Die Zwillinge - Gisela Getty - E-Book

Die Zwillinge E-Book

Gisela Getty

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Beschreibung

Zwei Mädchen, Zwillinge, hübsch, unzertrennlich, begabt, die "Sterntaler" genannt. Sie wachsen im Kassel der Fünfziger auf, studieren Kunst und machen Filme in den Sechzigern, gewinnen Preise, stürzen sich in die Politik und ziehen weiter nach Rom, Anfang der Siebziger. Dort tauchen sie ein in die Tempel der High Society und in Abbruchhäuser, die der Mafia gehören. Sie sind die Musen von Künstlern und selbst Künstlerinnen, ergriffen von der Vision, "Geist und Geld zu küssen". Da begegnen die beiden ihrem amerikanischen Traum: Paul Getty, dem Enkel eines Milliardärs. Sie ziehen mit ihm zusammen, aber bald danach wird der junge Getty entführt, ihm wird, um die Zahlung von Lösegeld zu erpressen, das Ohr abgeschnitten, und das Leben der Zwillinge ändert sich über Nacht. Zwischen Amerika und Europa begeben sich die beiden Frauen, Sucherinnen, auf verwegene Reisen - von einem Abenteuer zum anderen, von einer Herausforderung zur nächsten, getrieben von der Sehnsucht, sich ausschweifend endlich selbst zu finden. Dieses Buch erzählt ein Leben, das sich ein Romancier nicht hätte ausdenken können, erzählt von der Macht und Tragik des Zwilling-Seins und davon, dass es von der Hölle zum Himmel und umgekehrt nicht weit ist.

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Seitenzahl: 504

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      Impressum

     Gisela Getty | Jutta Winkelmann | Jamal Tuschik

     Die Zwillinge

     oder Vom Versuch, Geld und Geist zu küssen

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2008

     Alle Rechte vorbehalten

     Konzept Design

     Gottschalk+Ash Int’l

     Foto Gisela Getty, Paul Getty, Jutta Winkelmann

© Claudio Abate

     Satz und Herstellung ebook

     Publikations Atelier, Dreieich

      isbn 978-3-86337-056-5

     weissbooks.com

Gisela GettyJutta WinkelmannJamal TuschickDie Zwillingeoder Vom Versuch,Geld und Geist zu küssen

Inhalt

1

Ein Tag am Meer – die Vision

2

Im Paradies kann man fliegen

Im grünen Waldweg

Alberjänchen

Der schwarze Vogel des Verrats

Die Kindchen zu Pferde

Eine Stimme aus einer anderen Welt

Fluxus in Kassel

Erwin, Pudel, Rainer und die anderen

Eine Einlassung des dritten Autors

Erste Ehemänner. Das Kasseler Filmkollektiv

Rückblende, ein Unfall

Politik und Filmarbeit

3

Von Kassel nach Berlin

Gisela – allein in Berlin. Arbeit bei Osram

Jutta in Bochum

Wie Milch aus einem umgekippten Eimer. Und China ist kein Thema mehr

Die Zacherstory

4

Ankunft in Rom

Die Misswahl

Jutta holt Gisela

Römischer Winter

Sperlonga und danach. Eine zauberhafte Truppe

Paul Drei

La Malavita. Eine erste Begegnung

Capri

Wild Horses

The Dark Side of the Moon

Unter Männern

Paul ist zurück – und verschwindet

Etwas stimmt nicht

Ein Zwischenspiel: Stash, Glauber, Kevin

Das Ohr

Sorrent – und Paul ist frei

Jutta zwischen München und Rom. Gisela und Paul heiraten

Begegnung mit niemand

In Gefahr und größter Not

Hochzeit auf italienisch

5

Ankunft in San Francisco

City of Angels

Balthazars Geburt. Jutta kommt …

Knocking on Heaven’s Door 1

Knocking on Heaven’s Door 2

Der lange Weg

Afghanistan

Von L.A. nach New Mexico. Dennis

The Road to Hell

Sara

Wer bin ich denn?

Allein

Eine Postkarte. Paul kann nicht mehr

Warten auf Bob

„We will sit together on top of a Mountain …“

Das Ende

1

Ein Tag am Meer – Die Vision

Gisela und ich haben vor, am Strand zu schlafen. Wir nehmen ein paar Tücher mit, viel brauchen wir ja nicht. Die Nächte sind warm.

In Sperlonga steht nur ein Gebäude dicht am Meer, eine alte weiße Villa, mit einem riesigen Tomatenfeld als Vorgarten. In der Dämmerung greifen wir durch den Zaun und angeln Gemüse. Abendbrot und Vorrat. Wir schwimmen zu den Klippen, bevor es ganz dunkel wird. Wir ernten Muscheln. Ganz leicht ist das nicht, das Meer spielt ruppig mit den Felsen. Eine Zitrone haben wir schon am Spätnachmittag gepflückt. Hier wachsen überall wild Zitronen und Oliven. Zwischen antikem Schrott und wie von Gram gebeugten, windschiefen Nespolibäumen wächst Salbei. Hinter dem seit Anbeginn der Welt existierenden Ort scheint die Welt aufzuhören. Wir fühlen uns wie angeschwemmt, ein bisschen wie zu Besuch auf einem besonders rückständigen Planeten. Mit all den Rudimenten niedergegangener Kulturen wirkt unsere Umgebung wie ein Freilichtmuseum und auch wie die schiere Wildnis. Man fühlt sich zivilisationsfern und zugleich als Fährtenleser der Geschichte.

Wir wollen heute nicht mehr viel essen, wir möchten leicht in den nächsten Tag gehen. Es soll ein besonderer Tag werden.

Schweigend liegen wir nebeneinander und überlassen uns der Betrachtung einer natürlichen Prachtentfaltung. Wir sind eingeschüchtert von der ganzen, so wollen wir das sehen, mystischen Erhabenheit der Leuchtkörper am nächtlichen Himmel. Das ist alles sehr effektvoll arrangiert vom großen Beleuchtungsmeister Mister Big, auch Gott genannt und von uns einst Herr Göttle. Ich bringe die Nacht mit einem dunklen Gewand in Verbindung und mit leichter Melancholie, die zum Stummbleiben Anlass gibt. Wir finden dann aber doch noch Gelegenheit, uns in unserem Entschluss zu bestärken, mit dem nächsten Sonnenaufgang aufzustehen, gemeinsam zu schwimmen und dann unseren ersten gemeinsamen Acidtrip zu starten.

