme nach oben und strahlte in einer einzigen entschlossenen Kraftanstrengung alle Sorgen und Zweifel weg, meine eigenen und die der Zuschauer. Ich hatte vor Jahren gelernt, eine direkte Verbindung zwischen meinen Mundwinkeln und meinem Solarplexus zu legen, ich konnte Sonnenlicht in mein eigenes Herz grinsen.

Das Publikum war beruhigt, dieser Samurai da auf der Bühne war definitiv gut drauf, auch wenn er tanzte wie Jack Sparrow. Und ich tanzte. Auf und neben meinem Stuhl. Ich nutzte ihn als Requisite, lehnte mich in akrobatischer Schräglage gegen ihn, einen Unterarm auf das Lederpolster gestützt, und schwang mein wehes Bein mit komödiantischen Grimassen durch die Luft. Das Publikum jubelte mit Fragezeichen.

Nach dem ersten Song setzte ich mich endlich hin und erklärte heiter, was es mit dem Stühlchen auf sich hatte, witzelte über seine generelle Uncoolness, erzählte von meinen Versuchen, etwas Besseres zu finden. »Ich werde heute ein bisschen sitztanzen für euch.« Ob sie, mein geliebtes Publikum, meine Immobilität vielleicht mit einer Extraportion motorischem Enthusiasmus kompensieren könnten? Aber bitte, danke schön, das klappt doch toll! Die nächsten zwanzig Minuten absolvierte ich halbwegs brav auf mein Stühlchen geparkt.

So ein schönes Publikum!

So warm und verständnisvoll!

Aber sah ich da vielleicht ein kleines bisschen Ennui auf den Gesichtern? Ein kleines bisschen Mühegeben, ein winziges Flackern der Aufmerksamkeit in den hinteren Reihen? Nach dem sechsten Song hielt ich es nicht mehr aus, stand auf, stieß das Discostühlchen beiseite und begann zu tanzen, bis ganz vorne an den Bühnenrand. Ich riss die Arme hoch, hüpfte, drehte mich, ohne Schmerzen. Beinah ohne Schmerzen. Das Publikum quittierte diese halsbrecherischen Übungen mit Aaahs und Ooohs, die eines Houdini würdig gewesen wären, und ich drehte mich triumphierend zu den anderen um. Die Band guckte skeptisch. Der, mit dem ich verheiratet war, noch ein kleines bisschen skeptischer. Aber ich war glücklich, irgendwie, wenn auch den Tränen nah. Ich war ein Samurai. Und ein Samurai braucht einen Siegestanz, besonders ein Samurai mit Babyspucke auf der Schulter.

Nach der Show, bei den ersten Schritten die Alutreppe hinter der Bühne hinab, schossen mir elektrische Blitze vom Knie bis in die Hüfte, mir wurde übel und meine Hände begannen zu zittern. Im Backstage ließ ich mich auf eins der klebrigen Ledersofas fallen, hob das Bein auf meinen Rucksack, schloss die Augen und versank in mir selbst. Dort, in meiner Brust, wartete eine vertraute Schwärze, in die ich seit Monaten eintauchen konnte. Nicht wirklich unangenehm, nur bodenlos, dunkel und kühl.

Als Pola kam und mir fragend die Hand auf die Schulter legte, schob ich sie weg. Nicht harsch, noch nicht mal wirklich abweisend, nur geistesabwesend und mechanisch. Ich wusste, dass Pola wusste, was ich seit Monaten nicht wahrhaben wollte. Meine Beine wollten mich nicht mehr tragen. Zumindest ein Bein. Ich begann mich zu fragen, wie lange ich noch so würde weitermachen können, auf einem Bein. Und wann das zweite unter mir nachgeben würde.

Ton, Steine, Hipp-Gläschen-Scherben

Dieses Wegschieben von Polas Hand sollte in den folgenden Monaten eine vertraute Geste werden, ein stummes Ritual. So wie bei Robert Lembke damals bei Was bin ich? »Können Sie uns eine für Ihren Beruf typische Geste vorführen?« Und die Quizshow-Teilnehmer hätten gerufen: »Aber ja, das ist eine Musikerin, die versucht, mit zwei Kleinkindern auf Tour zu gehen!« Und Hans und Anneliese hätten sich zugelächelt und ergänzt: »Die Geste ist das typische Wegschieben der Hand des besorgten Ehemannes, damit man nicht in seine Einzelteile zerfällt. Herzlichen Glückwunsch. Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?«

Sosehr wir auch versucht hatten, unseren Beruf familienkompatibel umzugestalten, es schien ein unmögliches Unterfangen. Wir spielten deutlich weniger Konzerte, ich gab nur noch etwa halb so viele Interviews und schickte immer öfter den Rest der Band vor. Trotzdem waren Pola und ich, die wir die Kinder nicht zu Hause lassen konnten, immer noch ungefähr achtzig Tage im Jahr unterwegs. Das hat man davon, wenn man seinen Drummer heiratet. Wir spielten Show um Show, Festival um Festival, die Kinder immer im Schlepptau. Und ich hatte es mir so ausgesucht. Ich war es gewesen, die von diesem Tourleben mit Familie geträumt, die jeden Vorschlag, ein paar Jahre zu pausieren, vom Tisch gefegt hatte.

An manchen Tagen ging mein Plan sogar auf. Dann fühlte sich unser seltsames Familienkonstrukt zwar immer noch halsbrecherisch an, aber auch abenteuerlich, innig und besonders. Vielleicht in seiner Besonderheit sogar näher dran an mir, an meiner eigenen Kindheit, vertrauter als das häusliche Familienleben, das zu Hause gewartet hätte.

