Die UFO-AKTEN 4 - Carter Jackson - E-Book

Die UFO-AKTEN 4 E-Book

Carter Jackson

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Beschreibung

»Bist du ein Loser, Eddie?«, wiederholte Mr. Stringer.
»N-nein, Boss«, murmelte Edward Blundt halbherzig. Obwohl er sich in Wahrheit genauso fühlte: wie ein Loser. Ja, mehr noch, wie der größte Versager aller Zeiten.
Dabei hatten seine Lehrer an der Highschool ihm eine rosige berufliche Zukunft prophezeit. Vielleicht nicht unbedingt als Generaldirektor von General Motors, aber zumindest als Filialleiter bei Costco oder SuperTarget.
Stattdessen versauerte er seit siebzehn Jahren in diesem Drecksladen, in dem man sogar sein Klopapier selbst mitbringen musste. Er drehte den Leuten Schrottkarren an, bei denen sie froh sein konnten, wenn sie es damit bis nach Hause schafften.
Früher hatte er daran geglaubt, dass die Welt bloß auf einen tollen Hecht wie ihn wartete. Heute wusste er es besser. Heute wusste er, dass die Welt nicht auf ihn wartete, und auch sonst niemand.


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Inhalt

Cover

Der Glückspilz

UFO-Archiv

Vorschau

Impressum

Carter Jackson

Der Glückspilz

Eddie Blundt ist ein Pechvogel sonderglei‍chen. Alles, was der Autoverkäufer anpackt, geht schief. Sein Kollege Rocky bringt zehnmal so viele Wagen im Monat an den Mann, und Wilma, seine nörgelnde Ehefrau, lässt keine Gelegenheit aus, um Eddie daran zu erinnern, was für ein jämmerlicher Versager er ist. Und sie hat eine Affäre mit seinem Chef. Als dieser ihm kündigt, bricht für Eddie der letzte, wenn auch deprimierende Halt in seinem Le‍b‍en weg.

Doch dann verkehrt sich sein Schicksal wie durch ein Wunder ins Gegenteil: Plötzlich scheint es Fortuna gut mit Eddie zu meinen. Mehr noch: Er scheint das Glück gepachtet zu haben! Was steckt da‍h‍i‍n‍ter ...?

Stringer's AutoserviceNew York City, 24. Februar 2021, 15:22 Uhr

»Gottverdammt, Eddie!«, blaffte Ebenezer Stringer mit so hochrotem Kopf, dass Eddie fürchtete, der Schädel seines Bosses würde jeden Moment platzen. Fehlte eigentlich bloß noch, dass Mr. Stringer vor lauter Empörung Dampf aus den Ohren quoll, wie in diesen Samstagmorgen-Cartoons im Fernsehen, die Eddie so gerne schaute. »Für wen hältst du mich? Für die gottverfluchte Heilsarmee?«

Ohne auf die Antwort seines Angestellten zu warten, der wie ein Häufchen Elend im Stuhl vor seinem Schreibtisch hockte, polterte Mr. Stringer: »Denkst du, ich hätte irgendetwas zu verschenken? Hältst du mich für einen dieser Rettet-die-Wale-Typen? Sehe ich vielleicht aus wie dieser verdammte George Clooney?«

Nein, wie George Clooney sah Mr. Stringer beim besten Willen nicht aus. Vielleicht ein bisschen wie der betagte Sean Connery. Aber keinesfalls wie George Clooney. Dafür war Mr. Stringer zu alt, zu korpulent und hatte Falten im Gesicht. Außerdem hatte George Clooney Haare.

Doch selbst, wenn Eddie sich getraut hätte, den Mund aufzumachen, hätte sein Chef ihn sowieso nicht zu Wort kommen lassen. Außer sich vor Entrüstung, machte Mr. Stringer seinem Unmut über die dreiste Bitte seines Untergebenen weiter lautstark Luft. »Hör zu, Eddie. Nichts gegen dich, okay? Versteh mich bitte nicht falsch. Du bist ein netter Kerl. Aber Nettsein bringt einen nicht weiter! Weiter bringen einen gute Verkaufszahlen! Denn gute Verkaufszahlen bringen gute Provisionen! Und gute Provisionen sorgen dafür, dass man mit seiner Alten nicht in einem verranzten Wohnwagen im Ghetto hausen muss!« Mr. Stringer hatte sich so in Rage geredet, dass seine kleinen braunen Frettchenaugen wie bemalte Gallertkugeln aus ihren fleischigen Höhlen quollen. Schnaubend griff er nach der Pillendose auf seinem Tisch, schüttete sich gierig ein halbes Dutzend in den Mund und spülte mit einem Schluck Diät-Cola nach, bevor er sich in seinem Chefsessel nach hinten sinken ließ und ein paarmal tief durchatmete, bemüht, sich zu beruhigen.

