Schatten der Lüge - Anni Lechner - E-Book

Schatten der Lüge E-Book

Anni Lechner

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Beschreibung

Tonis unverantwortlicher, jüngerer Bruder Hans begeht Fahrerflucht und setzt sich ab nach Tirol, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen. Da jedoch Tonis Auto der Unfallwagen war, gerät er in Verdacht der Polizei und muss sich mit Lügen herausreden, um seinen Bruder nicht zu verraten. Von Schuldgefühlen geplagt kümmert sich Toni um das Unfallopfer Astrid und verliebt sich dabei in sie. Wird er ihr sein Geheimnis verraten können? Wird Hans für seine Fehler geradestehen? Dieser und die zwei weiteren spannenden Romane „Das ist meine Heimat“ und „Liebeswirren“ sind in diesem E-Book enthalten.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Anni Lechner

Schatten der Lüge

Dies ist meine Heimat

Liebeswirren

Anni Lechner: Band 3, Schatten der Lüge ... und zwei weitere spannende Romane

Copyright © by Anni Lechner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag

Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95912-210-8

Schatten der Lüge

Hans drückte aufs Gaspedal. Die schwere Limousine wurde sofort schneller und schoss wie ein Pfeil die Straße entlang. Es war ein Fahren, wie Hans es liebte. In der nächsten Rechtskurve lenkte er den Wagen so scharf am Straßenrand vorbei, dass er beinahe die Begrenzungspfähle abrasierte. Ein kurzes Stück ging es gerade aus, dann tauchte als Nächstes eine Linkskurve auf. Voller Übermut zog Hans den Wagen herum, um sie so scharf wie möglich zu schneiden. Plötzlich sah er irgendetwas Helles auf sich zukommen. Fast im gleichen Augenblick spürte er einen heftigen Schlag gegen den Wagen. Ein paar rote Flecken klatschten gegen die Windschutzscheibe, und im Rückspiegel sah er ein Fahrrad quer über die Straße schlittern.

Hans zitterte mit einem Mal wie Espenlaub. Er wollte anhalten, um nachzusehen, was passiert war, doch seine Hände und Füße gehorchten ihm nicht mehr. Der Wagen raste weiter und ließ die Stelle, an der er eine Radfahrerin von der Straße gefegt hatte, immer weiter hinter sich. Er lachte bitter auf. Bei dem Tempo, mit dem er sie erwischt hatte, war die Frau mausetot. Jetzt werden sie mich einsperren, fuhr es ihm durch den Kopf. Dann durchzuckte ihn ein anderer Gedanke. Der schöne und fast neue Wagen hatte den Zusammenstoß mit dem Fahrrad gewiss nicht ohne Spuren überstanden. »Der Toni faltet mich zusammen, dass ich unter eine Briefmarke passe, wenn er das sieht.« Hans kamen fast die Tränen. Es gab nur einen einzigen Menschen, der ihm jetzt noch helfen konnte – die Mutter.

Er legte die letzten Kilometer zu seinem Heimatort Mannstetten in einem Zustand zurück, der zwischen Verzweiflung, Selbstmitleid und der Hoffnung schwankte, die Mutter könnte wieder alles gerade biegen. Im Gegensatz zu seinem Bruder, der vor lauter Pflicht nicht wusste, was es hieß, zu leben, würde sie Verständnis für ihn aufbringen.

Mit diesem Gedanken bog er schließlich in den schmucken Bachmaierhof in Mannstetten ein und stellte den Wagen so ab, dass die beschädigte Vorderseite nicht sofort ins Auge stach. Als er ausstieg, zitterten seine Beine so sehr, dass er sich am Auto festhalten musste.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte er leise vor sich hin. Als er sich der mehr als zweihundert Jahre alten geschnitzten Haustür näherte, betete er, dass Toni unterwegs sein würde und er zuerst mit der Mutter sprechen konnte. Doch da ging die Tür auf und sein Bruder trat heraus. Es war für Hans nur ein geringer Trost, dass die Mutter ihm folgte.

»Du hast dir aber verdammt lang Zeit gelassen. Ich hab dir doch gesagt, dass ich das Auto um sechs brauch«, schalt Toni.

»Du hättest ja meines neben können«, klang es patzig zurück.

»Ohne Autoschlüssel? Du bist ja gut.« Toni kam auf Hans zu und wollte ihm den Schlüssel abfordern, als er plötzlich zusammenzuckte. »Was ist denn das?« Er zeigte auf ein paar rote Tropfen, die auf dem Autodach zu sehen waren. Im gleichen Augenblick bemerkte er die verschmierte Windschutzscheibe. Er ging um den Wagen herum, und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den zerkratzten und verbeulten Kotflügel.

»Was ist denn da passiert?«, fragte er scharf.

Hans zog ängstlich den Kopf ein und überlegte verzweifelt, was er sagen sollte. »Es war ein Reh. Es ist auf einmal aus dem Wald auf die Straß gelaufen. Ich hab nimmer ausweichen können.« Er war fast ein wenig stolz darauf, die Kratzer am Auto auf einen Wildschaden geschoben zu haben.

Mit eisigem Gesicht wandte der junge Bauer sich an seinen jüngeren Bruder und zeigte auf Farbspuren am Kotflügel und einen kleinen Stofffetzen, der an dem kleinen Scheibenwischer des Scheinwerfers hängen geblieben war. »Das muss aber ein komisches Reh gewesen sein. Zum einen war es silbern lackiert, und zum andern hat es ein Kleidungsstück aus einem geblümten, hellen Stoff angehabt.«

Die Bäuerin eilte herbei und schlang die Arme um ihren Jüngeren. »Sag, Hanserl, was ist denn passiert?«

Hans schniefte und setzte eine trotzige Miene auf. »Es wär ned geschehen, wenn der Toni ned so gedrängt hätt, dass ich so früh zurückkommen soll. Darum hab ich halt ein wengerl schneller fahren müssen. Außerdem ist mir die Radfahrerin mitten auf der Straß entgegengekommen. Ich hab einfach nimmer ausweichen können.«