Einige Jahre zuvor, um die Veröffentlichung des Heldenalbums »Von hier an blind« herum, war ich bei einem Inlandsflug an Polas Schulter in bittere Tränen ausgebrochen, weil die manische Mathematik in meinem Kopf, das Auszählen und Abgleichen von Monaten, Touren, Hormon- und Veröffentlichungszyklen, nicht aufgehen wollte. Sooft ich es auch hin und her drehte, ich sah keinen Weg, Kinder zu haben und dieses Rockstarleben am Laufen zu halten. Es schien unvereinbar, unversöhnlich, und ich hatte das Gefühl, mir daran das Herz auszurenken.

Ich wollte Rockstar werden, seit ich zwölf Jahre alt war und meine Mutter mir die ersten Gitarrenakkorde beigebracht hatte, auf dem Klodeckel in unserem kleinen Badezimmer sitzend, wegen der hübschen Akustik. Vom Kinderhaben aber hatte ich geträumt, seit mein Vater mir, im Alter von sechs Jahren, meinen neugeborenen Halbbruder in den Arm gelegt hatte.

Wenn du das willst, dann machen wir das und gucken einfach, wie es funktioniert, sagte Pola, als wir zur Landung ansetzten. Es wird funktionieren, verstand ich. Ich werde funktionieren.

Jetzt, zwei Alben und zwei Kinder später, war ich entschlossener denn je. In dieser Entschlossenheit glorifizierte und romantisierte ich alles, was aufregend und schön war an diesem unserem Himmelfahrtskommando. Das Unterwegssein mit der großen, liebevollen Affenfamilie, die schiere Unmöglichkeit des Unterfangens, die vielen bunten Erwachsenen. Es gefiel mir, auf Festivalgeländen mit Baby im Arm aus dem Bus zu steigen, mir gefielen die Blicke, der Unglaube. Ich liebte es, meinen winzigen Sohn auf dem Arm unseres zwei Meter großen Merchandisers Hightower zu sehen, oder wenn unser Manager Danny mein Töchterchen auf den Schultern herumtrug. Später, als auch Jean Vater wurde, liebte ich die Ad-hoc-Krabbelgruppe auf dem Autoteppich im Cateringbereich, wenn Kornelia uns mit Konrad auf Tour besuchte. Ich liebte es, beim Soundcheck ein Kind auf dem einen Arm zu balancieren und mit dem anderen den Mikrofonständer einzustellen. Vor allem aber liebte ich es, in dieser Welt, die mir immer harscher und falscher vorgekommen war, etwas Weiches dabeizuhaben, in und auf meinem Herzen. Etwas, das ich ungebrochen lieben konnte, etwas, das zweifellos richtig und wahr war.

Das Einzige, was ich übersehen hatte, war die Tatsache, dass ich tatsächlich, in alldem, auch noch würde arbeiten müssen. Ich hatte mir keine Vorstellung gemacht, wie ausweglos und brutal sich diese Arbeit anfühlen würde, von der jeden Tag Dutzende Einkommen und Tausende Euro abhingen. Egal, ob eines der Kinder die Kotzgrippe hatte, egal, ob Babysitterin Isa die Kotzgrippe hatte, egal, ob ich oder Pola die Kotzgrippe hatten, egal, egal, egal. Die Einzige, mit der ich nicht gerechnet hatte, war ich, mit meinen überraschenderweise doch nicht übermenschlichen Kräften.

Dabei hatte ich, noch bevor unser Sohn geboren wurde, alles bis ins Kleinste geplant, angetrieben vom zwanghaften Drang, so schnell wie möglich wieder an die Arbeit zu gehen. Ich würde funktionieren. Aber wie! Kinder hin oder her, ich würde das tüchtige, fleißige Mädchen sein, an dem ich so lange gearbeitet hatte. Eine, die gelobt wird, die unkompliziert ist, keine Allüren hat. Eine, die ihren Erfolg und alles, was damit verbunden ist, ohne Frage verdient. Seit den ersten Heldenjahren war ich berauscht von meiner neu gefundenen Kompetenz und auf eine ungläubige Weise stolz darauf, als patent, belastbar und unzimperlich wahrgenommen zu werden. Ich, die ich meine Schultasche regelmäßig im Schulbus vergessen hatte. Die ich meine halbe Schulzeit mit Angina im Bett verbracht hatte. Das Kind mit dem Asthmaspray und der mit Erinnerungszetteln gepflasterten Wohnung. Ich hatte mir mein neues, robustes Selbstbild hart erkämpft, in jahrelangem Ringen mit meiner Konstitution. Das kränkliche, chaotische, kopfige Künstlerkind, das Montagsmodell, war erwachsen geworden, und guck, es war so weit gekommen. Dann auch noch Kinder gewollt und sogar bekommen zu haben, erschien mir wie ein Herausfordern der Götter. Eine selbstsüchtige, dekadente Entscheidung, die den Lebenstraum und das Auskommen aller Beteiligten aufs Spiel setzte. Und so würde ich also versuchen, Kinder zu haben, ohne dass irgendjemand etwas davon bemerken müsste.

