Witz und Wesen der Lebenskunst oder Die zweite Menschwerdung - Gerhard Branstner - E-Book

Witz und Wesen der Lebenskunst oder Die zweite Menschwerdung E-Book

Gerhard Branstner

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Beschreibung

Wer über das Scheitern des Sozialismus nachdenkt, der muss zwangsläufig auch über die Ursachen dieses Scheiterns nachdenken – um es dereinst vielleicht besser machen zu können. Das hat auch der Autor dieses Sammelbandes häufiger getan. Eine seiner Thesen lässt sich mit dem Begriff der Verbürgerlichung der sozialistischen Parteien zusammenfassen. Was versteht Branstner darunter? Hier ein längerer Auszug zu diesem Thema, wobei das vorige, das 20. Jahrhundert gemeint ist: Neben der Oktoberrevolution ist die Verbürgerlichung der sozialistischen Parteien der signifikanteste Vorgang dieses Jahrhunderts. War die Verbürgerlichung doch die Ursache des schließlichen Scheiterns des Sozialismus. Und diese Verbürgerlichung ist Ursache des Scheiterns aller künftigen sozialistischen Revolutionen. Es sei denn, sie kann vermieden werden. So bunt und in sich gegensätzlich die Bürgerlichkeit ist, so bunt und in sich gegensätzlich ist die Verbürgerlichung. Wie die Bürgerlichkeit vom radikaldemokratischen Humanismus über den Konservatismus bis zum Faschismus reicht, so reicht die Verbürgerlichung von Stalin über Chruschtschow bis Gorbatschow, von den „Altkommunisten“ bis zu den Revisionisten/Reformisten. Der Stalinismus ist nichts als eine Form der Verbürgerlichung, allerdings ihre schlimmste, faschistische Form. Auch wenn der Stalinismus als Verbürgerlichung im Sozialismus nicht, wie der Faschismus im Kapitalismus, die Funktion des Nothelfers hat, sondern im Gegenteil Totengräber des Sozialismus ist. Der Faschismus offenbart das letzte Wesen des Kapitalismus. Der Stalinismus offenbart nur die Verbürgerlichung als eine dem Sozialismus wesensfremde Erscheinung. „Vor allem aus politischen Gründen“, so heißt es in einem Geheimpapier Woroschilows, „haben wir in den vergangenen drei Jahren (1934–36) 22 000 Kommandeure entfernt.“ Dem „Großen Terror“ 1937/38, heißt es in einer anderen Quelle, „fielen noch einmal 36 761 Soldaten und Offiziere der Land- und Luftstreitkräfte sowie ca, 4 000 Kommandeure der Seestreitkräfte zum Opfer. Als es zum Zweiten Weltkrieg kam, war die Rote Armee im wahrsten Sinne des Wortes enthauptet.“ Außer der Roten Armee wurde der Sozialismus in der Sowjetunion zur Gänze enthauptet: Durch die Enthauptung der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur und vor allem durch die Enthauptung der Politik. Eine weitere Form der Verbürgerlichung ist die Meinungsmanipulation und die Verlogenheit. (Die „blühenden Landschaften“ mussten nicht erst von Kohl erfunden werden.)

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Impressum

Gerhard Branstner

Witz und Wesen der Lebenskunst oder Die zweite Menschwerdung

Fortgesetzter Marxismus. Essays und Glossen

Das Buch erschien 1999 im GNN Verlag, Schkeuditz.

ISBN 978-3-96521-820-8 (E–Book)

Titelbild: Ernst Franta

© 2022 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E–Mail: verlag@edition–digital.de

Internet: htp://www.edition-digital.de

Statt eines Vorwortes: Antwort auf einen Brief von Klaus Steiniger

Lieber Klaus,

Dein letzter Brief ist Klaus, wie er leibt und lebt: einerseits Dein Gespür für meine Sprache und meine Auffassungen, was Du mit Deinem „Respekt für die Tiefe vieler Gedanken und die Brillanz nicht weniger geschliffener Formulierungen“ bekundest, und andererseits die Unbelehrbarkeit des „Altkommunisten“, als der Du sehr leichtfertig mit Deiner intellektuellen Potenz umgehst, wenn Du mir „haarsträubende und anmaßende Vereinfachungen sowie schlichten Unsinn“ anlastest. Man könnte auch sagen, getroffene Hunde bellen, auch wenn Du Dich ja gerade nicht als getroffen fühlst. Du meinst, dass beides, die Tiefe des Gedankens und der schlichte Unsinn „scharf kontrastieren“. ln Wirklichkeit schließen sie einander aus. Du musst Dich also für eines von beiden entscheiden.

