Die unendliche Heilung - Aby Warburg - E-Book

Die unendliche Heilung E-Book

Aby Warburg

0,0
34,95 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwischen April 1921 und August 1924 war Aby Warburg, der geniale Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, Insasse im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, wohin er nach einem schweren psychotischen Zusammenbruch eingewiesen worden war – er hatte gedroht, sich und seine Familie umzubringen. Leiter der psychiatrischen Heilanstalt war Ludwig Binswanger, seinerseits bedeutender Psychiater, dessen Erkenntnisse den Zugang zur Geisteskrankheit tiefgreifend verändern sollten. Bislang war aus dieser Zeit nicht viel mehr allgemein bekannt, als dass Warburg vor seinen Mitpatienten den berühmten Vortrag über das Schlangenritual der Hopi-Indianer hielt. Tatsächlich hatte er während seiner Krankheit immer wieder Phasen von geistiger Klarheit und schöpferischer Produktivität. Binswangers Krankenberichte dokumentieren Wahnvorstellungen, Aggressivität gegen das Personal, Phobien und zwanghafte Hygienerituale. Warburg, der sich selbst als »unheilbar schizoid« einschätzte, wurde erst 1924 »zur Normalität beurlaubt«.

Die hochgelobte Edition der im Universitätsarchiv Tübingen verwahrten Krankengeschichte Aby Warburgs erfüllt ein lange gehegtes Desiderat der Warburg-Forschung. Mit der nun auch auf Deutsch vorliegenden, gegenüber der italienischen um wichtige Dokumente erweiterten Ausgabe kann endlich darangegangen werden, die »Leerstelle« zwischen Werk und Psyche Warburgs zu schließen, die von seinen Biographen wie etwa Ernst Gombrich geflissentlich verschwiegen wurde.

Der Band umfasst neben den Krankenakten von der Hand Ludwig Binswangers auch die autobiographischen Aufzeichnungen Warburgs aus jener Zeit, den Briefwechsel zwischen den beiden Persönlichkeiten, Wärterprotokolle sowie Aufzeichnungen und Briefe von Warburgs Assistenten Fritz Saxl. »Die unendliche Heilung« wird zum einmaligen Zeugnis der Begegnung zweier bedeutender intellektueller Protagonisten des 20. Jahrhunderts.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ludwig Binswanger

Aby Warburg

Die unendliche Heilung

Aby Warburgs Krankengeschichte

Herausgegeben von

Chantal Marazia und Davide Stimilli

diaphanes

1. Auflage

ISBN (ePub) 978-3-03734-601-3

ISBN (Mobipocket) 978-3-03734-602-0

© diaphanes, Zürich-Berlin 2007

www.diaphanes.net

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagabbildung: Aby Warburg um 1900. © Warburg Institute, London.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Davide Stimilli

Tinctura Warburgii

Editorische Notiz

Ludwig und Kurt Binswanger

Krankengeschichte Kreuzlingen 1921–1924

Aby Warburg

Briefe und Aufzeichnungen 1921–1924

Fritz Saxl

Kreuzlinger Aufzeichnungen 1922–1923

Ludwig Binswanger – Aby Warburg

Briefwechsel 1924–1929

Ludwig Binswanger

Korrespondenz zum Fall Aby Warburg 1923–1948

Anhang

Arnold Lienau

Krankengeschichte Hamburg 1918–1919

Frieda Hecht

Wärterprotokoll Jena 1920–1921

Beilagen zur Krankengeschichte Kreuzlingen

Frieda Hecht / Lydia Kräuter

Wärterhefte (Auszüge)

Chantal Marazia

Heil und Heilung

Personenverzeichnis

Abbildungsnachweise

Fußnoten

Davide Stimilli Tinctura Warburgii

On guérit comme on se console

La Bruyère

Als Emil Kraepelin, seinerzeit die höchste Autorität auf dem Gebiet der Psychiatrie, am 4. Februar 1923 in Kreuzlingen eintraf, war die Prognose für Aby Warburg nach wie vor »durchaus ungünstig«,1 wie bereits Professor Berger2 erklärt hatte, aus dessen Heilanstalt in Jena der Patient am 16. April 1921 in Ludwig Binswangers Klinik Bellevue überwiesen worden war.3 Im Fallbericht an den Kollegen hatte Berger die Möglichkeit »eine[r] Restitutio ad integrum bei dem 54jährigen Mann« ausgeschlossen, wenngleich »gewisse Remissionen« vorgekommen seien, und hatte es daher für das Beste befunden, sich eines unheilbaren Patienten zu entledigen, der mit seinem unablässigen Geschrei nur die Ruhe der anderen störte. Nachdem Warburg fast sechs Monate bei Binswanger unter Beobachtung gestanden hatte, schien dieser die Ansicht Bergers in toto übernommen zu haben, wiederholte er sie doch nahezu wörtlich in seiner Schilderung des Falles gegenüber Freud: »Ich glaube, daß im Laufe der Zeit die psychomotorische Erregung weiter langsam abnehmen, glaube aber nicht, daß eine Wiederherstellung des Zustandes quo ante der akuten Psychose und eine Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Tätigkeit möglich sein wird«, hob jedoch hervor: »Es ist jammerschade, daß er aus seinem riesigen Schatz an Kenntnissen und seiner immensen Bibliothek voraussichtlich nicht mehr wird schöpfen können«.4

Im Laufe der Zeit wird dieses klinische Bild lediglich minimale Veränderungen erfahren.5 Zwar faßt Binswanger, wie er am 10. März 1922 in einem Brief an Mary Warburg erklärt, angesichts des schrittweisen Erstarkens der Arbeitsfähigkeit Aby Warburgs »etwas Vertrauen […], daß er doch noch einmal zu einer systematischen Arbeit gebracht werden könnte«;6 andererseits ist er weiterhin davon überzeugt, daß »[b]ei der hochgradigen Störung, die die fonction du réel, um mit Janet zu reden, bei Prof.Warburg erfahren hat, […] jeder neue und plötzliche Zusammenstoß mit der Wirklichkeit jeweils wieder katastrophal« wirkt.7 Jeglicher Anflug einer Besserung kann demnach jäh und umso fataler wieder ins Gegenteil ausschlagen, und die optimistischen Äußerungen scheinen eher dazu angetan, die Angehörigen zu beruhigen, als daß der tatsächlichen Überzeugung des Arztes Ausdruck zu verleihen. So hatte Binswanger Anfang Dezember 1923 eine »Besserung« des Patienten konstatiert und ihn zu dem geplanten Vortrag über die Amerikareise nachgerade angeregt, in der Hoffnung, auf diese Weise »eine Ablenkung«8 bewirken zu können. Aber die Lage war schnell wieder umgeschlagen, und kaum eine Woche später plädierte Binswanger dafür, den vorgesehenen Besuch Fritz Saxls, der Warburg bei der Vorbereitung der Veranstaltung assistieren sollte, auf Ende Januar zu verschieben.9 Am 29. Januar jedoch erstattet sein Vetter und Mitarbeiter Kurt Binswanger – Ludwigs unheimliches alter ego10 – Heinrich Embden, dem Hausarzt der Familie Warburg, Bericht, daß der Patient immer noch eine »recht schlechte Phase« durchmache, und die Krankenakte rechtfertigt die vorsichtige Haltung der behandelnden Ärzte voll und ganz.11 Wohl aufgrund dieser neuerlichen Enttäuschung faßt die Familie auf dramatische Weise und ohne Wissen Binswangers den Entschluß, sich an Kraepelin zu wenden. Zwei Tage später, am 1. Februar, erteilt Binswanger in einem Brief an den Bruder Max Warburg seine Einwilligung, Aby Warburg von Kraepelin untersuchen zu lassen. Die Konsultation erfolgte somit auf Bitten der Familie und nicht, wie behauptet wurde, auf Anfrage Binswangers.12 Den endgültigen Beweis, sollte es dessen bedürfen, liefert ein weiterer Brief an Freud, der eine bislang unbeachtete Anspielung auf Warburg enthält. Dieser Brief verrät die Unsicherheit Binswangers, aber auch dessen Ambivalenz gegenüber dem Patienten,13 und er wirft ein überaus interessantes Licht auf diesen kritischen Moment in Warburgs Krankengeschichte. Binswanger schreibt, er habe Anfang des Jahres geträumt, Freud zu einer Konsultation gebeten zu haben: »Der fromme Wunsch fand aber beim Erwachen in der Realität nur einen zureichenden Grund, nämlich den, daß der betreffende Patient sich durch eine große Valutastärke auswies, während aber leider die übrigen Bedingungen (Alter, Art der Psychose) fehlten.« Jedoch sollte die Wirklichkeit sich zu seinem Traum »um so grotesker« einstellen, fährt Binswanger fort, »als die Familie, wie ich heute [d.h. am 31. Januar, auf den der Brief datiert ist] hörte, Kraepelin, der gegenwärtig in der Schweiz weilt, gebeten hat, den Kranken anzusehen«.14 Anstatt der gütigen Vaterfigur Freud der Rivale Kraepelin, für den Binswanger damals zwar Ehrerbietung, aber doch eindeutig keine sonderliche Sympathie hegte. Binswangers Wunsch wird sich später auf triumphale Weise, wenngleich zweifellos verspätet,15 erfüllen, als er in seiner Eigenschaft als Präsident des Schweizerischen Vereins für Psychiatrie die Wahl Freuds zum Ehrenmitglied wird vorschlagen können, und zwar gerade als Ersatz für den soeben (am 7. Oktober 1926) verstorbenen Kraepelin.16