Und ach! Wir haben es versucht. Fünf Jahre lang. Wir haben an allem gedreht, was zu drehen war. Vom ersten Tag an wurden wir bei all unseren Ausflügen von einer Babysitterin begleitet. Später, nach der ersten Kotzgrippe, nahmen wir vorsorglich eine zweite dazu. Die meiste Zeit reisten unsere Freundinnen Bea, Julia und Isa mit uns, in unterschiedlichen Besetzungen. Kreative, nervenstarke Frauen, die eine absurde Expertise darin entwickelten, unsere Laufbabys an den unwirtlichsten Orten am Leben zu halten. An Raststätten im Nieselregen, im Frankfurter Gewerbegebiet, morgens um halb sieben auf bassbewummerten, mit Klopapiergirlanden überzogenen Festivalgeländen: Die drei bewahrten Contenance, und sei es nur, um sich bis zum nächstgelegenen Zoo durchzufragen. Nebenbei hielten sie mit ihrer Freundschaft mein Seelenleben in seiner prekären Balance. Und ja, ab und zu hat Julia meine Haare gekämmt, ohne zu fragen.

Wenn wir auf Promoreisen gingen, karrten wir gemeinsam mit Julia, Isa und/oder Bea fantastisch anmutende Mengen an Gepäck zum Bahnhof, Windeln, Kürbisgläschen und Autositze, auf die Koffer und Kinderwägen getürmt. Wenn wir es besonders eilig hatten und, eine Spur von Hipp-Gläschen-Scherben hinter uns herziehend, über den Bahnsteig rannten, rasselten wir zuverlässig in eine Schulklasse oder einen Junggesellenabschied hinein.

Zu Konzerten aber fuhren wir nicht mit dem Zug, sondern mit dem Tourbus.

Ich habe das Busfahren immer geliebt, und mit den Kindern war es unkomplizierter als Zugfahren, wenn auch wackeliger und enger. Der Nightliner wartete hinter dem Ostbahnhof, und waren wir erst mal unterwegs, mussten wir unser ganzes Geraffel nur noch vom Bus in den Backstage und zurückwuchten. Im Bus hatten wir die hintere Lounge zu einem Schlafzimmer umgebaut, mit Babybettchen und einem Doppelbett für Pola und mich. Das war irgendwie gemütlich, irgendwie Rock’n’Roll und irgendwie ein Albtraum.

Unser Sohn war bei seinem ersten Ausflug fünf Monate alt. Wir hatten schon vor seiner Geburt damit begonnen, der Busfirma zu erklären, was wir brauchten, hatten Zeichnungen angefertigt von Aufteilungen und Sicherheitsmaßnahmen und fest im Boden verdübelten Kinderbettchen mit weichen Netzen anstatt Gittern, wegen der Stoßgefahr. Aber als wir den Bus betraten, nachts, am Ostbahnhof, das Kind in seinem Schlafsack, sank mir das Herz bis in die Knie. Vielleicht so tief, dass ich es nie wieder hochgekriegt habe.

Es wird nicht funktionieren.

Die Firma hatte sich alle Mühe gegeben und ein kuscheliges Kinderbettchen aufgestellt, mit einem gemütlichen Kissen und einem kleinen Teddy am Fußende. Was sie übersehen hatte, war die köpfchenhohe scharfe Kante der Kommode, die danebenstand.

Nun sind selbst Erwachsene im Tourbus dringend dazu angehalten, sich mit den Beinen nach vorne in ihre Kojen zu legen. Weil man sonst bei einer Vollbremsung durch einen knackigen Genickbruch zu Tode kommen kann, während man sich richtig herum liegend nur die Beine bricht. Eine Anweisung, die einem Baby schwer zu erklären ist, das sich nachts fünfzigmal um die eigene Achse dreht und erst dann glücklich ist, wenn es einen Zeh in der mütterlichen Nase und eine Faust im Rachen des Vaters versenkt hat. Auch darüber hatten wir uns wochenlang Gedanken gemacht. Würden wir im Schichtdienst nachschauen, ob unser Söhnchen richtig herum lag? Baby-Wende-Dienste zwischen uns und den Babysitterinnen verteilen? Nicht nachgedacht hatten wir über scharfe Kanten auf Schläfenhöhe. Noch weniger über die Klimaanlage und die schmalen Belüftungsschächte, die entlang der Schlafkabine verliefen und einem in der hinteren Lounge die Luft kälter und druckvoller um die Ohren bliesen als irgendwo sonst im Bus.

Es wird nicht funktionieren.

Und so verbrachten wir diese erste Nacht im Bus damit, Lüftungsschächte mit Gaffa Tape abzukleben. Dann erst konnten wir uns einreden, dass das kleine weiche Köpfchen keinen Luftzug abbekommen würde. Einen Luftzug, der, wie meine Mutter nicht müde wurde zu betonen, zwangsläufig zu einer Hirnhautentzündung und damit zum Tode oder zumindest bleibenden Schäden führen würde.

Es wird nicht funktionieren.

Im Bus von David Lynch

Zwischen diesen Ausflügen lebten wir unser verhältnismäßig normales Kreuzberger Zuhauseleben, mit Kinderladeneingewöhnung, Platzwunden und Laterne, Laterne. Zu diesen Zeiten erschien mir unser anderes, nomadiges Leben unwirklich. Gleichzeitig fühlte ich mich beim Kinderladen-Elternabend, zwischen zwei Festivalwochenenden, wie Bruce Wayne beim Elternabend von Robin.