Ich werde vor Gisela wach und sehe sie eingerollt wie eine kleine Schmetterlingspuppe auf dem weißen Sand liegen. Die Sonne behält ihre Kraft noch für sich. Später wird sie damit den Strand leer fegen und alle in den Schatten treiben, mit Ausnahme einiger Skarabäen.

Gisela erwacht. Sie friert und will nicht ins Wasser. Wir hocken zusammen und teilen die letzte Tomate. Dann packt uns aber doch die Lust zu baden, und wir rennen ins Wasser.

Außer uns ist kein Mensch am Strand. Wir beschließen, mit freier Brust auf die Reise zu gehen. Doch dann macht sich ein Landarbeiter am Zaun des Tomatenfeldes zu schaffen. Ungeschickt kaschiert er sein Interesse an weiblicher Schönheit. Wir bedecken uns hawaiianisch mit einem Vorhang aus Sandblumenblüten. Der Mann zieht Leine und wir lösen unsere Tickets am Gaumenschalter ein. Wir sind bereit, gemeinsam in ein geheimes Reich des Geistes einzutreten.

Ich habe erstmal nur einen Metallgeschmack im Mund. Wir frösteln einvernehmlich und strecken uns am Wasser aus. Plötzlich fängt der Sand an zu leuchten, jedes Korn leuchtet. Ich kann also jedes Korn einzeln sehen, aber nicht wie unter einer Lupe. Vielmehr offenbaren mir die Körner ein wunderbares Eigenleben. Sie verraten mir, dass sie sich als Sand nur ausgeben, in Wirklichkeit jedoch vor Energie pulsierende Wesen sind und vielleicht auch Diamanten. Am Himmel ziehen direkt aus dem Nirgendwo Wolken auf, selbstverständlich so weiß wie Schnee. Auch sie entpuppen sich und stellen sich mir dar als Göttergestalten, die sich nun paaren, so lustvoll wie feierlich.

„Siehst du das auch?“ frage ich Gisela. Die Worte bilden auf meinem Lippenrand Blasen. Die Blasen schweben, Lichtperlen gleich, zu meiner Schwester. Sie haben ihren eigenen Atem, der wie eine göttliche Melodie klingt oder wie Meeresrauschen.

Mit geschlossenen Augen belausche ich mein Herz. Ich höre auch Giselas Herz schlagen, es hat den gleichen Rhythmus. Ich dehne mich aus, alles fällt mir zu und landet in mir, die ewigen Töne der Welt sind in mir, der pulsierende Strand, die Wolken, das Meer, die ganze Welt.

Ich schaue direkt in die Sonne, ohne mit einem Wimpernhaar zu zucken. Das Licht ist in mir und es spricht, wenn auch nicht mit Worten. Es sagt mir geheime Dinge, die ich sofort begreife … die ich bin. Das Licht spricht, du bist das Licht. Ich bin das Licht und ich schaue in die Sonne, die immer heller wird und in meinen Augen wohnt. Ich schließe die Augen und alle Dunkelheit ist verflogen.

Ich betrachte Gisela. Ich sehe sie in ihrer unfassbaren Schönheit und weiß, dass ich nur sie liebe. Auch ihre Augen haben die Welt aufgenommen. Gelassen lagert sie auf dem leuchtenden Sand, die Frau aller Frauen, das ewig Weibliche … unendlich gelassen. Sie ist Krishnas Gemahlin, angetan mit überirdischen Preziosen und mit mystischen Zeichen bemalt.

Licht überflutet uns. Ich bin … wir sind aufgehoben in der Ewigkeit. Und Ewigkeit, das ist Liebe, Schönheit, Gott. Ewigkeit ist absolute Stille. So trete ich denn vor Gott.

Es gibt mich nicht mehr.

Ein leises Rauschen tritt ein in meinem Bewusstsein. Das Meer lässt sich mit seinem Walgesang vernehmen. Ich oder das, was von mir übrig geblieben ist, schaut sich erstaunt um. Weinend und lachend laufe ich ins Meer.

Gisela: Ich beobachte meine Schwester. Langsam geht sie ins Wasser, der Wellengang stockt in meiner Wahrnehmung. In einem Augenblick halte ich eine Erstarrung bis in alle Ewigkeit für wahrscheinlich. Zugleich erscheint mir der Kosmos gerade besonders lebendig. Ich sehe ihn pulsieren. Eine Aureole schließt Jutta ein; ihre schmale Figur leuchtet. Sie erscheint transparent. Mein Zeitgefühl kommt mir abhanden. Wortlos lässt mich Jutta wissen, dass es schon immer so war, dass alles das wahr ist, im Gegensatz zu dem Trashfilm, den man gewöhnlich Wirklichkeit nennt. Geburt und Tod sind eine Illusion. Wir werden nicht geboren und wir sterben nicht. Unser Alltagsbewusstsein zeugt furchtbare Schleier, die jeden blind und ängstlich in die Welt sehen lassen. Nun entdecke ich die wahre Gestalt meiner Schwester. Sie oszilliert in ihrer Schönheit und in ihrer Liebesbereitschaft. So kann nur ich sie sehen. Ich löse mich auf in reinem Schauen, ich zerfalle zu Staub, werde eins mit dem Sand, auf dem ich liege. Auch das war schon immer so, wie es mich auch immer schon gab, dieses unfassbar schöne, leuchtende Wesen. Ein Rätsel löst sich auf: In Wahrheit gibt es weder Schmerz noch Vergänglichkeit.

