Die Zweite Menschwerdung - Gerhard Branstner - E-Book

Die Zweite Menschwerdung E-Book

Gerhard Branstner

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Beschreibung

Branstner hat gegenüber Marx einen entscheidenden Vorteil, so sagt Branstner über Branstner und seine Gedanken zum Übergang von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft oder besser formuliert vom Übergang von der Vorgeschichte der Menschheit zur eigentlichen Geschichte der Menschheit. Und damit sind wir mit Branstner bei Marx oder auch umgekehrt: Wenn Marx die gesellschaftliche Entwicklung in Vorgeschichte und eigentliche Geschichte schied, in Urgesellschaft und Klassengesellschaft zum einen und klassenlose Gesellschaft zum anderen, so markierte er den schmerzlichsten, schwierigsten und tiefstgehenden Wandel im Schicksal der Menschheit. Der gedanklichen Bewältigung dieses Vorgangs war Marx nicht gewachsen. Ihm fehlten zwei Voraussetzungen. Die eine war der Untergang des realen Sozialismus. Ohne diese Erfahrung kann kein Mensch die Bedingung des erfolgreichen Sozialismus erfassen. Und was hat Branstner zu diesem Thema zu sagen? Dazu lesen wir in dem entsprechenden Abschnitt seiner „Überlebensphilosophie“ unter anderem: Der Übergang zur eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution, ist ein Vorgang, über dessen Dimensionen wir uns noch keine Vorstellungen gemacht haben, aber alsbald machen sollten. Dieser Übergang ist nicht nur die totale Umwälzung aller bisherigen Geschichte. Er ist auch ein historischer Neubeginn, der als Negation der Negation einen dialektischen Inhalt und dialektische Vielfalt enthält. Die Datierung des Zeitraums, in dem der Affe zum Menschen wurde, die Menschwerdung ist binnen weniger Jahrzehnte von hunderttausend Jahren auf fünfhunderttausend und schließlich auf eine Million Jahre, also um das Zehnfache verlängert worden. Die Datierung des Zeitraums, in dem wir von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte übergehen, hat das gleiche Schicksal. Das römische Reich brauchte 300 Jahre, um unterzugehen. Der Kapitalismus, die Klassengesellschaft ist aber mehr als nur ein Reich. Wie viele Jahrhunderte wird der Untergang dieser Gesellschaft brauchen? Und wie viele Jahrhunderte wird die Errichtung der eigentlichen Geschichte brauchen, auch wenn das eine und das andere teilweise in einem ablaufen? Mehr als 300 Jahre? Und die andere Frage ist, ob uns die Umweltzerstörung die Zeit lässt. Ein Teil der Fachleute sagt uns einen baldigen Kollaps voraus, der andere Teil ein langes Siechtum. Bewiesen ist weder das eine noch das andere. Der „reale Sozialismus“ ist einem historischen Dilemma zum Opfer gefallen.

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Impressum

Gerhard Branstner

Die Zweite Menschwerdung

Überlebensphilosophie

Das Buch erschien 2003 im trafo verlag, Berlin.

ISBN 978-3-96521-762-1 (E–Book)

Titelbild: Ernst Franta

© 2022 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E–Mail: verlag@edition–digital.de

Internet: http://www.edition-digital.de

Vorbemerkung

Sehr geehrter Leser, da ich diesmal hochwissenschaftlich komme, muss ich auch förmlich kommen. Ich bitte, das Folgende mit dem nötigen Ernst zu genießen.

I. Der Holzbaukasten ist eine großartige Erfindung. Ich baue einen Turm, werfe ihn um und baue mit den gleichen Steinen eine Brücke. Was aber, wenn ich aus den Steinen eines Essays einen anderen Essay baue? Da moniert man die Wiederholung. Dabei ist die Sache hier doch viel schwieriger, denn jeder Stein ist, im Unterschied zum Holzbaukasten, ein eigener, individueller, einzigartiger, der im ersten Essay seinen bestimmten Platz hat. Wie kann er im anderen Essay wieder seinen bestimmten Platz haben? Eben das ist die Kunst in der Wissenschaft, die Literatur in der Philosophie. Da ich diesen Band aus zehn verschiedenen Büchern zusammengebaut habe, holpert es allerdings manchmal.

Und Wiederholungen waren nicht immer vermeidbar.

Mein Denken und Tun kreist nur um ein Thema. Das ist der Übergang von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft, anders gesagt der Übergang von der Vorgeschichte der Menschheit zu ihrer eigentlichen Geschichte. Dieser Übergang ist mir zum Sinn meines Lebens geworden. All meine Gedanken, ob sie zu den Naturvölkern gehen oder zu Napoleon, zu den Konzentrationslagern oder nach Irak, nach Israel oder zum Stalinismus, all meine Gedanken haben ihren Sinn und Zweck doch nur darin, den Übergang zu begreifen, als richtig und unvermeidlich zu erkennen, zu ermöglichen, zu befördern. Das erklärt die innere Verbindung und Gebundenheit, die Einheit der Verschiedenheit meiner geistigen Unternehmungen. Wenn wir nicht wissen, wohin wir gehen, wissen wir nicht, woher wir kommen, und jeder redet nur Unsinn über das Woher, und jeder einen anderen. Wenn ich aber weiß, wohin wir gehen, läuft alles auf den gleichen Sinn hinaus.

Das erklärt die wiederholte Verwendung und Verwendbarkeit der Bausteine meines Denkens aber nur zur Hälfte.

Die andere Voraussetzung ist, dass ich zitierbar schreibe. Aphorismen, Sentenzen, Sprüche sind die Bausteine meiner Essays, Traktate und Glossen. Zitate sind aber eigenständige Wesen. Sie sind nicht von einer bestimmten Beziehung abhängig, können aber in den verschiedenen Beziehungen eine spezifische Bedeutung gewinnen. Das ist die Kunst und das Geheimnis meiner Schreibart. Aber nun ist es kein Geheimnis mehr.

II. Marx ist zweifellos der bedeutendste Denker der Menschheit. Wer auf seinen Schultern steht, selbst wenn er ein Zwerg ist, steht ziemlich hoch und sieht ziemlich weit. Und seine erste Pflicht ist, diesen ausgezeichneten Standort zu nutzen. Um mit Marx über Marx hinaus zu blicken. Anders gesagt: Die Fortsetzung des Marxismus ist seine konsequenteste Kritik, was aber nur mit Marx geht, nicht gegen ihn.

Wenn Marx die gesellschaftliche Entwicklung in Vorgeschichte und eigentliche Geschichte schied, in Urgesellschaft und Klassengesellschaft zum einen und klassenlose Gesellschaft zum anderen, so markierte er den schmerzlichsten, schwierigsten und tiefstgehenden Wandel im Schicksal der Menschheit.

Der gedanklichen Bewältigung dieses Vorgangs war Marx nicht gewachsen. Ihm fehlten zwei Voraussetzungen. Die eine war der Untergang des „realen Sozialismus“. Ohne diese Erfahrung kann kein Mensch die Bedingung des erfolgreichen Sozialismus erfassen. Welche die 3 Quellen des Marxismus sind, ist allgemein bekannt. Will einer wissen, welche Quellen Marx nicht hatte, so weiß er jetzt eine. Eben deshalb war der „reale Sozialismus“ bei aller Verpfuschtheit eine historische Notwendigkeit. Die andere Voraussetzung ist die absolute Unbefangenheit gegenüber dem Marxismus. Diese Unbefangenheit sich selber, dem eigenen Werk gegenüber war selbst einem Marx nicht gegeben.

Die Wiener Schule der Mathematik weiß, dass man ein System nur von außen, vom nächsthöheren System aus schließen kann. Das trifft auch auf den Marxismus zu. Er kann nur als fortgesetzter geschlossen, eine Stufe höher gehoben werden.

III. Wie die Klassengesellschaft kann auch der Kapitalismus nicht abgeschafft werden. Die Klassengesellschaft stirbt ab. Und die eigentliche Geschichte kann nicht durch einen revolutionären Akt geschaffen werden. Sie entsteht als historischer Prozess. Revolutionen sind in beiden Fällen Todes- oder Geburtswehen. Der historische Charakter dieses Prozesses erklärt sich aus einem bisher ungekannten historischen Dilemma, nämlich aus der ungeheuren Diskrepanz zwischen Voraussetzung und Aufgabe, zwischen der miserablen Verfassung der Menschheit einerseits und den ungeahnten Dimensionen der zu verwirklichenden Zukunft andererseits.

Der Übergang zur eigentlichen Geschichte ist folglich grundsätzlich anders, als die Klassiker des Marxismus ihn sich vorstellten, soweit sie ihn sich überhaupt vorgestellt haben. Von dieser kümmerlichen und naiven Vorstellung müssen wir Abschied nehmen.

Als Ausgleich erhalten Sie, verehrter Leser, acht Wissenschaftsbegründungen geboten. Sie reichen von der Beziehung des Menschen zur Natur bis zu seiner Beziehung zur Kunst. Womit er in allen seinen wesentlichen Seiten erfasst ist. Das hat es auch noch nicht gegeben.

Ich wünsche Ihnen ein akademisches Vergnügen.

Ihr Doktor phil. Gerhard Branstner

Acht Wissenschaftsbegründungen: I. Das Naturgesetz des Menschen

Das ist das Gesetz der Einheit von Mensch und Natur.

Darwins Entdeckungen führen schnurstracks zum Kommunismus. Der Kommunismus ist die logische Konsequenz des Darwinismus. Das ist eine abenteuerliche Behauptung. Wenn sie aber richtig ist, haben wir es mit einer ungeheuren Erkenntnis zu tun. Und mit einem tiefen Eingriff in Wesen und Struktur des Marxismus. Daher ist zu Beginn ein Wort nötig zu dem, in was da eingegriffen wird. Und am Ende ein Wort zu den Folgen des Eingriffs.

1. Der Marxismus als Wissenschaft

Der Marxismus ist eine Wissenschaft, und zwar die einzige in Bezug auf seinen Gegenstand. So wenig es zwei Physiken gibt oder fünf Mathematiken oder siebenundzwanzig Philologien, so wenig gibt es mehrere Wissenschaften, betreffend die allgemeinen, wesentlichen Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft. Andererseits kennt jede Wissenschaft verschiedene Schulen, heftige Streite und eklatante Irrtümer, ruhige und sprunghafte Entwicklungen, Seiteneinsteiger, dumme und kluge Bekämpfungen und Abwehrkämpfe. Der Marxismus ist eine Wissenschaft wie jede andere.

Und der Marxismus ist eine Wissenschaft wie keine andere. Die erste Besonderheit besteht in seiner Grundlegung. Sie geschah mehr oder weniger durch einen einzigen Menschen, obwohl ihr Umfang gewaltig und ihr Inhalt vielgestaltig ist. Diese Grundlegung war eine Herkulesarbeit und ist einmalig in der Wissenschaftsgeschichte, weshalb diese Wissenschaft zu Recht den Namen eines Menschen trägt.

