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Mitten im Winter flieht die Artistin Mona aus einem kleinen Wanderzirkus, um ihrem aufdringlichen Kollegen zu entkommen. Ihre Tiere, ein kleiner Schimpanse, ein Pony und ein Kamel, nimmt sie mit auf ihre Flucht durch den eisigen bayrischen Wald. Als Mona schwer krank wird, sucht sie mit ihren Tieren Zuflucht in einer einsamen Almhütte. Dort findet sie kurze Zeit später Franz, der junge Bauer vom Thalhammerhof. Doch schafft er es noch rechtzeitig, die junge Frau zu einem Arzt zu bringen oder ist es bereits zu spät? Dieser und die zwei weiteren spannenden Romane „An deiner Seite fürchte ich nichts“ und „Der Edelweiß-Krieg“ sind in diesem Buch enthalten.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Anni Lechner
Die Zirkusprinzessin An deiner Seite fürchte ich nichts
Anni Lechner: Band 18, Die Zirkusprinzessin ... und zwei weitere spannende Romane
Copyright © by Anni Lechner
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.
Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag
Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.
eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara
ISBN 978-3-95912-227-6
Ein eisiger Windstoß ließ Mona schaudern. Warum muss es nur so kalt sein, fuhr es ihr durch den Kopf. Sherry und Zuleika wurden durch ihr Fell ja halbwegs gegen diese winterlichen Temperaturen geschützt, doch Shimpy zitterte in ihren Armen wie Espenlaub. Dabei hatte sie ihm bereits ihre eigene Jacke umgelegt und trug selbst nur noch ihren Pullover, und das bei mindestens zwanzig Minusgraden.
Es war ein Fehler gewesen, hierherzufliehen, sagte sie zu sich. Am Vorabend waren ihr die schneebedeckten Berggipfel jedoch wie freundliche Riesen erschienen, die ihr und ihren Tieren Schutz und Sicherheit zu versprechen schienen. Doch nach einer schier endlosen Wanderung in der eisigen Kälte war sie mit ihrer Kraft am Ende. Sie sehnte sich nach einen Platz, wo sie vor dem beißenden Wind geschützt lagern und sich mit ihren Campingkocher Tee und eine Kleinigkeit zu Essen kochen konnte. Sie schämte sich jedoch sofort dafür, nur an sich gedacht zu haben. Schließlich waren ihre Tiere ebenso erschöpft, hungrig und müde wie sie selbst.
Während Mona mit dem Pony Sherry und der Kamelstute Zuleika an ihrer Seite und den kleinen Schimpansen Shimpy auf dem Arm auf abgelegenen Pfaden durch die Winternacht wanderte, kehrten ihre Gedanken zurück in die Welt, die sie seit vorgestern endgültig verloren hatte. Zum ersten Mal seit Monaten erinnerte sie sich wieder an ihre Eltern. Ihr Vater, ein mittelmäßiger Akrobat, hatte immer von seinem Durchbruch geträumt und davon, einmal an der großen Zirkusgala in Monte Carlo teilnehmen und Fürst Rainier die Hand reichen zu dürfen. Vor fünf Jahren war er bei einer eigentlich leichten Übung abgestürzt und tödlich verunglückt. Nach Aussage des untersuchenden Arztes war er betrunken gewesen. Anscheinend hatte er sein eigenes Scheitern und den Niedergang des kleinen Zirkus, mit dem sie reisten, nicht mehr anders ertragen können. Monas stille, sanfte Mutter hatte nach diesem Unglück ihren letzten Lebensmut verloren und war ein halbes Jahr später gestorben. Den Wunsch ihrer Mutter, im Tod wieder mit ihrem Mann vereint zu werden, hatte sie ihr nicht erfüllen können, denn sie hatte das Geld für die Überführung der Toten nicht aufbringen können. Daher lagen die beiden Gräber mehr als vierhundert Kilometer auseinander. Mona hoffte jedoch, dass ihre Eltern wenigstens im Himmel zusammen sein konnten.
Die letzten viereinhalb Jahre hatte Mona unter dem Schutz des alten Prinzipals Bardolino gelebt, der trotz seines italienischen Nachnamens den Brenner kein einziges Mal in Richtung Süden überschritten hatte, um das Land zu sehen, aus dem seine Ahnen einst mit ihren Tieren und Artisten nach Norden aufgebrochen waren. Auch in Monas Adern floss noch ein wenig italienisches Blut, auch wenn drei ihrer vier Großeltern aus Deutschland gekommen waren. Trotzdem besaß sie keine familiären Bande, die ihr jetzt helfen konnten. Und selbst wenn jemand bereit gewesen wäre, sie aufzunehmen, so durfte sie ihre Tiere nicht im Stich lassen.
Der Gedanke an ihre drei treuen Begleiter erinnerte sie wieder an den Grund ihrer Flucht. Der Zirkus war am Ende gewesen. Sie hatten in einem Ort namens Mietraching noch ein paar schlecht besuchte Vorstellungen gegeben und waren dann in der Hoffnung, dort mehr Zuschauer zu bekommen, nach Bergneudorf weitergezogen. Unterwegs war es unter den Zirkusleuten jedoch zum Streit gekommen. Der Artist Mario Giroli und einige seiner Freunde hatten von dem alten Bardolino vehement die Zahlung der seit Wochen ausstehenden Gagen verlangt und dem Prinzipal buchstäblich die Pistole auf die Brust gesetzt. Obwohl Mona verzweifelt versucht hatte, Bardolino zu unterstützen, hatte der Prinzipal schließlich alles Geld, das noch in der Kasse gewesen war, an die Leute aufteilen müssen. Da es Giroli zu wenig gewesen war, hatte dieser Bardolino noch einige halbwegs wertvolle Inventarteile des Zirkus und zuletzt sogar noch mehrere Tiere abgefordert. Obwohl Mona nichts hatte nehmen wollen, hatte der Alte ihr die Kamelstute und das Pony sowie den Schimpansen gegeben. »Bei dir haben sie es gewiss besser als bei den anderen, vor allem bei diesem Giroli, der in Wahrheit Jens Knopp heißt. Wäre er ein echter Italiener, hätte er uns jetzt nicht so im Stich gelassen«, hatte Bardolino dabei zu ihr gesagt.
