Rotfeder - Gerhard Branstner - E-Book

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Gerhard Branstner

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Beschreibung

In diesem Buch äußert sich der Autor zu insgesamt acht real-sozialistischen Todsünden. Es sind dies im Einzelnen die Todsünde der Verabsolutierung der Macht, die Todsünde des Verschlafens des Sozialismus, die Todsünde der doppelten Blödheit der Ökonomie, die Todsünde des Fehlens sozialistischer Demokratie, die Todsünde des Mangels an Internationalisierung der sozialistischen Länder, die Todsünde der ökologischen Verantwortungslosigkeit, die Todsünde der Machtlosigkeit der Theorie und die Todsünde der Unnatürlichkeit von Inhalt und Form der Politik. Und damit kommt der Autor zu folgender Schlussfolgerung: Angesichts der Todsünden des „realen Sozialismus“ müssen wir uns wundern, dass er so lange überlebt hat (und diese Sünden lassen sich durch manche andere ergänzen). Das wirkliche Wunder ist jedoch der echte Sozialismus, denn er hat im beziehungsweise trotz des „realen“ in nahezu allen Bereichen gelebt und gegengehalten. Auf die Dauer war er jedoch der zunehmenden Verbürgerlichung nicht gewachsen. Die Todsünden sind nichts als Charakteristika der tödlichen Verbürgerlichung. Aber was genau bezeichnet Branstner eigentlich als Todsünden. Greifen wir zwei Beispiele heraus: Die erste Todsünde: Die Verabsolutierung der Macht Die Macht des Sozialismus wurde in die Macht über den Sozialismus verkehrt. Das war die Sünde aller Sünden. Damit verkehrte sich die Diktatur des Proletariats in die Diktatur über das Proletariat. Die Diktatur im Sinne von Marx haben wir also bis heute nicht erlebt, aber wer nicht alles weiß hanebüchenen Unsinn über sie zu verbreiten. Die dritte Todsünde: Die doppelte Blödheit der Ökonomie Kluge Menschen können nicht dumm sein, aber blöd. Eine in der Politik typische Erscheinung. Im Sozialismus wurde von klugen und dummen Menschen eine blöde Ökonomie praktiziert, nämlich eine unverträgliche Mischung von bürgerlicher und sozialistischer Ökonomie (mit deutlicher Zunahme der bürgerlichen Elemente). Obwohl die Mischung selbst der Hauptfehler war, war ihre Realisierung nicht weniger blöd. Ausdruck dessen ist das idiotische Unterfangen, statt eine eigenständige. wesenseigene Entwicklung zu konzipieren, auf dem bürgerlichen Weltmarkt gegen den Kapitalismus zu konkurrieren. Mit sozialistischen Gebrauchswerten? Oder womit? Der Begriff der Todsünde (lateinisch peccatum mortiferum oder mortale) stammt aus der katholischen Kirche, womit besonders schwerwiegende Arten der Sünde bezeichnet werden. Und davon gibt es sieben – von Hochmut bis Faulheit.

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Impressum

Gerhard Branstner

Rotfeder

Die Todsünden des „realen Sozialismus“ und andere Welterfahrungen

Essays und Glossen

Das Buch erschien 1998 im verlag am park, Berlin.

ISBN 978-3-96521-790-4 (E–Book)

Titelbild: Ernst Franta

© 2022 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E–Mail: verlag@edition–digital.de

Internet: http://www.edition-digital.de

Rotfeder ist der Name des Plebejers unter den Karpfen.

Es kann aber auch die indianische Ehrenbezeichnung für einen kommunistischen Schriftsteller sein.

Die Todsündendes „realen Sozialismus“

Die erste Todsünde: Die Verabsolutierung der Macht

Die Macht des Sozialismus wurde in die Macht über den Sozialismus verkehrt. Das war die Sünde aller Sünden. Damit verkehrte sich die Diktatur des Proletariats in die Diktatur über das Proletariat. Die Diktatur im Sinne von Marx haben wir also bis heute nicht erlebt, aber wer nicht alles weiß hanebüchenen Unsinn über sie zu verbreiten.