Eine zweite Besonderheit des Marxismus ist seine Lebensgefährlichkeit. Marxisten wurden und werden millionenfach in Gefängnisse geworfen und in Konzentrationslager, werden millionenfach gefoltert, für ihr ganzes Leben verkrüppelt und millionenfach um ihr Leben gebracht, von Kapitalisten und von Stalinisten. Der Marxismus selbst wird ununterbrochen und massenhaft auf die unterschiedlichste Weise entstellt, verfälscht, verleumdet, verschwiegen und verdammt; in ihm angedichtete und in wirkliche Krisen gestürzt.

Die dritte Besonderheit ist seine Aushöhlung von innen her. Das kann die revisionistische Aushöhlung sein oder die dogmatische, zum Beispiel die von Bernstein oder die von Stalin. Das kann aber auch die Abwicklung sein, wie das seit einiger Zeit in der PDS geschieht. Da wird der Marxismus mehr und mehr auf eine beliebige Anschauung reduziert oder ganz verabschiedet.

Diese Besonderheiten trugen und tragen dazu bei, dass der Marxismus kaum dazu kam und kommt, sich wie eine normale Wissenschaft zu entwickeln.

2. Marxismus und Darwinismus

Wie stand Marx zu Darwin? Darwin war eine Quelle, die Marx kannte, aber nicht nutzte. Marx hatte sein System bereits einigermaßen beisammen und zu Ende gedacht. Insofern kam Darwin zu spät. Wer reißt schon das, was er gerade frisch errichtet hat, wieder auf? Und fängt noch mal von vorne an? Also ordnete er Darwin neben sich ein, indem er ihn als den Mann lobte, der auf dem Gebiete der lebenden Natur das getan habe, was sie (Marx und Engels) auf dem Gebiet der Gesellschaft getan haben, nämlich die objektiven Entwicklungsgesetze aufgedeckt. Damit war die Welt in „Chicagomanier“ unter Marx und Darwin aufgeteilt. Womit Marx Darwin mehr würdigte als dieser ihn. Überdies war die wissenschaftliche Leistung von Marx ungleich größer als die von Darwin, wovon dieser keinen Begriff hatte. Aber unabhängig davon ist die von Darwin aufgedeckte Gesetzmäßigkeit ungleich umfassender als die von Marx. Und sie ist allen von Marx aufgedeckten Gesetzmäßigkeiten übergeordnet, wovon dieser nun wieder keinen Begriff hatte. Ich rede von dem Gesetz der Anpassung.

Alle von Darwin erkannten Gesetze haben ihren schließlichen Sinn und Zweck im Gesetz der Anpassung. Dieses Gesetz ist das grundlegende Entwicklungsgesetz allen Lebens, also auch des gesellschaftlichen, menschlichen. Es ist das einzige Gesetz, das gleichermaßen für die lebende Natur und für die Gesellschaft gilt. Das hat Darwin selber nie begriffen, und Marx auch nicht.

Es handelt sich hier nicht um die fälschliche Übertragung von Darwin in Form des Sozialdarwinismus und dergleichen, um biologistische Versimpelungen oder um das Verständnis der Anpassung als moralische oder politische Unanständigkeit.

3. Das Gesetz der Anpassung in seiner spezifischen Form

Das Gesetz der Anpassung kann nicht in der Form auf die Gesellschaft übertragen werden, in der Darwin es begriffen hat. Es erhält, angewandt auf die Gesellschaft, zwei grundlegende Besonderheiten. Die erste Besonderheit besteht darin, dass der Mensch sich der Natur anpasst, indem er die Natur sich anpasst. Wenn das Tier im Winter eine Ortsveränderung in wärmere Zonen vornimmt oder sich einen Winterpelz wachsen lässt, zieht der Mensch einen Mantel über oder heizt die Wohnung ein. Das Tier verändert sich, der Mensch verändert seine Umwelt.

Die zweite Besonderheit besteht darin, dass der Mensch sich mittels seiner gesellschaftlichen Organisation der Natur anpasst. Von den Produktionsinstrumenten und Produktionsverhältnissen, den Klassenstrukturen über die Wissenschaften bis zu Staat, Justiz, Moral usw. ist ihm die gesellschaftliche Organisation Organ der Anpassung.

Die gesellschaftliche Organisation ist nur zu verstehen, wenn sie als das dem Menschen eigene Organ der Anpassung verstanden wird. Das ist die natürliche Funktion der gesellschaftlichen Organisation des Menschen.

Beide Besonderheiten der menschlichen Anpassung haben ihre Vorläufer im Tierreich.

Es gibt massenhaft Beispiele dafür, dass das Tier, dem Menschen vergleichbar, die Umwelt auf sich einrichtet, zum Beispiel im Nest- oder Höhlenbau oder in der Vorratswirtschaft. Und auch die gesellschaftliche Organisation als Organ der Anpassung kennen wir in den vielfältigsten Vorformen, erinnert sei nur an die Arbeitsteilung der Termiten oder die Sozialverbände höherer Tiere, mittels derer sie sich erfolgreich anpassen. All diese Vorformen der beiden menschlichen Besonderheiten können uns jedoch nur zum Verständnis dafür dienen, dass die menschliche Anpassung von grundsätzlich anderer Art ist. Beide Besonderheiten der menschlichen Anpassung verleihen ihr eine weit höhere Qualität als die tierische. Aber sie machen sie zugleich als Form der Anpassung schwer erkennbar. Sie täuschen darüber hinweg, dass der Mensch wie alle lebende Natur der Anpassung unterliegt. Das dialektisch Besondere erscheint als der Gegensatz des Allgemeinen. Oder anders gesagt: Diese beiden Besonderheiten zu erkennen war Voraussetzung, um die Anpassung als das für Natur und Gesellschaft gleichermaßen gültige Gesetz zu entdecken.

4. Die Anpassung ist unser ewiges Gesetz

Die Anpassung der Natur an den Menschen ist immer Anpassung des Menschen an die Natur. Wir ziehen den Mantel im Winter an und nicht im Sommer. Wir tun, was immer wir auch tun, abhängig vom Klima, von den Jahreszeiten, von den Tageszeiten, von Tag und Nacht. Wir können nichts ausrichten ohne den Stoff der Natur (Holz, Kohle, Wasser, Wind, Sonne, Schwerkraft usw.) Kurz: Wir können, so sehr wir sie auch bis zur Unkenntlichkeit verwandeln, nur das Material der Natur verwandeln, und immer nur nach den Gesetzen der Natur.

Das Gesetz der Anpassung ist immer wirklich und immer wirksam. Aber seine Erkenntnis findet erst dann statt, wenn die Anpassung gefährdet wird. Und auch dann wird zunächst nicht das Gesetz, sondern die Gefahr reflektiert. Daher die Kopflosigkeit gegenüber der Gefahr, die Sinnlosigkeit und der Opportunismus der Maßnahmen, die Unfähigkeit und Schlafmützigkeit selbst der sozialistischen Parteien, die Unterschätzung der Gefahr, die peinliche Vernunftlosigkeit des Gedankens. Und die selbstmörderische Hilflosigkeit. Das Hauptproblem besteht allerdings darin, dass die Verursacher und Nutznießer der Umweltzerstörung über die Mittel verfügen, die Erkenntnis der Schäden und ihre Schuld daran zu verdecken.

Das Gesetz der Anpassung gilt nicht erst am kritischen Punkt, wie das Fallgesetz nicht erst wirksam ist, wenn uns die Tasse aus der Hand fällt. Das Gesetz der Anpassung gilt für alle lebende Natur von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende, und es gilt für die Gesellschaft von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Es ist das einzige Gesetz, das für beide Wirklichkeiten gilt. Auch in Zeiten, wo wir in Einklang mit der Natur leben.

Mit dem so erkannten Gesetz der Anpassung verliert der Mensch seine unnatürliche, künstliche Isoliertheit. Die Einheit von Mensch und Natur muss nicht, wie zu Zeiten von Lessing und Goethe, vermittels des Pantheismus hergestellt werden oder wie früher vermittels der Mythologie oder wie heute vermittels der verschiedensten naiven, unwissenschaftlichen, spekulativen oder praktizistischen Ganzheitstheorien. Die Einheit von Mensch und Natur kann endlich per objektivem Gesetz, also gültig und befriedigend begriffen werden. Der Mensch wird wieder zu einem Kind der Natur.

5. Der Fuchs in Marxens Hühnerstall

Das Gesetz der Anpassung benimmt sich im System des Marxismus wie der Fuchs im Hühnerstall. Anders gesagt: Die Hackordnung muss neu bestimmt werden. Genauer: Indem wir mit dem Gesetz der Anpassung ein Gesetz über allen haben, kann die Hackordnung, sprich Rangordnung, sprich Systemstruktur erstmals gültig hergestellt werden.

1. Wo steht bei Marx, dass das von Darwin entdeckte Gesetz der Anpassung übergreifend auch für die Gesellschaft gilt? (Natürlich in transformierter Form.)

2. Wo steht bei Marx, dass die von ihm entdeckten „Naturgesetze der Gesellschaft“ Funktionen eines Gesetzes der Natur sind? (Marx hat ausdrücklich erklärt, dass die Darwinschen Gesetze neben seinen stehen.)

3. Wo steht bei Marx, dass die Umkehrung der Anpassung (der Natur an den Menschen) die Möglichkeit der natürlichen Freiheit des Menschen ist? Zugleich aber auch die Möglichkeit der Katastrophe.

4. Wo steht bei Marx, dass die gesellschaftliche Organisation des Menschen Organ der Anpassung ist?

5. Wo steht bei Marx, dass mithin die gesellschaftliche Organisation ihre Bedingung, ihre Funktion, ihre historische „Aufgabe“ in der Anpassung hat?

6. Wo steht bei Marx, dass der exemplarische Konflikt zwischen gesellschaftlicher Organisation und Anpassung der kritische Punkt und das Kriterium des Übergangs zur eigentlichen Geschichte ist?

7. Wo steht bei Marx, dass das Verhältnis von PK und PV gegenüber dem Gesetz der Anpassung als Gesetz 1. Ordnung ein Gesetz 2. Ordnung ist?

Diese 7 Punkte habe ich nicht systematisch aufgestellt, und ich hätte sie vermehren können.

Die Frage der Arbeitsproduktivität steht im Unterschied zu Marx und Lenin jetzt allerdings an zweiter Stelle, was nicht heißt, dass sie nicht zufriedenstellend gelöst wird. Im Gegenteil ist sie jetzt erst lösbar.