Als Kraepelin seinen Auftritt hat, weilt Aby Warburg also bereits seit fast zwei Jahren in der Klinik Bellevue in Behandlung, zwischen Höhen und Tiefen. Seine Situation erschien jedoch seit November 1918, als er gedroht hatte, seine Familie und sich selbst mit einem Revolver zu töten, ausweglos, so daß man angesichts einer Abwesenheit, »deren Dauer noch nicht abzusehen ist«, Vorkehrungen hinsichtlich der Bibliothek treffen zu müssen glaubte.17 Daß man sich in dieser heiklen Lage an Kraepelin wandte, war nicht nur dessen internationalem Ruf geschuldet, sondern hatte obendrein eine kontingentere Ursache in dessen jüngstem Behandlungserfolg bei einem Mitglied der Familie: Schließlich hatte er James Loeb, den Schwager von Abys Bruder Paul Warburg, von seinen epileptischen Anfällen befreit,18 woraufhin Loeb Kraepelins Förderer wurde19 (wenngleich ein anderer Bruder Abys, Fritz, Kraepelin beschuldigen wird, Loebs Verstand vernebelt zu haben).20

Insofern er auf Veranlassung der Familie geschah, kommt der Auftritt Kraepelins unzweifelhaft einer jedenfalls zeitweiligen Mißtrauenserklärung gegenüber den von Binswanger angewandten Methoden gleich. Bis zu jenem Zeitpunkt lautete die Diagnose unanfechtbar auf Schizophrenie, ein Etikett, das man Warburg in der Krankenakte bei seiner Ankunft in Kreuzlingen verliehen hatte.21 Kraepelins Diagnose indes lautet auf »manisch-depressiven Mischzustand«, und seine Prognose, die diejenige Bergers buchstäblich ins Gegenteil verkehrt und geradezu als deren bewußte Parodie verstanden werden könnte, läßt endlich einen Lichtstrahl in die camera obscura von Warburgs Zukunft fallen: »Prognose entsprechend, durchaus günstig«, auch wenn eine sofortige Entlassung nicht angeraten wird, »gerade weil es sich um einen akuten Fall handelt, und die Entlassung den Heilungsprozeß nur verzögert«.22 Der Unterschied ist wesentlich, wenn man bedenkt, daß Bleuler die Bezeichnung Schizophrenie vorgesehen hatte, um jene Gruppe von Geisteskrankheiten zu bezeichnen, »die bald chronisch, bald in Schüben verläuft, in jedem Stadium Halt machen oder zurückgehen kann, aber wohl keine voll Restitutio ad integrum erlaubt«.23 Kraepelin war somit der erste, der Warburgs Zustand nicht als unumkehrbar ansehen wollte.

Binswanger teilt Embden bereits am 5. Februar die neue Diagnose mit und verleiht zugleich äußerst diplomatisch seiner Mißbilligung Ausdruck:

»Sie können sich denken, daß auch uns dieses Votum außerordentlich wertvoll und interessant war. Wenn ich natürlich den Bleulerschüler in mir nicht verleugnen kann und an meiner Diagnose festhalte, so lasse ich mich doch gern durch Kraepelins klinischen Weitblick hinsichtlich der Prognose beeinflussen. Ich habe, schon als ich ihm über den Fall referierte, die manische Komponente hervorgehoben und nach der Prognose gefragt erklärt, daß ich eine weitere Besserung für sehr wahrscheinlich hielte aber nicht wußte, ob der Patient eine völlige Genesung noch erleben könnte. Nun scheint Kraepelin aber hinsichtlich des Tempos des Abklingens der gegenwärtigen Erregung optimistischer zu sein, ohne daß er sich aber auf eine bestimmte Zeit festgelegt hat. Auf Grund Kraepelins klinischen Anschauungen verstehe ich auch seine Diagnose sehr gut. Was wir im übrigen als schizoide Konstitution bei unserem Patienten hervorgehoben haben, nennt er Zwangsneurose.«24

Als Berger Kenntnis von Kraepelins Diagnose erhalten hatte, brachte er seine Skepsis, ob »man derartige Fälle wirklich in den großen Topf des manisch-depressiven Irreseins werfen kann«,25 weitaus offener zum Ausdruck. Was ihn selbst anging, so scheint Warburg trotz des für ihn günstigen Orakelspruchs die persönliche Haltung Kraepelins ihm gegenüber nicht sonderlich geschätzt zu haben. Anläßlich des erst kurze Zeit zurückliegenden Todes Kraepelins wird Warburg in einem Brief vom 16. Dezember 1926 die von Binswanger geäußerte Bewunderung für den herausragenden Gelehrten teilen, jedoch ohne seine – hier hyperbolisch ausgedrückte – Ironie hinsichtlich des »Zugriffs« zurückhalten zu können, den dieser bei der Behandlung der Patienten an den Tag gelegt habe und den Warburg als »von obotritenhafter Derbheit« qualifiziert.26 Und gewiß wird Warburg es überraschend gefunden haben, auch ohne offenen Einwand zu erheben, daß Binswanger, vielleicht zum ersten Mal öffentlich,27 sein berühmtestes Motto gerade auf Kraepelin angewandt zitierte: »Ich kenne wenige, für die das witzig-ernste Wort eines meiner Freunde mehr gilt als für ihn, das Wort: ›Der liebe Gott steckt im Detail.‹«!28

Jahre später scheinen die Einwände und Zweifel Binswangers verschwunden zu sein, und Warburgs Heilung, deren Unumkehrbarkeit der Tod endgültig erwies, scheint in seinen Augen die Richtigkeit von Kraepelins Verdikt bestätigt zu haben. In seiner Diskussion des Falles Ellen West enthüllt Binswanger implizit (eine weitere Anspielung auf seinen berühmten Patienten, die bis jetzt nicht bemerkt wurde), daß es sich um eine Verwandte Warburgs handelte, der befallen war von einem

»5 Jahre dauernde[n] manisch-depressive[n] Mischzustand mit Ausgang in völlige Heilung, der, von anderer Seite als präseniler Beeinträchtigungswahn29 gedeutet und mir selbst lange Zeit als schizophrenieverdächtig erscheinend, von Kraepelin mit Recht als manisch-depressiver Mischzustand erkannt wurde.«30

Und im Vorwort zu Melancholie und Manie wird Binswanger bezüglich des »manisch-depressiven Irreseins« die »in meinen Augen auch heute noch unerschüttert dastehende Begriffsbestimmung und Darstellung Kraepelins« hervorheben.31 Ironischerweise wird Binswanger just zum hundertsten Geburtstag Kraepelins im Jahr 1956 die Goldene Kraepelin-Medaille erhalten, die höchste internationale Ehrenauszeichnung im Feld der Psychiatrie, die wiederum James Loeb als monumentum aere perennius für seinen Wohltäter ins Leben gerufen hatte.32

Bevor Loeb sich in Kraepelins Behandlung begab, war auch er Patient in Jena gewesen, allerdings bei Otto Binswanger, dem Onkel Ludwig Binswangers, der auch Aby Warburgs Bruder Fritz behandelt hatte. Was vielleicht noch bedeutsamer ist: In derselben psychiatrischen Klinik war einst Nietzsche in Behandlung,33 ein Umstand, den Warburg kaum ignorieren konnte. Ludwig Binswanger selbst war dort 1907 bis 1908 Assistent, nachdem er ein Jahr als Assistent Bleulers und Doktorand von Carl Gustav Jung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich verbracht hatte. Im Nachruf auf seinen Vorgänger34 hebt Berger hervor, wie Otto Binswanger nach anfänglicher Skepsis gegenüber der Kraepelinschen Auffassung der Dementia praecox (eine Skepsis, die übrigens ein Großteil der Psychiater seiner Generation teilte) allmählich von der Richtigkeit der Theorie überzeugt wurde und »Kraepelins große Verdienste um die klinische Psychiatrie rückhaltlos anerkannte«;35 ein analoger Verlauf wie eine Generation später bei seinem Neffen. Nach seiner Pensionierung im Jahre 1919 siedelte Otto Binswanger nach Kreuzlingen über und betätigte sich als Ratgeber des noch jungen und unerfahrenen Ludwig, wie auch noch, jedenfalls zu Beginn, im Fall Warburg. Die Ursache der Feindseligkeit Warburgs ihm gegenüber, die ihn dazu bewog, den Bruder Max dazu aufzufordern, sich dafür einzusetzen, daß ihm jeglicher Kontakt mit dem gealterten Psychiater erspart bleibe,36 lag vielleicht an Otto Binswangers impliziter Mittäterschaft am unglücklichen Ende des Falles Nietzsche. Denn unzweifelhaft empfand Warburg, wie einige Anzeichen in den hier veröffentlichten Dokumenten vermuten lassen, seinen Abstieg in das »Inferno zu Kreuzlingen«37 als Wiederholung jener noch frischen Tragödie und befürchtete, das Schicksal des Philosophen – dem er nicht zufällig eines seiner ersten Seminare nach seiner Rückkehr nach Hamburg widmen würde – bis ins Letzte zu teilen.38 So geriet Warburg wegen des Vorschlags von Hans Berger, seine Frau möge über Naumburg nach Hamburg zurückfahren, in Unruhe39 und glaubte, ihm würde, genau wie Nietzsche, eine progressive Paralyse diagnostiziert.40 Wie Carl Georg Heise bezeugt, begleitete ein Porträt des kranken Nietzsche von Hans Olde, das »blicknah in seinem Zimmer« hing, seine letzten Lebensjahre, jene fruchtbare Periode, die Warburg als seine »Heuernte bei Gewitter« bezeichnen wird:41