Mona war nicht einmal dazu gekommen, den Alten zu fragen, was er in Zukunft machen würde. Knopp alias Giroli war nämlich auf sie zu getreten und hatte sie mit einer besitzergreifenden Geste an sich gezogen.
»Ich halte es für das Beste, wenn wir beide uns zusammentun. Ich bin ein guter Artist und du kannst in Schulvorstellungen als Clown und im Varieté als meine Assistentin in einem entsprechend knappen Kostüm auftreten.«
Mona hatte erkannt, dass es Knopp nicht nur um eine Zusammenarbeit ging. Er wollte ihre Tiere und vor allem sie. Solange er mit dem Zirkus gezogen war, hatte er mit Stella zusammengelebt, die vier gelehrige Pudel dressiert und nebenbei als Kassiererin gearbeitet hatte. Doch vor ein paar Tagen hatte er der pummeligen Mittdreißigerin den Laufpass gegeben und wollte jetzt, dass sie Stellas Nachfolgerin wurde. Doch das zu sein, war das Letzte, was Mona sich wünschte. Noch am selben Abend hatte sie heimlich ihr Bündel geschnürt, ihre Tiere aus dem Stallzelt geholt und war mit ihnen verschwunden. Sie bedauerte ihre Flucht nicht, wünschte aber, sie wäre in einer wärmeren Zeit geschehen.
Dieser Gedanke brachte ihr erneut die bittere Kälte ins Gedächtnis. Sie drückte Shimpy enger an sich und ertappte sich dabei, dass sie es weniger tat, um ihn, sondern um sich zu wärmen. Neben ihr schnaubte Sherry und versuchte, ihren Pullover anzuknabbern.
Mona machte sich Vorwürfe, weil sie ihre Flucht so schlecht geplant und vergessen hatte, Futter für ihre Schützlinge mitzunehmen. Ein Blick zum Himmel zeigte ihr einen schmalen, helleren Streifen über den Bergen im Osten. »Es wird bald Tag werden, meine Guten«, sagte sie zu ihren Tieren. »Wir müssen zusehen, dass wir einen Unterschlupf finden.« Sie sah sich suchend um und entdeckte nicht weit vor sich ein Dorf. Doch wenn sie dort hinging und bei irgendwelchen Leuten klopfte, würde es bald die ganze Gegend und damit auch Jens Knopp erfahren. Kurz entschlossen bog sie von der Straße in einen geräumten Seitenweg ab, der zur rechten Hand in die Höhe führte. Mona sah im Licht des wie flüssiges Silber schimmernden Mondes mehrere Gebäude. Sie hoffte, eine im Winter verlassene Almhütte zu finden, in der sie und ihre Anvertrauten sich in den nächsten Wochen verstecken konnten. Wenn sie Glück hatte, gab es dort sogar einen kleinen Heuvorrat. Sie würde davon nehmen und es dem Bauern später bezahlen, sagte sie sich, als sie das erste Gebäude erreichte. Zu ihrer Enttäuschung handelte es sich um einen richtigen Bergbauernhof, der den Geräuschen im Stall nach auch bewirtschaftet wurde.
»Es hilft nichts, wir müssen noch höher«, raunte sie ihren Begleitern zu. Erneut bog ein Pfad bergwärts ab. Mona folgte ihm und sah schon bald einen dunklen Fleck vor sich auftauchen, der sich beim Näherkommen als eine hölzerne Almhütte entpuppte. Diese wirkte weniger einladend als erhofft. Die Tür hing schief in den Angeln und einer der Fensterläden klapperte im Wind. Mona wusste jedoch, dass sie nicht mehr weitergehen konnte. Sie trat zur Tür und stemmte sich mit der Schulter dagegen. Langsam gab sie nach und schwang nach innen.
In der Hütte war es so düster wie in einer Höhle. Mona holte ihre Taschenlampe aus dem Tragsattel des Kamels und leuchtete das Innere der Hütte aus. Außer einem zerbrochenen Stuhl gab es keine weiteren Möbel. Die Platte auf dem gemauerten Herd war verrostet und zerbrochen und im hinteren Teil, der eigentlich für Heu und Stroh vorgesehen war, herrschte gähnende Leere.
»Wir hätten es wirklich besser treffen können«, stöhnte Mona enttäuscht. Dann sagte sie sich, dass sie hier wenigstens vor dem scharfen Wind geschützt waren, der über das Land fegte, und führte die Tiere hinein. Morgen muss ich den Tieren etwas zum Fressen besorgen, dachte sie und hörte gleichzeitig, wie ihr eigener Magen vor Hunger knurrte. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht am Morgen ihre Schützlinge zurücklassen und in den Ort gehen sollte. Vielleicht konnte sie dort eine Kleinigkeit einkaufen und sich gleichzeitig ein wenig aufwärmen. Nach Wärme sehnte sie sich fast noch mehr als nach einer Mahlzeit. Sie fühlte sich jedoch zu müde und zerschlagen für eine weitere Wanderung und legte sich schließlich neben Sherry nieder. Sie zitterte, als die Kälte des gefrorenen Bodens in sie hineinkroch. In diesem Augenblick hätte sie alles für ein weiches Bett gegeben oder wenigstens für eine kuschelige Decke.