Alle Erscheinungen haben auch ihre Eigenentwicklung, wie auch die Gesellschaft als ganze ihre Eigenentwicklung hat, die sich nicht allein aus der Anpassung erklärt. Die Anpassung, als Weltformel verstanden, hebt die künstliche Trennung von Mensch und Natur auf, sie lässt den Menschen wieder zu einem „Kind der Natur“ werden. Das ist doch immerhin was. Immerhin ist es die Formel seines Überlebens. Oder, im Falle ihrer Missachtung, die Formel seines Untergangs.

Es muss selbst einem Hornochsen einleuchten, dass die unendliche Natur irgendwo der endlichen Menschheit das Maß setzt, den Menschen in das allumfassende Gesetz des natürlichen Ausgleichs einschließt.

Das Gänseblümchen und der Mammutbaum, der Elefant und die Mücke, der Urmensch und der eigentliche Mensch verdanken der Anpassung ihr Dasein auf unserer Erde.

Trotz ihrer hohen Eigengesetzlichkeit sind die spezifischen Gesetze der Gesellschaft Gesetze zweiter Ordnung. Sie (die Naturgesetze der Gesellschaft, wie Marx die von ihm entdeckten Gesetze nannte) sind Gesetze der gesellschaftlichen Organisation des Menschen. Also Gesetze des Organs der Anpassung. Und als das sind sie Funktionen des Gesetzes erster Ordnung. Mit anderen Worten: Die Naturgesetze der Gesellschaft werden zu Funktionen eines Gesetzes der Natur. Das hat tiefgreifende Konsequenzen. Nicht nur für die Funktionsstruktur der gesellschaftlichen Gesetze, sondern auch für die Funktionsdefinition von Gesellschaftsordnungen und ihrer Übergänge. Und für den Inhalt des Übergangs von der Vorgeschichte der Menschheit zur eigentlichen Geschichte, um einige Konsequenzen nur zu nennen. Es erhöht die historische Notwendigkeit des Sozialismus zu einer Notwendigkeit erster Ordnung, zu einer Naturnotwendigkeit. Indem aber die Gesellschaft jetzt auch von einem Gesetz der Natur geregelt wird, wird der Marxismus um seine „natürliche“ Seite erweitert. Im Besonderen gibt die Anpassung dem Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, der eigentlichen Revolution, den tieferen Sinn. Kapitalismus und Sozialismus müssen in ihrer historischen Position jetzt an einem allgemeineren, höheren Gesetz gemessen werden. Das hat auch eine andere Wesensbestimmung des Sozialismus zur Folge. Vom niederen Zweck wird er zum höheren Mittel.

Solange die Gesetze zweiter Ordnung sich nicht mit dem Gesetz erster Ordnung anlegen, haben sie Narrenfreiheit, auch gegen sich selber.

Und andererseits verleihen die spezifischen Gesetze, die uns im Marxismus gegeben sind, der Anpassung ihre historische Form. Und ihre historische Problematik. Sie sind die Entwicklungsgesetze des Organs der Anpassung. Das heißt aber auch, dass die Verletzung oder Missachtung gesellschaftlicher Gesetze zur Missachtung oder Verletzung eines Gesetzes der Natur wird.

Während der „reale Sozialismus“ u. a. daran scheiterte, dass er die zweite industrielle Revolution (die wissenschaftlich-technische Revolution) nicht realisierte, scheitert der Kapitalismus daran, dass er sie realisiert, indem er, wie der Zauberlehrling, Kräfte rief, die er nun nicht bannen kann. Die von ihm entwickelten gesellschaftlichen Produktivkräfte werden zu Destruktivkräften. Wie noch nie in der bisherigen menschlichen Geschichte verkehren sich Kraft in Schwäche, Überfluss in Mangel, Reichtum in Armut, Heil in Fluch, Leben in Tod: Die eklatante Verletzung eines Gesetzes der Natur, des Gesetzes der Anpassung, der Einheit von Mensch und Natur als Folge der Verletzung des gesellschaftlichen Gesetzes der Harmonie von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen findet nur einmal statt, sie ist die einmalige, einzigartige Herausforderung des Menschen als Vernunftwesen. Es ist die Probe darauf, ob der Mensch eine Fehlleistung der Natur ist oder nicht.

Das Problem liegt in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, und der problematische Punkt ist die Kapitalverwertung. Genauer: die zunehmende Unfähigkeit der Kapitalverwertung. Hans Kalt schreibt dazu: „Obwohl in den armen wie in den entwickelten Ländern allein die Lösung der Ernährungs- und Wohnungsfrage, die grundlegende Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse und des Schulwesens sowie die Beendigung der ökologischen Krisenprozesse den Einsatz der Arbeitskraft von Hunderten Millionen Menschen durch viele Jahre hindurch erfordern würden, können diese brachliegenden Arbeitskräfte keine Beschäftigung und daher auch keinen Lebensunterhalt finden.“

Man kann sich schwerlich eine drastischere Demonstration vorstellen, wie wenig der Kapitalismus die Lebensprobleme der Menschheit heute noch lösen kann. Die Anpassung der Natur an den Menschen als natürliche Freiheit setzt die Realisierung der sozialen Freiheit voraus. Mit anderen Worten: Das Gesetz der Anpassung bestimmt, welche Art von Gesellschaft nötig ist, um die Anpassung zu realisieren. Wir müssen unsere Vorstellung vom Übergang der einen Gesellschaft in die andere grundlegend ändern. Die Gesellschaft muss als Organ der Anpassung eingerichtet werden, angefangen von der Art des Eigentums, seiner Produktionsweise über Produktionsstrukturen und ökonomische Wertsetzungen bis zum Verhältnis von Erster und Dritter Welt. Das Gesetz der Anpassung verlangt eine bestimmte Organisation der Gesellschaft, es verlangt die Gesellschaft als funktionsfähiges Organ der Anpassung. Und nur eine Gesellschaft, die diese Funktion erfüllt, kann sozialistisch und schließlich kommunistisch genannt werden. In diesem Sinne führt Darwin logisch genommen zum Kommunismus. Auch wenn Darwin wie Marx keine Vorstellung von dieser Logik hatten.

Eine immerwährende Aufgabe bleibt die Wahrung, die Bewahrung des Marxismus. Und das setzt die Wahrung und Bewahrung des Materialismus voraus. Ohne Materialismus gibt es keine Erkenntnis und Anerkennung objektiver Gesetze. Ohne das sind wir dem politischen Irrationalismus hilflos ausgeliefert. Deshalb ist uns der Materialist Darwin so wichtig.

6. Die eigentliche Geschichte ist der Vollstrecker des Gesetzes der Anpassung

Das Gesetz der Anpassung wird zum Scharfrichter des Kapitalismus und des Sozialismus: Die Frage steht jetzt nicht mehr, wo es sich besser lebt, sondern wo es sich überlebt. Die Anpassung ist die Wasserscheide zwischen der Vorgeschichte der Menschheit und ihrer eigentlichen Geschichte. Sie ist das absolute Kriterium dafür, ob die Menschheit Opfer ihrer Verhältnisse wird oder ob sie frei über ihre Verhältnisse verfügt.

Die soziale Krise, wesentlich verursacht durch die zunehmende Misere der Kapitalverwertung, entwickelt sich in Wechselwirkung mit der ökologischen Krise. Wer denkt ernsthaft über diesen Zusammenhang nach? Aber dieser Zusammenhang ist doch der springende Punkt!

Im Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sind die Produktionsverhältnisse längst mehr als zu einer Fessel zu einer Fehlleitung der Produktivkräfte geworden, und die extremste Form der Fehlleitung ist die Zerstörung der Natur. Damit verletzt aber ein gesellschaftliches Gesetz in seinem Irrlauf ein Naturgesetz, nämlich das übergeordnete Gesetz der Anpassung, das Gesetz der Einheit von Mensch und Natur. Die unaufhaltsam zunehmende Vernichtung unserer natürlichen Umwelt markiert den Eintritt des Kapitalismus in sein letztes Stadium, wo er mit der Untergrabung der Existenzgrundlage der Menschheit seine eigene Existenz untergräbt. Die Auswirkungen werden immer direkter: In den USA sterben jährlich 16 000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung. (Das sind die Folgen nur einer Ursache und nur in einem Lande.) In Indien sterben jedes Jahr drei Millionen Menschen an vergiftetem Wasser. Ebenso in Afrika. Und die Zahl der Umweltflüchtlinge nimmt ständig zu. Die letzte Krise des Kapitalismus wird immer komplexer und immer kompletter. Und sie trifft auch den Kapitalisten. Aber er wird als letzter getroffen. Ein Atombunker ist ein grausiges Gefängnis, ein Umweltbunker kann eine effektive Rettung sein; auch kann sich der Kapitalist eine Villa in einer weniger gefährdeten Gegend leisten; er kann sich sogar weniger gefährdete Zonen schaffen. Der Arbeiter hingegen und ihm Gleichgestellte werden unausweichlich zu den extrem Leidtragenden. Sie und ihre Familien werden unmittelbar körperlich Geschädigte und Geschändete. Unter dem Titel „Klimaalarm für den Süden Afrikas“ berichtet das „Neue Deutschland“ am 20. Oktober 1995: „Die WWF-Computerstudie belegt, dass die ohnehin arme Bevölkerung ländlicher Gebiete zu den ersten Opfern gehören wird.“ Afrika ist für die wertschöpfende Kapitalverwertung ohnehin weitgehend abgeschrieben. Einem fortschreitenden Treibhauseffekt ist es hilflos ausgeliefert. In Verbindung mit der sich zuspitzenden sozialen Krise werden die ökologischen Pressionen die Arbeiterklasse auf eine ganz neue und endgültige Weise zum historischen Subjekt, zur geschichtsbildenden Kraft machen. (In Verbindung mit ihr verwandten Klassen und Schichten.) Die Arbeiterklasse ist nur unter revolutionären Bedingungen revolutionär. Die Zuspitzung der letzten Krise des Kapitalismus schafft diese Bedingungen. Die Verknüpfung der ökologischen Krise mit der sozialen Krise des späten Kapitalismus macht die existenzielle Gefährdung der Menschheit absolut unberechenbar. Während verseuchte Tiere in einem weit gezogenen Umkreis sofort massenweise getötet, der „vorbeugenden Schlachtung“ zugeführt werden, auch wenn sie nur den Verdacht einer Gefährdung des Menschen darstellen, wird der Kapitalismus am Leben gelassen, obwohl er im dringenden Verdacht steht, die gesamte Menschheit zu vernichten. Wo bleibt da die Vernunft? Wo bleibt da die Logik?

Das zwanzigste Jahrhundert wird einmal befunden werden als das sittlich verkommenste, weil das politisch verkommenste. Es sei denn, wir erleben das einundzwanzigste Jahrhundert als lineare Fortsetzung. Dann wird dieses das noch verkommenere werden.