»›Sehen Sie‹, sagte er, ›dieses bescheidene, ein wenig ängstlich gezeichnete Blatt ist künstlerisch vielleicht weniger bedeutend als die danach virtuos umgearbeitete bekannte Radierung, doch nur diese Zeichnung ist ein Dokument – ich weiß, was ich sage.‹«42

Die Kohlezeichnung, die Henry van de Velde so sehr beeindruckte, als er sie im Hauptsaal des Nietzsche-Archivs sah, wo sie seit 1900 hing,43 behebt insbesondere jenen Mangel, den Fritz Schumacher, der befreundete Architekt und Urheber der Inschrift ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ über dem Eingang der Bibliothek Warburg,44 als eine Unzulänglichkeit von Oldes Radierung angemerkt hatte, nämlich das Fehlen der Hände Nietzsches, »die wie beseelte Wesen wirkten«;45 oder vielleicht ist es gerade die Darstellung des Fensters, welches für den Blick den letzten Horizont wenigstens erahnen läßt,46 das der Zeichnung in den Augen Warburgs ihren dokumentarischen Wert verleiht. Wie auch immer, es ist unverkennbar, daß er sich mit dem Philosophen, der die Frage nach dem »Verhältniss von Gesundheit und Philosophie« so dringlich gestellt hat, identifiziert: »Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen«, hatte Nietzsche in der »Vorrede« zu Die fröhliche Wissenschaft geschrieben, »und für den Fall, daß er selber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit«.47 Sicherlich wird Warburg aus jener Lehre Gewinn ziehen, die Nietzsche in eben diesem Text in die Form des Apologs kleidete:

»›Ist es wahr, daß der liebe Gott überall zugegen ist?‹ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: ›aber ich finde das unanständig‹ – ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.«48

»Der liebe Gott steckt im Detail«, wird Warburg dem kleinen Mädchen antworten, eine Antwort, die zugleich in verschleierter Form sowohl das ehrende Angedenken als auch den warnenden Hinweis auf Nietzsche enthält.

Über seine theoretischen Errungenschaften und therapeutischen Erfolge hinaus gebührt Kraepelin auch das Verdienst, daß er während der Zeit, als er in Heidelberg lehrte,49 jene Sammlung der Kunstwerke Geisteskranker initiierte, die heute als Sammlung Prinzhorn berühmt geworden ist und den Namen dessen trägt, der sie in eine systematische Sammlung überführte. Auf der Rückkehr vom Sechsten Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Den Haag hatte Binswanger Hans Prinzhorn am 13. September 1920 kennengelernt, dessen Sammlung besichtigt und einen »überwältigenden Eindruck« davon zurückbehalten, wie er in einer Tagebuchnotiz vermerkt.50 Ein Jahr später empfahl Binswanger in einem Brief Freud den jungen Gelehrten, den er in der Zwischenzeit bei wiederholten Besuchen in Kreuzlingen näher hatte kennenlernen können, und beschrieb ihn folgendermaßen: »ein frischer, von keinen Vorurteilen beschwerter, sehr aufnahmefähiger, wenn auch wohl nicht sehr tiefer Kopf, Künstlernatur von starkem Selbständigkeitsdrang und großer Opposition gegen alle Autorität«.51 Bald darauf, am 12. Oktober 1921, hielt Prinzhorn einen Vortrag vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, den Freud als »recht interessant« einschätzte, wenngleich der Redner »sich freilich von der Analyse ferngehalten« hatte, und er beschrieb den persönlichen Eindruck, der ihm geblieben war, als »gut«.52 In demselben Brief, in dem er Binswanger von Prinzhorns Besuch berichtet, bat Freud um Mitteilung über Warburgs Zustand. Vielleicht ist es nur ein Zufall, aber womöglich war es ja gerade Prinzhorn, der Freud über Warburgs Aufenthalt in Kreuzlingen in Kenntnis setzte, hatte er ihn doch soeben kennengelernt und sich mit ihm, wie die Krankenakte festhält, »sich sehr eingehend und sachlich über Symbolik« unterhalten.53 Sein Besuch bei Warburg am 17. August 1921 erfolgte gewiß nicht überraschend, sondern wahrscheinlich gemäß dem Kalkül Binswangers, der, um positive Effekte zu zeitigen, der erprobten Strategie folgte, den Patienten in eine Diskussion über ihm naheliegende Themen einzubinden.

Seither scheint Warburg eine gewisse Zuneigung zu Prinzhorn gefaßt zu haben, die auch in seiner Bewunderung für »das kluge Buch« über Nietzsche, Nietzsche und dasXX. Jahrhundert,54 zum Ausdruck kommt. Als ihm am 10. August 1922 der Band Bildnerei der Geisteskranken55 in die Hände fällt, sehr wahrscheinlich auch in diesem Falle dank Binswangers Vermittlung, blättert Warburg es »mit großem Interesse« durch, doch wird er rückblickend den Schluß ziehen, das Buch »sei extra für ihn gemacht worden«.56 Und es ist kaum denkbar, daß einer der ersten Sätze des Buches, der ein unerbittliches Verdikt über Patienten in seiner Lage fällt, ihn nicht erregt haben sollte: »Es handelt sich fast ausschließlich um Arbeiten von Anstaltinsassen, also von Menschen, an deren Geisteskrankheit kein Zweifel möglich ist«.57

In einer späten Schrift, Drei Formen mißglückten Daseins, unterbreitet Binswanger eine Definition von Heilung, die paradoxerweise die Definition eines künstlerischen Stils paraphrasiert, nämlich des Manierismus, wie sie im Essay »Zur Physiognomik des Manierismus« von Wilhelm Pinder steht58 (erschienen in der Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Ludwig Klages, die wiederum Prinzhorn, sein glühender Bewunderer, zusammengestellt hatte). Auch im Falle der Heilung, bemerkt Binswanger, »besteht die Schicksalsfrage darin, ob es, um mit Pinder zu sprechen, gelingt, die ›kranke Lebenssphäre‹ zum ›Gegenstand‹ zu machen, m. a. W. die kranke Individualität dahin zu bringen, daß sie die ›kranke Lebenssphäre‹ ›durchschaut‹. In der Psychiatrie sprechen wir dann von Krankheiteinsicht, und wenn sie durchbricht, sehen wir den Kranken als ›gerettet‹ an.«59

Dies impliziert, daß der Arzt sich jene auktoriale Position anmaßt, von der allein aus gesehen nach Ansicht Pinders ein Don Quijote »mit der tiefen Sympathie des Geretteten« gesehen werden kann: »Er wurde überwunden, sobald er von einem wieder gesundenen Leben her gesehen werden konnte, gesehen und durchschaut«.60 Man darf bezweifeln, ob Warburg trotz seiner zunehmenden »Krankheiteinsicht« diesem Ideal der Überwindung je hat entsprechen können. Wahrscheinlich hätte er es auch nicht gewollt: hier war er ein getreuer Nietzsche-Schüler, denn nur im Moment des Todes kann Don Quijote – wenn überhaupt – »hellsichtig über sich selber« werden.61

Bevor Warburgs Rückkehr nach Hamburg endlich erfolgen konnte, mußte Kraepelin noch einmal nach Kreuzlingen zurückkehren. Die zweite Untersuchung findet am 9. April 1924 statt, einen Tag vor dem Besuch Ernst Cassirers, der nach Warburgs Bekunden eine ebenso wichtige Etappe seines Selbstbefreiungsprozesses darstellt wie der Vortrag über das Schlangenritual,62 und Kraepelin stellt bei dieser Gelegenheit eine weitere »Besserung« fest.63 Diese Kategorie wird freilich von Kraepelin und seinen Kollegen nicht im gewöhnlichen, rein deskriptiven Sinne verwendet: sie ist ein terminus technicus des psychiatrischen Vokabulars, den er gleichsam aus dem Nichts heraus prägte. In Kraepelins kanonischer Nosographie, wonach die unterschiedlichen Ausgänge das entscheidende Kriterium zur Klassifikation der Nervenkrankheiten darstellen – was unweigerlich an die Taxonomie möglicher Prozeßausgänge denken läßt, die der Maler Titorelli Josef K. schildert64 – ist »Besserung« gerade einer der möglichen Ausgänge (von immerhin neun),65 doch ihre scheinbare Gutartigkeit wird sofort durch ihr unheilvolles Synonym zunichte gemacht: »die ›Besserung‹ oder ›Heilung mit Defekt‹«.66 Und ebenso, wie »die scheinbare Freisprechung« und »die Verschleppung« – die Alternativen, die Titorelli K. in Aussicht stellt – per definitionem nie in »wirklichen Freisprechungen« münden und den Angeklagten somit dem unausweichlichen Todesurteil ausgesetzt lassen, ist auch die Heilung mit Defekt niemals eine Heilung tout court, sondern bleibt per definitionem unvollständig:

»Der Genesende denkt zwar der Form nach richtig und hat auch eine gewisse Einsicht in seine Krankheit, aber er ist nicht mehr derjenige, der er früher war; er hat einen Teil seiner Persönlichkeit eingebüßt. […] Die geistige Regsamkeit und Frische, die gemütliche Tiefe, die selbstständige Tatkraft sind unwiederbringlich verloren gegangen.«67

Bleuler wird ebenfalls die Ansicht vertreten, daß derjenige, »der sich außerhalb der Anstalt zu bewegen vermag, in gewissem Sinne geheilt ist«; aber:

»vom wissenschaftlichen Standpunkt aus darf man sie dann nicht geheilt nennen; denn ein klarer Begriff der Heilung verlangt eine Restitutio ad integrum respektive den status quo ante. […] Ich weiß wohl, daß die Heilungen einer Wunde eine Narbe hinterlassen, und daß man auch von einer geheilten Amputation spricht. Die Narbe, die die Funktion stört, rechnen wir aber als einen Defekt, und die ›geheilte Amputation‹ setzt einen Begriff voraus, den wir in der Psychopathologie als ›Heilung mit Defekt‹ besonders abgrenzen.«68

Absichtlich im Vagen belassen, wirkt der Ausdruck »Heilung mit Defekt« in einem Handbuch der Psychiatrie beinahe fehl am Platz, eher würde man ihn als poetische Kategorie einstufen wie die »Liebe mit Eifersucht« von Saba69 oder die »Furcht ohne Schuld« von Camoens: der Defekt ist der Schatten, welcher den entlassenen Patienten überallhin begleitet und seiner Rückkunft eine eher elegische denn epische Färbung verleiht. Auf eine solche Stimmung spielt Binswanger wohl an, wenn er dem genesenen Freund, der sich gerade zu Besuch in Rom aufhält, schreibt (wenngleich in schmeichelndem Ton), er wünsche sich, »mich in Ihrem Schatten sonnen« zu können, und betont: »diese Redewendung ist kein lapsus linguae!«70

Den von Freud so genannten »Resterscheinungen«71 zum Trotz ist es jedenfalls unbestreitbar, daß Warburgs Krankengeschichte ein glückliches Ende genommen hat und daß seine Heilung etwas wahrhaft Wunderbares an sich hatte, als hätte die Anrufung der Minerva Medica, die den großen Brief an Wilamowitz vom 23. April 1924 beschließt, tatsächlich die erhoffte Wirkung gehabt:

»Wenn Sie über Zeus sprechen, hochverehrter Herr Professor, will ich mir denken, daß Sie dabei auf dem Altar der Minerva Memor einen Ölzweig niederlegen, daß sie einen Perseus entsende, der den Gefesselten von Kreuzlingen befreit, damit er zuhause der Minerva Medica ein Dankopfer bringen darf.«72

Und Warburg wird den unheimlichen Aspekt seiner Rückkehr unterstreichen, indem er sich selbst als revenant bezeichnet.73 Deutlich ist in dem Briefwechsel, der sich zwischen Warburg und Binswanger nach der Rückkehr nach Hamburg entwickelt, Warburgs Dankbarkeit für die »Sympathie« herauszuhören, die der Arzt ihm jahrelang entgegenbrachte, und pflichtschuldig erkennt er dessen Anteil an seiner unverhofften »Beurlaubung zur Normalität« an. Ebenso deutlich verspürt man Binswangers Bewunderung für den ehemaligen Patienten, nun nicht mehr lediglich »zur Normalität beurlaubt«, sondern »endgültig entlassen«.74

Max Warburg billigt das Verdienst der Heilung »zum großen Teile nicht nur de[m] Arzt Binswanger, sondern de[m] Mensch[en] Binswanger und seine[r] Frau« zu, die Aby nachgerade »wieder ins Leben zurückführten«,75 und das »therapeutische Taktgefühl«, das Georges Didi-Huberman ihm zu Recht zuspricht, ist unabweisbar.76 Wie der erste Unterredner in Nietzsches Zwiegespräch hätte sich Warburg dennoch die berechtigte Frage stellen können:

A. »War ich krank? Bin ich genesen?

Und wer ist mein Arzt gewesen?

Wie vergaß ich alles das!«

Und wie der zweite hätte er dieses Vergessen als das sicherste Anzeichen der bereits erfolgten Heilung auslegen können:

B. »Jetzt erst glaub ich dich genesen:

Denn gesund ist, wer vergaß.«77

In der einzigen wahrhaftigen Biographie Warburgs, die uns übermittelt ist – die zwar unvollständig ist, aber in Ermangelung jener, die wiederholt von ihm wohl allzu nahestehenden Personen in Aussicht gestellt wurden, ist sie die einzige Schrift, in deren Zentrum tatsächlich die Persönlichkeit Aby Warburgs steht, und zwar nicht nur die intellektuelle – kritisiert Carl Georg Heise die in Bellevue praktizierten Methoden als »altmodisch«,78 was noch zwanzig Jahre nach der Entlassung des Patienten die vehemente Reaktion Binswangers provozierte.79 Freilich wird es nach der Lektüre der nun endlich in ihrer Gesamtheit vorgelegten Dokumente schwierig sein, die Einschätzung Heises nicht zu teilen:

»Er hat, wenn ich richtig sehe, nicht allzu viel unternommen, nur behutsam fördernd den Prozeß der Selbstheilung überwacht. Und er hat Recht behalten, wenn auch der Verlust an Kraft und Zeit (sechs volle Jahre) uns als übermäßig groß erscheinen will.«80

Als Max Warburg ihn 1934 fragt, ob es nicht hinsichtlich der möglichen Publikation einer Biographie etwas Interessantes in seinem Archiv gibt, spielt Binswanger die Bedeutung der in seinem Besitz befindlichen Dokumente herunter, behält sich jedoch das Recht vor, die Frage des Übergangs vom Wahn zum Werk (und umgekehrt) bei Gelegenheit anzugehen:

»Ich hatte mich selbst schon bei früheren Gelegenheiten gefragt, ob es von biographischem Interesse wäre, wenn auch der Psychiater über die Krankheit Ihres Bruders einmal das Wort ergriffe, zumal sich bei Ihrem Bruder sehr interessante Übergänge von seinen wissenschaftlichen Ansichten zu einzelnen Wahnideen aufzeigen lassen. Ich sagte mir aber immer, daß es wohl noch zu früh sei, daß Sie und Frau Mary selbst sich kaum entschließen könnten, auch die Zeit seiner Krankheit mit zu einer Biographie aufnehmen zu lassen.«81

Binswanger ist somit einerseits mitverantwortlich für die Verspätung, mit der diese Texte zur Veröffentlichung gelangen, andererseits war er selbst der erste, der ihre Bedeutung erkannte. Nun ist endlich der Moment gekommen, dem Leser zu gestatten, sich selbst ein Bild zu machen. Sensationelle Enthüllungen wird man sich zwar nicht erwarten dürfen, wohl aber die »Einsicht« in die Alltäglichkeit der Krankheit und in den kaum wahrnehmbaren Fortgang der Heilung. Abgesehen von dem Interesse, welche die Texte als einzigartiges Dokument einer außergewöhnlichen Arzt-Patienten-Beziehung selbstredend besitzen, ist ihre Publikation umso höher einzuschätzen, als wir in diesem Fall die seltene Gelegenheit haben, nach der »Krankengeschichte« auch die »Heilungsgeschichte« zu lesen und uns von der Triftigkeit der Einschätzung Freuds zu überzeugen, daß letztere nicht weniger interessant ist als erstere.82