Der flackernde Blick seines Bruders sagte Toni, dass auch das eine Lüge war. Zornig kam er um den Wagen herum und packte Hans bei der Brust. »Jetzt hör mir einmal ganz genau zu, Bürscherl. Bis jetzt hab ich die Augen zugedrückt, wenn du dir wieder einmal ein Stückerl geleistet hast. Aber jetzt, wo ein Mensch zu Schaden gekommen ist, ist’s aus. Hast du mich verstanden?«

Hans wagte nicht, darauf zu antworten. Die Mutter verteidigte ihn jedoch wie eine Löwin ihr Kind. »Toni, wie redest du denn mit deinem Bruder. Du tust je direkt so, als wenn er ein Verbrecher wär. Was ist schon dabei, wenn er einmal einen kleinen Unfall hat. Die paar Kratzer an deinem Auto wirst du wohl noch reparieren lassen können.«

»Mir geht’s ned um die Kratzer am Auto, sondern um die Radfahrerin, die dein famoser Herr Sohn über den Haufen gefahren hat. Die wird ned so leicht zu reparieren sein!«

»Also, der ist nix passiert«, versicherte Hans eilig.

»So, und das Blut da bild ich mir wohl bloß ein, was?« Tonis Stimme klang schneidend. »Hast du mit der Frau geredet und einen Krankenwagen geholt?«

Hans wollte schon Ja sagen, doch ein Blick auf das Gesicht seines Bruders zeigte ihm, dass eine weitere Lüge nicht ratsam wäre. Daher schüttelte er ängstlich den Kopf. »Nein, ich ..., ich wollt ja anhalten, aber es ist ned gegangen. Ich bin so schnell nach Haus, wie der Wagen gefahren ist.«

»Sag bloß, es liegt eine schwer verletzte Frau irgendwo im Straßengraben und stirbt vielleicht, weil mein Bruder zu feig war, sich seiner Verantwortung zu stellen?« Toni entriss seinem Bruder den Autoschlüssel und stieg ein.

»Wo ist’s passiert, auf der Straß zum Tegernsee?«

Hans nickte, obwohl er bei seiner Heimfahrt eine ganz andere Strecke genommen hatte. Es schien ihm jedoch die beste Gelegenheit, Toni loszuwerden.

»Willst du ned mitkommen?«, fragte sein Bruder scharf. Hans wich ein paar Schritte zurück und schüttelte den Kopf.

»Feigling, dann sag mir wenigstens, wo’s passiert ist.«

»Ich weiß es nimmer. Ich war ja so aufgeregt.« Hans klammerte sich dabei an die Mutter, als hätte er Angst, Toni könnte ihn von ihr fortreißen.

Toni maß ihn mit einem vernichtenden Blick und fuhr los. Hans atmete erst einmal auf, und schüttelte sich dann wie ein junger Hund. »Ich hab’s doch ned wollen, Mama. Was kann ich denn dafür, wenn mir die Radfahrerin entgegenkommt.«

Die Bachmaierin strich ihrem Jüngsten zärtlich über die Stirn. »Freilich kannst du nix dafür, Bub. Das wird auch der Toni einsehen müssen.«

»Vor dem Toni hab ich weniger Angst. Was ist, wenn die Polizei mir die Schuld an dem Unfall zuschreibt und mich einsperrt.« Hans heulte fast, während er das sagte. Seine Mutter fühlte sich unter der Last der Verantwortung, die er ihr auftrug, fast erdrückt.

»Jetzt reg dich ned auf, Bub, uns wird schon was einfallen. Komm erst einmal ins Haus und beruhig dich. Dabei bereden wir, was wir tun können.«

»Mama, ich will ned ins Gefängnis.« Hans klang nicht mehr wie ein erwachsener Mann von zweiundzwanzig Jahren, sondern wie ein kleiner Junge, der etwas angestellt hat und die Schläge des Vaters fürchtet. Seine Mutter führte ihn ins Haus, nötigte ihn dazu, ein Bier zu trinken, und belegte ihm eigenhändig ein Wurstbrot, während ihre Gedanken nach einem Ausweg suchten.

»Einsperren lass ich dich ned!« Die Weltsicht der Bäuerin war noch von einer vergangenen Zeit geprägt und einfach. Die nahe Grenze zu Österreich versprach in ihren Augen eine Sicherheit vor Strafverfolgung, die sie längst nicht mehr besaß, und so legte sie sich in Gedanken ihren Plan zurecht.

»Du musst ins Tirolische hinüber, damit dich die Polizei ned findet. Wenn wirklich jemand nach dir fragen sollt, schwör ich bei der heiligen Jungfrau Maria, dass du nix mit dem Unfall zu tun haben kannst.« Emerenz Bachmaier war eine gläubige Frau, doch um ihres Jüngsten willen war sie sogar bereit, ihre eigene Seligkeit aufs Spiel zu setzen.

Toni hätte auf Anhieb sagen können, dass eine Flucht nach Tirol für Hans keine Sicherheit versprach, sondern ihn eher verdächtig machen würde. Hans sah nur die Chance, den Folgen des Unfalls entkommen zu können. Ganz so weltfremd, um nicht auch die Schattenseiten zu sehen, war er aber dann doch nicht.

»Du hast schon recht, Mama, aber ich werde ned mit dem Auto fahren oder mich in eine Pension einmieten können. Wenn die mich hier in Bayern mit einem Haftbefehl suchen, geht das vielleicht auch an Interpol, und dann können sie mich über das Autokennzeichen oder die Eintragung ins Gästebuch finden.«

Die Mutter lächelte ihm beruhigend zu. »Dann gehst du über die Berg. Das sieht und weiß keiner, und im Gebirg gibt’s genug Möglichkeiten, um dich zu verstecken.«

»Das werd ich tun.« Hans wollte schon aufspringen, sank aber denn mit einem enttäuschten Ruf zusammen. »Das geht ned. Ich hab ned genug Geld dafür. Ich glaub, es dauert drei Jahr, bis man vor einer Strafverfolgung sicher ist.«

»Geld ist kein Problem.« Die Bäuerin trat an den Küchenschrank und räumte ihre Haushaltskasse bis auf den letzten Cent leer. Danach eilte sie in ihr Zimmer und holte ihre eiserne Reserve. Sie drückte Hans die nicht gerade bescheidene Summe in die Hand und packte ihm dann noch einen Rucksack mit einigen Kleidungsstücken und seinen persönlichen Sachen. Ihre neue Kamelhaardecke, die sie sich wegen ihres Rheumas gekauft hatte, sowie ein großer Beutel mit haltbaren Lebensmitteln wurden ebenfalls eingepackt. Zuletzt stand Hans vor einer Ausrüstung, die selbst für eine Himalayaexpedition reichlich bemessen gewesen wäre und wusste nicht so recht, wie er alles schleppen sollte.