Wir spielten in diesen Jahren weitaus weniger Shows als zuvor, aber das hieß nicht viel. Bisher waren wir eine der meistspielenden Bands Deutschlands gewesen, jetzt waren wir nur noch die irgendwie-weitermachendste Band Deutschlands. Trotzdem hatten wir mit »Soundso« und »Bring mich nach Hause« um unser Elternwerden herum zwei Alben veröffentlicht. Gar nicht auf Tour zu gehen, kam deshalb für keinen von uns infrage, auch nicht, als knappe dreieinhalb Jahre später unsere Tochter zur Reisegruppe stieß. Wir hatten zu viel Liebe und Energie in diese Alben gesteckt und andere Leute zu viel Geld und Arbeit. Ohne Konzerte würden sie unbeachtet versinken. Keine Shows, keine Presse, kein Radio. Zwischen den Konzerten stand Promotion auf dem Plan, Radioreisen, Fernsehtermine, Interviewtage in Köln, München, Wien, Hamburg und Zürich. Meistens versuchten wir, die Termine auf Tage zu legen, an denen wir sowieso schon unterwegs waren, um ebenjene schwitzigen slapstickhaften windelbepackten Aufbrüche zu minimieren. Deshalb fuhr ich an freien Tourtagen oft alleine, ohne Kinder, vom Auftrittsort aus in die umliegenden Medienstädte, um dort Interviews zu geben. Wie sehr mich diese vielen frühen Abschiede überforderten, würde ich mir erst Jahre später eingestehen. Bis vor Kurzem noch hatte ich oft Flashbacks zu ausgestreckten Babyärmchen auf Hotelfluren.

Für einen Interviewtag in Österreich, zu dem Jean und ich als Delegation entsandt wurden, stiegen wir spätnachts in den Tourbus, um einen ersten Termin am frühen Morgen einhalten zu können. Wir brachen direkt nach dem Konzert auf, mitten im Festivalsommer zum Album »Bring mich nach Hause«, irgendwo im Allgäu, und fuhren zu zweit über Nacht nach Wien. Es war eine stille, unwirkliche Fahrt. Im leeren Bus über die nächtliche Autobahn zu gleiten, fühlte sich seltsam an, nach David Lynch, dekadent, abenteuerlich und trist zugleich. Jean und ich waren zu enge Freunde, als dass wir noch viel miteinander hätten reden können, ohne den Fortbestand unserer Band zu gefährden. Und so saßen wir bis tief in die Nacht in der Lounge und guckten Meeting People is Easy, die Radiohead-Doku, die dabei zuschaut, wie Thom Yorke an einer Promoreise zugrunde geht.

Am nächsten Tag wachten wir auf einem Parkplatz vor einem großen Hotel in Wien auf, verließen den Bus, stolperten in unsere Zimmer und hatten gerade genug Zeit, zu duschen und uns anzuziehen, bevor die Interviews begannen. Zwölf am Stück, immerhin sollte dieser Tag unsere gesamte Österreich-Promotion abdecken. Jean und ich waren ein gutes Team, hatten einen entspannten, leichten Groove, in dem wir uns abwechselnd die Bälle zuwerfen konnten. Nur manchmal vielleicht ein bisschen zu entspannt, zu wenig kompetitiv und, in meinem Fall, zu müde, sodass wir bei besonders langweiligen Fragen gern beide für lange Sekunden in die Raumecken starrten, bis wir merkten, dass auch der andere nicht geantwortet hatte. Jeans Neigung zu ausdauernden Lachanfällen gab diesen Momenten zusätzlich ein gewisses anarchisches Potenzial.

Auch für Interviews, selbst für solche Marathontage, konnte ich bis zum Schluss erstaunliche Reserven mobilisieren. So ein Promotag ist Tanz und Kampfsportereignis zugleich. Jedes Gegenüber ist anders und unberechenbar, mal wohlgesinnt, mal feindselig, mal freudig und offen, mal lauernd manipulativ, und das Niveau der Fragen wechselt im Viertelstundentakt, die Inhalte pendeln zwischen »Was ist dein liebster Brotbelag?«, »Kann es sein, dass ich hier ein Nietzsche-Zitat entdeckt habe?« und »Was denkst du über die deutsche Außenpolitik?«. Ich war immer noch gut in diesem Tanz, trotz meiner Übermüdung, fluide, leichtfüßig, konzentriert, austrainiert, ausmeditiert, vorübergehend topfit. Während meine Sparringspartner wechselten, kippte mir ein imaginärer Coach Wasser ins Gesicht und verpasste mir aufmunternde Ohrfeigen. Später würde ich von zu vielen Interviews Spannungskopfschmerzen und Atemnot bekommen, aber noch hatte ich meistens Spaß. Nur manchmal übermannte mich eine unerklärliche Traurigkeit. Aber die reagierte, noch, favorabel auf Schokolade.

Und so witzelten und philosophierten wir bis abends um neun vor uns hin, während die Crème de la Crème der österreichischen Presse an unserem Tisch vorbeidefilierte. Zwischen den Gesprächen war eine Essenspause von vierzig Minuten eingeplant, die am Ende gestrichen wurde. Stattdessen brachte mir ein Kellner mitten im Gespräch eine Suppe, um mich bei Kräften zu halten. Eine unter Ausschluss aller Allergene ausgewählte Hummercremesuppe, die dann auch prompt im gedruckten Interview auftauchte, als Symbol meiner generellen Dekadenz und Arriviertheit, wie auch das luxuriöse Hotel, das die österreichische Plattenfirma ausgesucht hatte und in dem wir bis zur Abfahrt nur geduscht haben würden.

Am Abend stiegen wir mit trockenen Lippen und trägen Zungen wieder in den Nightliner und fuhren zurück zum bayerischen Berghotel, in dem die anderen ihren freien Tag verbracht hatten. Diesmal wählten wir die Sigur-Rós-Doku, die dabei zuschaut, wie Jónsi beinahe an einer Promoreise zugrunde geht.