Im sogenannten Theologisch-politischen Fragment, geschrieben inmitten jener Umwälzungen, die auf die »Vernichtungsnächte«83 des Ersten Weltkriegs folgten und Warburgs psychischen Zusammenbruch auslösten, schreibt Walter Benjamin, daß es ein »Ziel« gebe, dem »die Ordnung des Prophanen«, und mithin jedes menschliche Wesen als Teil der natürlichen Welt zustreben solle, ohne die Furcht, darin nicht sein »Ende«, sondern seinen »Untergang« zu finden und die darauffolgende »restitutio in integrum« – das heißt, »die Idee des Glücks«.84 Daß trotz des glücklichen Endes im Fall Warburg, dessen letzte, unverhofft in Freiheit verbrachten Jahre sicherlich die glücklichsten waren, sich dennoch nicht von einer restitutio ad integrum sprechen läßt, jedenfalls nicht auf physischer Ebene, erweist sich an einer Veränderung, von der in allen Zeugnissen übereinstimmend die Rede ist: die Beeinträchtigung seiner Stimme. Schon vor seiner Einlieferung waren Modifikationen festzustellen, wie Heise schreibt: »schrecklich war seine Stimme: heiser geschrien, bald sich grell überschlagend, bald zurücksinkend in ermattetes Geflüster«,85 und nach seiner Rückkehr war sie »(und blieb bis zuletzt) gebrochener als in alten Tagen«.86 Ausgerechnet anläßlich des Vortrags über das Schlangenritual hatte Binswanger, ungeachtet allen Lobs für die Dynamik der Präsentation, notiert, die Stimme sei »ruiniert und unklar« gewesen,87 wahrscheinlich wegen des exzessiven Schreiens in jener Zeit, auf das seiner Ansicht nach wohl auch der unangenehme hervortretende Leistenbruch zurückzuführen war.88

Und doch: uns wird überliefert, daß wenigstens in seinem letzten Lebensmoment Warburg die Stimme wiederfand. Gemäß der ersten Auflage der 1948 in New York veröffentlichten Erinnerungen Heises sind bei Warburgs Tod die beiden Frauen anwesend, die ihm in seinen letzten Jahren am teuersten waren: seine Frau Mary und Gertrud Bing, Mitarbeiterin des Instituts, die er erst nach seiner Rückkehr aus Kreuzlingen kennengelernt hatte. Nachdem seine Frau sich in ihr im obersten Stockwerk gelegenes Atelier zurückgezogen hat, unterhält Warburg sich gerade mit Gertrud Bing:

»Plötzlich wandte er sich zur Seite und rief mit einer Stimme, die überlaut und befehlend war wie in seinen besten Mannesjahren: Mary! – Und so eindringend hatte er dies letzte Wort seines Lebens hervorgestoßen, daß die Gattin, angstbeflügelt herbeigeeilt, noch rechtzeitig zur Stelle war, um ihn sterben zu sehen.«89

Mary Warburg, »die Mutter seiner drei Kinder«, und Gertrud Bing, »die Anima, die seinen befreiten Geist beglückt und verjüngt hatte«, sind bei ihm in seinem letzten Augenblick.

Es ist wahrscheinlich, daß Heise diese erste Version von Mary Warburg erzählt bekam, und daß Gertrud Bing diese später korrigierte, oder jedenfalls will er uns dies in der Einleitung zur 1959 in Hamburg publizierten zweiten Auflage glauben machen:90 dieses Mal hört Gertrud Bing von oben den Ruf »Aby!«, doch Warburg selbst verneint dies kategorisch. Trotzdem entschließt sich Gertrud Bing nachzufragen:

»Nein, Frau Warburg hatte nicht gerufen, doch hat sie mir später erzählt, sie habe ebenso deutlich den Ruf ›Mary!‹ vernommen, gleichfalls freilich von der Unwahrscheinlichkeit überzeugt.«91

Und »in der kurzen Zwischenzeit« war Warburg gestorben. In der zweiten Version seines Lebensendes stirbt Warburg somit allein, und die beiden Frauen finden nur noch seinen am Boden liegenden Leichnam.

Man kommt kaum umhin zu vermuten, daß dies, wie bei Conrads Marlow, eigentlich eine fromme Lüge gewesen ist, um die Wahrheit des »horror« zu verbergen und jenen »Schrei« in einen Namen, den Namen Mary zu verwandeln. Genau wie Bonconte bei Dante (Göttliche Komödie, Purg. V 101) endet Warburg »im Namen Marias«, mit einem impliziten Erlösungsversprechen, was das – ebenso unwahrscheinliche – Szenario seiner vermeintlichen Konversion aufscheinen läßt.92 Wir wissen nicht, ob Warburg ebenfalls das »volle Bewußtsein« besaß, das der sterbende Kurtz mit seinen letzten Worten zu übermitteln versuchte, als er »im Flüsterton einer Vision, einer Erscheinung zu[rief]«, »wenn der Ruf auch nicht lauter war als ein Hauch« [a cry that was no more than a breath].93 Gleichwohl maßt sich wie der Erzähler in Conrads Novelle auch Warburgs Biograph das Recht an, den Schrei in einen Namen zu verwandeln. Angesichts des Todes hören Heises Erinnerungen auf, eine verläßliche Quelle zu Warburgs Leben zu sein.

Heise ist sicherlich am glaubwürdigsten, wenn er am zurückhaltendsten ist. Mit dem Beiklang echter Rührung und außerordentlich wirkungsvoll berichtet er, wie eines abends im Hause Warburg sowohl die Mutter der Malerin Paula Modersohn als auch die Gräfin Kalckreuth, die Mutter des Dichters Wolf Graf Kalckreuth, zu Gast waren – beiden Müttern hatte das Los die »Ungeheuerlichkeit«94 zugemutet, die eigenen Kinder überleben zu müssen; den beiden jung Verstorbenen hatte Rilke die zwei Gedichte seines Requiems zugeeignet. Beide lassen sich dazu bewegen, die Verse zum Andenken ihrer Kinder vorzutragen. Aber während die Mutter Paula Modersohns einfach nur vorliest, rezitiert die Gräfin ohne Stocken aus dem Gedächtnis, »als handele es sich um eine Geisterbeschwörung«. Nach den beiden so unterschiedlichen Vorträgen war es

»so still im Raum, daß man ein Blatt hätte fallen hören können. Als dann Warburg die Spannung zu lösen verstand und, ohne jede Gewaltsamkeit, vom Persönlichen zum Dichterischen zurücklenkte, das Beispielhaft-Einmalige dieser Mütter-Lesung zwar würdigend, es aber aufs rechte Maß bringend, das hielt der Bedeutung der Dichtung fast die Waage.«

Heise zieht daraus einen allgemeinen Schluß zu Warburgs Verhältnis zum gesprochenen Wort, der es wert ist im Ganzen zitiert zu werden:

»Wo Warburg zugegen war, wurde fast immer das gesprochene Wort zum Ereignis, und menschliche Konstellationen, die ohne ihn kaum sich abgezeichnet haben würden, gediehen durch seine Gegenwart zu fruchtbarster Wirksamkeit.«95

Diese »Fahrt zu den Müttern«96 mag genügen, um uns davon zu überzeugen, daß Warburg bei Gelegenheit die rechten Worte auszusprechen wußte.

Wenn »die Krankheit, eine Überzeugung« ist, wie Zeno Cosini feststellt (und das Komma führt ein Element des Zauderns ein, das Svevo gewiß absichtlich gesetzt hat), dann ist es die Heilung ebenfalls und umso mehr. Jedenfalls scheint Warburg sein Entkommen aus der Unterwelt in dieser Weise verstanden zu haben. Schon in einem Brief vom 16. Juli 1921 spricht er von seinen Versuchen zur »Selbstbefreiung«; und drei Jahre später stellt er in einem Brief vom 16. April 1924 an den Bruder Max seine unmittelbar bevorstehende Heilung als eine Unternehmung vor, die eines Baron Münchhausen würdig ist:

»ich [bin] der felsenfesten Überzeugung, daß vom 21. April 1923 (Vortrag) bis zum Besuch von Cassirer am 10. April 1924 eine aufsteigende Eigenkraft zur Befreiung aus seelischer Gestörtheit vorliegt. Für mich ist die Beschäftigung mit meiner berufsmäßigen Forschung deutlich ein Symptom dafür, daß meine Natur sich noch einmal von selbst aus diesem Sumpf herausarbeiten will.«97

Seinem Hausarzt Heinrich Embden mag eine derartige Analyse hingegen wie ein weiteres Symptom von Warburgs Eigensinn erschienen sein. Schon 1906 hatte er ihm gegenüber einen Versuch der Selbstheilung als reinen »Talmud« getadelt.98 Doch es wäre ein Irrtum, Warburgs Fähigkeiten zu unterschätzen, selbst auf einem ihm scheinbar unbekannten Gebiet. Zumindest im Bereich der Pharmakologie scheint er klare Vorstellungen gehabt zu haben: »Symbol tut wohl« ist einer der Warburgismen, den sein Sohn Max uns überliefert hat.99 Dies ist das einzige pharmakon, das er sich selbst verschrieben hätte, doch scheint es weit wirksamer gewesen zu sein als das Opium und das Laudanum Kraepelins. Wenn man von der wundersamen Heilung Aby Warburgs gelesen hat, mag man zu dem Schluß kommen, daß er selbst vielleicht mehr noch als sein Namensvetter, der Mitte des 19. Jahrhunderts jene Tinctura Warburgii erfand,100 welche die viktorianischen Reisenden von Sir Richard Burton101 bis Francis Galton102 als bestes Heilmittel gegen die Malaria empfahlen, den bewundernden Ausruf von Shakespeares Romeo verdient: »O true apothecary!«