»So geht’s ned, Mama. Damit komm ich nie über die Grenz.«

Die Bäuerin überlegte kurz und zeigte dann nach draußen auf sein Auto. »Wir suchen uns einen unbewachten Grenzübergang, und ich bring dich hinüber.«

»Traust du dir wirklich zu fahren?« Hans Frage war berechtigt. Seine Mutter besaß zwar den Führerschein, hatte sich aber in den letzten Jahren von ihrem inzwischen verstorbenen Mann und ihren Söhnen chauffieren lassen.

Die Bäuerin maß ihren Jüngsten mit einem beleidigten Blick. »Traust du mir das ned zu?«

»Doch, doch«, versicherte Hans hastig und brachte seine Sachen hinaus. Kurz darauf verließen sie mit seinem Wagen den Hof und bogen in Richtung Süden ein.

*

Das Erste, an das Astrid sich erinnerte, als sie wieder aufwachte, war das jungenhafte Gesicht des Autofahrers, das sie für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte. Fast gleichzeitig spürte sie den Schmerz und stöhnte auf.

»Sie kommt anscheinend zu sich«, hörte sie jemanden wie durch einen dichten Vorhang sagen, und zwang sich, die Augen zu öffnen. Ihre Umgebung war entsetzlich nüchtern. Sie sah weiß gestrichene Wände und Decken sowie zwei weiß gekleidete Frauen, die um sie herumstanden. Die jüngere der beiden hatte ein Stethoskop in der Brusttasche ihres Arztkittels stecken, während die andere Astrids Bettdecke zurückschlug.

Das, was Astrid jetzt sah, ließ sie erschrocken aufstöhnen. Ihr linkes Bein war bis zur Hüfte geschient, der rechte Arm eingegipst, und an der Seite entdeckte sie mehrere Verbände. »Was ist passiert?«, fragte sie.

»Grüß Gott, mein Name ist Vollmer. Ich bin die hiesige Stationsärztin. Sie sind bei uns in guten Händen.« Die Stimme der jungen Ärztin klang Vertrauen erweckend, sagte Astrid aber nicht, was geschehen war. Bevor sie jedoch nachfragen konnte, bekam sie von der anderen Frau die gewünschte Auskunft.

»Sie haben einen Unfall gehabt, Fräulein Senkenfeld. Und ein saumäßiges Glück dazu, denn wenn ned mein Neffe zufällig vorbeigekommen wär, hätt’s schlimm ausgehen können. Übrigens, ich bin die Schwester Helga.

Das Ganze klang ein wenig verwirrend, ergab aber mit den Bildern aus Astrids Erinnerung einen Sinn. »Da war ein Autofahrer. Er ist ganz links gefahren. Ich konnte nichts mehr tun.«

»Er muss einen Affenzahn drauf gehabt haben, nach dem, was die Polizisten meinem Neffen erzählt haben. Es hat keine Bremsspur gegeben. Der Notarzt hat gemeint, dass Sie Ihrem Schutzengel mehr als dankbar sein müssen, weil Sie den Unfall lebend überstanden haben.«

Die Ärztin legte der redseligen Frau die Hand auf die Schulter. »Schwester Helga, meinen Sie nicht, dass es für unsere Patientin etwas zu viel wird.«

»Was fehlt mir eigentlich?«, wollte Astrid endlich wissen.

Diese Auskunft übernahm Dr. Vollmer selbst. »Sie haben eine offene Unterschenkelfraktur sowie eine Fraktur des linken Oberschenkels erlitten, dazu noch eine Fraktur des rechten Oberarms und einige kleinere Verletzungen. Zum Glück haben sie keine der schweren inneren Verletzungen davon getragen, die bei solchen Unfällen sonst häufig sind.«

»Ich glaube, es reicht auch so.« Astrid ließ den Kopf müde nach hinten sinken. Unterdessen kontrollierte die Ärztin die Verbände und nickte danach der Schwester zufrieden zu.

»Sie können die Patientin jetzt wieder zudecken, Schwester Helga.«

Die Schwester gehorchte und sah dann Astrid an. »Kann ich dann kommen und Ihre Daten aufnehmen? Bis jetzt wissen wir bloß Ihren Namen.«

»Gerne.« Das Wort war eine einzige Lüge, denn Astrid kämpfte mit den Tränen. Sie war erst vor wenigen Wochen aus Sachsen-Anhalt in die bayrischen Berge gekommen, um in einem Blumengeschäft zu arbeiten. Jetzt lag sie im Krankenbett und wusste nicht, was aus ihr werden sollte.

Die Ärztin spürte, dass ihre Patientin mit ihren Nerven am Ende war und winkte die Stationsschwester zu sich. »Sie geben Fräulein Senkenfeld besser ein leichtes Beruhigungsmittel, damit sie schläft.«

»Aber was ist mit der Polizei. Wir sollen Bescheid geben, sobald die Patientin ansprechbar ist. Es geht schließlich um den Unfallfahrer. Wenn’s zu lang dauert, wird die Spur vielleicht kalt.«

Um die Lippen der Ärztin spielte ein Lächeln. »Sie sehen wohl zu viele Krimis im Fernsehen, Schwester Helga. Wir haben es hier nicht mit einem Kapitalverbrechen zu tun, sondern mit einer simplen Unfallflucht. Wahrscheinlich bereut der Fahrer längst, was er getan hat, und meldet sich selbst bei der Polizei.«

*

Der gut gemeinte Rat Frau Dr. Vollmers konnte nicht verhindern, dass die Polizei noch am selben Tag bei Astrid erschien. Schwester Helga führte die beiden Beamten in das Zimmer. Die beiden Polizisten, große, Achtung einflößende Männer in beigen Hosen und grünen Westen, folgten ihr. Während einer an der Tür stehen blieb, zog sein Kollege einen Stuhl neben Astrids Bett und setzte sich.