Wir sind Entkommene. Die Tentakel der Malavita können uns nicht mehr erreichen. Fast gestorben sind wir in Arturos Kammer: vor Lichtjahren. Endlich sind wir in der Wahrheit angekommen. Gott zeigt sich uns. Der Anblick meiner Schwester offenbart mir meine eigene Göttlichkeit, meine Schönheit, meine Liebe. Nichts weniger.

Jutta betrachtet mich. Sie hebt ihre Hand. Von ihren Fingerspitzen gehen Strahlen aus und verweben sich. Unter diesem Muster kommt das Meer wieder in Gang. Keine Spur hinterlässt Jutta auf dem Weg zu mir. Mir gegenüber lässt sie sich nieder. Gemeinsam lösen wir uns auf. Wir sind nur noch liebende Atome. Alles fließt über … heilig sind die Bäume, ist jedes Korn … und jedes Korn ist mit jedem Baum verbunden. Ich bin ebenso ruhig wie erschüttert … und endlich jenseits von Zeit und Raum.

Jutta bewegt eine Hand, ein Strahl folgt ihr, nein, die Hand ist der Lichtkern, wir sind jetzt in Indien und spielen als Götterkinder mit Göttern. Unsere Freude verwandelt sich in Perlen, die uns vor die Füße fallen.

Jutta steht an einem Jadebrunnen, wir beide tragen schwarze Schleier. Ihre Hand taucht in Wasser ein. Sie sagt, ohne eine Lippenbewegung: „Das sind die Tränen der Welt.“

Ich weiß Bescheid. Wir gehen durch einen Hof mit drei Toren aus sandfarbenem Marmor. Ich erinnere mich schwach, mal gehört zu haben, dass man auf Acid besser nicht zu lang in die Sonne schaut. Ich schaue trotzdem unentwegt in die Sonne, bis ich bemerke, dass ich in Juttas Augen schaue. Mein Herz bleibt stehen. Vielleicht sagt sie so etwas wie: „Ich bin dein Licht.“

Schon bin ich nicht mehr sicher, ob ich mich vielleicht nur selbst betrachte.

Im Lotussitz sitzen wir einander gegenüber. Wir berühren uns ganz leicht, kurz davor, uns in einem Atemzug aufzulösen. Plötzlich fasst Jutta an ihre Nase: „Dir läuft ja der Rotz.“

Er tropft in Eidechsenfarben auf meine transparente Haut.

Die Kinder Gottes übernachten wieder am Strand. Seine auserwählten Lieblingskinder, um genau zu sein. Ich liebe meine Schwester, sie sagt Worte von großer Weisheit. Wir reden leise. Unsere Liebe füreinander und für das Leben löst eine Welle aus; ich laufe über vor Rührung. Darüber lachen wir unbändig, eingehüllt vom Samt der Nacht.

Jutta leuchtet immer noch, ich möchte sagen, ein Licht geht von ihr aus … und auch von mir geht Licht aus. Wir sind zwei Leuchtkörper mit einer Mission auf diesem Planeten. Die Lehren Buddhas sowie die Lehren aller Heiligen haben ihre Sendung in unsere Herzen graviert. Wir lesen sie wie eine Lebenslandkarte, auf der bereits die Wege unserer Gefährten eingezeichnet sind … die wir zum Licht bringen müssen. Die Aufgabe, unsere Aufgabe ist nicht ganz klar, aber wir trauen sie uns zu. Gemeinsam können wir alles.

Jetzt schweigen wir, ergriffen von Bildern und Gedanken. Wir ahnen, während eine kleine Sichel am Himmel ganz blass wird, dass so viel Licht viel Schatten mitbringt.

Wir tragen nicht mehr als Tücher um die Hüften. Freie Kinder sind wir. Gut möglich, dass uns die katholischen Ureinwohner hier gleich steinigen werden. Aber Furcht liegt uns fern, von nun an wird uns nichts Schlimmes mehr passieren, nichts mehr wird uns aus der Fassung bringen. Wir sind unsterblich und heilig in einer an sich heiligen Welt. Nur hat die schusselige Welt das vergessen.

Die Blüten kleiner Sandblumen legen wir auf unsere Brustspitzen. Rosa schimmern sie auf goldbrauner Haut. Ich bin albern, fast übergeschnappt, so grenzenlos verzaubert bin ich von Jutta … von ihr, von mir, von uns.

Unser Publikum besteht aus Jungen und Männern. Sie halten Abstand, sind unruhig. Nur zu gern würden sie uns nahe kommen. Es ist Frühling und für Italiener noch kalt. Der Sommer fängt erst noch an. Unser Sommer. Nackt laufen wir ins Wasser.

Nach dieser Erfahrung verstanden sich die Zwillinge als die Auserwählten. Sie mussten jetzt die Liebe und die Schönheit, die am Verschwinden waren, wieder in die Welt bringen. Die Tür, die sich Achtundsechzig geöffnet hatte, war ins Schloss gefallen. Nun hielten die beiden den Schlüssel in Händen. Sie waren die Lieblingskinder Gottes. Er hatte sie mit einer Mission betraut. Deren Erfüllung stand aus.

2

Im Paradies kann man fliegen

Wir wohnen bei unseren Großeltern in einem herrschaftlichen Haus in der Bremelbachstraße. Ich sage wir, weil es mich noch einmal gibt. Mein zweites Ich heißt Jutta. Gehen wir mit unseren Eltern spazieren, bleiben Leute stehen, um uns anzuschauen. „Zwillinge“, sagen sie, „schaut mal, wie süß.“ Auch unser Opa sagt oft: „Zwillinge, und dann auch noch blond.“

Neben uns wohnt eine Hexe. Manchmal klettern wir über den Zaun und schleichen durch ihren Garten: in einem Zustand zwischen Grauen und Erregung. Fremd und verboten ist dieser überwucherte Flecken für uns. Unsere Herzen pochen wie nach einer Anstrengung. Voller Angstlust erwarten wir die Erscheinung der Hexe an ihrem Fenster.

In unserem Garten leben Zwerge und Elfen, wir sehen sie manchmal, und manchmal reden sie auch mit uns. Sie verschwinden, wenn Erwachsene auftauchen. Wir wissen aber, dass sie immer da sind.