Die politischen Parteien sind ausnahmslos Ursache und Resultat dieser Verkommenheit. Daher kann keine einzige Partei auf absehbare Zeit die Lösung verbürgen. Nicht eine einzige und auch nicht alle miteinander. Im skrupellosen Konkurrenzkampf ist dem Kapitalisten sein Überleben wichtiger als das Überleben der Menschheit. Das Hemd ist ihm näher als der Rock, das Heute ist ihm wichtiger als das Morgen. Die Konkurrenz, heißt es, belebt das Geschäft, und die Endzeitkonkurrenz belebt das Sarggeschäft. Die Hoffnung, dass im Kapitalismus ihm eigene Kräfte der Rettung liegen, ist absolut trügerisch, wenn nicht hirnrissig. Die Frage ist nicht, ob der Sozialismus kommt, sondern ob er rechtzeitig und unter welchen Bedingungen er kommt. Der Weg zum Sozialismus wird von dem zum Verbrechen gewordenen Kapitalismus bestimmt, das heißt, der Kapitalismus überlässt dem Sozialismus seine Konkursmasse. Und niemand kann heute sagen, wie dieser Rest aussehen wird. Was hilft uns die von unseren Revisionisten beschworene Reformfähigkeit des Kapitalismus, nachdem er Abermillionen Menschen in den Kriegen und den Konzentrationslagern und in der Dritten Welt umgebracht hat? Wollen wir abwarten, welche Reformfähigkeit er nach dem Menschheitsuntergang hat?

Die Umweltzerstörung hat keinen bestimmten Punkt, von dem an die Erde mit einem Schlag nicht mehr bewohnbar ist, vielmehr wird sie zunehmend unbewohnbar werden. Wohl aber kann es einen bestimmten Punkt geben, an dem der Verfall unserer natürlichen Lebensbedingungen in den Selbstlauf übergeht und unumkehrbar wird. Wenn wir diesen Punkt verpassen, können wir uns als Fehlversuch von dieser Welt verabschieden. In der Natur gibt es Tausende von Fehlversuchen, und Tausende von Tierarten sind daran zugrunde gegangen. Das erfährt kaum Beachtung. Auch der Mensch leidet an einem schweren Konstruktionsfehler, und der wird noch weniger beachtet, obwohl er höchst bedenklich ist: „Das Hemd ist ihm näher als der Rock „und dass er an „des Kaisers neue Kleider“ glaubt. Diese allbekannten und im Normalfall harmlosen Eigenschaften können im Ernstfall des Gesetzes der Anpassung zu tödlichen Eigenschaften werden. Wenn uns zum einen der kleine (nahe) Nutzen wichtiger ist als der große (ferne) Schaden, das Heute wichtiger als das Morgen, kann es morgen zu spät sein. Und wenn wir zum anderen noch lange den Täuschungen der „politischen Kaste“ aufsitzen, noch lange glauben, dass der Henker der Retter ist, sind wir nicht mehr zu retten. Daher ist es überlebenswichtig, diese beiden Eigenschaften konsequent zu analysieren und zu diskriminieren, sie öffentlich und überall und immer wieder bloßzustellen.

Da der Kapitalismus unfähig ist, dem Gesetz der Anpassung zu genügen, kann nur der wirkliche Sozialismus die Alternative sein. Ein anderer Schluss bleibt nicht übrig. Eine Menschheit, die überleben will, muss zu diesem Schlusse kommen. Wenn nicht anders, wird sie dahin geprügelt werden. Die Reduzierung der natürlichen Lebensbedingungen ist ein Prozess, in dessen Verlauf die Menschheit immer schmerzlichere und schließlich unerträgliche körperliche und seelische Schäden erleiden wird. Der Absturz auf das Niveau des Höhlenmenschen ist da noch die freundlichste Aussicht. Die Prügel, die uns die geschändete Natur verabfolgen wird, werden schon den nötigen Willen befördern, die richtige Alternative zu erfassen, da kann kein Zweifel sein. So unangenehm die Prügel auch sein werden, so sehr sind sie unsere sichere Hoffnung.

Wenn die Mütter erst einmal erfahren haben, wer an den Entstellungen und Verkrüppelungen ihrer Kinder Schuld hat, wird es kein Halten mehr geben. Da sind „Volkszorn“ und „Krieg den Palästen „milde Umschreibungen des Chaos, das über uns hereinbrechen wird.

Als Funktion eines Gesetzes der Natur nimmt der Sozialismus eine wesentlich andere Gestalt an als bisher. Seine Funktion, Organ der Anpassung zu sein, den Einklang von Mensch und Natur wieder herzustellen, bestimmt ihn, statt Selbstzweck zu sein, zum dienenden Mittel. Er wird Lebensrettungsgesellschaft.

7. Lieber ein Schrecken ohne Ende

Im philosophischen Gesetz der Ökologie finden wir das Kriterium des Übergangs von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte der Menschheit. Alle bisherigen Kriterien, beispielsweise die Aufhebung der Klassen, sind jetzt nur noch Mittel zum Zweck. Die eigentliche Geschichte beginnt, wo das Gesetz der Anpassung ein für alle Mal als Gesetz erster Ordnung erkannt und verwirklicht wird. Mit anderen Worten: Der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte besteht darin, die Gesellschaft als Organ der Anpassung einzurichten.

Jedenfalls müssen wir lernen, in anderen Größenordnungen und anderen Zeiträumen zu denken und zu handeln. Ein Ende mit Schrecken oder ein Schrecken ohne Ende, diese Frage ist nicht entschieden. Und es wäre unser Überlebensglück, wenn wir die im Normalfall schlechtere Variante erlebten: einen Schrecken ohne Ende. Da hätten wir doch die Zeit, um klug zu werden, bevor es zu spät ist.

Die Einheit von Mensch und Natur, ihre Harmonie, ist Bedingung der Fortexistenz des menschlichen Geschlechts. Die Gesellschaftsorganisation ist Organ dieser Einheit, ihr regulierendes Instrument. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist zunehmend statt kreatives nur noch destruktives Organ. Die Katastrophe ist eine Frage der Zeit. Der Kapitalismus hat seine Zeit bereits überschritten. Die welthistorisch kurze Zeit, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln seine historische Berechtigung hatte, ist absolut vorbei. Heute überwiegt die zerstörerische Wirkung des Privateigentums seine positive Wirkung bei Weitem. Kriege, soziales Elend nicht nur in der Dritten Welt und Klimatod sind für jeden humanistisch denkenden Menschen Beweis genug.

Was nützt uns das physische Überleben, wenn wir sittlich am Ende sind?

Der Einklang in der Natur, der Einklang zwischen Mensch und Natur und der Einklang zwischen den Menschen, die Welt der Gleichheit und der Heiterkeit sind Vorstellungen, die in ihrer Gesamtheit eine Gegenwelt zu unserer gegenwärtigen Umwelt bilden. Ohne Gegenwelt aber ist der Mensch kein Mensch. Diese Gegenwelt macht uns alle Umwelt ertragbar und überwindbar.

Wenn wir das bisherige Bild von unserer Geschichte um- und umschütteln und unsere kurzsichtigen Vorstellungen von der sozialistischen Weltrevolution verwerfen, kann uns das in die tiefste Verwirrung stürzen. In Wahrheit verwerfen wir nur schematische Geschichtsbilder und unhaltbare Illusionen. Dafür gewinnen wir wirkliche historische Sicherheit. Wenn auch in anderen, eben historischen Dimensionen. Wir können uns endlich und endgültig unseres Orts in der Geschichte gewiss sein.

Zum guten Schluss eine ausgefallene Betrachtung oder Die drei kopernikanischen Wenden

Kopernikus setzte die Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems und ließ die Erde um sie kreisen. Das war eine Wende im Verständnis der kosmischen Bewegungen. Und es war auch eine Wende der Bewegungen im Kopfe der Menschen.

Marx setzte die Ökonomie: das Eigentum an den Produktionsmitteln, die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen an die Stelle des von Hegel als Dominante gesehenen Staates und stellte damit die Sache vom Kopf auf die Füße. Diese Umkehrung gab der gesellschaftlichen Bewegung erstmals ein objektives Gesetz und machte sie materialistisch erklärbar. Das war die zweite kopernikanische Wende.

Mit der Übertragung des Naturgesetzes der Anpassung auf die menschliche Gesellschaft vollzog Branstner die dritte kopernikanische Wende. Durch sie kehrt der Mensch nach absonderlichem Irrlauf in das Reich der Natur zurück. Voraussetzung ist die Erkenntnis der gesellschaftlichen Organisation des Menschen als Organ der Anpassung. Als das hat diese Organisation (von der Ökonomie bis zum Staat) keine andere Funktion als der die Anpassung verwirklichende Bienenstaat, wenngleich auf irritierend höherem Niveau. Der Mensch ist gesellschaftliches Wesen nur, um das höchste Wesen der Natur zu werden. Auch wenn er gegenwärtig den entgegengesetzten Weg geht.

Die erste kopernikanische Wende erfasste die Bewegung der Natur, aber ohne den Menschen. Die zweite Wende erfasste die Bewegung des Menschen, aber ohne die Natur. Die dritte Wende erfasst die Bewegung des Menschen in ihrer gesetzmäßigen Verbindung mit der Natur.

„Die Zeit der großen Utopien und Visionen ist vorbei ...“, sagt der Politologe Kurt Sontheimer.

Woher weiß der das?

Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Bedrohung unserer Existenz und der Jämmerlichkeit der gutbürgerlichen Abhilfeversuche kann nur die große Lösung unsere Rettung sein.

Ohne das Unmögliche zu wollen, ist das Mögliche nicht zu erreichen. Wir bilden uns viel auf unseren Wirklichkeitssinn ein. Was wir jedoch nötig haben, ist der Möglichkeitssinn. Er ist von beiden der edlere. Ohne ihn wird der Wirklichkeitssinn zum Starrsinn, denn er ist in sich konservativ. Erst im Möglichkeitssinn aufgehobener erhält er seinen wirklichen Sinn. Also müssen wir unseren Möglichkeitssinn ausbilden, ihn auf alle erdenkliche Weise kultivieren. Wie es unanständig ist, mit offener Hose herumzulaufen, so unanständig muss er sein, ohne Möglichkeitssinn herumzulaufen.