Bezeichnenderweise siehst Du die Vereinfachungen, Verkürzungen und dergleichen „Unsinn“ immer nur da, wo ich den „altkommunistischen“ Schwachsinn kritisiere, nicht aber bei den Passagen, denen Du Tiefe des Gedankens attestierst, weil sie Dir genehm sind. Dabei „vereinfache“ und verkürze ich da nicht weniger. Wenn ich in dem hier zur Debatte stehenden Essay „Die zweite Menschwerdung“ behaupte, dass ich mit zwanzig Seiten auskomme, wo ein anderer zweihundert braucht, so komme ich in eben diesem Essay mit zwölf Seiten aus, wo ein anderer dreihundert braucht. Das ist evident für jeden, der den Essay daraufhin liest, ich habe das Verkürzen („Vereinfachen“) zu einer Kunst gemacht, die sich aus meiner eigenartigen Verbindung von Logik und Fantasie erklärt. Diese Verbindung hat natürlich noch anderen Nutzen.

Jetzt etwas genauer zum „schlichten Unsinn“, sprich: zu Gossweiler und seinem Buch „Wider den Revisionismus“.

1. Wenn Gossweiler über die, meistens sogar ohne Standgericht nach faschistischer Manier, ermordeten Millionen unschuldiger Sowjetbürger, deren Angehörige nur selten über die Gründe informiert wurden, die oft erst nach Jahren Verspätung vom Tode ihres Vaters oder Mannes erfuhren, die meistens niemals die Umstände des Todes erfuhren, wenn Gossweiler dazu nur zu sagen weiß: „Man mag das zutiefst bedauern ...“ dann ist das eine menschenverachtende Sprache, die einen wirklichen Marxisten hellwach macht.

2. Wenn Gossweiler die Morde damit rechtfertigt, dass der „revolutionäre Befreiungskampf“ der „unterdrückten Klasse“ gegen die „Unterdrückerklasse“ immer das Leben „Unschuldiger“ gekostet habe, dann ist das eine infame und zynische Lüge. Fast zwanzig Jahre nach der Machteroberung Stalin zum Exponenten einer „unterdrückten Klasse“ im „revolutionären Befreiungskampf“ umzufälschen und Bucharin und die anderen Opfer zur „Unterdrückerklasse“, dann ist das, gelinde gesagt, ein starkes Stück. (Siehe „Wider den Revisionismus“, Seite 235) Berija und dessen Vorliebe für Köpfe, wenn sie nicht mehr auf den Schultern sitzen, kommt bei Gossweiler gar nicht erst vor.

3. Eine besondere Kapriole ist Gossweilers Charakterisierung Chruschtschows. Der arme Kerl wird von Gossweiler als Revisionist erfunden. Chruschtschow hat jedoch keine revisionistischen Voraussetzungen. Also kommt er bei Gossweiler aus dem Nichts. ln der Tat war Chruschtschow ein Ziehkind Stalins. Diese für Gossweilers Zwecke unpassende Herkunft wird ignoriert. Gossweiler sollte meine Erklärung der „Herkunft“ Stalins in „Verbürgerlichung – das Verhängnis der sozialistischen Parteien“ studieren, um zu lernen, wie man so was macht.

Was den Politiker Chruschtschow realistisch charakterisiert, ist sein kleinbürgerliches, hemdsärmeliges Muskelspiel: In zehn Jahren wollte er die USA eingeholt haben, in zwanzigJahren den Kommunismus errichtet; mit Tito wollte er, völlig zurecht, ein besseres Verhältnis herstellen, was aber nur zu einer unseriösen Taumelei zwischen den Extremen geriet; sein Projekt „Freie Stadt Westberlin“ war so idiotisch und illusorisch wie Stalins Blockade Westberlins, und die Rinderoffenställe bzw. die Wüstenprojekte waren vom selben Kaliber. All das hat mit Revisionismus nichts zu tun. Es ist, wie gesagt, kleinbürgerliche, unseriöse Kraftmeierei.

Wenn da durchaus ein Revisionismus erkannt werden soll, dann die Abstammung Chruschtschows von Stalin. Da müsste man aber vorher Stalin zum Revisionisten gemacht haben, was er, wenn auch nicht hauptsächlich, ja auch war. Genannt sei hier nur die Aushöhlung des marxistischen Prinzips des sozialistischen Internationalismus, indem Stalin es den Zwecken seiner persönlichen Macht unterordnete. Wenn Chruschtschow die sozialistischen Länder von der Stalinschen Zuchtrute befreite, befreite er sie nicht als Revisionist, wie Gossweiler behauptet. Er ließ die von Stalin verdorbenen Staaten lediglich von der Leine. Als Produkte des Stalinismus. Chruschtschow war sein Leben lang Gefangener des Stalinismus. Er war nicht nur Stalins Zögling, er hatte die von Stalin enthauptete und demoralisierte Partei zur Bedingung. Und das von Stalin demoralisierte Volk, das nicht einen Tag sozialistische Demokratie erlebt hatte. Er blieb den stalinistischen Methoden verhaftet, auch wenn er sie von ihrer faschistischen Form entband und statt der terroristischen Willkür eine friedliche Willkür ausübte.