»Grüß Gott, Fräulein Senkenfeld. Mein Name ist Kroiß, ich bin Hauptwachtmeister bei der Verkehrsinspektion und tät mich gern mit Ihnen über den gestrigen Unfall unterhalten.«

Astrid nickte, während Schwester Helga ihr eine Tasse Tee eingoss und dann den Polizisten mahnend ansah. »Dass Sie mir meine Patientin ned zu sehr aufregen, Herr Kommissar.«

»Hauptwachtmeister, Schwester, das reicht.« Kroiß lächelte Schwester Helga zu und zog dann unter seiner Weste einen Block hervor. »Also, Fräulein Senkenfeld. Mein Kollege und ich sind gestern an die Stelle an der Staatsstraße zwischen Teisenfeld und Weißmühl gerufen worden, um dort nach Spuren des Unfalls zu suchen.«

»Leider haben wir ned viel gefunden«, warf sein Kollege ein.

»Darum hoffen wir, dass Sie uns mehr sagen können.« Kroiß sah Astrid dabei erwartungsvoll an.

Die junge Frau schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. »Ich weiß nicht viel, Herr Polizist. Da war plötzlich ein Auto, das genau auf mich zu raste.«

»Was war es für ein Fabrikat?«, bohrte Kroiß weiter.

»Ich weiß es nicht. Er war relativ groß, aber die Marke konnte ich nicht erkennen. Dafür ging alles viel zu schnell.«

»Aber an die Farbe können Sie sich doch gewiss erinnern.«

Astrid schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es kann dunkelblau gewesen sein, oder auch dunkelgrün.«

»Den Spuren nach, die wir an Ihrem Fahrrad gefunden haben, war es ein mittleres Grün«, sagt der andere Polizist.

»Das kann sein. Wie gesagt, es ging alles sehr schnell, und der Wagen kam um eine Kurve geschossen.«

»Der Fahrer kann froh sein, dass ihm bloß ein Fahrrad entgegengekommen ist. Bei einem anderen Auto hätt’s einen Frontalen gegeben, bei dem kein Grashalm stehen geblieben wär.« Kroiß schüttelte es bei dieser Vorstellung. Er hatte im Lauf der Jahre schon etliches erlebt und war zu der Überzeugung gelangt, dass der beste Unfall noch immer ein nicht stattgefundener Unfall war.

»Der Fahrer kann vielleicht froh sein. Ich bin es gewiss nicht.« Astrids Stimme klang müde. Schwester Helga wurde sichtlich nervös, und sie forderte die beiden Polizeibeamten auf, ihre Patientin nicht zu überfordert.

»Das tun wir schon ned«, winkte Kroiß ab und stellte Astrid anschließend weitere Fragen. Viel konnte sie ihm jedoch nicht sagen, denn der Unfall war in Sekundenbruchteilen geschehen. Nach einem mahnenden Räuspern der Schwester stellten die beiden Polizisten schließlich ihre Befragung ein.

»Dann wünschen wir Ihnen noch eine baldige Genesung, Fräulein Senkenfeld. Wenn noch irgendwelche Fragen auftauchen sollten, dürfen wir doch wiederkommen?« Kroiß wollte ihr im ersten Augenblick die Hand geben, starrte dann aber etwas unglücklich auf ihren eingegipsten rechten Arm. Er tippe sich stattdessen an die Mütze und verließ mit seinem Kollegen das Zimmer. Die Schwester fragte Astrid, ob sie noch etwas bräuchte und folgte, als die den Kopf schüttelte, den beiden Polizisten. Astrid ließ den Kopf ins Kissen sinken und schloss die Augen. Doch als sie einschlief, verfolgten die Bilder des Unfalls sie noch im Traum.

*

Toni Bachmaier hatte sämtliche Straßen abgefahren, über die man von Mannstetten aus den Tegernsee erreichen konnte, ohne auf eine Spur des Unfalls zu stoßen. Als er seinen Wagen kurz nach Einbruch der Dämmerung nach Hause lenkte, tat er es mit dem bitteren Gefühl im Herzen, dass Hans ihn belogen hatte. Mit dem festen Vorsatz, den Bruder zur Rechenschaft zu ziehen, stellte er das Auto ab und ging auf das Wohnhaus zu. Die Fenster waren alle dunkel, und als er an die Tür kam, war diese versperrt. Verwundert schloss er auf und trat ein.

»Mama! Hans!«, rief er, ohne dass jedoch eine Antwort kam. Weder seine Mutter, noch sein Bruder befanden sich im Haus. Zuerst wollte er ärgerlich werden, begnügte sich dann aber mit einem heftigen Fluch. Eigentlich hätte er es erwarten müssen. Hans hatte sich schon immer hinter den Schürzenzipfeln der Mutter versteckt, wenn ihm der Wind etwas scharf um die Ohren zu blasen pflegte. Toni überlegte sich, zu welchen Verwandten sie gefahren waren, um dort abzuwarten, bis der Sturm sich gelegt hatte, dann dachte er plötzlich an die Radfahrerin, die Hans hilflos an der Straße liegen gelassen hatte.

Kurz entschlossen nahm er den Telefonhörer zur Hand und wählte die Nummer der Polizei. »Grüß Gott«, sagte er, als sich jemand meldete. »Ich wollt fragen, ob es heut am späten Nachmittag einen Unfall mit einer Radfahrerin gegeben hat.«

»Den hat’s gegeben«, antwortete der Beamte eifrig. »Haben Sie vielleicht was gesehen. Das wär wichtig, weil wir nämlich dringend Zeugen suchen. Der beteiligte Autofahrer hat nämlich Unfallflucht begangen.«

»Nein, gesehen hab ich nix, bloß davon gehört. Wie geht’s denn der Radfahrerin?«

»Sie liegt mit ein paar Knochenbrüchen im Krankenhaus. He Sie, wer sind Sie eigentlich. Ihr Interesse kommt mir verdächtig vor. Sie ...« Toni brach das Gespräch ab und legte Hörer wieder auf die Gabel. Auch wenn für ihn klar war, dass Hans sich seiner Verantwortung stellen musste, wollte er ihn nicht selbst der Polizei ausliefern. Jetzt atmete er erst einmal tief durch. Die Radfahrerin lebte, auch wenn sie schwer verletzt war, und damit blieb Hans das Stigma erspart, den Tod eines anderen Menschen verschuldet zu haben.