Als ihm das schließlich halbwegs gelungen war, fragte er sachlich: »Wie viele Wagen hast du diesen Monat verkauft, Eddie?«

Edward »Eddie« Blundt rutschte unruhig hin und her. Er kam sich vor wie ein Schüler, der vom Direktor zur Schnecke gemacht wird, weil er in der 7. Klasse immer noch nicht eins und eins zusammenzählen kann. Und nicht wie ein gestandener Mann von einundvierzig Jahren. Genau vor dieser Frage hatte er Angst gehabt.

»Drei«, entgegnete er kleinlaut.

»Drei«, wiederholte Mr. Stringer, trügerisch leise. »Ganz genau! Gottverfluchte drei! Und wie viele hat Rocky in den letzten vier Wochen an den Mann gebracht?« Statt auf Eddies Erwiderung zu warten, schaute er zu Rocky Hogan hinüber, der im Gegensatz zu Eddie sogar einen eigenen Schreibtisch im Ausstellungsraum von Stringer's Autoservice hatte: »Hey, Rocky, wie viele Karren hast du diesen Monat schon vertickt?«

»Sechsundzwanzig!«, gab Rocky nicht ohne Stolz zurück. »Und vier weitere sind so gut wie fix!«

»Sechs-und-zwanzig!«, wiederholte Mr. Stringer mit übertriebener Betonung. »Also, sag mir, Eddie: Warum, bei Gott und seinem Jesus-Söhnchen, sollte ich dir dasselbe Gehalt zahlen wie Rocky, der zehnmal so viele Autos verkauft wie du? Schon mal was von ›leistungsorientierter Vergütung‹ gehört? Das bedeutet, man wird für das bezahlt, was man leistet. Und machen wir uns nichts vor, Eddie, da ist bei dir noch verflucht viel Luft nach oben. Ehrlich gesagt, kannst du froh sein, dass ich dir dein gottverdammtes Gehalt nicht kürze! Du willst mehr Geld? Dann verdiene es dir! Da draußen stehen hundert verschissene Autos, die nur darauf warten, verkauft zu werden! Sieh zu, dass du deinen Umsatz bis Quartalsende mindestens verdreifachst! Denn falls nicht ...« Mr. Stringer seufzte theatralisch.

Eddie schluckte schwer. »Falls nicht ... feuern Sie mich?«

»Hochkant!«, bestätigte Mr. Stringer mit einem so nachdrücklichen Nicken, dass sein Doppelkinn Nachwuchs bekam. »Wie gesagt, ist nichts Persönliches. Aber in dieser Firma ist nun mal kein Platz für Loser.« Er schaute Eddie durchdringend an. »Und du bist doch kein Loser, oder?«

Eddie reagierte nicht. Er kauerte einfach nur auf der Stuhlkante und sah vor seinem geistigen Auge, wie auch das letzte klägliche bisschen, das von seinem Leben noch übrig war, mit Karacho den Bach runterging.

Zum millionsten Mal fragte er sich, wie es nur so weit kommen konnte.

»Bist du ein Loser, Eddie?«, wiederholte Mr. Stringer seine Frage.

»N-nein, Boss«, murmelte Eddie schließlich halbherzig.

Obwohl er sich in Wahrheit genauso fühlte: wie ein Loser.

Ja, mehr noch: Wie der größte Loser aller Zeiten.

Dabei hatten seine Lehrer an der Highschool ihm eine rosige berufliche Zukunft prophezeit. Vielleicht nicht unbedingt als Generaldirektor von General Motors, aber bei Costco oder SuperTarget hätte er es mit Sicherheit irgendwann zum Filialleiter gebracht. Oder zumindest zum Chef der Gemüseabteilung. Dort gab es sowas wie Mitarbeiterrabatte, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Zuzahlungen bei Zahnersatz.