»Ich muss auch so zurechtkommen«, machte sie sich selbst Mut. Sie streichelte Shimpy, der leise vor sich hin wimmerte, und schloss die Augen. Obwohl Mona fürchterlich fror, schlief sie irgendwann doch ein. Das Erwachen war schlimm. Zunächst begriff sie gar nicht, wo sie sich befand. Sie blickte verwirrt um sich, hörte Zuleika prusten und wunderte sich, weshalb sie im Stallzelt geschlafen hatte. Erst mit der Zeit erkannte sie, dass sie sich ja gar nicht im Zirkus befand, sondern geflohen war. Sie erinnerte sich daran, unterwegs fürchterlich gefroren zu haben. Doch jetzt war ihr warm, ja, direkt heiß. Sie griff sich mühsam mit der Rechten an die Stirn. Die Berührung tat direkt weh. Es war, als hätte sie statt Finger Eisklumpen an der Hand.
»Ich glaube, ich habe Fieber, Shimpy. Hoffentlich wirst du mir nicht auch noch krank.« Sie lächelte dem Affen zu und legte dann den Kopf wieder auf die Erde, weil es ihr zu schwerfiel, ihn zu heben. Ihre Gedanken wirbelten wirr. Sie sah den alten Bardolino vor sich, der sie traurig anblickte und bedauerte, dann wieder Knopp-Girolis höhnisches Gesicht, das sie zu verspotten schien.
»Ich werde nicht mit dir gehen«, fauchte Mona den Artisten an. »Ich muss auf die Beine kommen, um die Tiere zu versorgen. Sie sind auf mich angewiesen.« Sie versank jedoch sofort wieder in einem Wust von Bildern und Empfindungen, die sie wie durch einen immer dichter werdenden Schleier wahrnahm, bis ihre Gedanken endgültig in einer tiefen, schwarzen Schlucht versanken.
*
Der Winter zeigte sich an diesem kalten Dezembertag von seiner schönsten Seite. Die Sonne strahlte vom Himmel und eine dicke Schicht Pulverschnee machte das Tal und die Berge zu einem Winteridyll, wie Skifahrer es sich nur wünschen konnten. Der Parkplatz am Ortseingang von Alxing war auch entsprechend voll. Von da aus mussten die Leute nur gut einhundert Meter weit bis zur Talstation des Schleppliftes gehen, der sie auf die Pisten an den Hängen des Alxkogls brachte.
Jasmin Mertens lockte es ebenfalls auf die Piste. Mit ihren Ski über der rechten Schulter und den Stöcken in der linken Hand stand sie vor der Tür der Ferienpension, in der sie und ihre Eltern wohnten, und wartete auf den Sohn ihrer Zimmerwirtin. Franz Thalhammer hatte ihr gleich gestern bei ihrer Ankunft in Alxing ins Auge gestochen. Er war ein schmucker Bursch, einen guten halben Kopf größer als sie, schlank und sportlich wie nur wenige junge Männer, die sie kannte. Er besaß ein schmales, rassiges Gesicht, dunkle, fast blauschwarz schimmernde Haare und helle graue Augen, die ein Mädchen so ansehen konnten, dass es wie Butter in der Sonne schmolz.
»Guten Morgen Franz. Kannst du mir in die Bindung helfen?«, rief Jasmin, als er aus dem Haus kam.
»Aber gern.« Franz zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und trat näher. »Fesch schauen Sie aus, Fräulein Jasmin. Da werden die Brettlrutscher aber Augen machen.«
»Nenne mich bitte Jasmin. Das Fräulein hört sich ja furchtbar an, so als wenn ich bereits eine alte Jungfer wäre.« Jasmin schenkte Franz ihren sinnlichsten Augenaufschlag und sagte sich, dass es vielleicht doch gar nicht so schlecht war, weil ihr Vater heuer darauf bestanden hatte, den Skiurlaub in den bayerischen Bergen zu verbringen. St. Moritz in der Schweiz und St. Anton in Österreich waren zwar mondänere Wintersportorte als dieses Dorf, aber dort gab es sicher keinen so aufregenden jungen Mann wie Franz.
»Also, bleiben wir bei Jasmin. Ich wär dann für dich der Franz.« Franz strahlte das junge Mädchen fröhlich an. Nicht direkt schlank, aber auch nicht zu wohlgenährt, besaß Jasmin ein ovales Gesicht mit einem ausdrucksvollen roten Mund, einer geraden Nase und zwei großen blauen Augen sowie hellblondes Haar, dessen Spitzen unter der Kapuze ihres himmelblauen Skianzuges hervorlugten. Franz konnte ihr die Lust zu einem Flirt buchstäblich an ihrer Nasenspitze ablesen.
»Fährst du auch gerne Ski, Franz?«, fragte Jasmin, um das Gespräch am Laufen zu halten.
Franz nickte. »Freilich. Sobald ich mit der Stallarbeit fertig bin, geh ich auch auf die Piste.«
Während er es sagte, stellte er Jasmins rechten Fuß in die Bindung. Ein kurzes Knacken ertönte, dann saß der Skistiefel fest.
»So, jetzt noch das zweite Fußerl, dann kannst du lostigern«, setzte er lachend hinzu.
Jasmin wiegte etwas unschlüssig mit dem Kopf. »Ich überlege mir direkt, ob ich nicht auf dich warten soll, Franz.«
»Bis ich alles erledigt hab, dauert’s wenigstens noch eine Stund. Bis dorthin wärst du hier angefroren«, wehrte Franz ihren Vorschlag ab.
»Aber du kommst gewiss nach?«
»Freilich. Aber jetzt muss ich wieder in den Stall, damit ich mit meiner Arbeit fertig werd.«
Jasmin sah ihn verwundert an. »Ihr habt wirklich noch richtige Tiere im Stall, Franz? Von meinem Zimmer aus riecht man ja gar nichts davon.«
»Das Haus steht ja auch so, dass der Wind meistens zum Stall hinweht und ned umgekehrt«, erklärte ihr Franz.