An der Sonnenseite des Hauses wächst flach ein Birnbaum in eigenartigen Verästelungen. Unser Opa ist sehr stolz auf dieses Spaliergewächs; er hat es gezüchtet.

Jutta steht in einem Hof, den die Sonne auf der Wiese erschaffen hat, und schaut mich an. Wir brauchen nicht zu sprechen, wir wissen Bescheid. Wir hören den Zug herankommen, gleich wird die schwer stampfende, dichten Qualm ausstoßende schwarze Lokomotive am Garten vorbeidonnern. Wir beeilen uns, das Gelände ist weitläufig, und wir wollen den Moment nicht verpassen. Angst ist wieder dabei, aber sie fühlt sich gut an … wie eine Ankündigung großartiger Erregungen in der Zukunft. Wir laufen so schnell wir können über eine von Gänseblümchen wie betupfte Wiese, einen Hang hinab, vorbei an in Reihen gesetzten Obstbäumen. Unsere Oma und unsere Eltern wollen in ihrer Besorgnis nicht, dass wir das machen. Wir fühlen uns aber unverstanden und missachten das Verbot.

Wir erreichen den Zaun, ich halte mich daran fest – gespannt Ausschau haltend. Der Zug kommt, wir haben es geschafft. Jetzt ist der Moment vollkommen. Die brüllende Zugmaschine stößt eine graue Wolke aus. Von ihr lassen wir uns verhüllen … ich sehe nichts mehr und meine, den Boden unter den Füßen zu verlieren … der Zaun ist weg, die ganze Welt verschwunden – und mit ihr alle Bilder, die ich von ihr besitze, meine Schwester, die Zeit, die Schwerkraft, meine Arme und Beine. Diese beiden Empfindungen vermischen sich: Ich fliege und – es gibt mich nicht mehr.

… und Jutta? Sie erinnert sich so an die Ära der unverbrüchlichen Doppelexistenz:

Unser Haus ist schön und geheimnisvoll. Vor der Aufgangstreppe stehen Palmen: zerrupft, aber nobel. Ein großer Garten gehört zum Haus. Er endet an einem Schienenstrang. Sein alter Obstbestand lässt an das Gedicht des Herrn von Ribbeck denken, der seine Birnen verteilt. Blumen soweit das Auge reicht. Das Gemüserevier liegt für sich. Hier gedeihen Radieschen, Schnittlauch, Erbsen und Salat. Die Beete gehören zum Hoheitsgebiet unseres Großvaters. Von ihm die Erlaubnis zu erhalten, diesen Teil des Gartens ohne ihn aufsuchen zu dürfen, gleicht der Erhebung in den Adelsstand.

Unter einem Weidenvorhang steht das Gartenhäuschen. Es beherbergt einen Zwerghuhnstaat. Über sein scharrendes Volk herrscht ein gefährlicher Hahn. Das böse Vieh hat den Charakter eines Höllenhunds, der wie jeder Zerberus keinen Lebenden in seinem Reich zulässt. Er fasziniert uns gleichwohl, mit seinem flammenroten Kopf, der ständige Erregung signalisiert, den glänzenden Federn und einer absoluten Furchtlosigkeit auch gegenüber Wesen, die an Körpermasse das Hundertfache seines Gewichts aufbringen. Wir fürchten und bewundern ihn.

Er hackt in mein Bein, als ich eines Tages seinen Hennen zu nahe komme.

Der Hahn gehört Onkel Helmuth. Und Onkel Helmuth ist genauso schrecklich, nur eben überhaupt nicht schön. Ich zweifle daran nicht, dass Onkel Helmuth hinter dem Attentat des Hahns steckt.

Hören wir einen Zug, rennen wir durch den Garten, überqueren auch ein Stück verbotenes Niemandsland und gelangen endlich zu den Gleisen. Dort setzen wir uns lustvollem Erschrecken aus, im Dampf der Lokomotive. Die dichte graue Wolke erleben wir wie ein Nirwana. Wir verschwinden im Rauch, baden im Nichts, wie körperlos – tatsächlich ohne Orientierung und Halt. Wir schreien ekstatisch. In der wieder geklärten Luft ist vom Zug nicht mehr viel zu sehen. In unserer Vorstellung liegt vor ihm ein weiter Weg. Irgendwann werden wir mit ihm in weiter Ferne ankommen.

Wir wollen nach Amerika. Das steht früh fest. Mutti erzählt, dass sie ihre schönste Zeit im Krieg als Krankenschwester in einem amerikanischen Hospital verbracht hat, mit netten, Eis spendierenden Ärzten. Eis, die Kugel zu zehn Pfennig, ist fast unerschwinglich, und Pfennige zu sparen setzt Geduld voraus – die wir nicht haben.

Gisela und ich planen schon unseren Umzug nach Amerika.

Der Schauplatz dieser Zwillingskindheit liegt im hellsten Viertel von Kassel. Man entdeckt ihn am besten Ende der Stadt. Eine Mauer säumt die Villa der Großeltern. Ihre erhabenste Stelle ist zum Absprung ideal. Die Kinder springen von der Mauer, immer wieder, immer schneller. Erst vorwärts, dann auch mit dem Rücken zur Straße. Jutta vernimmt Giselas Schmerz im Geschrei der Schwester. Sie blutet … Sie müssen zu Mutti.

Jutta: Mutti am Herd, herumfahrend, die Lage mit einem Blick erfassend. Fachfraulich stellt sie fest, dass die Wunde ernsthaft behandelt werden muss. Sogleich hat sie alles organisiert, den Mantel übergeworfen, das verletzte Kind an den Leib gehoben. Schon befindet sie sich mit Gisela auf dem Weg zum Arzt. Ich bleibe traurig zurück. Keiner zum Spielen da. Keiner da, der sich um mich kümmert.

Mutti und Gisela kommen zurück, die Stirn meiner Schwester wurde geklammert. Mit silbrig glänzenden Metallklammern. Ich möchte so was auch haben. Ich möchte unbedingt auch eine Klammer. Ich möchte auch auf den Arm genommen werden. Alle schauen Giselas Klammern an, sprechen mit ihr. Mit mir beschäftigt sich kein Mensch. Ich überlege, ob ich noch einmal auf die Mauer steigen soll.