Stattdessen versauerte er seit siebzehn Jahren in diesem Drecksladen, in dem man sogar sein Klopapier selbst mitbringen musste und drehte neunmalklugen Möchtegern-Autoschraubern, chronisch klammen Rentnern und gelangweilten Hausfrauen irgendwelche Schrottkarren an, bei denen sie froh sein konnten, wenn sie es damit ohne Panne nach Hause schafften. Früher hatte er deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch früher glaubte er auch noch daran, dass die Welt bloß auf einen tollen Hecht wie ihn wartete. Dass er ein Leben in Saus und Braus führen würde, mit jeder Menge Kohle, einer Garage voller protziger Schlitten und zehn heißen Fegern an jedem Finger.

Heute wusste er es besser.

Heute wusste er, dass die Welt nicht auf ihn wartete, und auch sonst niemand.

Und das ungeachtet all der Dinge, die Eddie den Menschen geben konnte.

Der Werbeslogan von Stringer's Autoservice lautete: »Wir machen Ihnen ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können.« Doch im Gegensatz zu seinem großen Vorbild, dem Paten Don Corleone, war es mit Mr. Stringers Geschäftstüchtigkeit, für die er sich gern und oft selbst lobte, in Wahrheit nicht allzu weit her. Eddie mochte vielleicht nicht der König der Gebrauchtwagenverkäufer sein, aber er hatte immerhin genug Ahnung von Wirtschaft, dass vieles in diesem Laden anders gelaufen wäre, wenn es nach ihm gegangen wäre.

Dummerweise tat es das aber nicht.

Bei Stringer's Autoservice ging es nicht nach Eddie.

Genaugenommen ging es nie nach Eddie.

Das war die bittere Wahrheit: Kein Mensch interessierte sich dafür, was er dachte. Seine Meinung war völlig irrelevant. So unbedeutend wie ein Fliegenschiss auf einer Weltkarte. Ja, mehr noch: Er selbst war so unbedeutend wie ein Fliegenschiss auf einer Weltkarte.

Dabei spürte Eddie instinktiv, dass er zu Größerem bestimmt war. Zu Höherem.

Das Schicksal hatte Pläne mit ihm. Das Dumme war nur, dass es sich verdammt viel Zeit damit ließ, ihm zu zeigen, was für Pläne das waren. Und mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass etwas geschah, wuchs in Eddie der Wunsch, dem Jammertal seines Daseins zu entfliehen. Einfach Schluss zu machen. Sich vor die nächstbeste U-Bahn zu werfen und das alles hinter sich zu lassen.

Er hatte genug von diesem Mist.

Genug von Mr. Stringer, der ihn wie einen absoluten Taugenichts behandelte.

Genug von Rocky, der immer in allem besser war als er.

Und vor allem: Genug von Wilma, seiner grässlichen, nörgelnden Ehefrau, die keine Gelegenheit ausließ, ihn daran zu erinnern, was für ein »gottverdammter, jämmerlicher Verlierer« er war, und dass sie ihre »besten Jahre an ihn vergeudet« hatte. Dass er der »größte Fehler« war, den sie je gemacht hatte, und er es »niemals zu etwas bringen« würde. Mittlerweile verfolgte ihn ihr Gekeife sogar bis in den Schlaf, egal, wie viele Dosen Bud er sich abends vor dem Fernseher hinter die Binde gekippt hatte, in der Hoffnung auf ein paar Stunden wundervolles, traumloses Vergessen.

Schon seltsam, wie sich manche Dinge ändern.

Damals, an der Highschool, war Wilma Christabel Shoemaker alles, was sich ein junger Bursche nur wünschen konnte: langes, wallendes, blondes Haar; große grüne Augen; eine Figur wie eine Eieruhr, sodass man unweigerlich die Hände zur Hilfe nehmen musste, um sie angemessen zu beschreiben. Außerdem war sie ein frühreifes, verdorbenes Früchtchen, das keine Gelegenheit ausließ, um all das zu tun, was ihre ultrakonservativen Eltern ihr unter Androhung des Fegefeuers verboten hatten. Einmal trieben sie und Eddie es nach der Sonntagsmesse sogar im Beichtstuhl der Calvary Baptist Church in Lexington, Kentucky, wo sie beide aufgewachsen waren.

Hölle und Teufel, Wilma war damals wahrlich kein Kind von Traurigkeit!

Doch diese Zeiten waren längst vorbei.