Die zweite Todsünde: Das Verschlafen des Sozialismus

Die kapitalistische Einkreisung des Sozialismus wurde zur Selbsteinkreisung. Der Sozialismus verschloss sich gegen die äußeren Entwicklungen und endlich auch gegen die inneren, schließlich gegen sich selber. Er dörrte aus. Dem Verpennen folgte das Verpönen, das Verketzern, das Verfolgen, das Vernichten. Der Sozialismus ist das Neue, er lebt von ihm und fördert, produziert es. Indem er im tödlichen Gegensatz zu seinem Wesen allem Neuen misstraute, starb er bereits in seiner Kindheit an Überalterung. Der Sozialismus hat sich selber verpennt. Ein wirksames Schlafmittel war die Bürokratie des Apparates und des Geistes.

Die dritte Todsünde: Die doppelte Blödheit der Ökonomie

Kluge Menschen können nicht dumm sein, aber blöd. Eine in der Politik typische Erscheinung. Im Sozialismus wurde von klugen und dummen Menschen eine blöde Ökonomie praktiziert, nämlich eine unverträgliche Mischung von bürgerlicher und sozialistischer Ökonomie (mit deutlicher Zunahme der bürgerlichen Elemente). Obwohl die Mischung selbst der Hauptfehler war, war ihre Realisierung nicht weniger blöd. Ausdruck dessen ist das idiotische Unterfangen, statt eine eigenständige. wesenseigene Entwicklung zu konzipieren, auf dem bürgerlichen Weltmarkt gegen den Kapitalismus zu konkurrieren. Mit sozialistischen Gebrauchswerten? Oder womit?

Die vierte Todsünde: Das Fehlen sozialistischer Demokratie

Es hat durchaus Formen sozialistischer Demokratie gegeben, beispielsweise die Konfliktkommissionen, die Jahreshauptversammlungen der Genossenschaften, die Betriebskollektivverträge und manche andere, auch wenn sie nicht voll im sozialistischen Sinne verwirklicht wurden. Die wesentlichen Formen sozialistischer Demokratie waren dagegen undenkbar. Während die kapitalistische Ökonomie Demokratie ausschließt, ist sozialistische Ökonomie nur durch Demokratie zu haben, und zwar durch sozialistische Demokratie. Diese zeigt sich vor allem in der öffentlichen Verständigung und Vereinbarung über die sozialistische Qualität der Ökonomie: Die Entwicklung echten sozialistischen Eigentums und sozialistischer Gebrauchswerte, die Liquidierung der Dominanz des Tauschwertes, die sozialistische Gestaltung der Produktionsprozesse, die allmähliche Überwindung der Warenproduktion usw. Und damit gleichlaufend die öffentliche Verständigung und Vereinbarung über die sozialistische Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in allen seinen Dimensionen. Statt kreative, produktive, konstruktive Öffentlichkeit als wichtigste Form der sozialistischen Demokratie zu konstituieren, wurde im Gegenteil die Öffentlichkeit als größte Gefährdung angesehen.

Die fünfte Todsünde: Der Mangel an Internationalisierung der sozialistischen Länder

Dieser Mangel hatte häufig groteske Formen. Angefangen vom Funktionieren oder vielmehr Nichtfunktionieren des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (schon der Name ist grotesk) über die Bürokratisierung des Grenzregimes und den damit zusammenhängenden Problemen bis zu den privaten, persönlichsten Bereichen, beispielsweise der Heirat von Partnern unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, die mit den unsinnigsten Verboten und Ahndungen erschwert wurde. Die mangelnde Internationalisierung war Ausdruck der Paradoxie, dass die sozialistischen Länder von nichtsozialistischen Machthabern regiert wurden, denn deren Verhalten zueinander war stinkbürgerlich, noch dazu von der rückständigsten Art. Das reichte von den ökonomischen Verhandlungen bis zum diplomatischen Protokoll.