Der von Gossweiler aus dem Nichts geholte und zum Revisionisten erkorene Chruschtschow wird gebraucht, wenn man eine Dolchstoßlegende aufbauen will, wie sie alle schlechten Verlierer nötig haben. Da sie unfähig sind, einen besseren Sozialismus als den „realen“ zu denken, denken sie den „realen“ und seinen Untergang zu ihren Zwecken zurecht: Stalin war der Sozialismus und Chruschtschow sein Untergang, Wenn das keine „haarsträubende Vereinfachung“ ist! Mit diesem Zurechtdenken verunfähigen die schlechten Verlierer sich vollends, einen besseren Sozialismus zu denken. Dieses Zurechtdenken des „realen Sozialismus“ zum Ersatzerfolg entspricht wie die Dolchstoßlegende nur einer simplen psychologischen Logik.

Lieber Klaus, auch wenn Du die „haarsträubenden Vereinfachungen“, wenn sie bei Gossweiler vorkommen, in Hülle und Fülle vorkommen, als „Volltreffer“ in den Himmel hebst, so ist die irdische Wirkung seines Buches verheerend und ein saudummes Eigentor.

Wenn Du meine Geschichtsauffassung in den „Kapriolen ..,“ angenommen hast und die über zweihundert Jahre ihrer ihrem lnhalt, Irrtümern und Widersprüchen geschuldete Dauer der eigentlichen Revolution, wird Stalin zu einem Hiihnerdreck und Chruschtschow zu dem Huhn, das in diesem Dreck herumpickt. Gossweiler kommt da nicht vor.

4. Du schreibst, dass Dir Herr E. das Folgende zugetragen hat: „Herr E. blickt aus dem Fenster, sieht Gerhard Branstner daherkommen und sagt bewegt zu seiner Frau: 'Schau einmal, da geht der Marx des 20. Jahrhunderts!.' 'Du irrst', erwidert sie nicht ohne Rührung. ‚Marx war doch nur der Branstner des 19. Jahrhunderts.‘“ Das ist so ironisch wie nett. Und es ist eben nur nett, wenn man es ironisch nimmt. Solche Nettigkeiten kommen mir an und ab zu, beispielsweise von der Karikaturistin Barbara Henniger. Sie hat die bekannte Klassikerkopfleiste um meinen Kopf ergänzt. ln meiner Uneitelkeit weiß ich aber nicht, wohin die Zeichnung geraten ist.

Die korrekte Darstellung meines Verhältnisses zu Marx habe ich am Ende des Zwischenworts in der „Rotfeder“ vorgenommen: „Wir alle sind gegen Marx nur Zwerge. Aber der Zwerg auf den Schultern eines Riesen steht höher und sieht weiter als der Riese, das ist keine Frage. Aber eine Frage bleibt immerhin: Wie ist der Zwerg da hinaufgekommen?“

Da ich eine Wissenschaft betreibe, die auch ihren Betreiber zum Gegenstand hat, kann ich mich selber objektiv einordnen. Hier noch eine Ergänzung meiner Darstellung in der „Rotfeder“: Wenn Marx der Bergwerker ist, bin ich der Feuilletonist. Das „Kapital“ ist kein Essay. Aber erstens war seit Lenin der große Gegenstand außer Kurs geraten. Von mir wurde er wieder aufgenommen. Und zweitens behandle ich andere Gegenstände auf andere Art und Weise. Das ist von Wichtigkeit. Die 5 historischen Projektionen zeigen das. Mir geht es gegenständlich um die „Menschwerdung“. Marx hat die Knochenarbeit gemacht. Auch Engels und Lenin sind „Knochenarbeiter“, nimm beispielsweise „Staat und Revolution“, da findest Du nur Knochen. Mir geht es um Fleisch und Blut. Meine Fortsetzung des Marxismus ist eine Fortsetzung auf anderem Wege. Auf diesem Wege wird der Marxismus zu einer Philosophie des Menschen. Indirekt war er das schon immer. Direkt war der Marxismus bisher nur eine Philosophie für den Menschen. Will heißen: zu seinem Nutzen. Er selbst kam nicht vor, nicht im Gesetz seiner Menschwerdung.

in anhaltender Freundschaft mit großem Gruß Dein

Gerhard

7.9.1998

Die im vorigen Brief erwähnte Ergänzung der Klassikerkopfleiste von Barbara Henniger hat sich trotz meiner Uneitelkeit inzwischen angefunden.

Kapriolen der Weltgeschichte

Der historische Materialismus gestern und heute

I. Prolog

Wenn überhaupt etwas in der Geschichte der Menschheit historische Notwendigkeit hat, wenn überhaupt etwas von der Geschichte der Menschheit ein menschlicher Akt, ein Akt der Menschlichkeit gewesen sein soll, dann der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution. Und mit ihr der Sozialismus, denn er ist der entscheidende Akt der eigentlichen Revolution. Und der Kommunismus ist ihr letzter Akt und die eigentliche Geschichte selbst. Als das, als zwei Akte der eigentlichen Revolution, haben beide die Würde der Vorhersehbarkeit. (Was es zu beweisen gilt.)