Als sie das letzte Mal nach allen Regeln der Kunst die Laken zerwühlt hatten, saß noch George W. Bush im Weißen Haus, und im Kino lief die erfolgreiche Twilight-Saga. Das war zwölf, dreizehn Jahre her. Schon eine ganze Weile, klar, aber Eddie kam es noch viel, viel länger vor. Das hatte etwas damit zu tun, dass man das Verstreichen der Zeit unterschiedlich wahrnimmt, je nachdem, wie gerade der Gemütszustand und die äußeren Einflüsse waren. Das wusste er aus einer dieser Wissenschaftssendungen im Fernsehen.

Hatte man Spaß an einer Sache, vergingen die Stunden wie im Flug. Legte man hingegen die Hand auf eine heiße Herdplatte, wurden fünf Sekunden zu einer Ewigkeit.

So alt, wie Eddie sich heute fühlte, konnte man gar nicht werden.

Trotzdem wusste er aus leidiger Erfahrung, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht war.

Es konnte immer noch schlimmer werden.

Und es würde noch schlimmer werden – viel schlimmer. Sobald er nach Hause kam, konnte er für nichts garantieren. Denn dann würde Wilma von ihm wissen wollen, ob er die Gehaltserhöhung gekriegt hatte, um die er überhaupt nur gebeten hatte, weil sie ihm wochenlang damit in den Ohren gelegen hatte, und er genau wusste, dass sie nicht eher Ruhe geben würde, bis sie ihren Willen bekam. Deshalb war er fast schon erleichtert, als Mr. Stringer schließlich mit einem resignierten Seufzen einen Blick auf seine protzige weißgoldene Armbanduhr warf und dieses Oh-schon-so-spät-Gesicht machte, das er immer dann aufsetzte, wenn ein Gespräch für ihn erledigt war.

»Gleich halb drei«, sagte er. »Ich muss los. Ich habe in einer Dreiviertelstunde einen wichtigen Termin und der Verkehr auf dem River Parkway ist um diese Zeit die Hölle. Außerdem macht Rocky heute früher Schluss – als kleines Dankeschön dafür, dass er diese Schrottlaube von einem Chrysler Sebring losgeworden ist, der schon seit einem halben Jahr auf dem Hof gestanden hat. Das bedeutet, du hältst hier heute für den Rest des Tages allein die Stellung.« Sein Boss zeigte mit seinem dicken Wurstfinger auf Eddie wie mit einer Pistole. »Ich gehe davon aus, das ist für dich okay?«

Das war zwar nicht wirklich eine Frage, aber Eddie ertappte sich dabei, wie er trotzdem lethargisch nickte, wie eine Marionette. Irgendwie kam es ihm so vor, als würde sein Gehirn bloß mit einem Bruchteil seiner üblichen Geschwindigkeit arbeiten.

Mr. Stringer grinste. »Dachte ich mir!« Sein arg strapazierter Sessel ächzte dankbar, als er seine hundertvierzig Kilo Lebendgewicht in die Höhe stemmte. »Also, dann, Eddie.« Er klopfte seinem Untergebenen gönnerhaft auf den Rücken. »Wir sehen uns morgen. Wäre schön, wenn ich dann ein paar Verträge auf meinem Schreibtisch vorfände. Denk daran: Die Uhr tickt!«

Eddie sah seinem Boss nach, als Mr. Stringer den Laden verließ und zu seinem schicken Mercedes-Coupé ging, das draußen auf dem Hof parkte. Als sein Blick dabei zufällig auf Rocky fiel, setzte sein Kollege sein strahlend weißes Zahnbleaching-Lächeln auf und machte höhnisch: »Tick-tick! Tick-tick! Tick-tick!«

Eddie hätte ihm sein selbstgefälliges Grinsen am liebsten aus der Visage geprügelt. Stattdessen fügte er sich in sein Schicksal und tat das, was er am besten konnte: Sich in Selbstmitleid suhlen und darauf zu warten, dass das Schicksal ihm endlich zu verstehen gab, was zur Hölle es für ihn in petto hatte.

Stringer's AutoserviceNew York City, 24. Februar, 18:15 Uhr

Als Eddie um Viertel nach sechs in seinen verbeulten alten Ford Mondeo stieg und vom Parkplatz des Autohauses fuhr, um sich auf den Heimweg zu machen, hatte sich das Schicksal noch immer nicht gemeldet. Und natürlich hatte er nicht das Geringste vorzuweisen, weder irgendwelche Verkäufe für Mr. Stringer noch die verdammte Gehaltserhöhung.