Die sechste Todsünde: Die ökologische Verantwortungslosigkeit

Die menschliche Gesellschaft kann nicht aus der Natur austreten, ihr würde sofort der Stoff ausgehen, als erstes der Sauerstoff. Die Einheit von Mensch und Natur (die Menschheit als Teil der Natur) ist das oberste Gesetz, dem alle anderen Gesetze (auch die von Marx entdeckten gesellschaftlichen Gesetze) untergeordnet sind. Der Sozialismus ist dazu berufen, dieses oberste Gesetz endgültig zu verwirklichen. Stattdessen hat er in seiner zunehmenden Existenznot nicht einmal sich selbst, sondern mehr und mehr nur noch seine Hülle zu erhalten gesucht, um überhaupt am Leben zu bleiben. Der Sozialismus kann aber nur als Sozialismus am Leben bleiben, nicht als Imitation seiner selbst.

Die siebte Todsünde: Die Machtlosigkeit der Theorie

Der Sozialismus ist die erste Gesellschaftsordnung, die auf wissenschaftlicher Grundlage errichtet wird. Das gilt nach wie vor. Die Machtlosigkeit der Theorie war der Theoriefeindlichkeit der Macht geschuldet. Der Marxismus wurde lediglich auf unverbindliche, akademische Art betrieben, das heißt auf bürgerliche Art. Es fehlte an marxistischer Theorie, weil es an marxistischer Politik fehlte. Nicht umgekehrt.

Die achte Todsünde: Die Unnatürlichkeit von Inhalt und Form der Politik

Der Sozialismus hat die Aufgabe, den „kleinen Mann“ groß zu machen. Also muss er Wesensart und Sprache des „kleinen Mannes“ zum Maß nehmen. Nicht, um da zu bleiben, aber um von da auszugehen. Wenn aber die Belehrung von oben nach unten stattfindet, wenn die Entscheidungen vor der Diskussion gefasst werden, kann ein echter Austausch nicht zustande kommen. Unvermeidlich entwickeln sich Heuchelei und eine „offizielle“, vorgeschriebene, unnatürliche Form des Umgangs miteinander. Anstelle der Vernatürlichung des Verhältnisses von oben und unten, der Vernatürlichung des politischen Miteinanders entstand eine für den Sozialismus verderbliche Künstlichkeit und Unwahrhaftigkeit der politischen Beziehungen in den Formen und in den Inhalten.

Angesichts der Todsünden des „realen Sozialismus“ müssen wir uns wundern, dass er so lange überlebt hat (und diese Sünden lassen sich durch manche andere ergänzen). Das wirkliche Wunder ist jedoch der echte Sozialismus, denn er hat im beziehungsweise trotz des „realen“ in nahezu allen Bereichen gelebt und gegengehalten. Auf die Dauer war er jedoch der zunehmenden Verbürgerlichung nicht gewachsen. Die Todsünden sind nichts als Charakteristika der tödlichen Verbürgerlichung.

Den Berg hinauf gleich Sisyphus

Geschrieben im Dezember 1989. Veröffentlicht im Januar 1990

Da ist er in unserem Lande kaum der Strangulierung durch den Stalinismus entkommen, und schon zieht sich ihm die Schlinge wieder um den Hals. Die Schändung des Sozialismus wurde zur Schande des Sozialismus. Die Verbrechen an ihm verkehren sich zu Verbrechen von ihm. Welch ein Widersinn! Oder sind es nicht doch seine Verbrechen? Die Antwort auf diese Frage entscheidet über Sein oder Nichtsein des Sozialismus. Aber wer kann die Antwort geben? Nur die Geschichte des Sozialismus selbst.

Seine Geburt stand unter keinem guten Stern, er ist aus dem finstersten und ärmlichsten Loche Europas gekrochen, aus dem Völkergefängnis des zaristischen Russland. Er ist aus den Trümmern des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkrieges gekrochen. I nd kaum, dass er sich aufrichtet auf zitternden Beinen, nur vage erkennbar in seiner kümmerlichen Gestalt, gerät er in die Klauen des Stalinismus, eines Herrschaftssystems. das sich nur als Fortsetzung des Zarenregimes erklären lässt. Das bezeugen die Methoden der Bespitzelung und Denunziation, der Verbannung und der Arbeitslager. Und w o diese Methoden nicht ausreichten, wurde auf die der Inquisition zurückgegriffen. Millionen Menschen, unter ihnen unzählige der besten Sozialisten, mussten sterben. Aber der Sozialismus blieb am Leben! Amputiert zwar und vergewaltigt und durch seine Gleichsetzung mit dem Stalinismus in eine verhängnisvolle Schizophrenie versetzt. Aber er blieb am Leben. Was ist das an ihm, das dieses Wunder vollbracht hat? Und er überlebte auch den Zweiten Weltkrieg und den abermals sein schreckliches Werk verrichtenden Stalinismus. Was ist das nur am Sozialismus, was ihn trotz dieses grausamen Schicksals am Leben erhalten hat?