II. Die Soziologische Transfermatik

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, einer neuen Wissenschaft auf den Weg zu helfen. Sie mag, solange kein besserer Name gefunden ist, Soziologische Transfermatik heißen (kurz: ST) und kann, um einen vorläufigen Begriff von ihr zu erhalten, mit der Bionik verglichen werden. Wie diese ist die ST eine Übertragungswissenschaft. Sie findet, fördert und methodologisiert Übertragungsmöglichkeiten, aber nicht wie die Bionik aus der Biologie in die Technik, sondern innerhalb des Bereichs der Soziologie, von einem Gebiet der Soziologie in ein anderes. Darauf fußend, beschäftigt sie sich allerdings auch mit Übertragungen aus anderen Bereichen und in andere Bereiche, also auch in den der Technik. Die ST zielt primär nicht auf technische Effekte, sondern auf humanistische, humanisierende. Ihr geht es um menschlichere Möglichkeiten, auch in der Technik.

Wie andere Wissenschaften kann auch die Soziologische Transfermatik nicht aus dem Nichts entstehen, sie setzt Vorläufiges voraus. Die von der ST zu erfassenden Übertragungen sind nützlich und nötig und finden daher auch spontan statt. Und wie in der Praxis finden sich Entsprechungen auch in der theoretischen Reflexion. Folglich ist es nicht verwunderlich, wenn in der Vorstellung der Soziologischen Transfermatik als einer neuen Wissenschaft manches bekannt vorkommt. Neu an der Soziologischen Transfermatik sind nicht ihre Vorläufe.

Mit der ST als der zuständigen Wissenschaft werden die Übertragungen statt sporadisch jetzt systematisch (d. h. mit steigender Fündigkeit) und statt spontan jetzt methodisch (d. h. mit steigender Effektivität) vorgenommen. Und über die einzelnen, unterschiedlichen Zwecke wird der allgemeine humanistische Zweck aller Übertragungen gesetzt.

Einige Beispiele soziologischer Transfermationen

In einer mittelasiatischen Industriestadt war für die Herstellung von Strickwaren ein Fabriksaal eingerichtet worden, und die Arbeitsplätze waren wie in einer Schulklasse in Reihen hintereinander angeordnet, sodass die Arbeiterinnen nur den Rücken der vor ihnen Sitzenden sehen konnten. Zu Hause waren sie gewohnt, ihrer Unterhaltung und auch viele ihrer Arbeiten im Kreise sitzend zu verrichten. Als man auf die Idee kam, die häusliche „Sitzordnung“ in den Fabrikraum zu übertragen, stieg nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Arbeitsleistung, und zwar für dauernd.

Ein anderes Beispiel beruht auf dem Umstand, dass der Mensch ein Dreigenerationenwesen ist. Soziale Vererbung, Wohlbefinden, menschlicher Reichtum, Persönlichkeitsbildung sind an diese Dreigenerationeneinheit gebunden. Wer niemals Enkel oder Großvater bzw. Großmutter war, dem fehlt ein wesentliches Element menschlichen Seins und menschlicher Erfahrung. Um diese Drei-Generationen-Einheit zu realisieren, braucht es aber auch materieller Träger. Diese können von sehr unterschiedlicher Art sein, beispielsweise der sogenannte Großvatersessel. Auf ihn übertragen sich Erlebnisse, Erinnerungen, Gefühle usw. von mehreren Generationen. Und wer, sich dessen bewusst, in ihm sitzt, erlebt einen ganz eigenen Wert. Wie vielfältig der sein kann, lässt sich aus Diderots „Bedauern über meinen alten Schlafrock“ schließen. Wie ein Sessel können viele Gegenstände unserer unmittelbaren Umgebung an Wert gewinnen, wenn menschliche Eigenschaften auf sie übertragen werden, indem sie diesen Eigenschaften entsprechen und ihnen dienen. Das ist menschlich (und auch ökonomisch) vernünftig und besonders dann von Wichtigkeit, wenn das materielle Wegwerfverhalten in Wechselwirkung mit dem moralischen Wegwerfverhalten vor sich geht. Die Verluste, die hier eintreten, sind bedrohlich.

Verhaltensforscher bezeichnen es als „geradezu absurd“, die Altersschichten des Menschen voneinander zu trennen. Die Soziologische Transfermatik befähigt uns, Formen der Übertragung zu finden und anzuwenden, die der Bewahrung des menschlichen Wesens dienen. Selbst wenn es ein Großvaterstuhl ist.

Ein weiteres Beispiel ist die Übertragung der in der Gastronomie kultivierten Form des Menüs auf die Theaterbühne. Ein Stück blank zu spielen, ist eine rohe Form von Theater. Das ist, wie wenn man Gäste zum Essen einlädt und ihnen statt einer überlegt zusammengestellten Speisenfolge nur ein einziges Gericht vorsetzt. Das Menü hebt, indem es aus mehreren Gängen besteht, den Wert des einzelnen Ganges, denn es gibt ihm einen besonderen Stellenwert. Und ein kultiviertes Menü besteht nicht nur aus Vor-, Haupt- und Nachspeise. Zum Auftakt sorgt ein Aperitif für die Einstimmung und aktiviert die Magensäfte, zwischen den Gängen werden entsprechende Drinks gereicht, und zum Abschied erhalten die Gäste noch eine kleine Aufmerksamkeit mit auf den Weg. Schon erste Versuche, obwohl nur ansatzweise und partiell, die Form des Menüs auf das Theater zu übertragen, haben den Gewinn für beide Seiten erwiesen. Das Publikum nimmt das Angebot dankbar an, und die Schauspieler erlangen unversehens eine freiere, publikumsfreundlichere Spielweise.

Eine erste Analyse der Soziologischen Transfermation

Schon die wenigen vorgeführten Beispiele machen deutlich, dass die der ST zugehörigen Übertragungen sehr unterschiedlich sein können. Das gilt sowohl für die Gebiete, aus denen bzw. in die übertragen wird, als auch für die zu übertragenden Strukturen, Funktionen, Prozesse etc. (im Weiteren der Einfachheit halber immer Formen genannt). Und das gilt auch für die unmittelbaren Zwecke der Übertragungen und die Übertragungsverfahren. Das macht eine Systematisierung sehr schwierig. Und auf Anhieb unmöglich. Immerhin können schon einige Kriterien ausgemacht werden.

Voraussetzung für eine sinnvolle Übertragung ist die Kenntnis der bisherigen Bindung der zu übertragenden Form. Aber nicht, um diese Bindung zu übernehmen, sondern nur, um sie zu durchschauen. Die bisherige Bindung kann Existenz- oder Funktionsbedingung sein. Durch sie kann die zu übertragende Form nützlich oder schädlich sein. Entscheidend ist allein der Nutzen nach der Übertragung. Durch die Transfermation kann Sinnloses Sinn gewinnen oder Sinnvolles Sinn verlieren. Entscheidend ist nicht, welche Rolle die zu übertragende Form bisher spielt. Ebenso wenig ist entscheidend, welche Qualität das bisherige Gebiet hat, ob es beispielsweise vergänglich oder gar verwerflich ist. In der Unterwelt wie im Kriegswesen, in Hunger- wie in Seuchenzeiten, immer und überall können sich Formen entwickeln, deren Übernahme von Gewinn ist. Aber stets ist ihre Bindung zu prüfen, um zu sichern, dass die betreffende Form unbeschädigt abgelöst und sinnvoll neu eingesetzt wird.

Ein weiteres Kriterium ergibt sich daraus, dass die Möglichkeiten von Übertragungen schier grenzenlos sind. Daher ist es unerlaubt, aus Gründen der Gewohnheit oder der Pietät Übertragungen von vornherein auszuschließen. Die Soziologische Transfermatik hat ihren Sinn nicht zuletzt gerade darin, die geistige und moralische Freiheit für ungewöhnliche Übertragungen zu entwickeln. Das trifft speziell auf Übertragungen aus uns geografisch, historisch oder ethnisch fern liegenden Gebieten zu. So sind beispielsweise übernehmenswerte Formen aus dem Leben der Naturvölker durchaus nicht immer an ihre ursprünglichen Bedingungen gebunden.

Schließlich sei noch auf Kriterien einer Systematisierung der Übertragungsgebiete verwiesen. Da sind einmal solche Bildungen wie Familie, Sippe, Großfamilie, Kollektiv, Team und andere Gruppen, die, um bestehen zu können, effektive Strukturen, Organisationsformen, Gliederungen u. a. entwickeln. Ein weiteres ergiebiges Gebiet sind die korrelativen Gegensatzpaare wie Mann-Frau, Lehrer-Schüler oder Eltern-Kinder, aber auch solche wie Faust und Mephisto, Don Quichotte und Sancho Pansa, Dick und Doof oder Gott und Teufel. Die sich in diesen korrelativen Konstellationen entwickelnde Produktivität und Funktionstüchtigkeit muss nur auf ihre Übertragbarkeit hin analysiert werden, um zu verblüffenden Wirkungen zu kommen.

Ein ganz eigenes Gebiet sind die Grundsehnsüchte des Menschen. Genannt seien als Beispiel hier nur das ewige Leben (Unsterblichkeit), sich beliebig in Raum und Zeit bewegen zu können, sich unsichtbar machen (Tarnkappe) oder Zaubern bzw. Verzaubern zu können, fliegen zu können wie ein Vogel. (Diese Sehnsucht ist durch das Flugzeug nicht verwirklicht, denn da werden wir geflogen. Daher das Drachenfliegen, das uns der Grundsehnsucht viel näher bringt.) Die wissenschaftliche Erforschung der Grundsehnsüchte als Voraussetzung für ihre Nutzung durch die ST ist leider nicht gegeben. Dabei sind diese Grundsehnsüchte von eminenter Bedeutung auch unabhängig von der ST, denn sie stehen so oder so hinter allen unseren Vorstellungen, Wünschen, Hoffnungen und Handlungen. Aus ihrer Erfüllung oder Nichterfüllung erklären sich wichtige positive und negative Befindlichkeiten des (einzelnen) Menschen. (Aber Psychologie, Medizin usw. sind hier ohne Erklärungshilfe.) Und in ihrer Eigenschaft als Bedürfnis und Triebkraft verdanken wir den Grundsehnsüchten entscheidende Entwicklungen in Wissenschaft und Technik und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Angesichts dessen kann das bisherige wissenschaftliche Verhältnis zu den Grundsehnsüchten nur als sträfliche Vernachlässigung bezeichnet werden. Es ist an der Zeit, den Grundsehnsüchten des Menschen eine eigene Wissenschaft zu widmen. Für die soziologische Transfermation stellen die Grundsehnsüchte eine unerschöpfliche Quelle dar, ob nun als Herkunfts- oder als Zielgebiet. Und das unabhängig davon, in wieweit diese Sehnsüchte Utopie sind.

So viel zu einigen ersten Kriterien einer Systematisierung der Soziologischen Transfermatik.