Nicht, dass er etwas anderes erwartet hätte. Vermutlich hatte Fortuna ihn längst abgeschrieben, genau wie der Rest der Welt. Vielleicht sollte er sich einfach damit abfinden, dass alle anderen recht hatten: Er war ein Verlierer. Ein unbedeutender Niemand. Und nichts würde daran jemals etwas ändern.

Als Eddie kurz darauf an einer Ampel hielt, sah er, wie auf dem Bordstein ein alter Mann in einem zerlumpten Trenchcoat einen Kinderwagen voller Blechdosen vor sich herschob und dabei zahnlos wirres Zeug vor sich hin brabbelte. Bei diesem Anblick kam ihm unwillkürlich der Gedanke, dass das ebenso gut auch er selbst sein konnte. Früher hätte ihn diese Aussicht mit nacktem Entsetzen erfüllt, doch mittlerweile war da bloß noch abgestumpfte Resignation. Der Kerl mochte vielleicht noch weniger Geld in der Tasche haben als er und sich von dem ernähren, was andere in den Müll warfen, doch zumindest wartete in seinem Pappkarton garantiert keine keifende Ehefrau auf ihn. Abgesehen davon: Wenn man sich erstmal damit abgefunden hatte, unter einer Brücke zu leben, ohne sich vorher einen Strick zu nehmen, hatte man das Schlimmste bereits hinter sich, fand Eddie. Dann hatte man sich dafür entschieden, weiterzumachen, egal wie.

Er indes war sich nicht sicher, ob seine Entscheidung genauso ausfallen würde. Im Gegenteil: Je weiter er sich seinem Zuhause näherte, desto verführerischer wurde die Aussicht auf den süßen, ewigwährenden Frieden. Und es war so schrecklich einfach: Alles, was er tun musste, war, das Gaspedal bis zum Anschlag durchzutreten und den Wagen auf eine Mauer zu lenken.

Krach, Knirsch, aus die Maus ...

Doch er tat es nicht. Denn er war nicht bloß ein elender Verlierer, sondern er konnte es nicht, er hatte Angst.

Er fühlte sich zu ausgebrannt, um seinem Elend ein Ende zu machen, und zu mutlos, um selbst etwas daran zu ändern.

Und so tat er genau dasselbe wie die letzten siebzehn Jahre: Er fuhr nach Hause.

Wenn auch sehr, sehr langsam.

Es dauerte fast eine Dreiviertelstunde, bis er schließlich die Lebanon Street im Westen der Bronx erreichte, eine heruntergekommene Wohnstraße, die zwischen dem Bronx River Parkway und den Gleisen der White Plains Road Line eingekeilt lag, über die Tag und Nacht meilenlange Güterzüge donnerten, sodass man ständig das Gefühl hatte, das Viertel würde von einem Erdbeben heimgesucht. Doch so verfallen viele der Häuserblocks mit ihren halbblinden Fenstern und den abblätternden Fassaden auch waren, verglichen mit der Absteige, die er sein Zuhause nannte, waren sie um einiges besser. Er wohnte nämlich in keinem gewöhnlichen Haus, sondern in einem einfachen Wohntrailer.

Der Trailer hatte früher mal als mobiles Büro irgendeines Bauunternehmens gedient, das während der große Finanzkrise 2007/2008 pleite gegangen war. Eddie hatte damals gerade bei Stringer's Autoservice angefangen. Nachdem er zuvor jahrelang bei McDonald's und als Ausfahrer für Domino's Pizza gejobbt hatte, kam ihm die neue Stelle wie ein Sechser im Lotto vor. Er war sich sicher, dass er es in der Firma sehr schnell sehr weit bringen würde, deshalb fand er es nicht schlimm, aus der 3-Zimmer-Wohnung in Queens, in der sie damals lebten, zur Miete in den Trailer zu ziehen, der zusammen mit einem Dutzend anderer, nicht minder schäbiger Wohnwagen und Mobilheime auf einem unkrautüberwucherten Platz direkt unter der Hochbahn stand. Schließlich würde es ja nur »vorübergehend« sein.

Wie man sich irren kann.