Um einiges erleichtert, zog Toni sich um und aß zu Abend. Viel Hunger hatte er nicht, da er sich noch immer über die kindische Reaktion seines Bruders ärgerte. Auch seine Mutter hätte gescheiter sein und Hans sagen müssen, dass es nichts brachte, den Kopf in den Sand zu stecken.

Es war bereits spät, als Toni zu Bett ging, und im Schlaf quälten ihn Bilder von Unfällen, bei denen nicht Hans, sondern er am Steuer saß. Der nächste Tag war Sonntag. Toni erledigte seine Stallarbeit und stand danach etwas hilflos in der Küche. Da sowohl Hans wie auch er kräftig zugreifen konnten und die Mutter mit dem Haushalt spielend fertigwurde, gab es auf dem Hof keine Dienstboten. Ihm blieb daher nichts anderes übrig, als sein Frühstück selbst zu machen. Als er kurz darauf am Tisch saß und heißes Wasser mit leichtem Kaffeegeschmack trank und lustlos in ziemlich verbrannt aussehenden Rühreiern herumstocherte, verfluchte er in Gedanken seinen Bruder.

Plötzlich ging die Tür auf, und ein recht ansehnliches junges Mädchen trat ein. »Grüß dich, Toni. Ich wollt doch einmal nachschauen, warum du unsere gestrige Verabredung total vergessen hast.«

»Grüß dich, Martina. Es tut mir leid, aber es ist was dazwischengekommen. Der Hans ...«

»Ich hab schon gesehen, dass du ihm dein Auto geliehen hast. Er ist wohl ned rechtzeitig zurückgekommen, was? Aber du hättest ruhig sein Auto nehmen können.« Martina glitt an Tonis Seite und hauchte ihm einen Kuss auf die Wangen.

Toni schloss das wohlgeformte, brünette Mädchen in seine Arme und zog es an sich. »Das hätt ich auch gern gemacht, aber ohne Autoschlüssel ist das schlecht gegangen.« Er überlegte kurz, ob er seiner Verlobten von Hans’ Unfall erzählen sollte, entschied sich aber dagegen, denn er wollte dem Bruder die Chance lassen, sich selbst bei der Polizei zu melden, bevor die Spatzen alles von den Dächern pfiffen.

»Wo ist denn der Hans eigentlich, und wo deine Mutter?«

Auf diese Frage hätte Toni auch gerne eine Antwort gewusst. Er lachte etwas misstönend und zuckte dann mit den Schultern. »Sie wollten sich irgendetwas anschauen. Du kennst doch den Hans. Er kann manchmal ein richtiger Kindskopf sein.«

Zum Glück achtete Martina nicht auf sein Mienenspiel. »Das Wort manchmal ist in meinen Augen arg untertrieben. Der Hans besteht fast nur aus Dummheiten.« Es war ein hartes, aber nicht völlig ungerechtes Urteil, trotzdem passte Toni Martinas verächtlicher Ton nicht.

»So schlimm ist er auch wieder ned!«

»Sei mir ned bös, Toni, aber du siehst deinen Bruder durch eine rosarote Brille. Der Hans ist durch und durch verantwortungslos. Jetzt weiß er schon seit etlichen Monaten, dass wir zwei über kurz oder lang vor den Altar treten werden. Er hätt sich längst eine saubere Hoferbin anlachen können. Du weißt, es tut ned gut, wenn eine Jungbäuerin auf den Hof kommt und es sind noch Geschwister da.«

»Du tust ja direkt so, als wenn der Hans von Hof müsst, wenn wir heiraten.« Diese Diskussion hatte Toni schon ein paar Mal mit Martina geführt, aber nie so richtig ernst genommen. Heute aber ärgerte er sich darüber.

Martina begriff, dass es besser war, einen Schritt zurückzustecken. Sie küsste Toni und strich ihm dann mit der Kuppe ihres rechten Zeigefingers über die Wange. »Wir wollen uns doch ned wegen dem Hans streiten. Natürlich kannst du ihn nach unserer Heirat ned von Hof jagen.«

Toni atmete auf, weil die kleine Missstimmung wieder beseitigt war, und löste sich nach einem letzten Kuss aus Martinas Armen. »So, jetzt frühstück ich fertig und mach mich dann für den Kirchgang zurecht. Wartest du so lang?«

»Freilich.« Martina holte sich eine Tasse aus dem Küchenschrank und goss Kaffee ein. Als sie jedoch den ersten Schluck davon trank, prustete sie lachend los. »Bei allen Heiligen. Toni, du hast wohl eine Kaffeebohne auf zehn Liter Wasser genommen?«

»Ich hab keine Ahnung, wie viel ich davon nehmen muss«, gab Toni offen zu. »Sonst hat das alleweil die Mama gemacht, und wie sie im letzten Winter krank gewesen ist, hat der Hans gekocht, aber ned ich.«

Martina ging zum Kühlschrank, um ein paar Sachen herauszuholen, drehte sich dann aber noch einmal zu Toni um. »Es kränkt dich wohl arg, dass deine Mutter den Hans so vorzieht?«

Toni zuckte mit den Schultern. »Daran hab ich mich gewöhnt. Es war ja schon in unserer Jugend so, dass der Vater mehr an mir und die Mutter mehr an dem Hans gehangen haben.«

»Aber jetzt, wo dein Vater nimmer lebt, müsst sie doch ein bisserl mehr auf dich schauen.« Martina hätte die kleinen Keile, mit denen sie Tonis Verhältnis zu seiner Mutter erschüttern wollte, gar nicht gebraucht, denn für ihn war es selbstverständlich, sich nach der Heirat auf die Seite seiner Frau zu stellen. Allerdings hatte er nicht vor, deshalb ungerecht zu seiner Mutter zu sein.