Gisela: Das Haus in der Bremelbachstraße stellt sich uns als ein labyrinthischer, mehr noch als ein mysteriöser Ort dar. Wir verlieren uns in seinen dunklen Ecken und sonnen uns wie Eidechsen auf von Lichteinfällen gefluteten Stellen. Manche Wände sind mit Teppichen bespannt. Es gibt einen Wintergarten, in dem Orchideen gedeihen.

Jutta: Wir rutschen bäuchlings über die Treppe. Die Sonne wirft Schatten auf das braune Treppenholz und spiegelt sich auf den polierten Bohlen. Es macht Spaß, durch Hell und Dunkel zu rutschen, wir werden immer ausgelassener. Tante Gisela kommt und sagt, das dürfen wir nicht, Rutschen sei gefährlich und verboten, weil man sich das Genick brechen kann – oder das Bein oder sterben.

Gisela: Unterm Dach wohnt der Bruder unserer Mutter, Onkel Helmuth, mit seiner Frau, meiner Patentante Gisela. Sie hat ein Grübchengesicht, ihre Augen sind himmelblau. Wolfgang heißt ihr Sohn. Seine Gemeinheiten sind ein Klacks im Vergleich zu den finsteren Anwandlungen unseres Bruders Jürgen. Er beeindruckt uns als Gigant beim Zielpinkeln.

Wir vermeiden Begegnungen mit Onkel Helmuth. Oft verstecken Jutta und ich uns unter der Treppe, wenn wir ihn kommen hören.

Einmal nehme ich mir seine Wohnung im Alleingang vor. Ich folge meiner Neugier zu einem Aquarium. Die Fische sind schwarz. Eine Steckdose erscheint mir so anziehend, dass ich daran lecke. Der Stromschlag haut mich um.

Onkel Helmuth entdeckt die Nichte am Boden, hebt mich auf und trägt mich zu Mutti. Sie bläut mir einen ungenauen Begriff von Elektrizität ein. So erfahre ich, dass aus den kleinen Löchern in den Wänden etwas Unsichtbares kommt. Das Unsichtbare bringt Licht und Gefahr. Nie wieder soll ich die Löcher anfassen, schon gar nicht mit nassen Fingern. Mutti meint, ein Schutzengel habe auf mich Acht gegeben. Anderenfalls wäre ich jetzt tot. Ich denke darüber nach, wie es wäre, mit nassen Fingern die Löcher noch einmal zu berühren, und darüber, was „Totsein“ bedeutet.

Vor unserem Haus erhebt sich eine Mauer: eine Sprunggelegenheit von großer Anziehungskraft. Ich stehe rücklings auf der Kante … hebe ab und knalle mit dem Kopf auf den Asphalt. Rasender Schmerz sucht mich heim. Ich sehe Explosionszeichen wie in einem Comic, Sterne und Blitze. Und werde ohnmächtig. Auf jemandes Armen komme ich blutüberströmt zu mir. Erwachsene formieren sich vor meinem Bett, in der Tür steht mein Vater. Das Licht ist gedämpft, ein Arzt anwesend. Alles fühlt sich weich an. Ich bemerke Engel am Fenster. Ein Engel schaut mich lange an, das ist bestimmt mein Schutzengel, von dem Mutti gesprochen hat, nach meinem Steckdosenabenteuer.

Nach ihren eigenen Begriffen sind die Zwillinge vollendet auf die Welt gekommen … ungemein heil … als illuminierte Wesen, die wie Kinder bloß aussehen. Die menschlichen Sterntaler brauchen allein sich, nur sich. Ihr Glück liegt in der Symbiose, in surrealer Abgeschlossenheit. Die verordnete Mittagsruhe ist dagegen eine Allerweltsqual hinter geblähten Gardinen. Viel interessanter sind Inspektionen der Waschküche. Die Bügelfrau wird angestaunt, die Heißmangel auch. Die Zwillinge laufen Soldaten nach und spielen mit Kaninchen. Sie beobachten Vögel, die Kirschen picken. Sie betrachten Reben an einer Hauswand. Man erzählt ihnen, dass der Biss einer Ratte tödlich sein kann. Das merken sie sich.

Ein Flugzeug über der vom Krieg schwer mitgenommenen Stadt lässt Panik bei Erwachsenen aufkommen. Die Wände erzählen von Leuten, „die ganz zum Schluss noch erschossen wurden“. Ein Rätsel mehr. Zuzeiten stehen die Eltern mit den Großeltern zusammen und wispern. Kreuzen die Jungen auf, brechen die alten Verschwörer ab.

In der Abgeschiedenheit ihrer Kammer hören die Mädchen zur Schlafenszeit, wie im Wohnzimmer Bierflaschen geöffnet werden. Sofort nehmen sie Abstand zu ihren Bettchen, um vorstellig zu werden im Kreis der Großen.

Jutta: Die vielen Erwachsenen lassen den Raum festlich erscheinen. Wie zur Ergründung von Geheimnissen erscheinen wir (uns) da. Wir dürfen Bierschaum lecken und uns für eine kurze Weile an der Versammlung beteiligen. Bevor damit Schluss ist, küssen wir Opas Glatze.

Versteckt hinter phosphoreszierenden Gardinen wartet das Sandmännchen im Schlafzimmer auf uns, und wir gleiten in das unantastbare Reich der Träume (nicht ohne zuvor exzessiv gebetet zu haben), in dem ich leicht über leuchtende Wolken gleite, ein Kind des Himmels. Hier bin ich zuhause, und meine langen Nachtgebete sind der Fahrstuhl zu Gott. Morgen ist wieder ein geheimnisvoller Tag.