Ich glaube, es ist das Mütterliche an ihm. Das kommt unerwartet. Und es erscheint als zu schlicht, um die Überlebenskraft eines ganzen historischen Systems zu erklären. Aber ist es nicht die ewige Sehnsucht des Menschen nach einem menschlichen Zuhause, die zur Idee des Sozialismus geführt hat? Nach einem Zuhause, wo die Fürsorge und die Gerechtigkeit walten, die menschliche Wärme, die uns als mütterliche am vertrautesten und natürlichsten ist. Dieses innere Wesen des Sozialismus als menschliches Zuhause, seine Mütterlichkeit hat ihn so Schweres überleben lassen. Und gewiss ist es noch mehr als das. Aber jetzt soll er auf den Schindanger, weil der Stalinismus ihn geschändet hat. Welch ein Wahnsinn! Und das in unserem Lande.

Das Stück Deutschland, das uns nach dem kriege überantwortet wurde, w ar gewiss nicht das beste Stück. Wir hatten keine Steinkohle und keinen Stahl, die damals wichtigsten Industrien. Und statt von einem Marshallplan gesegnet zu werden, hatten wir die ungeheure Last der Reparationen fast allein zu tragen. Und wir hatten den importierten Stalinismus, der wie in der Sowjetunion nun auch bei uns zur schleichenden Konterrevolution gegen den Sozialismus wurde. Jawohl, Stalinismus ist Konterrevolution gegen den Sozialismus. Wie sonst soll man das nennen, was den Sozialismus derart lebensgefährlich verletzt und verunglimpft hat? Diese Konterrevolution strukturierte bei uns ihre Macht in Form einer Oligarchie, genannt Politbüro. Diese Oligarchie brauchte ihre Steigbügelhalter und zeugte ihre Schmarotzer, und sie schuf sich die administrativen und psychischen Mittel der politischen und moralischen Entmannung.

Wie konnte diese Oligarchie so lange über ihr wirkliches Wesen hinwegtäuschen? Weil sie den Sozialismus nicht nur zuließ, sondern sogar förderte, allerdings nur soweit, wie er ihre Macht nicht gefährdete, wohl aber als sozialistische legitimierte. Und weil die Mitglieder dieser Oligarchie im Namen des Sozialismus antraten, was niemand bezweifeln durfte, hatten doch viele von ihnen eine opferreiche Vergangenheit. Dass Sozialisten, die im antifaschistischen Kampf ihr Leben gewagt hatten, zu Verbrechern am Sozialismus werden können, ist noch heute für viele unbegreiflich. Wahr aber ist auch, dass Tausende Genossen gegen die Verfälschung des Sozialismus gekämpft haben. Davon zeugen die Tausende Parteistrafen und die Zuchthausstrafen. Und Hunderttausende Genossen haben in gutem Glauben ihr bestes für den Sozialismus gegeben, und mit ihnen Millionen Menschen dieses Landes. Aber jetzt, wo die Macht der Oligarchie gebrochen und der Sozialismus von ihr befreit ist, verkehren sich ihre Verbrechen zu Verbrechen des Sozialismus, der Sozialisten. Sie sind uns als Brandmal auf die Stirn gedrückt. Und so bitter es ist, wir müssen es tragen, denn wir haben diese Oligarchie zu lange geduldet. Das ist unsere Schuld, und die müssen wir auf uns nehmen. Und wir müssen, mit ihr beladen, noch einmal den Berg hinauf, gleich dem Sisyphus. Aber das war schon immer das Schicksal der Sozialisten. Wird es das auch immer bleiben?