Also hätte auch der Zusammenbruch des Sozialismus vorhergesehen werden können. Oder war das gar keiner? Oder ist er gar nicht zusammengebrochen? Oder haben wir die Fähigkeit des Vorhersehens verloren? Vor lauter blindem Glauben an die gesetzmäßige Notwendigkeit. Wie viel Katholizismus haben die Kommunisten in sich aufgenommen? Wie viel Katholizismus steckt im Stalinismus? An Götzen glauben, Inquisition und Hexenverfolgung. Die Unfehlbarkeit Stalins wurde strenger gehütet als die Unfehlbarkeit des Pabstes. Ist der Stalinismus nicht weniger „früher Sozialismus“ als vielmehr später Kapitalismus? Ist er nicht eine feudal-faschistische Form der Verbürgerlichung des Sozialismus? Ist der „reale Sozialismus“ gescheiterter Beginn des wirklichen Sozialismus oder eine paradoxe Verfallsform des Kapitalismus? Oder beides?

Alle diese Fragen und dergleichen mehr sind nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Und sie sind mittels des Marxismus auch beantwortbar. Allerdings nicht allein mit dem bisherigen, gefordert ist der Marxismus von heute.

II. Der historische Materialismus von gestern

Der historische Materialismus erforscht mittels erkannter wesentlicher Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Geschichte weitere wesentliche Gesetzmäßigkeiten und leitet von ihnen die Erscheinungen ab. Der historische Materialismus ist, wie der Marxismus im Ganzen, Theorie (Weltbild) und Methode. Die wesentlichste Gesetzmäßigkeit, die dem bisherigen historischen Materialismus zur Erforschung und Erklärung diente, war das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, wie es von Marx im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ dargestellt wird:

„ln der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendge, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“

Diese Erkenntnis des Verhältnisses von Produkivkräften und Produktionsverhältnissen sowie von Basis und Überbau war die wesentliche Handhabe, der Angelpunkt des historischen Materialismus, von dem aus seine anderen Elemente wie die Revolutionstheorie und die Theorie des Klassenkampfes entwickelt wurden.

Und erst diese Erkenntnis, die Erkenntnis objektiver gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten machte es möglich, den Materialismus von der Natur auf die Gesellschaft auszudehnen, Materialismus auch in Bezug auf die Gesellschaft und die Erkenntnis objektiver Gesetze der Gesellschaft sind ein und dasselbe. Aber mit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Gesetze, ihrer Objektivität wurde die menschliche Gesellschaft auch zu einer gesonderten, aparten, weil eigengesetzlichen Erscheinung. War der Kapitalismus auf seine Weise schon eine zunehmende Absonderung von der Natur, so wurde diese Absonderung auf seine Weise auch vom historischen Materialismus vorgenommen.

Zur Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist anzumerken, dass die Entfesselung der Produktivkräfte wie beispielsweise in Frankreich weitgehend vor der „sozialen Revolution“ oder aber lange nach ihr erfolgte. Vollends paradox ist der Vorgang im Sozialismus, wo zunächst die Produktivkräfte nicht entfesselt, sondern im Gegenteil in ihren destruktiven Wirkungen wie Krieg und Naturzerstörung gezähmt werden müssen. Auch hier muss man also sagen, dass sich das Gesetz durchsetzt, indem es sich nicht durchsetzt: Indem die historische Erscheinung der historischen Logik widerspricht.

III. Die Fortsetzung des historischen Materialismus

Das Gesetz der Anpassung ist das einzige Gesetz, das gleichermaßen für die Natur wie für die Gesellschaft gilt. Allerdings setzt das die dialektische Transformation von Darwins Gesetz auf die gesellschaftliche Entwicklung voraus, wie ich sie mit dem „philosophischen Gesetz der Ökologie“ in der „Rotfeder“ vornehme. Die Anpassung erhält, übertragen auf die Gesellschaft, zwei grundlegende Besonderheiten. Die erste Besonderheit besteht darin, dass der Mensch sich der Natur anpasst, indem er die Natur sich anpasst. Wenn das Tier im Winter eine Ortsveränderung in wärmere Zonen vornimmt oder sich einen Winterpelz wachsen lässt, zieht der Mensch einen Mantel über oder heizt die Wohnung ein. Das Tier verändert sich, der Mensch verändert seine Umwelt Die zweite Besonderheit, ohne die es die erste nicht gäbe, besteht darin, dass der Mensch sich mittels seiner gesellschaftlichen Organisation der Natur anpasst. Von den Produktionsinstrumenten und Produktionsverhältnissen, den Klassenstrukturen über den Staat, Justiz usw. bis zu den Wissenschaften, Moral, Kultur ist ihm die gesellschaftliche Organisation Organ der Anpassung und bestimmt deren Form. Die Anpassung der Natur an den Menschen ist und bleibt jedoch immer Anpassung des Menschen an die Natur. Wir ziehen den Mantel im Winter an und nicht im Sommer. Wir tun, was immer wir auch tun, abhängig vom Klima, von den Jahreszeiten, von den Tageszeiten, von Tag und Nacht. Wir können nichts ausrichten ohne den Stoff der Natur (Holz, Kohle, Wasser, Wind, Sonne usw.). Kurz: Wir können, so sehr wir sie auch verwandeln, nur das Material der Natur verwandeln, und immer nur nach den Gesetzen der Natur. Während der Leser diese Zeilen liest, liest er sie auf aus der Natur gewonnenem Papier, er sitzt auf dem Stuhl oder liegt im Bett, deren Material aus der Natur gewonnen wurde. Und er wohnt in einem Haus, das in allen seinen Teilen aus der Natur gewonnen wurde. Und er passt sich unentwegt den Gesetzen der Natur an, beispielsweise dem Gesetz der Schwerkraft. Selbst wenn er die Treppe hinabfällt, folgt er dem Gesetz der Natur.