»Und du kommst spätestens in einer Stunde nach?«
Obwohl Franz nickte, sah es trotzdem für einen Augenblick so aus, als wollte Jasmin bleiben und auf ihn warten. Der blendend weiße Pulverschnee lockte sie dann aber doch auf die Piste. Jasmin hatte es besser als die Leute, die unten vor der Talstation warten mussten, bis der Schlepplift sie mit noch oben nahm, denn Franz’ kleiner Bergbauernhof lag etwa in Höhe der Mittelstation und sie konnte von hier aus sofort ihre ersten Schwünge ziehen. Unterwegs hielt sie noch einmal an und winkte zu Franz herüber.
Er winkte kurz zurück, holte dann mit einem geflochtenen Weidenkorb Heu aus der Scheune und brachte es in den Stall. Während er die vier Kühe, die beiden Ziegen und die Kaninchen fütterte, freute er sich schon auf das Skifahren. Vorher wollte er den Kühen noch ein wenig Getreideschrot vorlegen. Als er jedoch in die Futterkammer kam und den kleinen Rest holen wollte, der vom Vortag übrig geblieben war, war dieser samt dem Sack, in dem er gesteckt hatte, verschwunden.
Franz kratzte sich verwundert am Kopf und überlegte, ob er den Sack aus Versehen woanders hingestellt hatte. Obwohl er in der Futterkammer und dem Stall danach suchte, fand er jedoch keine Spur von ihm. »Das ist ja höchst seltsam«, sagte er kopfschüttelnd, als er zum Schuppen ging, um einen neuen Sack zu holen.
Das Phänomen des verschwundenen Getreideschrotes beschäftigte ihn immer noch, als er ins Wohnhaus zurückkehrte. Seine Mutter und er bewohnten nur einen Teil davon. Sechs Zimmer waren zu bequemen Fremdenzimmern ausgebaut worden, die mit ihrem Komfort keinen Vergleich mit den Zimmern im großen Hotel »Edelweiß« zu scheuen brauchten. Einige Gäste, die früher dort gewohnt hatten, zogen die Pension Thalhammer mittlerweile vor. Es war hier ruhiger als im Hotel, man hatte mehr Zeit für das ausgezeichnete Frühstück und vor allem konnte man buchstäblich von der Tür aus auf die Piste hinaus. Jetzt dachte Franz allerdings weniger an das Skifahren, als an den verschwundenen Getreideschrot.
»Mama, hast du den Kühen heut schon Kraftfutter gegeben?«, fragte er seine Mutter, als er in die Küche trat.
Anna Thalhammer richtete gerade das Frühstück für mehrere Gäste her, die vor Kurzem aufgestanden waren. Jetzt hielt sie inne und wandte sich verwundert ihrem Sohn zu. »Ich war heut noch gar ned im Stall. Warum fragst du?«
»Weil ich denkt hab, ich hätt noch ein bisserl Getreidebruch von gestern übrig gehabt. Aber der Sack ist weg.«
»Du hast ihn wahrscheinlich doch gestern leer gemacht und vergessen, einen Neuen zu holen. So was kommt vor, vor allem, wenn sich die Gedanken um ein hübsches, junges Madl drehen«, antwortete seine Mutter mit leichtem Spott.
»Welches Madl denn?«, fragte Franz verwundert.
»Die Tochter von dem Beamten aus Köln, der gestern mit seiner Familie gekommen ist. Dir sind ja bei dem Anblick fast die Augen aus dem Kopf gefallen«, half Anna seinem Gedächtnis auf die Sprünge.
»Ach so, du meinst die Jasmin. Da kannst du vollkommen beruhigt sein. An die hab ich gewiss ned gedacht. Außerdem hab ich sie erst kennengelernt, als ich mit der Stallarbeit fertig war. Sie hat mir daher meine Gedanken gar ned verwirren können.« Obwohl er dabei lachte, ging Franz der verschwundene Sack nicht aus dem Kopf.
*
Franz kam eine halbe Stunde später als geplant auf die Piste und hatte Jasmin inzwischen völlig vergessen. Er zog gerade seine ersten Schwünge, als ihr himmelblauer Skianzug neben ihm auftauchte.
»Da bist du ja, Franz. Ich habe dich schon vermisst.«
»Hallo Jasmin. Es hat leider ein wenig länger gedauert.« Franz glich sein Tempo dem ihren an und wedelte mit ihr den Hang hinab. Unten an der Talstation stellten sie sich in die Schlange der Skifahrer, die wieder nach oben wollten.
»Es ist wirklich ärgerlich, dass man so viel Zeit am Lift vergeuden muss«, beschwerte sich Jasmin, weil es ihr zu langsam ging.
»Es ist bloß heut so schlimm, weil Sonntag ist. Unter der Woch schaut die Sach schon anders aus. Da wartest du keine zwei Minuten, bis du an der Reih bist«, versuchte Franz sie zu beruhigen.
»Hoffentlich! Sonst bedauere ich wirklich noch, nicht nach St. Moritz oder St. Anton gefahren zu sein.« Jasmin wollte sich damit für Franz interessanter machen, erntete aber nur ein nachsichtiges Lächeln.
»Ich glaub ned, dass es dort derzeit viel anders aussieht als bei uns. Außerdem sind wir eh gleich dran.« Franz hatte es kaum gesagt, da fuhr das Paar vor ihnen auch schon los. Er packte rasch den nächsten Schleppbügel, half Jasmin hinein und schon ging es nach oben. Kurz darauf erschienen auch Jasmins Eltern auf dem Hang. Sie standen nicht so sicher auf den Ski wie Jasmin und blieben zögernd am Rand der Piste stehen. Jasmin entdeckte sie dort und fuhr zu ihnen hin.