Die Oligarchie des Monopolkapitals hat bei uns keine Macht, und die stalinistische Oligarchie hat keine mehr. Das ist die einmalige Chance, eine freie Gesellschaft zu gründen, eine volkseigene Gesellschaft. Eben das wäre der wirkliche Sozialismus. Eine dem Volke und nur dem Volke eigene Gesellschaft, in allen ihren Bereichen, in Wirtschaft und Kultur, in Staat und Politik. Und nichts kann uns daran hindern. Außer einem! Der verhängnisvolle Trugschluss, der die Untaten am Sozialismus zu Untaten des Sozialismus macht. Und das ausgerechnet jetzt, wo er mit den Untaten und ihren Verübern abrechnet.

Soll der Fluch des Stalinismus noch über seinen Tod hinaus den Sozialismus zuschanden machen? Soll nur der falsche Sozialismus möglich gewesen sein, der echte aber nicht? Soll der echte durch den falschen unmöglich gemacht worden sein? Soll der Sozialismus an einem Trugschluss scheitere? Das wäre das Scheitern des menschlichen Geistes. Das wäre eine ungeheuerliche Tragik, eine Tragik, wie sie selbst ein Shakespeare nicht zu fassen vermocht hätte.

Worum geht es?

Einführende Bemerkungen zur Gründung des „Marxistischen Forums“ am 29. Mai 1995

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Interessierte und Engagierte!

Im Folgenden will ich eine Vorgabe zur Diskussion anbieten. Sie ist mit niemandem abgesprochen. Sie entspricht also nicht einer „halbkonspirativen“ Verschwörung. (Übrigens: „halbkonspirativ“, wie man uns zu nennen beliebt, ist immerhin ein gewisser Unterschied zur SED, dort hatte man uns „vollkonspirativ“ genannt.) Ich werde den Text wörtlich vorlesen, da sind Missdeutungen schwieriger. Ausgeschlossen sind sie auch dann nicht, wie die Reaktionen auf unseren Einladungstext beweisen.

Die Gründe, weshalb wir meinten, zu dieser Diskussion auffordern zu müssen, sind in dem Aufruf „In großer Sorge“ angesprochen. Die Art der Erwiderung führender Genossen auf die Einladung hat unsere Gründe leider bestätigt, verstärkt und vermehrt. Die grundlosen und würdelosen Beschimpfungen, die Diffamierungen und Verleumdungen, ich will sie hier nicht aufzählen, beweisen nur eines: Es ist höchste Zeit, eine offene, ehrliche, sachliche Diskussion über bedenkliche Entwicklungen in der Partei zu führen, auch über das erschreckende Niveau der Diskussionskultur. Wir jedenfalls werden uns nicht auf dieses Niveau hinabbegeben. Auch, weil man da zu leicht ins Komische geraten kann. Beispiel: Genosse Bisky sagt in seiner ersten Erwiderung auf unsere Einladung: „Mein Respekt vor den Interzeichnenden lässt mich hoffen…' usw. Zwei Zeilen vorher aber hat er uns Rufmörder genannt. Respekt vor Rufmördern ist doch einmal etwas Nettes. Ein zweites Beispiel ungewollter Komik. Ich hoffe, dass das „Neue Deutschland“ korrekt berichtet, wenn es am 23. Mai von der Vorstandssitzung schreibt, dass Genosse Bisky gesagt hat: „Der schlimmste Mensch im ganzen Land, ist und bleibt der Denunziant“. Das war auf uns bezogen.

Wenn Genosse Bisky in diesem Lande keine schlimmeren Menschen findet als uns, müsste er eigentlich laut jubeln. Was wäre das doch für ein glückliches Land, wo es keine schlimmeren Menschen gibt als uns, die 38 Unterzeichner. Da könnte man sich ja nachts wieder auf die Straße trauen.

Versteht mich recht, es fällt mir schwer, all diese unseriösen, grotesken Ungereimtheiten und Aufgeregtheiten ernst zu nehmen. Aber all das ist nicht nur lächerlich, es ist auch äußerst schädlich. Da wird eine Diskussion, die selbstverständlicher Alltag der Partei sein müsste, zur schlimmsten Gefährdung der Partei hochgekocht, noch ehe sie stattfindet. Erst dadurch wird der verständliche Wunsch vieler Genossen, statt fruchtloser Streitereien effektive politische Arbeit zu leisten, demagogisch missbrauchbar, indem eine Selbstzerfleischung suggeriert und der Schwarze Peter uns zugeschoben wird. Erst durch dieses Hochkochen werden falsche Fronten provoziert. Erst dadurch wird der gut gemeinte aber dumme Witz möglich, uns zur Partei der Streithammel zu erklären. Das Gegenteil ist wahr. Die Hammel wollen ja gerade nicht streiten, vor allem die Leithammel nicht. Gerade das ist das Problem.