Diese beiden Besonderheiten, die Anpassung des Menschen an die Natur in Form der Anpassung der Natur an den Menschen und die gesellschaftliche Organisation als Organ der Anpassung zu erkennen war Voraussetzung, um die Anpassung als das für Natur und Gesellschaft gleichermaßen gültige Gesetz zu begreifen. Die Einheit von Mensch und Natur kann damit endlich per objektivem Gesetz, als ein und für alle mal gültig und befriedigend begriffen werden. Der Mensch wird wieder zu einem „Kind der Natur“, zu einem Teil der allumfassenden Unendlichkeit.

Jetzt aber kann auch die Rangordnung, die Systemstruktur innerhalb des historischen Materialismus hergestellt werden. Trotz ihrer hohen Eigengesetzlichkeit sind die spezifischen Gesetze der Gesellschaft (die Naturgesetze der Gesellschaft, wie Marx sie nannte) Gesetze zweiter Ordnung: sie sind Gesetze der gesellschaftlichen Organisation des Menschen. Also Gesetze des Organs der Anpassung. Und als das sind sie Funktionen des Gesetzes erster Ordnung. Mit anderen Worten: Die Naturgesetze der Gesellschaft werden zu Funktionen eines Gesetzes der Natur. Das hat tiefgreifende Konsequenzen:

Das Gesetz der Übereinstimmung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Gesetz zweiter Ordnung wird in dem Gesetz der Übereinstimmung von Mensch und Natur als dem Gesetz erster Ordnung aufgehoben. Das eine wird zu einer Funktion des anderen, die Verletzung des einen wird zur Verletzung des anderen. Zugleich verleihen die spezifischen Gesetze, die Gesetze zweiter Ordnung, wie sie uns im Marxismus gegeben sind, der Anpassung als Gesetz erster Ordnung ihre historische Form. Aber auch ihre Problematik. Sie sind die Entwicklungsgesetze des Organs der Anpassung. Und indem die Anpassung die gesellschaftliche Organisation zu ihrem Organ macht, macht sie die Gesellschaftsordnungen zu ihrer Funktion. Im Besonderen gibt sie dem Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, der eigentlichen Revolution, den tieferen Sinn. (Unter Vorgeschichte verstehen wir mit Marx die Naturgesellschaften und die Klassengesellschaft, während wir unter der eigentlichen Geschichte die klassenlose Gesellschaft, den Kommunismus verstehen.) Kapitalismus und Sozialismus müssen in ihrer historischen Position jetzt an einem allgemeineren, höheren Gesetz gemessen werden. Das hat auch eine andere Wesensbestimmung des Sozialismus zur Folge. Vom niederen Zweck wird er zum höheren Mittel.

Rigoros gesagt ist der Marxismus eine zweifache Missgeburt. Auf der einen Seite fehlt der Mensch, auf der anderen die Natur: lm Sinne der Verbindung und Vermittlung beider. Der Marxismus ist ein Schmalspurgebilde. Wogegen die Mitte, der ökonomische Leib, ungeheuer übergewichtig ist. An dem Vorhaben, nach Marxens Tod diesen Korpus verwertbar zu machen, ist selbst Engels in die Knie gegangen. Und dabei fehlt noch ein wesentliches Element, nämlich die Universalgeschichte der Ökonomie, die uns nötiger als alle andere Politische Ökonomie ist. Wer nun aber glaubt, diese doppelte Missgeburt aufs Kreuz legen zu können, wird sich nur eine blutige Nase holen. Denn in dieser Missgeburt (auf andere Art ist noch nie eine Wissenschaft in die Welt gekommen) stecken alle Kriterien, Ansätze und Voraussetzungen, alle methodischen Hilfsmittel der Korrektur, Ergänzung und Erweiterung. Vor allem aber der Fortsetzung. Der Marxismus kann nicht widerlegt, er kann nur fortgesetzt werden.

Mein Beitrag zur Fortsetzung des Marxismus besteht nach der menschlichen Seite hin hauptsächlich in dem „Prinzip Gleichheit“. Hier erhält der marxistische Humanismus sein absolutes Kriterium. Die Fortsetzung des Marxismus nach der Seite der Natur nehme ich vor allem mit dem „philosophischen Gesetz der Ökologie“ vor. Der hohe Stellenwert, den das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch Marx erhalten hatte, versperrte die Erkenntnis dieses Verhältnisses in seiner Funktion als Mittel zum Zwecke der übergeordneten Anpassung. Und es verführte Lenin zu seinem Irrtum, die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus in der höheren Arbeitsproduktivität zu sehen.