»Worauf wartet ihr denn? Der Schnee ist einfach herrlich.«
»Ich würde lieber vorher einen Skikurs besuchen, bevor ich mich auf die Piste wage. Ich bin nämlich keine solche Sportskanone wie du«, antwortete ihre Mutter.
Franz hörte ihre Worte und blieb vor ihr stehen. »Wenn Sie wollen, steh ich ihnen gern zur Verfügung, Frau Mertens. Ich bin nämlich auch Skilehrer.«
Margot Mertens schenkte Franz ein schmelzendes Lächeln. Genau darauf hatte sie nämlich gewartet. »Das ist aber lieb von ihnen, Herr Thalhammer. Wissen Sie, ich fühle mich im Skiurlaub in den ersten ein, zwei Tagen immer ein wenig unsicher. Daher wäre es mir sehr recht, wenn sie sich meiner annehmen könnten.«
»Das mach ich doch gern. Übrigens können Sie Franz zu mir sagen. Das Herr Thalhammer hört sich doch ein wengerl komisch an. Also, wann wollen Sie anfangen?«
»Am besten gleich. Ich müsste sonst wieder in die Pension zurück, denn bei den vielen Leuten auf der Piste traue ich mich nicht, allein zu fahren.« Jasmins Mutter blickte Franz auffordernd an, während ihre Tochter eine Schnute zog.
»Muss das sein, Mama. Franz wollte mir gerade eine neue Schwungtechnik zeigen.«
Franz lächelte, als er diese Lüge hörte. Jasmin schien ihn bereits als ihr Eigentum zu betrachten. »Wir fangen freilich sofort an, Frau Mertens. Es wär ja schad, wenn Sie den schönen Vormittag verlieren täten.«
»Mich musst du allerdings auch unterrichten, Franz. Ich lasse doch meine Margot nicht mit einem so schmucken jungen Mann wie dich allein.« Obwohl sich Jasmins Vater jovial gab, schwang doch eine gehörige Portion Eifersucht in seinen Worten mit. Ralf Mertens war zwar nur knapp über vierzig, aber sein bequemer Bürojob als Beamter hatte seine Spuren in Form eines recht beachtlichen Rettungsrings um seine Hüften hinterlassen. Außerdem lichtete sich seine Stirn bereits bedenklich. Jasmins Mutter hingegen besaß eine sportlichere Figur als ihre Tochter und nur wenige, gut weggeschminkte Falten im Gesicht. Sie war durchaus eine attraktive Frau und ihren Blicken zufolge nicht weniger an Franz interessiert als ihre Tochter.
Franz hatte seine Methoden, liebesbedürftigen Müttern und Töchtern aus dem Weg zu gehen, ohne sie direkt zu verärgern. Er lächelte Ralf Mertens freundlich zu und wies auf einen etwas abseits gelegenen Hang, der um einiges flacher war als die eigentliche Piste und auf dem sich auch kaum Skifahrer aufhielten.
»Fahren wir dort hinüber. Da tun sie sich auf alle Fäll leichter als hier, wo die ganze Welt Ski fährt.«
»Da hat man wenigstens Platz zum fallen«, stimmte Mertens ihm erleichtert zu und folgte ihm ebenso wie seine Frau zu dem anderen Hang. Jasmin kam nach einer kurzen Denkpause ebenfalls mit, da sie Franz nicht ihrer Mutter überlassen wollte.
*
Franz war ein guter Skilehrer und so ging der Unterricht recht flott vonstatten. Punkt zwölf Uhr bremste er jedoch den Lerneifer seiner drei Schützlinge und deutete auf seine Armbanduhr. »Herrschaften, es ist Mittagszeit und ich hab Hunger.«
»Wir schon auch, nicht war, Margot«, warf Mertens ein.
»Welches Restaurant kannst du uns denn empfehlen, Franz?«, fragte seine Frau mit einem gekonnten Augenaufschlag.
»Das kommt darauf an, ob ihr jetzt international oder gutbürgerlich essen wollt«, antwortete Franz. »Fürs Erstere hätten wir das Hotelrestaurant Edelweiß. Ich persönlich tät ihnen aber den Gasthof zum Stern empfehlen. Dort weiß man nämlich, was auf den Teller kommt.«
»Wir gehen in den Stern. Ich wollte schon immer eine urige bayerische Wirtschaft kennenlernen«, rief Mertens Frau und Tochter begeistert zu.
»Sie werden es gewiss ned bereuen.« Franz wollte sich verabschieden, doch da hielt Jasmin ihn am Ärmel zurück.
»Kommst du nicht mit, Franz?«
»Nein, ich ess ja schließlich daheim«, antwortete er lachend.
»Aber du bist um vierzehn Uhr wieder hier, damit wir den Unterricht fortsetzen können?«, fragte Margot.
»Wenn Sie es wollen, gern.«
»Natürlich wollen wir es«, erklärte Margot nachdrücklich.
Ihr Mann überlegte kurz und stimmte zu. »Ich habe nichts dagegen. Der Franz ist ein guter Skilehrer und weitaus besser als dieser Gian letztes Jahr in der Schweiz.«
Seine Frau errötete leicht, denn sie erinnerte sich an einige sehr intime Augenblicke mit dem jungen Skilehrer aus St. Moritz. Als ihr Blick Franz streifte, musste sie sich jedoch sagen, dass er noch besser aussah als Gian, und schenkte ihm einen weiteren seelenvollen Blick.
»Also Franz, bis zum Nachmittag.« Während Margot und Jasmin losfuhren, hatte Mertens noch etwas auf dem Herzen.