Gisela: Manchmal weinen wir nachts. Ich höre meine und Juttas in Geschrei eskalierende Klage, und die macht mir noch mehr Angst. Unser Alarm klingt nach Einsamkeit. Alles Licht ist ausgesperrt. Lange kommt niemand, dann geht aber doch die Tür auf und Helligkeit breitet sich freundlich bis zu uns aus. Unsere Oma erscheint in ihrem langen, am Hals zugebundenen Nachthemd. Wir fragen nach Mutti und Pappi. Noch wissen wir nicht, dass unsere Eltern in der Nähe zwei Zimmer in einem wilhelminischen Backsteinhaus gemietet haben, wo sie mit unseren älteren Geschwistern übernachten.

Unsere Oma nimmt uns mit in ihr Schlafzimmer. Es birgt dunkle Möbel, ein hohes Bett mit dicken Kissen, in dem Opa liegt.

„Hedwig, lass sie bei uns schlafen“, sagt er.

Hinter dem Großelternbett hängt ein Perserteppich. Am liebsten bin ich hier. Mit Jutta krieche ich unter den Federberg und schmiege mich an sie.

Mutti, Pappi, Hela und Jürgen schlafen nicht im Haus der Großeltern, obwohl sie ihre Tage darin zubringen. Mutti nimmt uns endlich mit in „ihre“ Wohnung. Sie liegt in einem feudalen Bürgerhaus am Bahnhof Wilhelmshöhe. Das Treppenhaus ist dunkel, wir steigen auf bis unter das Dach.

Die Wohnzimmerdecke hängt hoch wie ein Himmel über einer gewaltigen Grundfläche. Der Raum ist ein Nachkriegsrefugium für alle Möbel und Besitz der Eltern. Pappis Heiligstes, sein Schreibtisch, steht im Schlafzimmer am Fußende eines lackierten Eichenholzdoppelbettes und darf von uns nicht eingenommen werden. Der Tisch ist schwer beladen und das Interessanteste, was wir je gesehen haben. Er bleibt ein Ort der Imagination und der Sehnsucht.

Wir untersuchen die Wohnung. In einem Lichtstrahl wirbeln Staubpartikel wie lebende Wesen. Jutta und ich sind davon überzeugt, dass an diesem Ort Heinzelmännchen wohnen. Nachts kommen sie zum Vorschein und verrichten die unverrichtete Arbeit guter Menschen. Dass unsere Eltern und Großeltern gut sind, steht außer Zweifel.

Unsere Familie ist mit den Falks befreundet. Sie sind unsere Idealfamilie. Wir schaffen es nicht, so zu sein wie sie sind. Wir sind zu chaotisch. Die Falks wohnen auch in Wilhelmshöhe, aber dichter am Park als wir. Ihr Haus stellt mit seiner Pracht alle anderen Häuser in den Schatten. Herr Falk ist Arzt, und seine sanftmütig ergraute Frau ist Tante Isolde. Die Kinder tragen Namen aus der Nibelungensage. Gernot, der Älteste, studiert Medizin, Giselher macht als Turnierreiter eine gute Figur. Unsere große Schwester schwärmt für ihn. Meine Eltern sähen Hela gern mit ihm verheiratet. Sieglinde, Rüdiger und Siegfried heißen die übrigen Falksprösslinge. Sieglinde ist meine andere Patentante, deswegen heiße ich auch Gisela Sieglinde. Wir spielen mit Siegfried, dem Jüngsten, wenn wir zur Falkfamilie gehen. Meine Mutter beschwert sich, dass Pappi alle Falkkinder mit seiner Bildung voranbringt, aber kein Interesse an unserer Ausbildung zeigt.

Pappi spricht perfekt Griechisch und Latein. Er erteilt den nachkommenden Falken Nachhilfeunterricht. Natürlich umsonst, obwohl wir ständig klamm sind.

Wir haben auch eine Tante Ursel, sie ist die Tochter der Gräfin von Pappenheim. Ihr Mann, Spatz von Herff, füllt die Rolle unseres Lieblingsonkels aus. Mit seinem Dackel kommt er bei uns famos an. Pappi und er erscheinen uns wie allzeit zu Streichen aufgelegte Brüder. Passionierte Jäger sind sie und dazu rossnärrisch. Gemeinsam ziehen sie die nordhessische Turnierszene aus der Nachkriegsdepression. Uns nimmt man mit zu den Turnieren, lässt uns ganze Tage mit Pferden spielen. Keiner kümmert sich indessen, wir haben alle Freiheiten. Abends trinken die Reiter und erzählen Geschichten. Von der Dunkelheit bedrängte Lichtinseln bilden sich vor den Zelten, in denen die Pferde Wärme verbreiten.

Manchmal suchen wir unsere Eltern, nur um uns kurz zu vergewissern, dass sie noch da sind. Sie freuen sich und versprechen uns Reitunterricht in naher Zukunft. An einem Geburtstag unseres Vaters tritt eine Reiterkapelle, Märsche intonierend, vor unserem Haus auf. Wir stehen auf dem Balkon und sind begeistert. Pappi hält Muttis Hand. Dann kommen die Musiker ins Haus, es wird getrunken. Jutta und ich sausen zwischen den Leuten rum, schließlich ganz aufgedreht.

Nur unser Bruder ist manchmal böse zu uns. Zusammen mit Götz, dem Sohn von Tante Ursel, und Onkel Spatz, nimmt er unseren Puppenwagen und verbrennt den Holzgriff. Wir amüsieren die Jungen mit unserem Gezeter. Sie halten uns brennende Zündhölzer unter die Nase. Unversehens sind wir ganz eingenommen vom Zündelspiel. Wir wollen daran teilnehmen. Opa findet darin einen Anlass, sich Jürgen vorzunehmen. Sogar Pappi regt sich auf, obwohl erzieherische Härte ihm nicht liegt.

Zu uns ist Pappi immer lieb. Nie versäumt er es, uns eine gute Nacht zu wünschen. Auch wenn er spät von der Jagd kommt, zeigt er sich uns an unseren Bettchen immer noch einmal. Oft bringt er ein Hasenbrot mit. Hasenbrote sind etwas ganz Besonderes. Ein kolossaler Hase, der sprechen kann, überlässt ihm das Brot für uns. Wir dürfen es im Bett verzehren, andächtig kauend, während Pappi uns erzählt, dass er einmal und nur dieses einzige Mal auf einer Lichtung einem weißen Hirsch begegnet sei. Das Tier stand mit seinem goldenen Geweih in einer Aureole. Pappi kennt es mit Namen: Sankt Hubertus. Herr Göttle schickt den Überhirsch zu den Menschen.