Wie Freund und Feind sehen müssen, ist der Sozialismus mächtig schiefgelaufen. Wer hat sich da geirrt? Die Geschichte? Oder wir, und mit uns die Theorie? Oder beide? Das gilt es zu klären, aufzuklären. Eines aber sei schon hier vermerkt. Die Theorie trägt die wenigste Schuld. Schließlich hatte sie am wenigsten zu sagen. Das war eine Hauptschuld. Der Politik. Aber für den Fall, dass die Theorie einmal mehr zu sagen hat: Der historische Materialismus kann nur als fortgesetzter, als vom gestrigen zum heutigen fortgeschriebener seinen Sinn erfüllen. Das heißt, wir müssen das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Funktion der Anpassung begreifen und auf die Weise den historischen Materialismus auf eine höhere Stufe heben. Damit befreien wir den Sozialismus von der Verdammnis, eine überlegene Arbeitsproduktivität realisieren zu müssen und heben ihn auf die Stufe der menschlichen Überlegenheit, indem er die Einheit von Mensch und Natur verwirklicht.

IV. Unsere Geschichte ist nicht stubenrein

Die zweite Stufe der Negation der Negation, die Stufe der Negation, ist gewöhnlich die unreinlichste. Das trifft voll und ganz auch auf die zweite Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, auf die Klassengesellschaft zu. Solange die Gesetze zweiter Ordnung sich nicht mit dem Gesetz erster Ordnung anlegen, haben sie Narrenfreiheit, auch gegen sich selber. Mit der Klassengesellschaft durchläuft die Menschheit ihre Flegeljahre. Da sind Bocksprünge, Rösselsprünge, Purzelbäume und Bruchlandungen die beliebtesten Arten der Fortbewegung. Oder anders gesagt: Die Geschichte irrt sich dauernd. Oder mit Marx gesagt: Die Gesetze setzen sich durch, indem sie sich nicht durchsetzen, (Marx meinte im Speziellen das Wertgesetz, das sich in der Summe durchsetzt, indem der konkrete Preis der Ware drumherum tanzt.) Oder noch anders gesagt: Die Notwendigkeit nimmt die Form des Zufalls an. Und noch einmal mit Marx gesagt: Wenn Gesetz und Erscheinung identisch wären, brauchte es keine Wissenschaft. Nun sind aber Wesen und Erscheinung nie identisch, mithin erscheint die Geschichte nur als Irrtum. Wobei „irren“ nicht buchstäblich zu verstehen ist, wie, wenn ich sage: die Sonne meint es wieder mal gut, ich „meinen“ ja auch nicht buchstäblich meine.

(Der dialektische Gegensatz zwischen Erscheinung und Gesetz macht aber auch einen Unterschied in der moralischen Bewertung aus. Stalin auf die Geschichte als Erscheinung bezogen ist ein Massenmörder, auf die Geschichte als Gesetz bezogen ist er ein Irrtum.)

Die menschliche Geschichte besteht haufenweise aus Irrtümern, auch Fehlversuche nennbar, wie auch die Natur aus unzähligen Fehlversuchen besteht. Und wenn nicht alles täuscht, ist die Frage noch offen, ob nicht die Menschheit als ganze ein Fehlversuch ist. Ein Irrtum der Natur. Ihre natürlichen Existenzbedingungen jedenfalls sind mehr gefährdet als gesichert. Was kommt es da schon auf einen Fehlversuch im Detail an? War ein Detail wie die Oktoberrevolution, wenn sie ein Irrtum war, ein Irrtum in der Zeit oder im Ort oder in der Art und Weise? Jedenfalls ist es unerlaubt, ja töricht, der Geschichte einen Sinn und Verlauf abzuverlangen, der unseren lieb gewordenen, aber simplen Wunschvorstellungen entspricht. Umgekehrt sollte öfter einmal gefragt werden, ob ihr Verlauf nicht eine Häufung von Irrtümern sei. Das eine Ereignis kommt zu früh, das andere zu spät, manches kommt ganz überflüssigerweise und manches überhaupt nicht. Die Geschichte irrt sich dauernd. Selbst als Weltgeschichte kann sie über einen Kieselstein stolpern und vom Wege abkommen, die Notwendigkeit über einen Zufall, ob der nun Napoleon heißt oder Stalin oder Müller, und es kann Jahrzehnte dauern und länger, bis sie auf ihren Weg zurückfindet. Das Wirken positiver wie negativer Persönlichkeiten, aber auch das Fehlen der richtigen Persönlichkeit kann von historischem Belang sein. Ohne Lenin wäre die Oktoberrevolution mit Sicherheit gekippt und ein ungeheuer wichtiger historischer Erfahrungsschatz wäre nicht gewonnen worden. Die Geschichte ist nicht nur nach vorne offen, sondern auch nach der Seite und (in Maßen) auch nach hinten. Der Irrtum ist der Umweg der Geschichte. Und die Geschichte liebt die Umwege. Aber ebenso gilt: Der Irrtum ist der Pionier der Wahrheit.