»Was ich übrigens fragen wollte, Franz. Habt ihr hier in Alxing nicht irgendeine kleine, flüssige Spezialität, so wie dieser fulminante Vogelbeerschnaps, den ich in Österreich kennengelernt habe.«
Franz nickte eifrig. »Wir haben da schon was aufzuweisen. Wenn du willst, können wir heut Abend das eine oder andere probieren.«
Mertens nahm an, dass ein Mann, der mit ihm zusammen trank, nicht die Zeit fand, mit seiner Frau zu flirten, und stimmte fröhlich zu. »Das ist genau das, was ich mir von diesem Urlaub erhofft habe. Ein wenig sportliche Bewegung, gutes Essen und ein Schnäpschen in Ehren.«
Franz wünschte ihm noch guten Appetit und fuhr dann mit eleganten Schwüngen nach Hause.
*
Als Franz den Kopf in die Küche steckte, war seine Mutter nicht allein. Anna Thalhammer unterhielt sich eifrig mit einer jungen Frau in einem schlichten, graugrünen Dirndlkleid mit einem leicht länglichen Gesicht, blassen Augen und streng frisiertem, brünetten Haar. Franz stöhnte auf, denn Resi Axenböck, die Tochter seines nächsten Nachbarn, machte keinen Hehl daraus, wie gut er ihr gefiel. Leider beruhte dieses Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit. In Franz‘ Augen war Resi nicht nur altmodisch, sondern schlichtweg altbacken.
»Grüß dich Resi. Mama, da bin ich. Ich hab einen Mordshunger mitgebracht.« Franz gönnte der Nachbarstochter nur einen kurzen Blick und setzte sich an den Tisch.
»Resi, bist du so nett und deckst für den Franz den Tisch«, forderte seine Mutter das Mädchen auf.
»Das tu ich doch gern.« Resi eilte zum Schrank und holte Teller und Besteck heraus.
Franz ertappte sich bei der Hoffnung, sie würde etwas fallen lassen und zerbrechen, denn das hübsche Geschirr war das Heiligtum seiner Mutter. Resi deckte jedoch geschickt den Tisch, faltete eine Serviette für ihn und half dann auch noch seiner Mutter, Suppe und Braten aufzutragen.
»Weißt du was Resi, hol für dich auch ein Gedeck. Es ist genug Essen für uns alle da«, forderte Anna Thalhammer die junge Frau auf.
»Aber gern.« Resi ließ es sich nicht zweimal sagen. Keine zehn Sekunden später saß sie neben Franz und blickte ihn verliebt an.
»Gut hast du gekocht, Mama«, versuchte Franz ein unverfängliches Gespräch zu beginnen. Der Schuss ging allerdings nach hinten los.
»Die Suppe hab ich nach einem Rezept der Resi gemacht.« Franz Mutter ließ keinen Zweifel daran, dass sie jetzt ein Lob für ihren Gast hören wollte.
Franz seufzte innerlich, tat ihr dann aber den Gefallen. »Du kannst wirklich ned schlecht kochen, Resi.«
Anna Thalhammer funkelte ihren Sohn zornig an. »Ned schlecht, sagt der Rüpel. Dabei kocht die Resi ausgezeichnet. Und ned bloß das. Sie hat mir heut auch geholfen, die Fremdenzimmer zu machen.«
Resi lächelte sanft, aber auch sehr zufrieden. Mit Franz‘ Mutter hatte sie eine Verbündete gewonnen, gegen die er nicht auf Dauer ankommen konnte. Irgendwann würde nachgeben und sie heiraten müssen.
Franz musste kein Gedankenleser sein, um Resis Absichten zu erkennen. Seine Mutter ließ keinen Zweifel daran, wen sie einmal als Schwiegertochter auf dem Hof sehen wollte – oder besser gesagt in ihrer Pension, denn längst hatten die Einnahmen aus dem Gastgewerbe den Ertrag der Landwirtschaft übertroffen. Franz liebte jedoch die Arbeit mit den Tieren zu sehr, um sie aufgeben zu können. Außerdem machte es den Kindern ihrer Feriengäste einen Heidenspaß, Kühe, Ziegen und Kaninchen nicht nur sehen, sondern auch streicheln zu können.
»Heut bist du aber wirklich ein Stoffel«, schalt die Mutter, als Franz eine Frage Resis nicht sofort beantwortete.
»Wieso, was ist?«, fragte er verwundert.
»Die Resi hat gefragt, ob du heut Nachmittag in der Skischule aushilfst.«
Franz schüttelte den Kopf. »Heut ned. Ich muss mich um meine Privatschüler kümmern.«
»Wohl um die Tochter von dem Kölner Beamten?«, fragte seine Mutter spitz.
»Samt Mutter und Vater«, antwortete Franz gut gelaunt.
Resi spürte die leichte Spannung zwischen Mutter und Sohn und hob interessiert den Kopf. »Was sind das für Leut?«
»Ein Beamter aus Köln mit einer arg lebenslustigen Frau und einer ebenso lebenslustigen siebzehnjährigen Tochter. In den letzten Jahren wollen die in St. Anton und St. Moritz in Skiurlaub gewesen sein. Aber so wie sie sich geben, kann ich mir das ned vorstellen«, berichtete Franz’ Mutter.
»Ich schon«, warf Franz lächelnd ein. »Auch dort gibt es ned bloß teure Luxushotels.«
»Ist die Tochter hübsch?« Resi stellte die Stacheln auf. Wenn es etwas gab, was sie fürchtete, so war es die Vorstellung, Franz könnte sich in einen weiblichen Feriengast verlieben.
»Es geht. Mir macht die Mutter allerdings mehr Sorgen.« Anna Thalhammer erinnerte sich an die Blicke, mit denen Margot Mertens am letzten Abend Franz angesehen hatte, und schüttelte sich. Es war ihr unbegreiflich, wie eine verheiratete Frau bereits mit der Absicht auf einen Seitensprung verreisen konnte. Sie hoffte, dass ihr Sohn gegen diese Versuchung gefeit war. Bevor sie jedoch das Thema weiter ausspinnen konnte, klopfte es an die Tür.