Aber es gibt auch andere Stimmen. An der erwähnten Vorstandssitzung nahm auch Genosse Modrow teil. Er warnte im „Neuen Deutschland" davor, den Aufruf und seine Unterzeichner in Bausch und Bogen zu verurteilen. Wörtlich heißt es: „‘Wenn wir das tun … hauen wir auf der Hälfte der Partei herum.‘ Man habe sich zu Pluralismus entschlossen und müsse mit ihm leben. Nicht nur in den Parlamenten machte er ‚Profilneurosen‘ aus, auch der PDS Bundesvorstand sei nicht frei davon.“ Ende des Zitates, Da denke sich jeder seinen Teil.

Nun zur Sache. Erstens zur Politik der PDS gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft: Ich reflektiere nur einige Probleme. Und nur sehr kurz.

Nummer eins: Die Frage der Regierungsbeteiligung. Nie war bei unseren führenden Genossen die Rede davon, dass diese Frage eine üble Geschichte hat. Die beginnt 1899 in Frankreich, und zwar mit dem Fall Millerand, dem Eintritt eines Sozialisten in eine bürgerliche Regierung. Ich beziehe mich auf das jüngste Heft von „Utopie kreativ“, auf den .Artikel von Jakob Moneta. Er zitiert zum Fall Millerand Rosa Luxemburg: „… der Sozialist, der in eine bürgerliche Regierung eingetreten ist, hat nicht die Sozialpolitik der Regierung zum Werkzeug der sozialistischen Bestrebungen gemacht, sondern ist umgekehrt zum Werkzeug der bürgerlichen Regierung geworden.“ Die Wirklichkeit hat diese Erkenntnis Rosa Luxemburgs voll bestätigt. Auf die schlimmen Erfahrungen verweisend, warnt Moneta sozialistische oder sich sozialistisch oder kommunistisch bezeichnende Parteien davor, „sich blindlings in diese Abenteuer zu begeben. Sie (die Parteien) kamen allerdings stets arg gerupft heraus, oder sie beschworen gar eine Katastrophe herauf“. Rosa Luxemburg wie Jakob Moneta verweisen auf die Erfahrung, dass die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen oder auch nur das Streben nach einer solchen Beteiligung die Wirksamkeit der sozialistischen Opposition empfindlich reduziert. Natürlich kann damit die Frage der Regierungsbeteiligung nicht als absolut entschieden angesehen werden. Absolut entschieden aber ist, um noch einmal auf Moneta zurückzugreifen, dass man sich nicht blindlings in dieses Abenteuer begeben darf. Leider zeigen unsere zuständigen Genossen aber in dieser Frage eine schreckliche Mischung von Dilletantismus und Voluntarismus, kann auch mit Wunschdenken übersetzt werden. Diese schreckliche Mischung ist auch in anderen Fragen bemerkbar.

Nummer zwei: Die Frage Klassenkampf. In der Antwort auf meine Randglossen im „Neuen Deutschland“ schreiben die beiden Bries und Gysi, sie wollten „den Begriff des Klassenkampfes auch aus terminologischen Gründen nicht verwenden. Er hat sich durch stalinistische und poststalinistische Praxis unumkehrbar vom Marxschen Klassenkampfbegriff entfernt,“

Meine Antwort: Der Begriff des Sozialismus hat sich „durch stalinistische und poststalinistische Praxis“ viel weiter vom Marxschen Sozialismusbegriff entfernt, und seine Diskreditierung ist zehnmal schlimmer als die des Klassenkampfbegriffs. Aber wir haben ihn (den Begriff Sozialismus) sogar in unserem Parteinamen. (Der hat sich wohl nicht „unumkehrbar“ entfernt?) Ja, die Logik ist ein verfänglich Ding. Soviel an dieser Stelle zum Problem Klassenkampf. In der auf die Randglossen folgenden Diskussion sind im „Neuen Deutschland“ genügend andere Argumente zu finden, speziell von Adam Schaff, des gegenwärtig wohl bedeutendsten polnischen Philosophen.