Pappi führt ein Doppelleben. Meistens ist er bei uns, aber gelegentlich ruft ihn die Prinzessin. Dann muss er gleich zu ihr. Er spielt mit ihr in ihrem Garten, der noch schöner und größer als unser Garten sein soll. So schön wie der Park Wilhelmshöhe. Und ihr Schloss sei noch größer als das Schloss im Park. Manchmal trifft Pappi die Prinzessin auf der Straße, in der Regel gibt sie ihm Sauerlutschbonbons für uns mit.

Vom Garten aus sehen wir Pappi kommen. Wir laufen ihm entgegen: „Hast du die Prinzessin getroffen?“

Leider scheint sie sehr beschäftigt zu sein. Wenn wir lange keine Bonbons bekommen haben, fürchten wir, von ihr vergessen worden zu sein.

Im grünen Waldweg

Plötzlich ist es soweit. Wir ziehen um. Ein großer Wagen fährt vor, Männer holen Möbel ab. Das ist aufregend. Morgen ist unser Geburtstag, wir werden fünf, und das soll schon in der neuen Wohnung gefeiert werden. Wir laufen zwischen der aufgegebenen elterlichen Wohnung und dem Möbelauto hin und her, alle sind wir beschäftigt, packen und schleppen.

Jutta: Wir begleiten Pappi zum neuen Haus. Auf dem Weg lese ich Dreisso an einer Tankstelle. „Es heißt Esso“, sagt Pappi und erklärt, dass das „E“ keine umgedrehte Drei sei, sondern ein Buchstabe. Der neue Garten ist sehr groß. Im Vorgarten steht eine Tanne, Jürgen spielt darunter mit seinen Panzern und Soldaten Krieg. Wir möchten mitmachen. Das lässt Jürgen nicht zu.

Ein Traum: Eine Kanone ist auf unser neues Haus gerichtet. Ich habe furchtbare Angst. Ich weiß, dass die Kanone gleich losgehen wird. Ich eile in den Garten, Blumen wachsen darin, deren Blüten Pralinen sind. Ich esse davon. Ein Mann kommt und sagt, ich soll einige für meine Schwester aufheben. Ich esse aber alle auf, mit zunehmend schlechtem Gewissen. Die Kanone müsste nun losgehen. Wache entsetzt auf.

Wir wollen in unser altes Haus zurück. Wir laufen weg, finden unterwegs einen alten Kinderwagen ohne Räder, den wir mitschleppen. Wir beschließen, jetzt schon nach Amerika abzuhauen, falls wir nicht mehr zurückfinden sollten. Man greift uns auf, die Bestrafung fällt drakonisch aus.

Nichts ist mehr so wie früher. Wir kriegen vom Garten ein unerhebliches Stück, direkt an der Hauswand. Ab und zu dürfen wir auf der Bleiche vor dem Garten spielen. Im Garten dürfen wir sonst nichts. Frau Peterson, die Hauseigentümerin, kultiviert Erdbeeren und Baumobst im Plantagenstil. Ihr Bereich bleibt uns so verschlossen wie der Garten Eden. Sehnsüchtig verharren wir vor dem Paradies. Nachts schleichen wir uns manchmal die Balkontreppe runter und rasen in unseren Nachthemden durch die Obstzone. Wir fühlen uns frei, wissend, dass das verboten ist. Frau Peterson bewacht ihr Anwesen mit tausend Ohren und Augen. Sie belauert uns, führt sich gemein auf. Wir fürchten sie und gehen ihr aus dem Weg.

Wir amüsieren uns im Garten auf einer Decke. Ein Ohrwurm krabbelt auf uns zu. Wir schneiden ihm ein Stück vom Leib, er krabbelt weiter. Wir setzen unser Amputationswerk fleißig fort, das hält den Ohrwurm nicht auf. Wir sind begeistert. Wir setzen Mutti von unserem Experiment in Kenntnis, sie überrascht uns mit einer Tirade. Wir erfahren, dass Herr Göttle dergleichen als Tierquälerei, mithin als etwas Böses auffasst. Schon wähnen wir uns auf dem Weg zur Hölle. Wir brechen in Tränen aus. In diesem Augenblick verlangt Frau Peterson nach uns. Sie hat Gäste, wir sollen Guten Tag sagen. Eine Ausrede für die Tränen muss her. Also sind wir mit den Köpfen zusammengerannt. Welche Blamage, welche Lüge. In unserer Vorhölle gibt es Erdbeerkuchen. Immerhin.

Die ersten Nacktfotos, die ich sehe, werden mir aus den Händen gerissen. Ich erkenne gerade noch Leichenberge. Grässlich ausgemergelte Körper, zusammengekarrt und auf einen Haufen geschmissen. Die Toten auf den Schwarzweißfotos gleichen Menschen kaum noch. Ich möchte mehr sehen, Mutti erlaubt es nicht.

Gisela und ich begeben uns auf Abenteuertour. Wir entdecken die Kohlenstraße. Sie liegt in verbotenem Gebiet. In einem Haus scheint was los zu sein. Wir betreten eine fremde Wohnung und geraten in einen Kindergeburtstag. Wir sind die willkommene Überraschung und werden verwöhnt. Wir kriegen Kuchen und stehen im Mittelpunkt. Mutti sucht und findet uns nicht. Wieder zuhause erleben wir sie als Bedrohung. „Wo wart ihr?“

Den Satz werden wir noch oft hören. Mutti packt Gisela und legt sie übers Knie. Gisela schreit furchtbar, mir dreht sich der Magen um, gleich bin ich dran. Ich mache vor Angst in die Hose. Später nimmt Mutti uns in ihre Arme und berichtet von ihrer Angst. Das verstehen wir nicht. Soll sie sich doch freuen, dass wir wieder heil nach Hause gekommen sind.