»Herein.« Franz kam jede Störung gelegen.
Die Tür öffnete sich und der Feriengast Fred Wolf trat ein. Sein Gesicht wirkte irgendwie verstört.
»Frau Thalhammer. Sie haben mir doch heute Morgen zwei Wurstsemmeln eingepackt.«
»Freilich! Haben sie Ihnen vielleicht ned geschmeckt?« Franz’ Mutter fühlte sich direkt in ihrer Pensionswirtinnenehre gekränkt.
Fred Wolf hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Sie haben mir ja gar nicht schmecken können. Als ich nämlich meinen Rucksack aufmachte, um sie herauszuholen, waren sie spurlos verschwunden.«
»Das gibt’s ned! Ich hab die Wurstsemmeln selber hineingetan.« Anna Thalhammer war fast außer sich über die Zumutung, sie könnte das Wohl eines ihrer Gäste vergessen haben.
»Aber es war so«, sagte Wolf unglücklich. »Als ich mich bei der Riederalm hinsetzte, um Brotzeit zu machen, war mein Rücksack leer.«
»Das gibt’s ned.« Franz’ Mutter schoss hoch, eilte zu Wolf und öffnete dessen Rucksack. Auf dem ersten Blick war dieser tatsächlich leer. Plötzlich stutzte Anna jedoch und griff hinein. »Da schauen s’ her, Herr Wolf. Da ist ja noch ein Stückerl von der Paprikawurst, die ich in ihre Wurstsemmeln getan hab.«
Wolf drehte sich um und betrachtete das winzige Stückchen Wurst mit großen Augen. »Sie sehen mich total irritiert.«
»Vielleicht haben Sie die Semmeln ganz in Gedanken unterwegs gegessen«, wandte Franz ein.
Wolf schüttelte den Kopf. »Gewiss nicht! Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr zu mir genommen. Entsprechend habe ich jetzt auch Hunger.«
Er hatte es kaum gesagt, als Anna Thalhammer auch schon aktiv wurde. »Resi, leg noch ein Gedeck für den Herrn Wolf auf.«
»Aber machen Sie sich doch wegen mir keine Umstände«, versuchte Wolf sie zu beruhigen.
Franz’ Mutter wies auf einen leeren Stuhl. »Setzen sie sich, Herr Wolf. Bei mir muss kein Feriengast hungern.«
»Das mit den Wurstsemmeln ist fast so seltsam, wie das mit dem verschwundenen Kraftfutter bei mir heut früh.« Franz wollte damit die Spannung lindern, die sich in der Küche breitgemacht habe. Wolf sah ihn jedoch erschreckt an.
»Es wird hier doch keine Geister geben«
Erst jetzt erinnerte Franz sich, dass Wolf schon öfter okkulte Dinge angesprochen hatte, und hob beschwichtigend die Hände. »Seien Sie unbesorgt, Herr Wolf. Bei uns geht alles mit rechten Dingen zu. Eine Wurstsemmel verschwindet nicht von selber. Vielleicht war der Rücksack ned richtig zu und sie ist ihnen herausgefallen.«
»Es waren zwei Wurstsemmeln«, wies ihn seine Mutter zurecht.
Wolf rieb sich mit dem rechten Zeigefinger über die Nase. »Jetzt, wo sie es sagen, fällt es mir wieder ein. Der Rucksack war wirklich nicht ganz so zugemacht, wie ich es sonst tue. Ein Riemen war sogar lose.«
»Ich hab alle Riemen richtig zugemacht«, erklärte Anna Thalhammer mit Nachdruck.
»Vielleicht hat Ihnen ein Lausbub einen Streich spielen wollen und die Wurstsemmeln stibitzt.« Dies war in Franz‘ Augen die beste Erklärung.
Wolf war davon nicht so ganz überzeugt. »Ich habe den Rucksack nur einmal kurz aus den Augen gelassen, um meinen Schal zu holen, den ich vergessen hatte.«
Resi langweilte das Gespräch und sie stand auf. »Ich muss jetzt wieder heim, Thalhammerin. Ich bin doch ein wengerl arg lang ausgeblieben.«
»Der Franz soll dich heimbringen«, sagte die Mutter.
»Aber Mama, ich bin noch ned mit dem Essen fertig und muss am Nachmittag um zwei Uhr wieder auf der Piste sein.«
»Die Mertens können ruhig ein paar Minuten auf dich warten. So pünktlich wie die Eisenbahn sind die anderen Skilehrer ja auch ned.«
Wolf verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Erwähnen Sie bitte nicht das Wort Eisenbahn in meiner Nähe. Ich hätte auf der Reise hierher beinahe den Anschlusszug in München verpasst, weil mein ICE Verspätung hatte.«
»Es ist halt auch bei der Eisenbahn nimmer alles so, wie’s einmal war«, seufzte Franz’ Mutter. Dann bemerkte sie, dass ihr Sohn noch immer aß, und klopfte mit den Fingern mahnend auf die Tischplatte. »Hast du ned die Resi heimbringen wollen?«
Es war ungefähr das Letzte, was Franz vorhatte. Aber um des lieben Friedens willen stand er auf und half Resi in den Wintermantel.
»Bis später«, verabschiedete er sich von seiner Mutter und von Wolf und verließ das Haus. Resi folgte ihm und sah dann befremdet zu, wie er sich die Ski anschnallte.
»Willst du doch ned mit mir kommen?«, fragte sie ziemlich enttäuscht.
»Freilich komm ich mit, aber ich fahr von euch aus dann gleich zur Piste weiter«, antwortete er fröhlich.
»Dich zieht’s wohl wieder zu deinen lustigen Skihaserln hin?«, fragte Resi bissig.