Nummer drei: Die Frage Eigentum an Produktionsmitteln. Die „Vordenker der PDS“ bevorzugen zunehmend statt der Enteignung die Verfügung. Das soll heißen, eine schrittweise zunehmende sozialistische Verfügung über kapitalistisches Eigentum. Ich wiederhole: sozialistische Verfügung einerseits - kapitalistisches Eigentum andererseits.

Da dachte ich nun immer, das Zebra komme nur im Tierreich vor. Aber im Ernst. Verfügung über fremdes Eigentum gibt es, solange es Eigentum gibt. Und solange gibt es auch die Erfahrungen mit der Verfügung. Aber die werden nicht genutzt. Ein bezeichnendes Beispiel. In der klassischen Antike, in den besten Zeiten der Sklaverei, durfte der Sklave über sich verfügen, obwohl er Eigentum des Sklavenhalters war. Er durfte, wenn er entsprechende Gründe hatte, seinen Herrn nämlich zweimal ablehnen, um einen anderen zu erhalten. Nur, die Sklaverei selber durfte er nicht ablehnen. Das bekam ihm schlecht, siehe Spartacus: Kopf ab! Und so ist es geblieben. Die Verfügung hat da ihre Grenzen, von wo an es darum geht, worauf es ankommt. Und wenn diese Grenzen angetastet werden, heißt es: Kopf ab! Daran hat sich nichts geändert. Mit dem Zauberwort Verfügung streut man Freund und Feind nur Sand in die Augen. Das passiert jedem Vordenker, wenn er statt bei Marx beim Sandmännchen Rat holt. Das private Eigentum an den Produktionsmitteln hat aber noch eine andere Seite. Wer dieses Eigentum innehat, bestimmt über Menschen. Er entscheidet, ob sie Arbeit haben und welche sie haben und welche nicht. Er entscheidet über unser Schicksal, über Krieg und Frieden, Leben und Tod. er entscheidet über unsere Gedanken und über unseren Geldbeutel, er entscheidet über uns wie über würdelose und willenlose Objekte, er entscheidet über die Chancengleichheit, das heißt er bestimmt die Chancenungleichheit, überhaupt die Ungleichheit der Menschen. Die Gleichheit der Menschen (nicht die Gleichmacherei) ist aber ihr höchster Wert, ihr höchstes menschliches Gut. Sie ist das höchste Gebot des Humanismus. Sie ist das Kriterium dafür, was links ist. Die Gleichheit der Menschen ist das schönste, edelste Ideal. Sie ist der erste und letzte Inhalt des wirklichen Sozialismus. Und all das wird durch das privatkapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln ausgehöhlt und in sein Gegenteil verkehrt. Das kapitalistische Eigentum ist das Fundament des gewaltigen staatlichen, politischen und ideologischen Apparats, der auf den Menschen lastet und sie sittlich in die absolute Verelendung treibt. Die Frage des Eigentums ist folglich auch eine Frage der Moral, und zwar ihre oberste Frage.

Eine Partei, die in den drei Fragen: Beteiligung an bürgerlichen Regierungen, Klassenkampf und Eigentum an Produktionsmitteln keine historisch begründete Position hat, ist der Verbürgerlichung ausgeliefert. Jetzt kann jeder selber beurteilen, wie es um die PDS bestellt ist.