Als wir am Morgen aus dem Bus stiegen, zerknautscht und gerädert, sprang uns der Rest der Reisegruppe fröhlich entgegen, Frisbees zwischen den Zähnen, eine leichte gesunde Bräune auf der Stirn. Meine Kinder tollten mit Julia, Isa und Pola im Gras. Ich holte mir ein Frühstück aus dem Backstage, rollte ein bisschen mit den Kindern auf der Wiese herum und legte mich dann in den Bus, um bis zum Abend zu schlafen. Dann ging ich auf die Bühne.

Zu diesem Zeitpunkt lag etwa ein Jahr des Tourens mit zwei Kindern hinter mir, und wenn ich kein Mikrofon unter der Nase, keine Kamera im Gesicht hatte, dann war es, als würde mir ein Stecker gezogen. Dann übermannte mich eine imperative, rücksichtslose Müdigkeit, die mit Schlafen nicht mehr zu löschen war und die sich tagsüber nicht nach Müdigkeit anfühlte, sondern nach Übelkeit, Kopfschmerzen und migränoid shutternden Bildern bei jeder Augenbewegung. Während ich Baby Nummer zwei nachts stillte, schlief ihr Bruder noch immer nicht durch, wie sollte er auch? Alles, was die Ratgeber rieten, kam für uns nicht infrage. Regelmäßig dies? Regelmäßig das? Nicht für uns. Und so stand der Sohnemann die meiste Zeit kopf, und zwar in unserem Bett, in dem wir ihn inzwischen schlafen ließen, all der scharfen Kanten wegen. Das einzig Regelmäßige war lange Zeit seine morgendliche Aufstehzeit, fünf Uhr vierzig. Inzwischen hatte sich sein Rhythmus um ein gnädiges Stündchen verschoben, aber noch immer erwachte er viel zu früh, im fahrenden Bus, und saß dann mit Matchbox-Autos spielend zwischen uns, bis wir anhielten. Im ersten Jahr war er gerne in seinem Schlafsack umhergerobbt und hatte uns mit begeistertem Gegurre geweckt, schwankend am Fenster stehend und Lastwagen hinterherwinkend. Sein erstes Wort war Auto.

Den Kindern war morgens gleichgültig, ob wir am Abend zuvor von zehn bis halb zwölf als Headliner bei Rock am Ring auf der Bühne gestanden hatten. Ob ich nach der Show, verschwitzt, voll verkabelt und mit Kopfhörern im Ohr, in den Bus geeilt war, um ein hoffentlich letztes Mal für diesen Tag zu stillen. Und dass wir, trotz aller Vernunft, drei bis vier Stunden brauchten, bis all das Adrenalin aus unseren Körpern gewichen und an Schlafen überhaupt zu denken war. Ich für meinen Teil schlief in diesen Jahren im Schnitt zwischen vier und sechs Stunden.

Unsere Tochter war in die Schreibphase zu unserem Album »Bring mich nach Hause« hineingeboren worden, hatte die Studioaufnahmen im Tragetuch begleitet und war etwa ein Jahr alt, als wir sie das erste Mal auf Tour mitnahmen. Mit zwei Kindern unterwegs zu sein, erwies sich allerdings nicht, wie erwartet, als doppelt so schwierig. Es erwies sich als völlig unmöglich. Vom ersten Tag an hatte ich das Gefühl, zu wenig Arme, zu wenig Herzen, zu wenige Stunden zur Verfügung zu haben. Ständig schien ein Kind eine Bühnentrasse raufzuklettern, während das andere glucksend auf einen Gabelstapler zutaumelte. Meine ohnehin ängstliche Veranlagung vermählte sich mit der Übernächtigung und dem ständigen Loslassenmüssen zu einer flirrenden unterschwelligen Panik. Ein Gefühl, für das kein Platz war, weil es das Potenzial hatte, unsere ganze Unternehmung zu sprengen.

Immer öfter überkam mich im Verlauf eines Tages diese Schwere, eine kühle angenehme Dunkelheit, die um mich zu werben schien. Eine Schwärze, in die ich mich immer öfter fallen ließ, in den wenigen stillen Momenten backstage oder im Bus. Eine tiefe schwarze Nacht, in die ich mich sinken lassen konnte, um mich auszuruhen. Immer öfter fantasierte ich, dass ich mich, nach einer ersten Verbeugung, einfach auf die Bühne legen, dass diese meine eigene tragbare Nacht auch dort auf mich warten würde. Diese Vorstellung wurde so zwingend, dass ich befürchtete, mich nicht dagegen wehren zu können.

Doch dann, vor der Show, hinter der Bühne, kam verlässlich der elektrische Schock, die Welle der Verbundenheit, und Abend für Abend mobilisierte ich Restkräfte, von denen ich tagsüber keine Vorstellung hatte. Abend für Abend ging ich auf die Bühne und legte mich nicht auf den Boden, sondern spielte wache, emphatische und helle Konzerte im Stehen. Nach der Show war die Müdigkeit verflogen, das erste Mal im Verlauf des Tages fühlte ich mich einigermaßen gut und wach. Ich wusste, dass ich jetzt direkt ins Bett gehen müsste, Licht aus, Ohrstöpsel rein, um ein paar Stunden ruhigen Schlaf zu bekommen. Aber ich brachte es nicht über mich, den Abend hier zu beenden, der Körper summend vor Endorphinen, die Seele das erste Mal am Tag beleuchtet von den leuchtenden Augen des Publikums. Und so blieb ich meistens noch mehrere Stunden wach, und wenn ich es nicht tat, brach es mir das Herz.