Im Neuen Deutschland vom 3.11.1997 berichtet, wie bestellt, Martin Koch, dass die Philosophin Anneliese Griese in ihren jüngsten Marxstudien zu folgendem aufschlussreichen Ergebnis kommt: „Es fällt auf, dass Marx zwischen 1870 und 1883 besonders jene naturwissenschaftlichen Theorien studierte, die den Keim der Zerstörung in das klassische Weltbild hineintrugen: die Darwinsche Evolutionslehre und die mechanische Wärmetheorie.“ „Mit ihrem Gesetzesbegriff“, kommentiert Koch, „der viel Platz für Zufälle und Unbestimmtheiten ließ, revidierten diese Theorien den klassischen Determinismus. Heute weiß man, nicht zuletzt nach den jüngsten historischen Erfahrungen, dass Geschichte kein streng determinierter Prozess ist, sondern chaotische Phasen durchläuft, die zuweilen unvorhersehbare Resultate zeitigen. Ahnte Marx die sich damals bereits abzeichnende umwälzende Revolution in den Wissenschaften? Und wollte er sein Konzept von sozialer Entwicklung aufgrund der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse überdenken? Wenn es solche Pläne gab, resümiert Griese, müsse man davon ausgehen, dass Marx ein unvollendetes Werk hinterließ, das offen für weitere Entwicklungen sei.“ Da nun geht Frau Griese fehl, denn Marxens Werk ist auch ohne dergleichen Pläne für weitere Entwicklungen offen.

Die Geschichte irrt nicht nur dauernd, die Irrtümer der Geschichte sind auch objektive Wirklichkeit. Die griechisch-römische Sklavenhaltergesellschaft war vermutlich ihr größter Irrtum, sie war zu früh gekommener Kapitalismus. Eben daran ist sie zugrunde gegangen. Die Geschichte hatte sich an ihr übernommen. Zu früh gekommener Kapitalismus konnte natürlich kein ganz richtiger Kapitalismus sein. Aber für die gegebenen Voraussetzungen war er doch zu viel Kapitalismus. Wie aber kann ein verfrühter Kapitalismus, ein lrrtum der Geschichte, das mächtigste Weltreich werden? (Und für eilige Historiker war er sogar besser als der wirkliche und könnte diesem in manchem Vorbild sein. Und tatsächlich hat der bürgerliche Code Napoleon aus dem römischen Recht mehr aufgenommen als aus dem feudalen Recht.)

Für den Übergang der Urgesellschaft in die Klassengesellschaft ist weltweit der Feudalismus typisch, so typisch, wie weltweit die Halmfrucht (Reis, Mais, Weizen etc.) typisch ist und nicht die Kartoffel. Ein Feudalismus allerdings häufig mit einer beträchtlichen Beigabe von Sklaverei, wie ja auch der Kapitalismus häufig diese Beigabe hat.

Und wenn die Sklavenhaltergesellschaft oder die Oktoberrevolution ein Irrtum waren, so waren sie doch auch kostbare Perlen der Geschichte, ohne die es keine Geschichte gibt. Und wer kann schon sagen, ob die Geschichte mit dem Untergang des Sozialismus nicht einen Irrtum begangen hat? Und wenn es auch nur der „reale“ war.

Über allem aber gilt: Die Menschheit entwickelt sich nur nach verbindlichen Gesetzen, selbst ihre Irrtümer haben gesetzliche Kausalität und sind nicht beliebig. Das heißt aber nicht, dass die Geschichte sich unvermeidlich entwickelt. Das heißt nur, dass sie sich allein nach diesen Gesetzen und nicht willkürlich entwickeln und irren kann. Sie kann es aber auch bleiben lassen und sich mit der Verfehlung der Gesetze aus der Welt verabschieden. Das ist ein „natürlicher“ Vorgang und hat in der Naturgeschichte mehr Beispiele, als uns lieb sein kann.

V. Die eigentliche Revolution

Zur eigentlichen Revolution gehören erstens der Prozess der partiellen, gescheiterten oder zeitweilig gelungenen sozialistischen Revolutionen und die verschiedenen Formen des gescheiterten Sozialismus, zweitens der gelungene Sozialismus und drittens die Herstellung des Kommunismus. Danach beginnt die eigentliche Geschichte. Ohne diesen umfassenden Begriff von der eigentlichen Revolution würde der Fehler der Oktoberrevolution, die Geschichte zu unterfordern, wiederholt. Statt der Marxschen „sozialen Revolution“ geht es um die totale Revolution.

Der Übergang zur eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution, ist ein Vorgang, über dessen Dimensionen wir uns noch keine Vorstellungen gemacht haben, aber alsbald machen sollten. Dieser Übergang ist nicht nur die totale Umwälzung aller bisherigen Geschichte. Er ist auch ein historischer Neubeginn, der als Negation der Negation einen dialektischen Inhalt und dialektische Vielfalt enthält. Die Datierung des Zeitraums, in dem der Affe zum Menschen wurde, die Menschwerdung ist binnen weniger Jahrzehnte von hunderttausend Jahren auf fünfhunderttausend und schließlich auf eine Million Jahre, also um das Zehnfache verlängert worden. Die Datierung des Zeitraums, in dem wir von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte übergehen, hat das gleiche Schicksal. Das römische Reich brauchte 300 Jahre, um unterzugehen. Der Kapitalismus, die Klassengesellschaft ist aber mehr als nur ein Reich. Wie viele Jahrhunderte wird der Untergang dieser Gesellschaft brauchen? Und wie viele Jahrhunderte wird die Errichtung der eigentlichen Geschichte brauchen, auch wenn das eine und das andere teilweise in einem ablaufen? Mehr als 300 Jahre? Und die andere Frage ist, ob uns die Umweltzerstörung die Zeit lässt. Ein Teil der Fachleute sagt uns einen baldigen Kollaps voraus, der andere Teil ein langes Siechtum. Bewiesen ist weder das eine noch das andere.