»Lass sie. In ein paar Jahren wird der Hans verheiratet sein, dann legt sich auch das.«

»Wollen wir’s hoffen.« Auch diesmal lenkte Martina rasch genug ein, um jeden Streit zu vermeiden. Sie strich Toni eigenhändig ein Brot auf und kochte einen Kaffee, der seinen Namen auch verdiente. Nach dem Frühstück musste Toni sich beeilen, um noch rechtzeitig zur Kirche zu kommen.

Martinas Eltern und ihr Bruder Franz begrüßten sie fröhlich. »Da seid ihr ja, ihr zwei. Wir haben schon denkt, ihr macht was anderes und vergesst ganz, in die Kirche zu kommen.« Der alte Heimberger zwinkerte seiner Tochter und Toni anzüglich zu und wollte noch etwas sagen, doch der Klang der Kirchenglocken riss ihm das Wort vom Mund.

»Auf geht’s, der Herrgott ruft!«, sagte Franz laut genug, damit Toni es hören konnte, und eilte auf die Kirchentür zu. Martina hakte sich bei Toni unter und ließ sich von ihm bis zur Kirche führen.

*

Tonis Mutter kehrte erst am späten Nachmittag und allein auf den Bachmaierhof zurück. Im ersten Augenblick konnte Toni es kaum glauben, denn sie war mindestens zehn Jahre lang nicht mehr am Steuer eines Autos gesessen. Doch in ihrer Affenliebe zu Hans war sie wohl zu allem bereit.

»Wo ist der Hans?«, fragte er sie.

»Ich weiß es ned.«

Obwohl es sicher nicht ganz stimmte, erkannte Toni, dass seine Mutter nicht log. Er schüttelte den Kopf und musterte sie mit einem ärgerlichen Blick. »Was versprichst du dir denn davon? Für den Hans ist es besser, wenn er sich der Polizei stellt.«

Seine Mutter schob das Kinn kämpferisch nach vorne. »Ich lass ned zu, dass der Hans eingesperrt wird! Dir wär’s natürlich egal, denn du hast den Hans nie so lieb gehabt, wie er es verdient. Ich weiß noch genau, wie du ihm an einem seiner ersten Weihnachten seinen neuen Bulldog kaputtgemacht hast, bloß weil du ihm den ned gegönnt hast!«

Es klang so giftig, dass Toni die Lust verging, weiter mit ihr zu reden. Er stand auf und verließ die Küche. Während er draußen zwischen seinen Wiesen dahinschlenderte, wanderten seine Gedanken unwillkürlich zu dem Unfallopfer, das sich schwer verletzt im Krankenhaus befand. Wie es dieser Frau ging, schien seine Mutter nicht im Geringsten zu interessieren. Diese Unbedachtheit ärgerte ihn beinahe noch mehr als ihr verzweifelter Versuch, Hans zu schützen.

Da er Hans sein Auto geliehen hatte, fühlte Toni sich an dem Unfall mitschuldig. Von seiner inneren Unruhe getrieben, kehrte er ins Haus zurück, nahm das Telefon zur Hand und rief im Krankenhaus an.

»Grüß Gott. Ist gestern ned eine Unfallpatientin eingeliefert worden?«, fragte er, als sich jemand meldete.

»Wenn Sie mir den Namen sagen könnten«, hörte er eine Frauenstimme sagen.

»Den weiß ich leider ned, bloß, dass es sich um eine Radfahrerin handelt, die von einem Auto angefahren worden ist.«

»Sind sie vielleicht der Unfallfahrer?«

Toni spürte die Spannung, die die Krankenhausangestellte ergriffen hatte, und schüttelte den Kopf, obwohl sie es gar nicht sehen konnte. »Gott sei Dank bin ich das ned. Ich hab bloß von dem Unglück gehört. Wissen Sie, eine Bekannte von mir ist in der Gegend Rad gefahren und die hat sich seitdem nicht mehr gemeldet.« Jetzt gehe ich schon genauso leichtfertig mit der Wahrheit um wie Hans, fuhr es Toni durch den Kopf.

»Ach, so ist das«, hörte er die Frau am Telefon sagen. »Eigentlich geben wir je keine Informationen an Fremde weiter. Aber ich kann trotzdem mal nachschauen.« Sie verstummte für ein paar Augenblicke, dann meldete sie sich wieder. »Also, die Verunglückte heißt Astrid Senkenfeld. Ist das ihre Bekannte.«

»Das ist sie. Ist sie schwer verletzt?« Toni verachtete sich für seine Lügen, doch er wollte wissen, wie es der Frau ging. Seine Gesprächspartnerin am Telefon zählte einige Frakturen und andere Verletzungen auf, die sich in seinen Augen grauenhaft anhörten, und schloss mit den Worten, dass die Patientin trotz allem nicht in Lebensgefahr sei.

»Gott sei Dank.« Toni atmete erst einmal tief durch, bedankte sich dann für die Auskunft und legte auf. An diesem Tag hatte er keine Lust mehr, mit seiner Mutter zu sprechen, und ging daher bald zu Bett. Am nächsten Morgen erledigte er die Stallarbeit, die sich ohne Hans’ Mithilfe ein wenig hinzog, frühstückte anschließend in eisiger Atmosphäre und erledigte einige anfallende Arbeiten. Kurz vor Mittag zog er sich um, setzte sich ins Auto und fuhr los. Er wusste eigentlich nicht so recht, was er eigentlich wollte, doch als er ein paar Kilometer weiter in einem Dorf ein Blumengeschäft entdeckte, hielt er an und trat ein.

Eine ältere Frau band gerade einen hübschen Strauß aus gelben und roten Rosen, hielt dabei aber inne, als sie ihn sah. »Grüßt Gott, der Herr. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich hätt erst einmal eine Frage. Liefern Sie auch Blumen ins Krankenhaus?«, wollte Toni wissen.