Noch zu einem anderen Aspekt der Verbürgerlichung. Die meisten sozialistischen Parteien des östlichen Europas sind der Verbürgerlichung zum Opfer gefallen, sie haben den Sozialismus abgeschrieben. Aber in all diesen Parteien hatte die Verbürgerlichung lange vorher eingesetzt, nämlich schon zu Lebzeiten des „realen Sozialismus“. Sie hat zu seinem Scheitern beigetragen. Diese Tatsache wurde niemals theoretisch analysiert, das wäre ja ein peinliches Eingeständnis gewesen. Und das wäre es auch in gewisser Weise für die PDS. Das Ungeübte der Frage erschwert es mir ziemlich schwierig, mich verständlich zu machen. In der Geschichte der Sozialdemokratie gibt es da noch die wenigsten Verständnisschwierigkeiten. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 war der bürgerliche Sündenfall. Der Verrat an der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg und der Mord an den revolutionären Arbeitern, die Spaltung der Arbeiterbewegung und vieles andere waren die Folge. Die Verbürgerlichung der KPdSU ist aber nicht weniger unheilvoll. Ihr andauernder Verlust an sozialistischer Substanz war schließlich die Hauptursache für die Verderbnis und den endlichen Untergang eines ganzen Weltsystems mit allen seinen Folgen. Und wenn Ernesto Cardenal, um nach seiner Auffassung Sozialist zu bleiben, sich von den Sandinisten getrennt hat, zeigt das nur die vielen Dimensionen und die Bedeutung der Frage. Auch wenn ich sie hier nur äußerst verkürzt darstellen konnte, ist wohl deutlich, dass die Verbürgerung das Schlimmste ist, was einer Partei des Sozialismus geschehen kann. Was aber sagt Genosse Gysi dazu? ln seinem Interview für die Zeitung „Neues Deutschland“ vom 13. Mai: „Was ist denn das eigentlich, die Gefahr der Verbürgerlichung? Der Begriff Bürger?“ (von dem war nie die Rede) „ist ja erst in der Französischen Revolution verwendet worden und darunter würde ich immer einen zivilisatorischen Anspruch verstehen. Ohne auf dem Begriff zu bestehen, kann ich Verbürgerlichung in diesem Sinne nur begrüßen.“ Wenn über die schlimmste Gefährdung einer sozialistischen Partei derart hinweggeschwindelt wird, müssen wir uns nicht wundem, wenn die Verbürgerlichung, der auch die SED ausgesetzt war, in der PDS fortlebt, und wenn der Vorwurf, wir wollten zurück zur SPD, mit den Methoden der SED vorgenommen wird. Wer kritisiert, wird denunziert, denn die Partei hat immer Recht, und die Partei ist das Politbüro.

Nun gut, es gibt grundsätzliche Unterschiede. Und ich will das hochkommende SED-Erbe an dieser Stelle nicht weiter charakterisieren. Aber es ist schon ein Problem, wenn sich alte SED-Manieren mit Elementen neuer Verbürgerlichung verbinden. Die Folge sind Defizite auf allen Gebieten, auch in der Oppositionspolitik.

Zweiter Punkt: Der innere Zustand der PDS. Wir haben ein nach wie vor gültiges Parteiprogramm. Überdies haben wir ein „Ingolstädter Manifest“, wir haben „Zehn Thesen …“ und „Fünf Punkte“ und ein Strategiepapier. Und keiner sagt, wie sich diese Papiere zueinander verhalten. Sie verhalten sich überhaupt nicht zueinander. Sie ergänzen sich nicht, sie widersprechen sich nur. Weiter: Wir haben den Phantomkampf gegen den Stalinismus in der PDS. Gefunden wurde aber kein Stalinismus in der Partei, auch auf dem Parteitag nicht. Nur Sarah Wagenknecht flog per Ultimatum aus dem Vorstand. Weiter: Die Annahme der „Fünf Punkte“ wurde von Bisky mit der „Vertrauensfrage“ verbunden. Dabei war die Gefahr ihrer Nichtannahme gar nicht gegeben. Wieder Kampf gegen Gespenster? Weiter: Im Vorfeld des Parteitages wurden von Einzelpersonen und von Gruppen unzählige Briefe an die führenden Genossen geschrieben, mit der Bitte, die undemokratischen, ohne Not eine „krisenhafte Situation“ herbeiführenden Methoden zu unterlassen. Auf diese Briefe, die ebenfalls von großer Sorge getragen waren, wurde nicht reagiert. Für die Mehrheit unserer Spitzenpolitiker scheint Selbstkritik ein Fremdwort zu sein. Das erinnert mich an die Meteorologen vom Wetterdienst. Die üben auch nie Selbstkritik, wenn sie sich geirrt haben.