Der Weg zum Sozialismus hat (im Unterschied zum Sozialismus selbst) keine gesetzmäßige Vorhersehbarkeit. Das betrifft zunächst schon die zeitlichen Dimensionen. Sie werden durch den Inhalt, die Probleme, die Aufgaben etc. bestimmt.

Im philosophischen Gesetz der Ökologie finden wir das Kriterium des Übergangs von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte der Menschheit. Alle bisherigen Kriterien wie die Aufhebung der Klassen sind jetzt nur noch Mittel zum Zweck. Die eigentliche Revolution ist vollendet und die eigentliche Geschichte beginnt, wo das Gesetz der Anpassung ein und für allemal als Gesetz erster Ordnung verwirklicht wird. Mit anderen Worten: Der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte besteht darin, die Gesellschaft ein und für allemal als Organ der Anpassung einzurichten. Ohne dass deshalb die Eigengesetzlichkeit und die eigenen Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden. Die Frage der Arbeitsproduktivität steht im Unterschied zu Marx und Lenin jetzt allerdings an zweiter Stelle, was nicht heißt, dass sie nicht zufriedenstellend gelöst wird. Im Gegenteil ist sie jetzt erst lösbar.

Die unaufhaltsame Vernichtung unserer natürlichen Umwelt markiert den Eintritt des Kapitalismus in sein letztes Stadium, wo er mit der Untergrabung der Existenzgrundlage der Menschheit seine eigene Existenz untergräbt. Das Gesetz der Anpassung wird zum Scharfrichter des Kapitalismus: Die Frage steht jetzt nicht mehr, wo es sich besser lebt, sondern wo es sich überlebt. Die Anpassung ist die Wasserscheide zwischen der Vorgeschichte der Menschheit und ihrer eigentlichen Geschichte. Sie ist das absolute Kriterium dafür, ob die Menschheit Opfer ihrer Verhältnisse wird oder ob sie frei über ihre Verhältnisse verfügt.

Im skrupellosen Konkurrenzkampf ist dem Kapitalisten sein Überleben wichtiger als das Überleben der Menschheit. Eine solche Konstellation ist grundsätzlich neu in unserer Geschichte. Dem Kapitalisten ist das Hemd näher als der Rock, das Heute ist ihm wichtiger als das Morgen, das eigene ökonomische Überleben wichtiger als das physische Überleben aller. Die Hoffnung, dass im Kapitalismus ihm eigene Kräfte der Rettung liegen, ist absolut trügerisch. Um im Geschäft zu bleiben, um zu überleben muss der Kapitalist konkurrenzfähig sein. Wer das durch umweltfreundliche Geschäftsführung einbüßt, ist des Todes. Die Konkurrenz hat den Kapitalismus groß gemacht, und sie vernichtet ihn.

Die Frage ist nicht, ob der Sozialismus kommt, sondern ob er rechtzeitig und unter welchen Bedingungen er kommt. Da der Kapitalismus unfähig ist, dem Gesetz der Anpassung zu genügen, kann nur der wirkliche Sozialismus die Alternative sein. Ein anderer Schluss bleibt nicht übrig. Eine Menschheit, die überleben will, muss, ob sie will oder nicht, früher oder später zu diesem Schlusse kommen. Wenn nicht anders, wird sie dahin geprügelt werden. Die Reduzierung der natürlichen Lebensbedingungen, verbunden mit der sozialen Krise, ist ein Prozess, in dessen Verlauf die Menschheit immer schmerzlichere und schließlich unerträgliche körperliche und seelische Schäden erleiden wird. Der Absturz auf das Niveau des Höhlenmenschen ist da noch die freundlichste Aussicht. Die Prügel, die uns die geschändete Natur verabfolgen wird, werden schon den nötigen Willen befördern, die richtige Alternative zu ergreifen, da kann kein Zweifel sein. So unangenehm die Prügel auch sein werden, so sind sie doch unsere sichere Hoffnung.

Die Realisierung des Gesetzes der Anpassung als natürliche Freiheit setzt die Realisierung der sozialen Freiheit voraus. Mit anderen Worten: Das Gesetz der Anpassung bestimmt, welche Art von Gesellschaft nötig ist, um die Anpassung zu verwirklichen. Bisher hat die gesellschaftliche Organisation zwar der Anpassung als Organ gedient und als das deren Form bedingt, jetzt aber bedingt die Anpassung die gesellschaftliche Organisation als freie Gesellschaft.