Vielleicht war es sogar die Vernunft, die mich am Ende zu Fall brachte. Irgendwann hörte ich dann doch auf, mit den anderen wach zu bleiben, erhob mich, wenn sie einen Film anmachten, und verzog mich unter mitleidigen Blicken in meine Koje. Je öfter ich alleine im Bett lag und durch die geschlossene Leichtbautür Musik und Gelächter hören konnte, desto grausamer und sinnloser erschien mir das ganze Unterfangen. Vernünftig oder unvernünftig, ich hatte keine Chance. Immer häufiger dachte ich, dass es eigentlich egal war, ob ich schlief oder nicht. Und so lag ich wach, auch wenn ich früh ins Bett gegangen war, und lauschte den dumpfen Stimmen, denen in der vorderen Lounge und denen in meinem Kopf.

Nach knapp vier Jahren des Tourens mit Kindern wachte ich eines Morgens auf, die nächtliche Schwärze wie eine Zwangsjacke um mich gewickelt, an die Matratze gepinnt und fast bewegungsunfähig, und dachte: Wenn mir jetzt jemand etwas anbieten würde, irgendetwas, einen Zaubertrank vielleicht oder eine bunte Pille, dann würde ich es nehmen. Ich würde alles nehmen, nur um mich für ein paar Stunden in Ordnung zu fühlen. An diesem Wochenende schob ich Polas Hand auf meiner Schulter nicht weg, sondern hielt sie fest.

Ein rigoroser Engel

Das Erste, was Pola tat, war, mich wegzuschicken. Er verdonnerte mich zu ein paar Tagen Alleinsein. Ich sollte mir ein Hotel suchen oder im Wald zelten, egal, nur sollte ich sofort losfahren und nicht zu lange über das Wo und Wie nachdenken.

Ich schaffte es bis zum Potsdamer Platz. Dort buchte ich ein Zimmer in einem seelenlosen riesigen Hotel mit Wellnessbereich, etwa zwanzig Minuten Luftlinie von unserem Zuhause entfernt. Ich bezog mein elegantes scharfkantiges, nach Teppich riechendes Zimmer und spürte mit dem leisen Klicken der Brandschutztür, wie ein Teil der Last von mir abfiel. Den ersten Abend verbrachte ich vor mich hin guckend und heulend, aber verhältnismäßig selig auf meinem Hotelbett. Ich schlief um neun Uhr ein und wachte erst zehn Stunden später wieder auf. Für den Morgen hatte ich einen Massagetermin gebucht. Ich schleppte mich in den Wellnessbereich, und als ich die schwere Tür zu den Saunen und Massageräumen öffnete, kam mir die deutsche Fußballnationalmannschaft entgegen. Trapp, trapp, trapp, mit nackten Oberkörpern und weißen Handtüchern um die Hüften. »Guten Tag«, sagte Manuel Neuer. »Guten Tag«, sagte ich. Ich war so verblüfft, dass ich die ganze Tragweite der nachfolgenden, noch weitaus spektakuläreren Begegnung erst Tage später erfassen sollte. Ich stand in dem kleinen, plätschernden, duftenden Raum vor den Massagekabinen und grübelte, ob mir das Universum ein Zeichen hatte senden wollen, und wenn ja, wofür? Für welche Art himmlischer Botschaft schickt das Universum elf rosigwangige Multimillionäre in Lendenschurzen? Ich schüttelte kurz und heftig den Kopf und klopfte. Ein Engel öffnete mir die Tür. Ein hübscher zupackender Engel namens Caro. Der Engel wies mich an, mich auszuziehen, und komplimentierte mich auf die Massageliege. Ich überlegte kurz, ob es wohl infrage käme, ihre Hand von meiner Schulter zu schieben, aber da war es schon zu spät.

Vierzig Minuten später war ich völlig aufgelöst, in meine Lungen schien wieder Sauerstoff zu fließen, ich umarmte Caro unangemessen lang und innig und ging auf wackeligen Beinchen zurück auf mein Zimmer. Ich wusste, dass ich keine Heldin mehr sein wollte und dass sich eine weitere Tür in meinem Leben geschlossen hatte, mit leisem Klicken, die mir erlauben würde, mich endlich auszuruhen, in einem Zimmer, das ich mir einrichten würde, wie ich wollte, ohne Teppichgeruch und scharfe Kanten. Über einen Wellnessbereich inklusive Nationalmannschaft würde ich noch nachdenken.