Aus dem Italienischen von Sabine Schulz

Editorische Notiz

Carl Georg Heise war es, der in seinen vor über 50 Jahren verfaßten Erinnerungen als erster es als »eines der dringendsten Erfordernisse einer definitiven Warburg-Biographie« bezeichnete, »die Krankheitsjahre auf das gründlichste zu erforschen, um so mehr, als dieser Kampf mit den heraufdrohenden Dämonen«, den Warburg aufgenommen hatte, »mit einem so vollständigen Siege, und zwar einem aus eigener Kraft, geendet hat, wie ihn gewiß nur wenige Menschen so vollständig und so folgenreich zu verzeichnen haben«.103 Nach dem Tode von Fritz Saxl war Gertrud Bing die Aufgabe zugefallen, solch eine »definitive Biographie« abzufassen – anders als dieser hatte sie Warburgs Kampf jedoch nicht unmittelbar miterlebt. Sie erhielt von der Familie und von Binswanger die Erlaubnis (die sie zweimal in Anspruch nahm), das in Kreuzlingen aufbewahrte Material einzusehen;104 doch welchen Gebrauch sie davon gemacht hätte, darüber können wir nur spekulieren. In seiner »intellektuellen Biographie« traf E. H. Gombrich die programmatische Entscheidung, über jene Jahre hinwegzugehen,105 wenngleich mit einer Ambivalenz, die von Edgar Wind zu Recht angeprangert wurde.106 Schließlich lieferte vor zwölf Jahren der Psychiater Karl Königseder eine knappe Rekonstruktion der Ereignisse auf Grundlage der in Tübingen aufbewahrten Akten, die deren direkte Kenntnis jedoch nicht ersetzen kann.107Dank der Großzügigkeit und des Weitblicks der Familien Warburg und Binswanger sind wir nun endlich in der Lage, dieses Material ohne Vermittlung zu lesen und es dem kritischen Blick zu unterwerfen, den es verdient. Das Hauptanliegen dieser Ausgabe ist es in der Tat, einen Beitrag zur genaueren Kenntnis und zum Studium dieses weitgehend unerforschten Zeitabschnitts im Leben Aby Warburgs zu leisten, und ihn nach so vielen Jahren immer noch im Dunkeln zu lassen, als läge etwas Uneingestehbares darin verborgen, wäre schuldhaft.

Die Akten zum Klinikaufenthalt Aby Warburgs in Kreuzlingen liegen unter der Signatur UAT 441/​3782 im Universitätsarchiv Tübingen verwahrt, dem sie nach Schließung der Heilanstalt »Bellevue« im Jahr 1980 zusammen mit dem gesamten Binswanger-Archiv von dessen Erben übergeben wurden. Die Krankenakte zerfällt in folgende Teile:

Schreiben von Aby Warburg an Prof.

Berger, 51 Bl., August 1920–März 1921.

Schreiben Dritter an Prof.

Berger, 51 Bl., August 1920–März 1921.

Die »eigentliche« Krankengeschichte, 36 Bl., April 1921–August 1924.

Wärterprotokolle aus Jena und Kreuzlingen, 3 Hefte, Oktober 1920– August 1924.

Briefe und Aufzeichnungen Aby Warburgs, 49 Bl., Mai 1921–Juli 1924.

Korrespondenz von Binswanger, 235 Bl., August 1920–Juli 1951.

Korrespondenz an Binswanger, 136 Bl., März 1921–August 1924.

Paßangelegenheiten Aby Warburg, 12 Bl., 1921

1923.

Dokumentation Aby Warburg (Zeitungsausschnitte, Broschüren, Photos) (1926

1966).

Die Krankengeschichte ist (bis auf wenige handschriftliche Anmerkungen, auf die in den Fußnoten hingewiesen wird) mit Schreibmaschine auf 8 Protokollbögen geschrieben. Der erste Bogen, ein vorgedrucktes Krankenblatt, enthält 11 lose Blätter. Die erste Seite dieses Krankenblattes verzeichnet Datum der Ankunft und der Entlassung, die Diagnose (zuerst Schizophrenie, mit Tinte geschrieben, dann eingeklammert und mit Bleistift zu manisch-depressiver Mischzustand korrigiert), Angaben zur Person und Anamnese der engsten Verwandten; auf der zweiten und dritten Seite finden sich die Daten zum körperlichen Befund vom 26. April 1921. Die ersten fünf losen Blätter sind Tabellen: die erste, unter der Überschrift Opiumkur vom 6. Februar 1923 bis 18. März 1923, verzeichnet die Menge der Opiumtropfen (mit Rhabarber vermischt), die dem Patienten in jener Zeit täglich zu verabreichen waren, die vier folgenden die Ergebnisse der Urinproben auf Zucker aus der Zeit zwischen 25. Februar 1921 und 29. Juli 1924. Zwei Blätter mit Instruktionen zur Tageseinteilung, entsprechend jener, die Kurt Binswanger am 13. Mai 1923 einführte; eine Liste mit »Speisen, die Herr Professor nicht ißt«. Es folgen drei Blätter mit einer genauen Beschreibung des Tagesablaufs, datiert auf Januar 1924. Die vorgenannten Blätter sind hier im Anhang unter der Überschrift »Beilagen zur Krankengeschichte Kreuzlingen« abgedruckt.108 Auf der vierten Seite des ersten Protokollbogens beginnt die eigentliche Krankengeschichte, und zwar mit Warburgs Ankunft in Kreuzlingen am 16. April 1921. In diese wiederum sind unter der Rubrik Zur Anamnese Auszüge aus Briefen Hans Bergers und Heinrich Embdens eingefügt, die wir hier ebenfalls im Anhang wiedergeben, ebenso die eigentliche Anamnese von Embden, geschrieben mit Tinte von seiner Hand auf zwei Protokollbögen,109 sowie Auszüge aus der Krankengeschichte von Arnold Lienau.110

Den Text einem einzigen Autor zuzuschreiben, sprich Ludwig Binswanger, wäre eine Vereinfachung, und nicht nur wegen der zahlreichen Auszüge: In Wirklichkeit ist die Krankengeschichte eine Gemeinschaftsarbeit, zu welcher außer Ludwig Binswanger vor allem auch sein Vetter Kurt beigetragen hat, dessen auktorialer Status ausdrücklich anerkannt wird. Doch gibt es zwei weitere, vielleicht entscheidende Quellen, die nur hin und wieder erwähnt werden, ohne daß ihnen die gebührende Autorität zugebilligt würde: die Wärterhefte aus der Jenaer und der Kreuzlinger Zeit, die von den Krankenschwestern Frieda Hecht und Lydia Kräuter geführt wurden.111 Im Radetzkymarsch erinnert Joseph Roth mit einer Mischung aus Nostalgie und Boshaftigkeit an »jene Anstalt am Bodensee, in der verwöhnte Irrsinnige aus reichen Häusern behutsam und kostspielig behandelt wurden und die Irrenwärter zärtlich waren wie Hebammen«.112 Der Scherz gewinnt im Fall Warburg eine weitere ironische Dimension, denn die Schwestern, die sich um ihn kümmern, sind die eigentlichen Hebammen seiner Krankengeschichte, und ihre maieutische Kunst verdient ohne jeden Zweifel die Anerkenntnis des Lesers. Die erste, Frieda Hecht, die Warburg von Jena nach Kreuzlingen gefolgt und von Hans Berger mit den besten Zeugnissen versehen war, fällt in Ungnade und wird am Ende eines sonderbaren Interessengerangels von Binswanger entlassen; die zweite, Lydia Kräuter, bleibt bis zuletzt Warburgs gutherzige und doch unheimliche »Schwexe«, wie er sie tituliert. Den beiden Frauen verdanken wir die gewissenhafte und detaillierte Aufzeichnung der Tage und der Aussprüche Warburgs, die sie Tag für Tag, von 7 Uhr morgens bis 10 Uhr abends registrieren – in drei Heften, die von der ersten bis zur letzten Seite dicht vollgeschrieben sind (UAT 441/​3782, II.4). Die (wenngleich in Auszügen erfolgte) Publikation dieser Zeugnisse gestattet dem Leser zu ermessen, wie weit das Ausarbeitungs- und Destillierungswerk der Ärzte deren dokumentarischen Wert bewahrt hat. Darüber hinaus wurden diese Quellen für die Zwecke dieser Ausgabe gebührend berücksichtigt, um Lücken zu füllen oder Informationen zu überprüfen.