Die Frau nickte eifrig. »Aber freilich. Der Strauß, den ich gerad mach, kommt in die Klinik. Ein junger Ehemann hat ihn für seine Frau bestellt. Die beiden haben ihr erstes Kind gekriegt, müssen Sie wissen.«

Toni interessierte sich weder für das Paar noch das Kind, sondern allein für die Tatsache, dass er Astrid Senkenfeld von hier aus einen Strauß ins Krankenzimmer schicken konnte. »Es gibt jemanden in der Klinik, dem ich Blumen schenken will. Was könnten Sie mir da empfehlen.«

»Da müsst ich erst wissen, ob es sich um einen Mann handelt oder um eine Frau, und auch das Alter, denn einem reiferen Semester schickt man andere Blumen als einem jungen Madl oder einem Burschen.«

»Das Alter weiß ich leider ned. Aber es ist auf alle Fälle eine Frau.« Toni sah die Blumenverkäuferin etwas hilflos an, doch die schien es gewohnt zu sein, dass die Herren der Schöpfung nicht so recht wussten, was sie wollten. Sie zeigte Toni mehrere Blumen, die ihrer Ansicht nach einen hübschen Strauß ergeben würden, den man Frauen jeden Alters schenken konnte. Es handelte sich um dunkle Rosen, etliche helle Nelken und bronzefarbene Margeriten, die mit viel Grün gebunden in Tonis Augen fast ein wenig zu vornehm wirkten. Er verließ sich jedoch auf die Erfahrungen der Verkäuferin, lobte den Strauß und zog dann seine Geldbörse, um zu zahlen.

»Und an wen sollen die Blumen gehen?«

»An eine Astrid Senkenfeld«, erklärte Toni, und wunderte sich im nächsten Moment über den überraschten Ausruf der Blumenhändlerin. »An die Astrid, das ist aber eine Überraschung. Wissen Sie, die arbeitet bei mir. Sie können mir glauben, wenn ich sag, was für ein Schock das für mich gewesen ist, als ich vom Krankenhaus aus angerufen worden bin und von dem Unfall gehört hab. Der Kerl, der das verbrochen hat, den sollte man erschießen.«

»Das sollte man wirklich.« Toni hatte alle Mühe, seine Ruhe zu bewahren. Da um diese Zeit im Blumengeschäft relativ wenig los war, fand die Blumenhändlerin Zeit, ihm mehr über Astrid zu erzählen. Ohne groß nachbohren zu müssen, erfuhr er, dass sie zweiundzwanzig Jahre alt und ledig war, aus den neuen Bundesländern stammte und hier als Blumenverkäuferin angestellt war. Seine Gesprächspartnerin, die, wie er nebenbei erfuhr, auch die Besitzerin des Blumenladens war, lobte Astrids Arbeitseifer und Geschick über den grünen Klee. Nebenbei ließ sie jedoch heraushängen, dass es für sie sehr schwer würde, die Stelle als Floristin so lange offen zu halten, bis Astrid wieder gesund war.

»Ned, dass Sie schlecht von mir denken, aber ich muss auf mein Geschäft schauen, und die Astrid findet gewiss was Neues!«

Toni wurde es in dem kleinen und von Blumendüften erfüllten Laden auf einmal zu eng. Er warf noch einen letzten Blick auf den von ihm bezahlten Strauß, den die Ladenbesitzerin während der Mittagspause in die Stadt bringen wollte, und verabschiedete sich. Als er draußen war, hatte er Mühe, einen wüsten Fluch zu vermeiden. Wie es aussah, hatte Hans in seiner Unbesonnenheit nicht nur den Körper der jungen Frau zerstört, sondern auch ihre Existenzgrundlage. Er drehte seinem Bruder in Gedanken den Hals um und fragte sich gleichzeitig, wo er sich jetzt gerade herumtreiben mochte.

*

Hans war von seiner Mutter glücklich über einen unbewachten Grenzübergang nach Tirol gebracht und tränenreich von ihr verabschiedet worden. Nachdem sie mit dem Auto losgefahren war, schulterte er sein Gepäck und marschierte los. Zunächst machte er sich keine Gedanken, wo er überhaupt hin wollte. Er mied aber instinktiv die grünen Täler mit ihren schmucken Dörfern, sondern hielt sich auf den Höhenwegen. Nach einer Weile spürte er die ungewohnte Last des schweren Rucksacks auf seinen Schultern wie einen Mühlstein und suchte sich einen Platz, an dem er sich ausruhen konnte. Müde geworden, lud er den Rucksack ab und legte sich auf den weichen Waldboden. Über ihm rauschten die Tannen ihr stetes Lied und lullten ihn ein. Ehe er sich versah, war er eingeschlafen und wachte erst wieder auf, als die Sonne hinter den Bergen verschwunden war.

»Sakra, das war jetzt ned gut. Ich muss mir ja noch einen Schlafplatz suchen.« Hans fluchte, während er die Arme in die Riemen des Rucksacks zwängte und loslief. Im letzten Licht des Tages erreichte er einen windschiefen Heuschuppen. Die Tür war im Boden eingewachsen, und Hans musste alle Kraft aufwenden, um in das Innere der Hütte zu kommen. Seine Mühen wurden jedoch belohnt, denn im Schein seiner Taschenlampe entdeckte er einen großen Heuhaufen, der ein gutes Nachtlager versprach. Das Einzige, was ihm fehlte, war etwas zu trinken. Doch darauf würde er bis zum nächsten Tag verzichten müssen.

In dieser Nacht schlief Hans traumlos bis zum Morgen und wusste beim Erwachen zunächst nicht, wo er sich befand. Erst allmählich kehrte seine Erinnerung zurück, und mit ihr auch die Frage, was er denn eigentlich in den nächsten Wochen und Monaten anfangen sollte. Er hatte bis jetzt auf dem Hof seines Bruders gearbeitet und war dabei gewiss nicht wegen mangelnden Eifers gescholten worden. Der Gedanke, auf absehbare Zeit seine Hände nicht mehr rühren zu können, erschreckte ihn. Während er eine der letzten und bereits arg zähen Wurstsemmeln seiner Mutter als karges Frühstück hinunterwürgte, überlegte er, ob er sich nicht besser bei einem Bauern als Knecht oder in einer Berghütte als Aushilfskellner verdingen sollte. Diese Hoffnung zerbrach jedoch rasch wieder, denn wenn er das tat, würde er seine Papiere vorlegen müssen.