Später stellte sich heraus, dass Caro Hupe keine normale Physiotherapeutin oder Masseurin war und auch nicht wirklich, per Berufsbezeichnung, ein Engel. Caro ist Grinberg-Praktikerin und daher von Haus aus darauf spezialisiert, über den Körper Blockaden der Psyche zu lösen. Und das hatte sie bei mir getan, mit einigen wohlgesetzten Fragen und Griffen, zum Beispiel an die Schulter, aber auch, so hatte es sich angefühlt, durch den Hals in meine Eingeweide. Caro sollte mich von diesem Moment an über zwei Jahre begleiten und mir bei der Abnabelung von meinem Heldenleben eine große Unterstützung sein. Auf der Liege in ihrer Praxis in Kreuzberg durchlebte ich all die unerträglichen und unertragenen Körpergefühle der letzten Jahre noch einmal und lernte, sie zu transformieren. Diese Sessions waren beileibe nicht immer angenehm, denke »Exorzist«, aber ich verließ sie mit klarerem Kopf und leichteren Schrittes.** Ich habe inzwischen gelernt, dass die Grinberg-Methode durchaus mit Vorsicht zu genießen ist, gerade weil sie so vieles in Gang bringt und nicht alle Praktikerinnen entsprechend ausgebildet sind, um mit dem, was dabei zum Vorschein kommt, sinnvoll umzugehen. Die Arbeit mit im Körper gespeicherten Traumata ist ähnlich kraftvoll und umwälzend wie zum Beispiel die Einnahme von Ayahuasca oder anderen psychoaktiven Substanzen, sie ist potenziell lebensverändernd, in alle Richtungen. Es ist anscheinend keine Ausnahme, dass Grinberg-Klienten völlig aufgelöst, und zwar im engsten Sinne, vor der Tür von Psychiatern landen. Zwar unterschreibt man am Anfang, dass man keine Veranlagung zu psychischen Erkrankungen hat, aber wer weiß das schon so genau, bevor es ernst wird? Deshalb würde ich inzwischen sagen: Bevor man sich einer solchen Methode zuwendet, sollte man sich mit einem Psychotherapeuten besprechen. Und wahrscheinlich ist es ratsam, Grinberg-Sitzungen nur zusätzlich zu einer psychologischen Betreuung zu machen. Für mich waren Caro und die Grinberg-Methode Gold wert. Caro half mir, mich wieder mit meinem Körper zu befreunden, nach all den Jahren, in denen ich ihn zum Schweigen und Funktionieren verdonnert hatte.

2011

Helden im Limbo

Denkst du nicht auch, die Welt – und ich meine

natürlich die eine – dreht sich längst von alleine

Denkst du nicht auch, wenn wir verschwänden

dass sich genug andre zum Drehen fänden

Sie würden fragen, wo sind sie hin

Ich werd niemandem sagen, wo ich bin

(Lass uns verschwinden, Wir sind Helden)

Als wir unser letztes Konzert spielten, dachte ich, ich hätte schon alle meine Tränen geweint.

Über fünf Jahre zuvor in einem Flugzeug, an Polas Schulter.

Vier Jahre zuvor in einem zugigen Bus mit schlecht gepolstertem Babybett.

Drei Jahre zuvor in einem Meditationsretreat, als mir, fast verschüttet unter Frust und Erschöpfung, die volle Wucht meiner Liebe zu dieser Band aufgegangen war und ich im selben Moment verstanden hatte, dass ich sie würde loslassen müssen.

Zwei Jahre zuvor, als ich merkte, dass ich gar nichts losgelassen hatte und wir kurz davorstanden, ein weiteres Album rauszubringen, auf Tour zu gehen, Interviews zu geben.

Ein Jahr zuvor, als ich Polas Hand auf meiner Schulter festgehalten hatte.

Elfeinhalb Monate zuvor bei Caro auf der Liege.

Zwei- bis dreimal pro Woche im vergangenen Jahr.

Es war ein Abschied auf Raten gewesen, und ich hatte ihn so lange aufgeschoben, dass ich davon ausging, dass jetzt, mit dem Loslassen, die Erleichterung kommen würde. Aber auch die kam in Raten, das Loslassen in Zeitlupe. Ein seltsames, bittersüßes, zähes Jahr lag hinter uns. Jean und Mark waren, wie zu erwarten, nicht wirklich aus allen Wolken gefallen, schließlich waren sie dabei gewesen, hatten unsere Augenringe und die Abgründe zu beiden Seiten tiefer werden sehen. Wir hatten sogar, in einer letzten Anstrengung, ein gemeinsames Band-Coaching gemacht, hatten unsere Innereien auf den Tisch gelegt und an bunte Flipchart-Boards gepinnt, hatten alle Sollbruchstellen unseres Gefüges mit Neonmarkern nachgezeichnet. Sollbruchstellen, die schon zur Gründung angelegt gewesen waren, die der Erfolg, unsere Freundschaft und die Euphorie bisher zusammengehalten hatten. Jetzt, wo wir Mühe hatten, uns selbst zusammenzuhalten, wurden die Haarrisse sichtbar.

Wir sind Helden war eine wunderbare Band, und ich habe sie mit sturer Hingabe geliebt. Ich bin bis heute stolz auf alles, was wir geschaffen haben. Wir waren ein Glitch in der Matrix und auf märchenhafte schwerkraftleugnende Weise zu Erfolg gekommen, mit reinem Herzen und reiner Weste. Dank unseres regelwidrigen Durchbruchs, mit »Guten Tag« im Radio und auf MTV noch vor dem Plattenvertrag, hatten wir so gut wie keine Kompromisse machen müssen. Dazu hatten wir nie Leerlauf und in zwölf Jahren kaum eine Phase, in der wir nicht dringend gewusst hätten, was wir tun wollten. Immer eher zu viele Ideen als zu wenige. Jedes Videomeeting eine Stampede galoppierender Ideen, jede Artwork-Besprechung ein Hexenkessel, mit Lachkrämpfen, Wutschnauben und Gefuchtel. Vor allem aber haben wir einander wirklich gemocht, oft mit Augenrollen, manchmal mit dickem Hals, aber immer mit einem Gefühl von ungläubiger Dankbarkeit und Verbindung. Jean und Mark, die Helden, die ich nicht geheiratet habe, waren für mich wie Geschwister. Geschwister, mit denen man bei Rock am Ring gespielt hat, mit denen man eine magische Realität teilt, die kein Außenstehender je nachvollziehen wird.