Der folgende Abschnitt der Krankenakte versammelt Briefe und autobiographische Fragmente von Warburgs Hand aus der Zeit vom 27. Mai 1921 bis 16. April 1924, die im Universitätsarchiv Tübingen unter der Signatur UAT 441/​3782, II.5 liegen, bis auf zwei wichtige Briefe, die im Archiv des Warburg Institute verwahrt sind. Binswanger schreibt am 3. Mai 1921 an Mary Warburg, sie solle die Klagen ihres Ehemannes vor dem rechten Hintergrund betrachten, da »die Briefe ja immer nur einen Teil, und leider gerade den krankesten, seines Wesens widerspiegeln«.113 Dieses caveat Binswangers sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man die hier versammelten Briefe und Fragmente liest, aber ebenso sollte man sich um eine zumindest bifokale Sicht der Dinge bemühen, die nicht den Standpunkt des Arztes privilegiert und den des Patienten benachteiligt. Um unser Bild der Kreuzlinger Jahre zu vervollständigen, werden hier unter der Überschrift Kreuzlinger Aufzeichnungen außerdem einige Texte von Fritz Saxl publiziert, wahrscheinlich Briefauszüge oder Notizen, die er anläßlich seiner Besuche in Kreuzlingen führte. Später wurde von diesen kurzen Texten entweder von ihm selbst oder von Gertrud Bing eine maschinenschriftliche Kopie auf einem einzigen, beidseits beschriebenen Blatt angefertigt, das heute im Briefwechsel zwischen Saxl und Mary Warburg im Archiv des Warburg Institute aufbewahrt ist.114

Der hier ebenfalls veröffentlichte Briefwechsel zwischen Binswanger und Warburg nach dessen Rückkehr nach Hamburg schließlich ist das Zeugnis eines immer paritätischeren und vertrauensvolleren Verhältnisses, das man ohne zu übertreiben als Freundschaft bezeichnen darf. Eine detaillierte Beschreibung dieser Korrespondenz, die ebenfalls im Universitätsarchiv Tübingen, Signatur UAT 443/​31, liegt, hat Ulrich Raulff geliefert.115

Ergänzt wird die Korrespondenz von den Briefen und Postkarten Binswangers, die im Warburg Institute aufbewahrt sind, sowie von einem wichtigen Brief Warburgs, der in London als Kopie liegt, in Tübingen jedoch nicht vorhanden ist. Daran anschließend publizieren wir weitere Briefe zwischen Binswanger und verschiedenen Briefpartnern, die auf einzelne der hier dargestellten Sachverhalte ein eigenes Licht werfen.

Die vorliegende Ausgabe unterscheidet sich in Anordnung und Umfang wesentlich somit von der italienischen Ausgabe (Ludwig Binswanger – Aby Warburg, La guarigione infinita. Storia clinica di Aby Warburg, a cura di Davide Stimilli, Neri Pozza, Vicenza 2005), die zuerst, wenngleich als Übersetzung, einen Teil des hier veröffentlichen Materials bekannt gemacht hat und in der Zwischenzeit auch ins Französische übersetzt wurde (Ludwig Binswanger – Aby Warburg,La guérison infinie. Histoire clinique d’Aby Warburg, Rivages, Paris 2007).

Bei der Gestaltung des Textes waren folgende Prinzipien maßgebend: Die Rechtschreibung und Interpunktion wurden behutsam dem Stand der ›alten‹ Rechtschreibung angeglichen. Abkürzungen wurden – bis auf die im Druck üblichen – ausgeschrieben wiedergegeben. Wann immer über die Auflösung einer Abkürzung Zweifel bestanden, wurde der aufgelöste Teil in eckige Klammern gesetzt. Eingriffe der Herausgeber sind ebenfalls in eckige Klammern gesetzt. Offensichtliche Schreibfehler und Flüchtigkeiten wurden stillschweigend berichtigt. Unterstreichungen, Sperrdruck sowie Warburgs »Neologismen« werden durch Kursivdruck hervorgehoben. Patientennamen wurden grundsätzlich verschlüsselt. Die Schreibweise der Zeitangaben sowie des Datums wurden vereinheitlicht. Bei Abweichungen von diesen Richtlinien wird dies eigens in einer Fußnote vermerkt.

Unser Dank gilt John Prag und der Familie Warburg für die Erlaubnis zur Konsultation und sodann zur Veröffentlichung dieses wichtigen Dokuments, ebenso der Familie Binswanger, dem Leiter des Universitätsarchivs Tübingen, Michael Wischnath, und dem Direktor des Warburg Institute, Charles Hope. Für ihre großzügige Hilfsbereitschaft danken wir Claudia Wedepohl und Irmela Bauer-Klöden. Dank schulden wir auch dem Verlag, der das Erscheinen dieses Materials in seiner Ursprungssprache endlich möglich gemacht hat. Schließlich bedauern wir sehr, daß Gertrud Binswanger die Veröffentlichung dieser Ausgabe nicht mehr erleben konnte.

Davide Stimilli und Chantal Marazia

LUDWIG UND KURT BINSWANGER

KRANKENGESCHICHTE KREUZLINGEN 16. APRIL 1921–12. AUGUST 1924

Beginn der Krankengeschichte Aby Warburg, April 1921–August 1924

(vierte Seite des ersten Protokollbogens der Krankenakte).

1921116

16. April 1921

[Patient] kommt heute mit Prof.Berger,117 Schwester Frieda Hecht und einem Beamten des Bankhauses Warburg im Salonwagen in Konstanz an und fährt im Auto über die Grenze. Am 15. morgens in Jena abgefahren, nachdem er 1g Trional118 erhalten. Mußte mit Gewalt gezwungen werden, Kofferschlüssel herzugeben. Ist die ersten Stunden relativ ruhig; gegen Abend steigende Erregung, sodaß er, da er kein Medinal119 nimmt, Hyoscininjektion120 bekommt. In Stuttgart vorher so laut, daß Prof.Berger es für geraten hielt, namentlich unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen, ihn zur Ruhe zu bringen. Rief, wie auch an anderen Stationen, dauernd, man beginge den größten Justizmord an ihm, er sei ganz unschuldig, habe nie etwas getan, was unrecht war. In Konstanz wollte er nicht aus dem Eisenbahnwagen, nicht in das bereitstehende Auto, da er glaubte, ins Gefängnis und nicht ins Sanatorium gefahren zu werden.

Bei der Aufnahme sehr erregt, zieht Mantel nicht aus, setzt sich nicht nieder. Frägt immer wieder, ob er sich nicht in einem Gefängnis befinde. Glaubt, sein Gepäck sei ihm gestohlen worden, schimpft furchtbar auf seinen Beamten, auf Prof.Berger und die Schwester. Erzählt, er würde bald hingerichtet; das Werk, das er jetzt im Druck habe, würde eingestampft, da man ihn für einen Verbrecher hielte, man habe ihm Gift ins Essen und in die Koffer getan, daher wolle er selber beim Auspacken zugegen sein. Die wahnhaften Einfälle jagen sich. Ist in dauernder Gedankenunruhe, nur wenig zu fixieren, springt immer wieder zum Zimmer heraus. Mimik keineswegs so bekümmert, wie dem Inhalt der Gedanken entspräche, eher leer und etwas steif gespannt, Blick forschend, manchmal maliziöses oder ironisches Lächeln. Frägt sofort nach hundert Dingen, ob er die tun dürfe, beharrt aufs energischste auf seinen Wünschen, vergißt sie aber ziemlich bald wieder. Vor allem besorgt, daß er sein Zimmer zuschließen dürfe, »wenn man mir keine Schlüssel gibt, gehe ich wieder weg«, begnügt sich aber auch mit einem Riegel. Nimmt dann bald 4 Uhr Tee, ist aber ganzen Nachmittag in heller Aufregung, geht im ganzen Haus herum, auch in fremde Zimmer, spricht die Patienten an, sodaß die Klinken seiner Abteilungstüren weggenommen werden.

ZurAnamnese.121

[…]

(Über den Aufenthalt in Jena (Oktober 1919 bis 15. April 1921)122 vgl. die Aufzeichnungen der Schwester F. Hecht im beiliegenden Heft,123 über den Aufenthalt bei Dr.Lienau vgl. den Auszug aus dessen Krankengeschichte.124)

17. April 1921, Sonntag.125

Hat den Beamten der Firma Warburg derartig beschimpft, daß er völlig geknickt war. Nannte ihn Schuft, Verbrecher, undankbaren Gesellen, der alle Güte und Freundlichkeit, die er seit über 50 Jahren von der Familie Warburg genossen, mißbrauchte und alle Angehörigen der Familie Warburg umbringen half. (»Auf Befehl des Oberschuftes Berger«.)

Abschied von Prof.Berger und dem Begleiter macht ihm keinen Eindruck, schimpft und flucht dabei ohne Unterbrechung. Ging nachmittags mit Wärter und Schwester im Park spazieren, war schon von unten her durch die ganze Anstalt zu hören infolge seines lauten Sprechens. Wollte absolut in die Wohnung des Referenten;126 schickte ihm eines seiner Kinder, er solle doch zu ihm kommen, er sei der ärmste aller Menschen. Glaubt, daß seine Angehörigen in einzelnen der Villen gemartert würden und nach ihm riefen. Wollte auch in die einzelnen Häuser hineingehen.