Zum ersten Mal seit dem Unfall richteten sich seine Gedanken plötzlich nicht mehr auf sich selbst, sondern auf die junge Radfahrerin. Mit einer gewissen Beschämung erkannte Hans, dass er nicht einmal wusste, ob sie überhaupt noch lebte.

Diese Erkenntnis schmeckte ihm ganz und gar nicht. Er starrte auf seine Hände und sah, dass sie zitterten. Soviel er wusste, verjährten Mord und Totschlag nicht so schnell wie Verkehrsdelikte. Er würde vielleicht nie mehr nach Hause zurück können. Doch was sollte er dann anfangen, fragte er sich. Nach Amerika auszuwandern, wie die Leute es noch vor hundert Jahren getan hatten, war unmöglich, da die dortigen Behörden wegen der Terroristengefahr jeden Einreisenden äußerst streng kontrollierten und einen gesuchten Verbrecher gewiss nicht ins Land lassen würden.

»Mir bleibt nur die Fremdenlegion!« Hans erschrak vor dem bitteren Klang der eigenen Stimme. Er hatte nie etwas für das Militär übrig gehabt und war auch der Bundeswehr entkommen. Doch wie es jetzt aussah, hatte er keine andere Chance.

»Was hab ich Depp auch rasen müssen wie ein Idiot!« Langsam begriff er die Schuld, die er auf sich geladen hatte, und schob sie nicht auf die Umstände oder gar die junge Frau, die zur falschen Zeit an der falschen Stelle gewesen war. Hatte Hans seine Wanderung am Tag vorher noch mit dem Gefühl der sich verfolgt fühlenden Unschuld angetreten, so schlich er diesmal als ein Häuflein Elend weiter. Er hatte keinen Blick für die herrliche Landschaft mit ihren hoch aufragenden, grauen Bergriesen, deren Gipfel weiß glänzten, und die grün leuchtenden Täler und die Almen mit ihren satten Grasmatten, auf denen stämmige, rot gefleckte Bergrinder weideten.

An einem Bach hielt er an, um zu trinken, und bedauerte jetzt, keine Feldflasche mitgenommen zu haben. Die Limoflasche mit dem Bügelverschluss, die er kurz darauf in einer Almwirtschaft kaufte, war nur ein mäßiger Ersatz. Zum einen ging nur ein halber Liter hinein, und zum zweiten war sie schwerer als eine Aluflasche. Hier auf der Höhe besaß Hans allerdings keine Chance, seine Ausrüstung zu vervollständigen, und ins Tal wagte er sich aus Angst vor den österreichischen Gendarmen nicht hinunter.

Die Nacht verbrachte er erneut in einer alten Heuhütte. Diesmal fand er jedoch kein Heu, sodass er auf dem nackten Boden schlafen musste. Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich derart zerschlagen, dass er am liebsten aufgegeben hätte. Nur die Angst vor dem Gefängnis, das in seiner Fantasie zu einem finsteren Loch mit gemeinen Wärtern geworden war, hielt ihn davon ab.

Die nächsten Tage wanderte er ziellos weiter. Dabei spürte er bald, dass er etwas mehr Wert auf seine Körperpflege legen musste, wenn er sich nicht den verwunderten Blicken der Einheimischen und Touristen ausgesetzt sehen wollte. Es fiel ihm nicht leicht, die bereits stark gewachsene Matte auf seinem Kinn und den Wangen mit Hilfe eines kleinen Taschenspiegels abzurasieren. Zum Glück war er kaltes Wasser gewohnt, und als er seine Ersatzkleidung angezogen hatte, fühlte er sich fast wie neu geboren. Er wusste allerdings selber, dass dieser Zustand nur wenige Tage anhalten würde. Dann sahen diese Klamotten genauso aus wie die alten, die er ganz unten in den Rucksack steckte und die förmlich danach schrien, gewaschen zu werden.

Mit der Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen konnte, setzte er seinen Weg fort und erreichte nach einigen Stunden eine weitläufige Hochalm, auf der zu seiner Verwunderung Milchkühe grasten und kein Jungvieh, wie es sonst üblich war. Es waren vielleicht die Kühe, die Hans dazu brachten, die Bergwirtschaft, die ein Stück weiter vorne zu sehen war, zu missachten und auf die Almhütte zuzugehen.

*

Es war ein Tag, wie geschaffen, um sie zu ärgern, dachte Burgl stöhnend, während sie im hinteren, abgetrennten Teil ihrer Almhütte daranging, die Milch zu verarbeiten. Sie war mit dem Fuß umgeknickt, als sie ihre Kühe in den Melkstand getrieben hatte, hatte aber trotz ihrer Schmerzen die Tiere gemolken. Mittlerweile tat der Fuß jedoch so weh, als würde ihn jemand mit einer glühenden Rohrzange abdrehen. Dabei lag ihre Hauptarbeit noch vor ihr. Es bereitete ihr Mühe, die Milchkannen hierher zu tragen und die Milch in den großen Bottich zu schütten. Doch das war noch gar nichts gegen die Anstrengung, den Käsebruch, zu dem die Milch des Vorabends geronnen war, auszuheben und in die Formen zu füllen. Burgl weinte vor Schmerzen und überhörte dabei ganz, wie jemand vorne an die Tür der Almhütte klopfte.

»Hallo, ist da jemand?« Erst diese Frage ließ sie aufhorchen.

»Ja, was gibt’s?«, antwortete sie kurz angebunden.

»Ich wollt fragen, ob ich vielleicht eine kleine Brotzeit kriegen könnt.« Der Aussprache nach war der Mann kein Tiroler, sondern stammte von jenseits der Grenze. Burgl hielt ihn für einen Bergwanderer, der während seiner Tour Hunger bekommen hatte und anscheinend glaubte, dass hier alle Almhütten bewirtschaftet würden. Sie hatte zwar einige Getränkte und Lebensmittel vorrätig, die sie an zufällig vorbeikommende Wanderer ausgeben konnte. Im Allgemeinen zogen diese jedoch die nahe Bergwirtschaft vor. Da sie vor Schmerzen kaum gehen konnte, machte Burgl den Fremden auf diese aufmerksam.