Franz spürte ihre Eifersucht und ärgerte sich über seine Mutter, die ihn unbedingt mit der Nachbarstochter verkuppeln wollte. Für einen Augenblick überlegte er sogar, ob er nicht Jasmin Mertens den Hof machen sollte, um seiner Mutter zu zeigen, wie wenig ihm an Resi lag.
»Gesprächig bist du heut ja gar ned«, beschwerte sich Resi. »Da hätt ich ja gleich allein heimgehen können.«
Warum hast du es dann ned getan, fuhr es Franz durch den Kopf. Er schluckte die bösen Worte, die auf seiner Zunge lagen, aber wieder hinab und lächelte boshaft. »Wer weiß, vielleicht hab ich einen guten Grund, meinen Gedanken nachzuhängen.«
Ihre Miene veränderte sich sofort. »Welchen, die Tochter oder die Mutter?«
»Sei ned so neugierig, Resi. Außerdem sind wir ja eh gleich da.« Franz zeigte dabei auf das Axenböck-Anwesen, das nur noch einen halben Steinwurf entfernt vor ihnen lag. Es war ebenfalls ein Bergbauernhof mit einem aus Felsstücken aufgemauerten Fundament und dem aus dunklen Holzbalken errichteten Obergeschoss, das von einem flachen, weit über die Mauern hinausreichenden Schindeldach gekrönt wurde. Früher waren die Axenböck-Leute auch Bergbauern gewesen. Irgendwann war Resis Vater die Arbeit jedoch zu viel geworden. Daher standen nun die Ställe leer und der Grund war an mehrere andere Bauern, darunter auch Franz verpachtet worden.
»Du kommst doch gewiss noch mit herein, um meinen Eltern Grüß Gott zu sagen?« Es klang fast wie ein Befehl.
»Ein paar Minuten hab ich Zeit«, antwortete Franz nach einem raschen Blick auf seine Armbanduhr. Er löste die Bindung seiner Ski und folgte dem Mädchen ins Haus. Resis Mutter Leni stand in der Küche am Herd, während der Vater am Tisch saß und Zeitung las.
Bei Franz‘ Anblick tauschten die beiden einen raschen Blick aus, der dem jungen Mann deutlich sagte, dass man hier mit seiner Mutter einer Meinung war. Er kam sich fast wie ein Wild bei einer Treibjagd vor, hatte aber keine Lust, sich erlegen zu lassen.
»Grüß Gott miteinander, wie geht’s, wie steht’s?«, grüßte er betont fröhlich.
»Ganz gut, und dir?«, antwortete Albert Axenböck gut gelaunt.
»Könnt ned besser gehen. Was gibt’s eigentlich Neues in der Welt? Ich bin heut noch gar ned zum Zeitunglesen gekommen.« Da Resis Vater gerne die Weisheiten von sich gab, die er dem Miesbacher Anzeiger entnommen hatte, löste diese Frage einen langen Vortrag aus. Resis Gesicht wurde dabei dunkel vor Ärger. Am liebsten hätte sie ihren Vater lauthals zurechtgewiesen, dass er nicht über diesen amerikanischen Präsidenten Bush und andere uninteressante Politiker reden, sondern Franz die Heirat mit ihr schmackhaft machen sollte.
»Im Landkreis ist auch einiges los«, berichtete Albert Axenböck, als die Politik nicht mehr genug für seinen Monolog ergab. »Da schau her Franz. Drüben in Bergneudorf ist so ein Zirkusmensch aufgetaucht und bittet um Spenden für seine Viecher. Da ist das Foto.« Er hielt Franz die Zeitung so vor die Nase, dass dieser einen Mann mit Sammelbüchse und einem Tanzbären sehen konnte.
»Ich weiß ned, wie die Leut dazu kommen, sich samt ihren Tieren durch den Winter zu betteln. Sollen sie doch das Zirkusspielen aufgeben und was Gescheites arbeiten.« Resi hielt es an der Zeit, sich wieder bemerkbar zu machen.
Ihr Vater schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich bin da ned deiner Ansicht, Resi. Ein Zirkus ist schon was Schönes. Du musst bloß die leuchtenden Kinderaugen ansehen, wenn der Clown seine Späße macht. Da kommt so ein Glotzkasten im Wohnzimmer wirklich ned mit.«
»Da hast du schon recht, Axenböck«, stimmte Franz ihm zu. »Wenn einmal kein Zirkus mehr übers Land fährt, ist wieder ein Stückerl Kultur kaputtgegangen. Die Zirkusleut haben’s eh ned leicht und der Euro, den einer in ihre Sammelbüchse wirft, macht ihn wirklich ned arm.«
»Du hast ein gutes Herz, Franz.« Axenböck warf dabei seiner Tochter einen kurzen Blick zu, der sie davor warnte, Franz durch ihre Unduldsamkeit und ihren Geiz zu verärgern.
Unterdessen schlug die Schwarzwälder Kuckucksuhr an der Wand die volle Stunde. Franz blickte hin und fuhr scheinbar erschrocken auf. »Jetzt wär ich doch fast zu lang sitzen geblieben. Ich muss wieder los.«
»Zu deinen lustigen Weibern!«, fauchte Resi.
»Du machst wohl einen Skikurs?« Axenböck grinste Franz verschwörerisch an. Er war früher selbst Skilehrer gewesen und wusste, dass etlichen weiblichen Feriengästen mehr an ihren strammen Skilehrern lag als am Wintersport.
Während Resi mit ihrer Eifersucht rang, betrachtete die Mutter ihren Mann mit einem bitteren Blick. Albert Axenböck war in seiner Jugend keiner gewesen, der etwas hatte anbrennen lassen. Sie hoffte, dass Franz anders war, sonst würde ihre Tochter später ähnliche Qualen durchleiden müssen wie sie.
»Wenn du engagiert bist, musst du dich auch um die Leut kümmern«, sagte sie zu Franz. Es waren ihre ersten Worte, seit er das Axenböck-Haus betreten hatte.