Ich habe oft gesagt, dass ich mir schon als Teenager genau diese Band gewünscht habe. Aber als ich mit vierzehn anfing, Musik zu machen, sah ich mich nicht wirklich als Teil einer Band, meine Idole waren Elvis Costello, Patti Smith und David Bowie. Was ich hingegen dringend suchte, war eine Bezugsgruppe. Ich war das einzige Kind einer alleinerziehenden lesbischen Mutter, entwurzelt und verwirrt nach dem Umzug von Berlin ins hübsche Freiburg. Zum Trost durfte ich beim Abendessen lesen und führte dabei die Spaghettigabel zur Stirn statt in den Mund. Ich las Boris Vian und Jurassic Park auf Französisch, dazu feministische Comics und schwule Coming-of Age-Romane aus dem Bücherregal meiner Mutter. Meine wichtigsten Identifikationsfiguren waren Kleinstadtjungs vor dem Coming-out. Ich hatte Asthma und Allergien und Angst vor fast allem. Im Alter von etwa zwölf Jahren versuchte ich, meine Angst zu exorzieren, indem ich das Gesamtwerk von Stephen King in einem Rutsch durchlas, mit durchwachsenem Erfolg. Außerdem war ich gut in der Schule und versuchte alles, um diesen Umstand zu verschleiern, inklusive Klassenclownerie und, ab vierzehn, Kiffen im Keller. Etwa im gleichen Alter merkte ich, dass ich irgendwie schön singen konnte, lernte ein bisschen Gitarre spielen und erprobte meine neuen Superkräfte bei Golfkriegsmahnwachen an erstaunlich aufmerksamen Jungs.

Ich sagte von Anfang an: »Ich will Popstar werden.« Was ich meinte, war: »Ich will tiefe, große, wichtige Songs schreiben. Ich will in Schwarz-Weiß-Dokus vorkommen, in denen ich mit bedeutenden Künstlern cool und schlau und sexy in verrauchten Wohnzimmern sitze.« Gemeint habe ich Factory, Laurel Canyon, CBGB, Debbie, Sid, Johnny, Joey, Bowie und Iggy, Marianne und Mick, Patti und Robert, Crosby, Stills & Joni. Was selten vorkam in diesen Träumen, waren Festivalauftritte vor wogenden Massen, Hubschrauberflüge, Tourbusse, Interviews, Erkanntwerden und Autogrammegeben, rote Teppiche, Fotosessions. Und noch seltener: Charts. Vorverkaufszahlen. Echo-Awards. Wenn ich sagte: »Ich will Popstar werden!«, dann meinte ich also: Ich will meine Herde finden, in meiner Absonderlichkeit endlich dazugehören, zu einer Gruppe, die jene Absonderlichkeit zur Besonderheit adelt. Ich wollte nah ans Feuer. Ich verpackte meine Sehnsucht in großmäulige Witze und kleinlaute Gedichte, aber alleine, vor dem Plattenspieler, vergoss ich ihretwegen bittere Tränen. Let me stand next to your fire. Das waren keine Tagträume, die ich da träumte, sondern eine dringliche, schmerzhafte Notwendigkeit.

Ich hatte also nicht wirklich von einer Band geträumt, sondern davon, eine bedeutende Songwriterin zu werden. Dann allerdings hatte ich die Ramones im Fernsehen gesehen und seitdem gewusst, dass ich diese Art von Hitze erzeugen wollte, ich war fasziniert von der Attraktivität und Exklusivität solcher Jungsgruppen, wobei ich mich selbst immer als Jungen unter Jungs sah, nie als einziges Mädchen.

Als ich meine Band dann fand, Anfang der Zweitausender in Hamburg, fiel ich begeistert in ihre Arme. Ich war selig, endlich Teil einer lauten, hermetischen, innigen Meute zu sein, mit Jahre überdauernden Kettenwitzen, Kicheranfällen in Interviews und Nackt-um-den-Bus-Flitzen an der Tankstelle, mein Mann mit baumelndem Gemächt vorneweg. Auf einmal waren wir die Gang, zu der verlorene Teenager dazugehören wollten und dazu diejenigen unter den Journalisten, die mal verlorene Teenager gewesen waren. Wir waren niedlich und wunderbar, und jeder, der uns lieb hatte, hatte recht damit. Aber wir waren auch, für uns und für andere, sehr anstrengend. Wir hatten den romantischen Ruf, in abnormem Maße basisdemokratisch zu sein, und dieses »Alle für einen, einer für alle« hatte über die Jahre unsere Nerven strapaziert. Eine Band ist immer, wie jede gute Gang, eine Selbstillusion, ein Kult, den man um sich selbst erfindet. Gleichheit und Brüderlichkeit waren ein wichtiger Teil unseres speziellen Kultes, und der war nicht zuletzt auf meinem Mist gewachsen. Ich war froh und erleichtert, mich in den kühlen Schatten dieser Gruppe fallen lassen zu können. Vielleicht hoffte ich auch, dass ich mit meinem obszönen, anmaßenden Traum ungestraft davonkommen würde, wenn ich versprach, ihn nicht für mich zu verwenden, ihn fair und bescheiden mit drei anderen Träumern zu teilen.

Zu Anfang unserer Karriere verfolgten wir unser Gleichheitscredo mit Krampf und Verve, verhöhnten Fotografen, die mich in den Vordergrund stellen wollten, zählten minutenweise aus, wer bei Konzertmitschnitten wie viel im Bild war, und nach Interviews blickte ich fragend in die Runde, unsicher, ob ich zu viel geredet hatte. Jahrelang überließ ich den anderen jede zweite Antwort auf Fragen zu meinen Texten, bis Jean dieses Tänzchen irgendwann für unter seiner Würde befand und uns alle erlöste.