18. April 1921

Nachts bis 0.30 und morgens von 4 Uhr sehr laut, darf allein schlafen; Schwester und Pfleger schlafen aber in demselben ihm zur Verfügung gestellten Flügel. – Da er sich in einem fort wäscht und ganzen Boden voll Wasser laufen läßt, wird ihm Waschtisch herausgenommen, sodaß er sich im anstoßenden Badezimmer waschen muß. Zugleich werden ihm alle Handtaschen und Kleider herausgenommen, die er nicht unbedingt braucht. Er behält aber 3 kleine Taschen, die er immer um sich haben will, mit Schreibzeug, Schriftstücken etc. Besondere Mühe macht das Abnehmen der Kofferschlüssel, aber auch alles andere erfolgt unter Protest und in Gegenwart mehrerer Pfleger. Ließ sich nur nach langem Zureden wiegen (117 Pfd. im Schlafrock). Hat die Mahlzeiten ziemlich pünktlich eingenommen, obwohl er von Anfang an erklärt hatte, es fiele ihm gar nicht ein, sie zu den hier üblichen Zeiten zu nehmen. Da im Urin etwas Zucker (0,6),127 werden Kohlehydrate etwas eingeschränkt, insbesondere Schokolade, die er massenhaft genoß, ganz verboten.

Bisher kein Schlafmittel, bis heute Abend 1g Veronal,128 was aber nur unter Zuziehung von 4 Wärtern mit teilweisem Halten nach vieler Mühe vom Arzt eingeflößt werden kann.

19. April 1921

Nacht auch heute weniger lang herumrumort; heute morgen etwas ruhiger. »Wer sind Sie eigentlich?« »Sie sind ein Dämon«. Betrachtet dann genau seinen Anzug und seine Stiefel, ist aber nicht zu einer geordneten Unterhaltung zu bewegen. Bei dem Versuch einer literarischen Ablenkung reagiert er mit den Worten: »Wie können Sie Ihre Handlungen mit Bildungsflitter bekleiden?« Verlangt wieder einen Anzug; bisher nur Pyjama, den er auch erhält. Tagsüber sehr laut, hört Hilferufe seiner Frau und seines Sohnes, die beide ermordet werden, singt laut unverständliche Worte. Nennt Schwester Du.

20. April 1921

Wenig geschlafen. Erst ruhig, als ihm um 1 Uhr Lampe weggenommen wird. Schimpft heute viel auf Dr.Embden,129 der ihn in diese Räuberhöhle gebracht hat, wo nur Huren, Zuhälter, Verbrecher, und Mörder sind. Oberwärter werde ihn heute umbringen: »wenn dich, kleinen Warburg, die verfluchte Bestie, der Satansknochen von Schwester nicht schützt, bist du perdu!« Sträubt sich abends wieder enorm gegen Schlafmittel, trotzdem ihm Sonde130 gezeigt wird; muß dreimal von neuem bekommen, da er immer das meiste wieder ausspuckt. Gerät außer sich vor Wut, tritt, kratzt, springt, wenn er nicht gehalten wird, mit erhobenen Fäusten auf die Schwester los.

21. April 1921

Etwas bessere Nacht, jedoch keine nachhaltige Beruhigung durch Mittel. Sieht recht schlecht aus, gelbliche Gesichtsfarbe, starke Säcke unter den Augen, kein Zucker mehr. Schimpft bei der Visite immerfort, daß man ihm gestern ein Mittel beigebracht habe, man habe Menschenblut hineingetan etc. »Wer sind Sie eigentlich, daß Sie solche Sachen machen?« Es gelingt nicht, in Rapport mit ihm zu kommen. Schlägt während Visite auf die Türe, ruft nach seiner Frau. Nimmt Mahlzeiten einigermaßen pünktlich. Ist morgens bis 12 Uhr im Bad beschäftigt, geht dann zum Mittagessen in Salon; legt sich nach Tisch etwas hin und schläft kurze Zeit. Türklinken alle abgenommen, da er sonst in einemfort auf seiner Abteilung hin- und herrennt. Schimpft auf das verruchte Lokal, das Gelichter der Ärzte, die er mit Schweinehunde, Henkersknechte bezeichnet. Der Dreckfraß, den er hier bekomme, bestehe aus Menschenblut. Seine Anzüge und Stiefel werden gestohlen, versaut, verschweinigelt. Mittags 2 Pantopon,131 abends etwas ruhiger.

22. April 1921

Nachts mit wenigen Unterbrechungen laut geschimpft. Beschimpft Schwester aufs wüsteste. Bittet sie dann wieder, ihn ja nicht zu verlassen, sie sei sein guter Stern. Heute morgen besonders laut, schlägt, kratzt, tritt. Ärztliche Untersuchung unmöglich. Klopft, geht an die Fenster, ruft, das Hundeaas von Binswanger begehe den gemeinsten Justizmord, er sei ohne jeden Rechtsschutz, unschuldig.

23. April 1921

Gestern abend bis 11 Uhr laut, dann bis 0.30 Uhr ruhig, dann wieder bis 4 Uhr ununterbrochen laut geschimpft. Soll heute Abend Spritze erhalten. Nachmittags Spaziergang im Garten mit Referent132 und Oberwärter. Läßt sich nur schwer dirigieren. Ruft Leute auf der Brückenstraße und am Bahnhof an, sie sollten ihm helfen. Unterhält sich dazwischen auf humorvolle Art mit Vorübergehenden im Garten. Ruft an der Parkvilla laut: Schwester Rosa, von der er gehört hat, daß sie dort wohnte, die er aber nicht kennt. Geht ohne große Schwierigkeiten wieder ins Haus. Als Referent abends 10 Uhr mit der gefüllten Spritze vor ihn tritt, erklärt er, er nehme keine Spritze, er würde aber Medinal nehmen. Erhält 2,0, das er ziemlich rasch austrinkt.

24. April 1921

Ruhigere Nacht. Heute morgen aber schwer erregt, da ihm zur Sicherung seiner Umgebung die Nägel geschnitten werden und er in seiner Tageseinteilung gehindert wird, um allmählich etwas Ordnung in seine Lebensweise zu bringen. Sehr gewalttätig. Schwester kann sich überhaupt nicht mehr sehen lassen, da er wie ein wildes Tier auf sie losspringt. Aber auch Pfleger wollte heute nicht mehr allein zu ihm ins Zimmer gehen. Ganzen Tag laut.

25. April 1921

Nacht auf heute ohne Mittel noch recht gut. Von heute ab Lebensweise wie folgt:

8–9 Uhr Hände waschen und Frühstück, letzteres in seinem Salon;

9–10 Uhr Waschen und Rasieren im Bad

10–11 Uhr Anziehen im Schlafzimmer

11 Uhr wieder im Salon

Nach Tisch Ruhen im Schlafzimmer.

Muß vorderhand jeweils vom Pfleger und Oberpfleger von einem Zimmer ins andere gebracht werden; alle Klinken von den Türen entfernt. Gewöhnt sich auffallend rasch an Maßnahmen, die er anfangs als brutale Maßnahmen empfindet. Gibt z.B. Rasiermesser nach dem Rasieren spontan wieder ab.

26. April 1921

Mit 1,5 Medinal, das er unter Drohung mit Spritze ziemlich rasch nahm, gut geschlafen. Heute morgen sehr erbost, als er um 10 Uhr an das Bad gebracht wurde, ohne sich rasiert zu haben und mit Waschen fertig zu sein. Beruhigt sich dann aber relativ rasch wieder.

Ist keinen Moment ruhig und untätig. Schreibt viel Tagebuch, spricht, wenn er allein ist, dauernd laut vor sich hin, meistens schimpfend, oft auch die einzelnen Handlungen mit Worten begleitend, »so jetzt kommt das«, etc. Schiebt dauernd fremdartig klingende Worte ein, die er selber als Neologismen bezeichnet, und die er laut Schwester bei Dr.Lienau von einem Araber o.ä. aufgeschnappt haben soll: ei schuks, o rei schuks, mei schariks, nu rei schaks, a vat i vit. Immer nur für kurze Zeit zu fixieren, am besten, wenn man in seine Schimpfereien mit einer konkreten literarischen oder dergleichen Frage hineinplatzt oder eine psychologische Frage über ihn selbst an ihn stellt. Sieht einen dann einen Moment groß an, meist spöttisch: »Natürlich habe ich das gelesen, was wollen Sie damit? Sie wollen mir wohl die Zeit vor meiner Hinrichtung noch vertreiben?« Oder: »Sie sprechen wie ein schlecht geordnetes medizinisches Lexikon, das Sie nicht verstanden haben!«

Abends erneuter Versuch, körperliche Untersuchung durchzuführen (wogegen sich Patient bisher immer gesträubt hatte). Auch heute wieder bei Ankündigung der Absicht, ihn zu untersuchen, wüstes Schimpfen, alle möglichen Ausreden, immer neue dringende notwendige Beschäftigungen. Schließlich wird ihm Hyoscin-Morphium-Injektion133verabreicht; protestiert auch dagegen energisch und erklärt, er hätte sich doch ohne weiteres untersuchen lassen, die Injektion sei völlig überflüssig; bei der Injektion muß er von 4 Wärtern gehalten werden, versucht gleichwohl noch, gegen den Arzt zu treten. Nach etwa 1/4 Stunde ist er stark schläfrig, spricht nur noch mit lallender Sprache, kann sich nicht mehr aufrecht halten, ruft Referent134 pathetisch entgegen: »Ihre Spritze hat aber gut gewirkt.« Aufgefordert, Oberkörper freizumachen, weigert sich auch jetzt noch mit allen möglichen Ausreden; Referent wisse ja ganz genau, was mit ihm los sei; er sei ja von Weygandt135