Weitere Beispiele soziologischer Transfermationen

Eine für die soziologische Übertragung interessante Grundsehnsucht ist die von der heilen Welt. Diese Sehnsucht tritt in den vielfältigsten Formen auf, und sie verbirgt sich in den vielfältigsten Formen, als Wunsch und als Forderung, als Zuflucht und als Maß. Die heile Welt hat nur wenige Merkmale: Sie ist überschaubar und daher durchschaubar, ihre Strukturen und Bestandteile und deren Zusammenwirken sind bekannt und finden allgemeine Akzeptanz; man weiß und fühlt sich in ihr geborgen und gesichert, denn die Probleme, die sie durchaus kennt, sind lösbar und nicht existenzgefährdend. Dieses Bild der heilen Welt hat viele Varianten und Ausgestaltungen, aber die Grundelemente bleiben im Wesentlichen die gleichen. Die Vorstellung einer heilen Welt kann zur Idylle geraten und in Lebensfremdheit und Illusionismus verkommen. Sie kann gegenüber dem angeblich höheren Streben nach Risiko, nach Gefahr, Wagnis und dergleichen herabgesetzt werden. Und sie kann mit Verweis auf die (unheile) Wirklichkeit als Beschönigung oder Utopie verunglimpft werden. Und doch ist die heile Welt nicht klein oder gar tot zu kriegen. Und das nicht nur als Sehnsucht, sondern auch in der Wirklichkeit. Zu Zeiten der Naturvölker war (und ist in Restvorkommen noch immer) die heile Welt selbstverständliche Lebenswirklichkeit. Aber auch in späteren Zeiten war und ist sie existent, so in dörflichen Gemeinschaften, im Familien- und Sippenleben. Und natürlich in der Literatur, und nicht nur in der utopischen.

Erfahrungswerte besagen bezeichnenderweise, dass die Sehnsucht nach der heilen Welt beim weiblichen Geschlecht stärker ist als beim männlichen. Aber sie lebt in jedem normalen Menschen. Und das ist nur natürlich, denn die heile Welt ist eine existenzielle Notwendigkeit. Ohne ihr regulierendes, harmonisierendes, verbindendes Wirken wäre kein Leben möglich. Ihr Gegensatz, die „unheile“ Welt, ist allein und in sich nicht existenzfähig und kann nur als Herausforderung verstanden werden.

Charakteristisch für die existenzielle Notwendigkeit der heilen Welt ist die Effizienz ihrer Prinzipien und Kausalitäten in bestimmten Formen von Biotopen, aber auch in der Technik bzw. in der Kybernetik. Die heile Welt ist in gewisser Weise die „Seele“ der Kybernetik, wie umgekehrt die Kybernetik die Explikation der heilen Welt ist. Das geschlossene (dynamische) System ist das Musterbeispiel einer heilen Welt. Technische Systeme sind das ideale Experimentierfeld, um Prinzipien oder Kausalitäten einer heilen Welt zu testen und zu retransfermieren. (Die Rückübertragung ist von genereller Bedeutung, kann an dieser Stelle aber nur erwähnt werden.)

Die Übertragung von Prinzipien und Kausalitäten der heilen Welt auf spezielle, begrenzte gesellschaftliche Gebiete wie beispielsweise die Pädagogik, den Sport und dergleichen, aber auch auf globale Gebiete kann von entscheidender Bedeutung sein. Und sie ist unerschöpflich. Voraussetzung ist allerdings immer die Berücksichtigung der Bedingtheiten und das vorurteilsfreie Verhältnis zu dieser Grundsehnsucht.

Eine andere und nicht weniger interessante Grundsehnsucht ist das Spiel. So mannigfaltig auch die Formen des Spiels sind und so häufig es als dem Wesen des Menschen eigen behauptet wird und so viele theoretische Arbeiten auch darüber verfasst wurden, eine kontinuierlich und systematisch arbeitende Wissenschaft des Spiels gibt es bis heute noch nicht. Daran ändern auch die wissenschaftlichen Gesichtspunkte, die von der Mathematik und der Kybernetik beigetragen wurden, nichts, denn diese Beiträge sind zu speziell und fundieren keine allgemeine Spieltheorie als Wissenschaft. Da ohne diese der Sinn der Übertragungen nicht gewährleistet ist, sei einer Wissenschaft des Spiels wenigstens so viel vorweggenommen, wie hier nötig ist.

Das Spiel ist eine aus zwei Komponenten zusammengesetzte Erscheinung. Einerseits besteht es aus dem Spieltrieb. Dieser Trieb sucht sich zu verwirklichen, er ist ein Organ, das sich betätigen, eine Fähigkeit, die sich bestätigen will. Andererseits besteht das Spiet aus dem Bedürfnis, das Leben in all seinen Elementen frei, leicht, beliebig zu beherrschen, gleich dem Zauberkünstler vollkommener Meister über alles zu sein. Im Zusammenwirken beider Komponenten: in der lebendigsten, kreativsten Anwendung seiner Kräfte die höchste Beherrschung und Gestaltung seiner Lebensbedingungen zu verwirklichen, erlangt der Mensch seine „schöne Daseinsweise“. Erst wenn er spielerisch mit sich und seinen Lebensbedingungen umgeht, erst wenn ihm die Mittel seiner Existenz zu Spielmitteln geworden sind, ist der Mensch wirklich frei. Natürlich steckt (wie in der heilen Welt) auch im Spiel als Grundsehnsucht ein gehöriges Stück Utopie. Aber auch als ein im letzten nicht erreichbares bleibt es ein vernünftiges, erstrebenswertes Ziel. Und es ist eine unentbehrliche Motivation.

Die weitgehende Erschließung des Spiels als Quelle soziologischer Übertragungen und der sinnvolle Effekt dieser Übertragungen wird erst durch die ST möglich. So ist (was hier nur unvermittelt geschehen kann) erst jetzt beispielsweise die Kunst in einer allgemeinen Funktion definierbar, nämlich als Vorahmung des Spiels mit der Wirklichkeit.

Das ist doch einmal kurz und klar: Die Kunst ist Vorahmung des Spiels mit der Wirklichkeit. Auch wenn das nicht ihre einzige Funktion ist, so ist es doch diejenige, welche die Kunst an eine Grundsehnsucht des Menschen anschließt. Womit die Definition schlüssig und die Kunst wesentlich wird.

Ein weites Feld, auf das Formen des Spiels übertragen werden können, ist die produktive Tätigkeit des Menschen. Formen des Spiels können den Arbeitsvorgang effektiver, weil geschickter, rationeller, ermüdungsärmer etc. machen. Überdies erhöht die Form des Spiels die Arbeitslust, denn in Form des Spiels befriedigt die Arbeit ein Grundbedürfnis bzw. eine Grundsehnsucht des Menschen.

Ein weiteres Gebiet ist die Architektur. Von der Stadtgestaltung bis zur Innenarchitektur des einzelnen Gebäudes sind Übertragungen von Prinzipien des Spiels in vielfältiger Weise und mit weitreichenden Folgen möglich. Praktisches Exempel und anschaulicher Beweis ist ein von mir nach Prinzipien des Spiels gebautes Sommerhaus. Dieses Haus macht einen spielerischen Umgang möglich, indem die Verwendung der einzelnen Räume (in sich und in ihrer Verbindung und Trennung) nach Belieben verändert werden kann, sodass sich Nutzwert und Spaß der Nutzung bedeutend erhöhen.

Auf die ethischen und ästhetischen Momente, die mit Formen des Spiels übertragen werden, kann hier nur verwiesen werden.

Von speziellem Interesse für die soziologische Übertragung sind die korrelativen Gegensatzpaare. Ihre Vielzahl und Vielartigkeit ist verblüffend, ebenso ihre Eignung zur Transfermation. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, was gewöhnlich ignoriert wird, nämlich, dass Gegensätze sich nur anziehen, wenn sie außer ihren gegensätzlichen auch wesensgleiche (identische) Eigenschaften haben, andernfalls stoßen sie sich nur ab. Das bewahrheitet sich beispielsweise unangenehm, wenn eine Ehe älter wird.

Als Demonstration soll hier eine Übertragung aus der Akrobatik auf das Theater dienen. In der Akrobatik finden wir häufig die Konstellation Untermann-Obermann, wobei der Untermann die Aufgabe hat, dem Obermann durch die verschiedensten statischen und dynamischen Mittel und Tricks zu attraktiven Effekten zu verhelfen. Eben diese Aufgabe hat der Schauspieler als „Untermann“ auch auf der Theaterbühne. Gewöhnlich neigt der Schauspieler dazu, für sich, also allein zu spielen, sich nach vorn zu spielen. Dem entgegen hat der Regisseur dafür zu sorgen, dass einer dem anderen zuspielt. Statt den anderen und damit die Gesamtwirkung zu verkleinern, muss einer den anderen und damit die Gesamtwirkung heben.

Dem dient die Übernahme des „Untermannes“. Der Schauspieler als „Untermann“ lässt den Partner nicht nur voll zum Zuge kommen, er stützt ihn darüber hinaus in Vorbereitung der Leistung, während der Leistung, beim Abschluss der Leistung. Und er ist ihm Dolmetscher zum Publikum. Er kündigt durch sein Spiel beispielsweise die Pointe des Partners an, würdigt sie und verhilft auf diese Weise dem Publikum zu einem verständigeren, gesteigerten Genuss. Im Unterschied zur Akrobatik ist auf dem Theater jeder Untermann eines jeden. So reich die Schauspielkunst in ihren Möglichkeiten ist, so reich sind die Möglichkeiten des Zusammenwirkens von „Untermann“und „Obermann“. Aber nur, wenn diese Transfermation nicht zufällig, spontan stattfindet, sondern bewusst und methodisch. Und wenn nicht nur diese Transfermation stattfindet, sondern alle möglichen. Erst dann wird das Theater aus seinem im Grunde laienhaften weil ignoranten Zustande heraustreten. Die ST ist dafür eine wesentliche Voraussetzung.

Das Prinzip Untermann-Obermann ist vielfältig und vielfach übertragbar, so zum Beispiel auf das humanistische Verhalten des Menschen („Einer trage des anderen Last“). Oder auf die Ästhetik des Gruppenverhaltens.

Der Gruppensinn (Gruppierungssinn) des Menschen ist sehr gering ausgeprägt. Statt ein harmonisches „Gruppenbild“ herzustellen, stellen oder setzen sich Menschengruppen ohne alle Kultur zusammen, einer verdeckt den anderen, fällt ihm ins Wort, beschneidet seinen Anteil an der Gruppe.

Um weitere Möglichkeiten soziologischer Transfermationen anzuzeigen, hier noch einige Beispiele aus sehr unterschiedlichen und sehr weit voneinander entfernten Gebieten: Wenn die Oma vor dem Fernseher sitzt und sich köstlich amüsiert, zugleich einen Pullover für den Enkel strickt und überdies das Neueste aus der Nachbarschaft zum besten gibt, haben wir eine erstaunliche Auslastung von Kapazität vor uns. Voraussetzung ist, dass die drei Tätigkeiten jeweils ein anderes „Organ“ beanspruchen und „auf Luke „gesetzt werden können, ohne dass die nötige Kontinuität gestört wird. Bei Beachtung dieser beiden Kriterien sind auf allen Gebieten, auch dem der Technik, viele ungenutzte Kapazitäten nutzbar. Da lässt sich noch vieles „auf Luke“ setzen, ohne dass der „Fluss“ unterbrochen wird.