»Trautes Heim, Glück allein«, murmelte Eddie missmutig, als er den Ford neben der rostigen Wellblechveranda parkte. Ein Stückchen weiter stand ein quietschgelber, aufblasbarer Kinderpool, den einer seiner Nachbarn vor Jahren dort für seine Kids aufgestellt hatte. Die Familie war schon vor einer Ewigkeit weggezogen, doch der Pool war noch da. Mittlerweile war das Wasser grün und schleimig, und eine tote Ratte schwamm darin, aber niemand fühlte sich dafür zuständig, das Planschbecken zu entsorgen. Überhaupt kümmerte sich hier keiner um irgendetwas außer um seinen eigenen Kram. Selbst wenn Schüsse fielen – was in dieser Gegend relativ häufig vorkam −, taten alle so, als litten sie an zeitweiliger Taubheit, so wie diese drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Wenn man in der Bronx überleben wollte, war das die beste Strategie.

Eddie blieb noch einen Moment bei laufendem Motor hinter dem Lenkrad sitzen und wappnete sich mental für das, was jetzt kommen würde. Dann atmete er tief durch, seufzte schwer, stieg aus dem Auto und war schließlich nur noch ein paar Schritte von der Tür entfernt, als sie auch schon schwungvoll aufgerissen wurde und Wilma im Rahmen auftauchte. Sie trug ihren fadenscheinigen, ehemals roten Kimono, der alle Mühe hatte, ihre durch zu viel Fastfood und Schokolade merklich aus dem Leim gegangenen Rundungen zu zügeln, und rauchte mit zwei spitzen Fingern eine Zigarette. Sie hielt den Glimmstängel auf diese vornehme Art, die sie sich bei Downtown Abbey, Sex and the City oder einer anderen Fernsehserie abgeguckt hatte, die sie den ganzen Tag über schaute. Ihr Haar war zerwühlt und ihr Make-up verlaufen und verschmiert, so als wäre sie zu Bett gegangen, ohne sich abzuschminken, und gerade erst wieder aufgestanden. Dafür sprach auch das zerwühlte Bett hinter ihr und der Umstand, dass sie unter ihrem Kimono offensichtlich nichts weiter trug, als ein Paar billige, oberschenkelhohe Netzstrümpfe. Und sie hatte Parfüm auflegt, süßlich und schwer, fast so penetrant wie Frittenfett.

Eddie blieb abrupt stehen und blinzelte.

Sein verwirrter Verstand brauchte einige Sekunden, um eins und eins zusammenzuzählen.

»Hast du ...«, begann er. »Hattest du ...« Er schluckte. »Schon wieder?«

Wilma stieß eine Rauchwolke aus, gefolgt von einem bellenden, tiefen Raucherhusten. Dass sie ihn betrog, wusste er schon lange, aber mittlerweile machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, es vor ihm zu verheimlichen. »Na, irgendwo muss ich meineZärtlichkeit doch herkriegen, oder?«, spottete sie, schlug demonstrativ die bestrumpften Beine übereinander, und zog an ihrer Zigarette. »Du bringst es ja nicht mehr! Nicht mal mit einer ganzen Packung dieser kleinen blauen Pillen!«

Eddie starrte sie benommen an. Immer, wenn er sich überlegte, wie er ihr die Stirn bieten würde, wenn sie ihm mal wieder die Hölle heiß machte, fielen ihm tausend Erwiderungen ein, eine schlagfertiger als die andere. Doch wenn er dann vor ihr stand, so wie jetzt, konnte er bloß stammeln wie ein verfluchter Schwachkopf. Es war jedes Mal dasselbe.

»Also, ich ... Ich könnte! Wirklich!«, protestierte er schließlich kläglich. »Aber du willst ja nie!«

»Oh, ich will schon«, widersprach sie mit einem anzüglichen Grinsen. »Eigentlich ständig. Nur eben nicht mit dir!«Wieder eine Rauchwolke. »Was ich brauche, ist ein richtiger Mann, kein gottverdammter Jammerlappen, der im Leben nichts auf die Reihe bekommt! Himmel, bin ich froh, dass wir keine Kinder haben! Allein bei dem bloßen Gedanken daran, du könntest deine jämmerlichen Gene weitergeben und noch mehr solche armseligen Gestalten wie dich auf die Welt loslassen, könnte ich kotzen