Andere Beispiele sind die Übertragung von Warnsystemen oder Warnsignalen bzw. Informationssignalen in andere Gebiete und zu anderen Zwecken, die Übertragung von Erfahrungen der Zirkusdramaturgie beispielsweise auf die Pädagogik (Spannung, Entspannung, Abwechslung etc.), die Übertragung von Elementen der Sprachstruktur, der Grammatik auf die absolute Musik usf. Vielfältig sind die Übertragungsmöglichkeiten aus dem Sport, beispielsweise auf die produktive Tätigkeit des Menschen. Das beginnt mit der Übertragung von Trainingsmethoden auf das Erlernen eines Berufes und geht bis zur Übertragung eines ganzen Spielsystems auf einen in sich relativ abgeschlossenen Produktionsvorgang.

Die bis ins letzte durchfunktionierte Spielweise einer Volleyballmannschaft lässt sich beispielsweise ohne Weiteres auf ein Produktionsteam, das in einer bestimmten Zeit eine Höchstleistung vollbringen soll, übertragen, wenn man nur an den elastischen, speziellen und zugleich vielseitigen, taktisch variablen, psychologisch raffinierten Einsatz jedes Spielers im Interesse des Gesamteffekts denkt. Man muss nur einmal die Vielzahl der Elemente und Vorgänge während eines Volleyballspiels beobachten, vom Schmetterball bis zur Blockbildung, vom Einwechseln bis zur Auszeit, um zu erkennen, wie effektiv Übertragungen aus diesem Gebiet auf andere Gebiete wären. Auch auf das Gebiet der Technik, vor allem auf größere Aggregate. (Natürlich ist bei vieldimensionalen Formen oft nur eine teilweise Übertragung möglich.)

Um die Vielfalt des Nutzens von Transfermationen deutlich zu machen, ein letztes Beispiel. Diesmal geht es nicht um das Erzielen eines Effektes, sondern um dessen Verhinderung. Die Geschichte der Wissenschaften kennt eine Vielzahl von Fällen, wo große Verluste an Zeit und Ertrag durch Verrufe verursacht wurden. Das klassische Beispiel ist Pasteur, der (wenn auch nicht als erster) die Theorie der Urzeugung (die Entstehung von Leben aus unbelebter Materie) in Verruf gebracht hat. Ähnlich erging es der Äthertheorie (die vollkommene Ausfüllung des Raumes mit feinster Materie) oder dem Neuronenmodell (Forschung mit neuronalen Netzen). In diesen und anderen Fällen wurde eine Theorie (Hypothese, Methode) derart diskreditiert, dass die Wissenschaft sich jahrzehntelang scheute, diese Theorie weiterzuverfolgen. Voraussetzungen für derartige Verrufe sind im Wesentlichen, dass eine Theorie eine fehlerhafte (naive) und von daher anfechtbare Form hat, dass sie auf einem verkehrten Gleis angesetzt wurde oder dass sie erst auf höherem wissenschaftlichen Entwicklungsstand fundierbar ist. Diese Mängel einer Theorie zur Legitimation ihres Verrufs zu machen, ist unerlaubt. Der Nutzen der ST besteht hier darin, drohende Verrufe zu verhindern, indem sie das Durchschauen solcher Verrufe übertragbar macht. Die Transfermation kann also auch Warnfunktion haben.

Natürlich treten derartige Verrufe und ihnen folgende Verluste nicht nur in der Wissenschaft auf. Dem entspricht auch die Warnfunktion der Transfermation.

Allein die bisher angeführten Beispiele lassen erkennen, dass die Menschheit einen unerschöpflichen Reichtum an übertragbaren Formen hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringt. Aber dieser schier unendliche Reichtum ist bis heute weitgehend „verschenkt“. Da diese Formen ihren Nutzen schon in sich haben und nicht wie eine Ware von vornherein für die Nutzung durch Dritte geschaffen werden, ist auch das Bewusstsein der Weiterverwertbarkeit dieser Formen nicht von vornherein gegeben. Es muss explizit gebildet werden. Dem dient die Soziologische Transfermatik.

Die allgemeine Methode der Soziologischen Transfermatik

Die Transfermationen haben, entsprechend ihrer Unterschiedlichkeit, sehr unterschiedliche, spezielle Methoden, Techniken, Verfahren nötig. An dieser Stelle geht es jedoch nicht um spezielle Methoden der Soziologischen Transfermatik, sondern um ihre allgemeine Methode, um einige wesentliche Bestandteile dieser Methode. Und ein erster, allgemeiner Bestandteil der Methode der ST ist ihre Erkenntnisfunktion.

Erkennen heißt Vergleichen. Ohne Vergleich gibt es keine Erkenntnis. Selbst die Erkenntnis der Unvergleichlichkeit setzt den Vergleich voraus. Durch das Vergleichen erkennen wir das Gemeinsame und das Unterscheidende, das Wesentliche und das Unwesentliche an den Erscheinungen. Um sie aber vergleichen zu können, müssen wir die Erscheinungen in ein erkenntnisdienliches Verhältnis zueinander setzen. Das aber ist eine Kunst. Ein Verhältnis kann so verkehrt gewählt sein, dass es Unvergleichliches vergleichbar erscheinen lässt oder Vergleichliches unvergleichbar. Oder dass die richtige Erkenntnis unmöglich wird.

Wie problematisch die Wahl des Verhältnisses (der Bezugsebene) ist, zeigt die Frage, wer gewaltiger ist, der Amazonas oder der Mont Everest. Die Entgegnung, dass Fluss und Berg nicht vergleichbar seien, wird zweifelhaft, sobald gefragt wird, ob die Pleiße gewaltiger ist als der Mont Everest. Ungewöhnliche Vergleiche ermöglichen ungewöhnliche Übertragungen, und ungewöhnliche Übertragungen verlangen ungewöhnliche Vergleiche. Dass Erkennen Vergleichen heißt, ist für die ST von besonderer Bedeutung. Alle ihre Übertragungen setzen den Vergleich voraus: des Herkunftsgebietes (-Objekts) mit dem Zielgebiet.

Nicht alles Bestehende besteht zu recht – nicht alles Vergangene ist zu recht vergangen. Beispielsweise können manche (den unseren überlegene) moralischen und juristischen Regeln der Naturvölker zwar nur dort entstehen, aber bestehen können sie auch hier. Um nichts Unsinniges zu tun und nichts Sinnvolles zu lassen, muss die ST zuständige Wissenschaften heranziehen wie die Ethnologie, die Geschichtsphilosophie, die Kulturphilosophie und andere, aber indem sie diesen Wissenschaften die Fähigkeit des Vergleichens im Sinne der ST abverlangt. Das würde diese Wissenschaften aus ihrer akademischen Verengung befreien und das würde manche bisher unmöglich erscheinende Übertragung als möglich erkennen lassen.

Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Methode der Soziologischen Transfermatik ist das Spiel. Das Spiel ist nicht nur Übertragungsgebiet und übertragbare Form, es ist auch Übertragungsmethode. Da uns die wissenschaftliche Theorie des Spiels auch hier fehlt, muss eine bloße Aufzählung von Eigenschaften genügen, aus denen sich drei methodisch wichtige Funktionen des Spiels ergeben. Diese Eigenschaften sind: Beliebigkeit, Zweckfreiheit, Ungebundenheit, frei sein von begrenzter Zielsetzung, von Erfolgszwang, von enger Absicht, von falscher Pietät, dagegen Verunsicherung aller Gewohnheiten, die Entmachtung und Verachtung ihrer einengenden, lähmenden, blockierenden Wirkung. Aus diesen und anderen Eigenschaften, deren jede schon an sich der Soziologischen Transfermation dient, ergeben sich drei methodisch wichtige Elemente des Spiels, nämlich Vorurteilslosigkeit, Fantasie und Zweckentfremdung. Diese drei Elemente sind bei jeder soziologischen Übertragung gefordert, ohne sie geht nichts.

Ein weiterer Bestandteil der allgemeinen Methode der ST ist die Heiterkeit. Heiterkeit nicht als naiver Frohsinn oder als individueller Charakterzug. Hier ist die Heiterkeit als Form (= Funktion) und Genuss sozialer und geistiger Freiheit gemeint. Freiheit macht heiter, und Heiterkeit macht frei. Unfreiheit macht ernst, und Ernst macht unfrei. Ernst bannt, Heiterkeit löst. Heiterkeit in diesem Sinne ist Voraussetzung des Spiels. Sie ist aber auch Folge des Spiels. Jedenfalls ist sie aber eigenständiges Element der allgemeinen Methode der ST. Sie verleiht allen Übertragungen ihren eigentümlichen Wert.

Ein eminent wichtiger Bestandteil ist die Anpassung. Das erscheint unverständlich nur, solange die Anpassung allein als biologisches Gesetz oder moralische Unanständigkeit begriffen wird, und nicht auch als gesellschaftliche Form eines allgemeinen Naturgesetzes. Wie alles Leben folgt auch der Mensch dem Gesetz der Anpassung an die Natur, nur folgt er ihm auf seine Weise: Er organisiert sich als gesellschaftliches Wesen. Die gesellschaftliche Organisation ist nur zu verstehen, wenn sie als das dem Menschen eigene Organ der Anpassung verstanden wird. Das ist die natürliche Funktion der gesellschaftlichen Organisation.

Die gesellschaftliche Organisation als Organ der Anpassung des Menschen an die Natur hat ihre Vorläufer im Tierreich. Bereits hier bilden sich Sozialstrukturen der vielfältigsten Art heraus, die den jeweiligen Tierverband befähigen, sich erfolgreich mit der Natur, mit der konkreten Umwelt auseinanderzusetzen.

Das Gesetz der Anpassung ist oberste Notwendigkeit und erste Erklärung aller Entwicklung. Das gilt für die Verhaltensforschung ebenso wie für die Ökonomie oder die Ethik. Und das gilt für die Soziologische Transfermatik. Die gesellschaftliche Organisation gibt der Anpassung ihre Spezifik: Die Anpassung des Menschen an die Natur spezifiziert sich als Anpassung der Natur an den Menschen. Damit erhält aber die Notwendigkeit der Anpassung die Form der Freiheit. Diese Form verwirklicht sich als historischer Prozess.

Die Anpassung der Natur an den Menschen bleibt immer nur eine spezifische Form der Anpassung des Menschen an die Natur, als höchste (effektivste) Form kann sie aber in ihr Gegenteil umschlagen und widernatürlich werden. Die Anpassung an die Natur ist das Kriterium der gesellschaftlichen Organisation des Menschen. Dient diese Organisation im Ganzen und in ihren Teilen der Anpassung oder dient sie ihr nicht? Bewirkt sie, statt Organ der Anpassung an die Natur zu sein, die Vernichtung der Natur und mit ihr die Vernichtung des Menschen, verwirkt sie ihren ureigensten Sinn. Eine andere Organisation wird notwendig, oder, wie Robert Jungk es sagt, eine neue Zivilisation. Diese neue Zivilisation kann nur auf einer neuen, Zweiten Aufklärung fußen. Und die Soziologische Transfermatik ist eine effektive Methode dieser neuen, Zweiten Aufklärung. (Die Übertragung funktioneller Formen vermittels der ST ist immer auch die kritische Befragung dieser Formen nach ihrem wirklichen Sinn. Damit wird aber ein unerschöpfliches Reservoir menschlichen Geistes, der in diesen Formen geronnen ist, fruchtbar gemacht.)

Indem die Anpassung natürliches Kriterium des ureigensten Sinns der gesellschaftlichen Organisation des Menschen ist, ist sie auch natürliches Kriterium allen Humanismus. Und als das ist sie inhaltliche Orientierung aller soziologischen Transfermation.

Ein weiterer Bestandteil der allgemeinen Methode der ST im Sinne einer inhaltlichen Orientierung ist die kritische Auffassung der Verwaltung des Menschen durch den Menschen.

Mit der Verwaltung des Menschen durch den Menschen wird die Autonomie des einzelnen Menschen, sein höchstes Gut, eingeschränkt oder aufgehoben. An die Stelle der eigenen Entscheidung über sich selbst tritt die fremde Entscheidung über ihn, sein Wohl und Wehe hängt von der Urteilsfähigkeit, dem Gerechtigkeitssinn, der Laune, dem Charakter anderer ab. Und selbst wenn der letzte Verwaltete noch Verwalter sein möchte, der Mann die Frau und die Frau das Kind und das Kind die Puppe verwaltet (bereits im Spiel das Verwalten und Verwalterwerden übt), so ist doch nicht jeder wirklich Verwalter, wohl aber jeder Verwalteter. Er ist Gefangener im System der Verwaltung und nicht frei in seinen Entscheidungen. Der Mensch wird von Verwalteten verwaltet. Und das macht die Sache noch übler.

Die Verwaltung des Menschen durch den Menschen bedarf zu ihrer Perfektionierung des gesellschaftlichen, des sozialen Rollenspiels: die Selbstverwaltung im Sinne des Systems der Verwaltung.

Die Verwaltung des Menschen durch den Menschen verdichtet sich, historisch gesehen, zunehmend, allerdings weitgehend unmerklich. Und sie reicht von der Geburt bis zum Grab. Der Mensch trägt sie als Gefühl, als bewusste und unbewusste Last sein Leben lang mit sich. Und er kann diese Last nicht abschütteln. Wenn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen schon infam ist, so ist die Verwaltung des Menschen durch den Menschen noch infamer. Die Ausbeutung entwendet ihm nur sein Produkt, die Verwaltung entwendet ihn selber. Und kehrt ihn gegen sich selber, macht ihn (in Form des Rollenspiels) zum „Selbstverwalter“. Die Demütigung wird zur Selbstdemütigung. Auch wenn die Verwaltung des Menschen durch den Menschen objektiv historisch bedingt ist, kann sie reduziert, gemildert und partiell sogar aufgehoben werden. Die Soziologische Transfermatik hat hier ihre spezifischen Möglichkeiten.

Allgemeine Effekte der Soziologischen Transfermatik

Wie die ST außer den vielfältigsten speziellen Methoden auch eine allgemeine Methode hat, so hat sie außer den vielfältigsten speziellen Effekten auch allgemeine, bei jeder Übertragung auftretende Effekte. Von diesen sollen hier nur drei charakterisiert werden.

Einer dieser allgemeinen Effekte ist der Gewinn an Erkenntnis. Erkenntnis ist nicht nur Voraussetzung, sie ist auch Ergebnis soziologischer Transfermation. Die Übertragung einer Form von einem Gebiet (Objekt) auf ein anderes (im Besonderen, wenn sich die Gebiete qualitativ voneinander unterscheiden) stellt eine neue Konstellation her: veränderte Beziehungen, veränderte Kausalitäten und womöglich veränderte Eigenschaften. Immer aber ist die neue Konstellation auch eine neue Vergleichskonstellation. Oder anders gesagt: die soziologische Transfermation erzeugt den Effekt der Verfremdung. Es ist durchaus legitim, die Übertragung allein um neuer Erkenntnisse willen vorzunehmen. Und um die jetzt neu begriffene Form beispielsweise mit Gewinn auf ihr ursprüngliches Gebiet zu retransfermieren. Das kann ausreichender Zweck des Unternehmens sein. Und wenn wir uns selbst bewusst in einen solchen Vorgang hineinbegeben, uns mit uns selbst in wechselnden Konstellationen vergleichen, gelangen wir zu einem neuen Verständnis des „Erkenne dich selbst“. Das hat mit Lebenskunst zu tun. Das Gleiche in wechselnden Konstellationen mit sich selber zu vergleichen, ist eine aparte Form der Erkenntnis.

Ein zweiter allgemeiner Effekt der Soziologischen Transfermatik ist der Gewinn an Humanismus. Der Humanismus ist schon mit der inhaltlichen Orientierung der allgemeinen Methode, mit der Zielsetzung aller Transfermation gegeben. Er folgt aber auch aus dem Vorgang des Obertragens selbst, denn dieser Vorgang ist das genaue Gegenteil von Unbeweglichkeit, Erstarrung und Verkrustung, von Voreingenommenheit, falscher Konvention, falscher Pietät und falscher Distanziertheit, von Tabuierung und Intoleranz und starrsinnigem Unvereinbarkeitsdenken. Die mit diesen Erscheinungen verbundenen Verluste sind ungeheuer.

Vor dem Richterstuhl der Soziologischen Transfermatik hat nichts Bestand. Die ST zielt nicht allein auf die bloße Übertragung bestimmter Formen aus einem Gebiet in ein anderes, sondern auf die Verwandlung aller Gebiete zum Zwecke der Humanisierung in den vielfältigsten Formen. Sie besitzt die gedankliche und moralische neue Freiheit, die nötig ist, um neue soziale Verbindungen zu denken und herzustellen. Damit ist sie auch Motor und Methode der sozialen Fantasie.

Die soziale Fantasie ist die Fantasie des Humanismus.

(All das gilt auch für den Bereich der Technik. Die Übertragungen aus dem Bereich der Soziologie in den der Technik haben primär nicht technische, sondern humane Zwecke. Statt ihn zu ihrem Anhängsel, muss die Technik den Menschen menschlicher machen. Nicht nur ihre Effekte, auch der Umgang mit ihr muss humanisieren. Dem dient die ST.)

Kreativität als weiterer Effekt der ST versteht sich nach dem eben Festgestellten von selbst. Trotzdem soll sie ausdrücklich angeführt werden, um von ihr zu sagen, dass sie in der Soziologischen Transfermatik eine hervorragende Schule findet. Die ST stellt ständig neue, ungewöhnliche Verbindungen und Vergleiche her, die kreatives Denken und Handeln zur Voraussetzung und zur Folge haben, sodass eine Eigendynamik der Kreativität entsteht. Eine Spezialität der bei der Soziologischen Transfermatik in die Schule gegangenen Kreativität ist das Wechselspiel von Logik und Fantasie.

Voraussetzung und Folgen der Soziologischen Transfermatik

Die ST verbindet sehr unterschiedliche Gebiete bzw. Bereiche durch sehr unterschiedliche Übertragungen miteinander. Das fordert die jeweils zuständigen Wissenschaften auf neue Art heraus, wenn es nicht neue Wissenschaften herausfordert. Um der Transfermation dienen zu können, müssen sich die geforderten Wissenschaften neu bestimmen, insbesondere die traditionelle Soziologie. Aber auch die Ethik, die Ästhetik u. a. bedürfen der Neubestimmung. Die Soziologische Transfermatik stellt aber nicht nur andere Wissenschaften in ihren Dienst, sie stellt sich auch in den Dienst anderer Wissenschaften. Die ihr eigene Art des Übertragens und Vergleichens, die dazu erforderliche Methodologie und die daraus entspringenden Effekte haben generellen, für alle Wissenschaften verbindlichen Wert.

Alle Erscheinungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahren in ihrer Geschichte Phasen der Trennung und Phasen der Annäherung, der Spezialisierung und der Identifizierung. Auch die Wissenschaften sind in ihrer Geschichte diesem dialektischen Prozess unterworfen. Und immer hat es Wissenschaften gegeben, die eine „mittlere“ Rolle gespielt, die dem Trennen oder dem Verbinden gedient haben, wie die Philosophie, die Mathematik, die Logik oder die Kybernetik. Es ist zu vermuten, dass auch die Soziologische Transfermatik eine derartige Rolle spielen wird.

Zugleich wird sich die ST in Spezialdisziplinen unterteilen, beispielsweise in die Sozionik (für die Transfermationen aus technischen oder in technische Bereiche zuständig) oder in eine selbstständige Methodologie, um das transfermatische Denken als allen Wissenschaften gemeinsames handhabbar zu machen, ebenso als Unterrichtsfach in der Schule (mit den entsprechenden Lehrmitteln) und auch im gesellschaftlichen und persönlichen Alltag. Damit wäre auch eine entscheidende Voraussetzung für das gesellschaftliche Experiment gegeben. (Das Unterlassen gesellschaftlicher Experimente ist einer modernen Zivilisation nicht gemäß, es bedeutet einen ökonomischen und vor allem menschlichen Verlust.)

Die Soziologische Transfermatik ist eine sehr moderne Wissenschaft, allein schon durch ihr kommunikatives Wesen, durch ihre universelle Dienstleistungseigenschaft. Sie hebt ein unerschöpfliches Vermögen aus dem Stande des Unbewussten und bringt es in Umlauf. Es gibt keine Ökonomie und keine Politik, keine Ethik und keine Wissenschaft, keine Kunst und keine profane Tätigkeit, keine alltägliche Praxis und keine globale Theorie, die nicht einen relevanten Nutzen von der Soziologischen Transfermatik hätte. Daher die Wichtigkeit dieser Wissenschaft und auch die Schwierigkeit – des ersten Versuchs ihrer Vorstellung.

Es ist nicht nötig auseinanderzusetzen, dass die eigentliche Nutzung der Soziologischen Transfermatik erst in einer freien, bewusst gestalteten Gesellschaft möglich wird.