Uns wird die Welt gehören: Die Zwillinge wissen das schon, bevor man Schultüten in ihre Arme legt. Noch bestimmt die Nachkriegsmisere ihren Alltag. Die Eltern streiten sich. Ein wiederkehrendes Thema: Wer putzt die Öfen und wer heizt sie an? Wer holt Kohlen aus dem Keller?

Zum Abendbrot gibt’s heißes Wasser, schwach aromatisiert von Teebeuteln. Pappi erzählt seine Soldatengeschichten. Die Zwillinge interessieren sich sehr dafür, im Gegensatz zu Mutti, die ihre Gereiztheit nicht ständig überspielen kann. Gern berichtet Pappi von seinem Freund, dem Rollmopsstäbchenanspitzer. Er achtet auf Tischmanieren. Sein Spruch: „Wo Tischmanieren nicht eingehalten werden, fängt der Nihilismus an.“

Jutta will wissen, was Nihilismus ist. Pappi erklärt: „Nihilismus ist eine schlimme Verneinung des Richtigen und Guten.“

Er sagt auch: „Die Schwarzen werden unsere Kultur zerstören.“

Mutti wehrt sich mit Krankheiten gegen ihr ergrautes Unglück. Sie leidet unter Allergien, Wund- und Gürtelrosen und schlechter Laune. Die Familienpest heißt Geldnot. Pappi verdient nichts. Er kramt in seinem alten Portemonnaie, entdeckt zwei Mark. Mit dem kläglichen Betrag soll Mutti tagelang über die Runden kommen. Sie schickt die entzückende Brut zum Krämer, der anschreibt.

Gisela: Das neue Haus ist kleiner. Das Erdgeschoss gehört uns, über uns wohnen die Eigentümer: ein älteres Paar. Bestimmt älter als unsere Eltern. In der anliegenden Straße stehen wenig Häuser, die Straße ist ungepflastert: eine Gaslaternengasse. Jeden Abend zieht ein Mann mit einer langen Stange einen Ring aus jeder Lampe. Vier Punkte glühen dann auf. Jutta und ich laufen zu der Laterne vor unserem Haus. Unsere Schatten sind mal vor und mal hinter uns, und immer bleiben sie an unseren Schuhen kleben. Wir wollen unsere Schatten mit Tempo überlisten und staunen über die Vergeblichkeit des Unterfangens.

„Was ist ein Schatten?“ fragen wir Hela. Sie erwidert: „Jeder Mensch hat einen, man kann ihn nicht loswerden. Wo Licht ist, gibt es auch Schatten.“

Jutta und ich reden lange darüber und machen uns Gedanken, warum das so ist und ob es nicht doch irgendwie möglich sein könnte, unsere Schatten los zu werden. Wir sind davon überzeugt, dass jeder Schatten ein eigenes Leben hat und sich gern lösen würde, um nach Hause zu gehen. Erwachsene verstehen das nicht.

Die Hausbesitzerin erregt unsere Furcht. Sie hat böse Augen. Ihr Mann ist freundlicher, hat aber nichts zu melden und hält sich im Hintergrund.

Hunde dürfen wir nicht haben, überhaupt keine Tiere.

Uns gefällt die neue Umgebung nicht. An unserem fünften Geburtstag sitzen Jutta und ich in unserem Zimmer und sind untröstlich. Während allgemein ausgepackt wird, beschließen wir wegzulaufen. Zurück zu den Großeltern. Zwar kennen wir den Weg zu ihnen nicht, aber die Zuversicht ist auf unserer Seite. Zum ersten Mal sind wir allein in einem uns unbekannten Teil der Stadt. Noch nie haben wir eine so große Straße überquert wie gerade eben. Wir halten uns an den Händen und lachen über hupende Fahrer. Wir kommen zu einem Gebäude mit mächtigen Säulen und einer breiten Treppe und zwei grimmigen Steinlöwen. So sieht das Generalkommando aus, wie man uns später erläutern wird. Dort spielen wir lange, verstecken uns hinter den Säulen, laufen herum und vergessen dabei, dass wir zu Oma und Opa wollen. Es wird dunkel, in der Dämmerung wird uns der Bau unheimlich. Wir ziehen weiter, auf die Wilhelmshöher Allee.

„Ein komischer Mann“ stoppt die Zwillinge. Ihr Ziel will er in Erfahrung bringen. Sie fliehen, schon erschöpft, aber immer noch guter Dinge. Ihr Welteroberungsdrang ist stark. Auf keinen Fall wollen die Schwestern zurück ins neue Haus. Sie finden einen ruinierten Kinderwagen, Jutta nimmt darin Platz, und Gisela spannt sich davor. Plötzlich steht da Onkel Helmuth, warum ist er so erregt? Von ihm erfahren die Ausreißer, wie sehr sie vermisst werden.

Onkel Helmuth befördert das Fundstück der Schwestern mit Schmackes über einen hohen Zaun in eine Zone vermeintlicher Unerreichbarkeit. Er befiehlt seinen Nichten, auf der Stelle stehen zu bleiben: „Ich laufe nur schnell zur Telefonzelle und rufe eure Mutter an. Und rührt euch bloß nicht.“

Kaum ist er verschwunden, klettern wir über den Zaun und holen uns den Kinderwagen wieder. Den wegzuwerfen war fies von Onkel Helmuth, wir lassen uns das nicht gefallen. Es ist Schwerstarbeit, den Wagen über den Zaun zu hieven. Aber wir schaffen es. Und jetzt schnell weg, noch mal wollen wir nicht in die Onkelhände fallen.

Zum Glück hat sich die Nacht Kassel gegriffen. Im Schutz der Dunkelheit halten sich die Schwestern für unauffindbar. Falls sie es zu Oma und Opa nicht mehr schaffen sollten, wollen sie den Kinderwagen in ein Gebüsch ziehen und darin schlafen. Riesig erscheinen ihnen die Kastanienbäume, die ihre Flucht flankieren. Blüten auf dem Pflaster glänzen wie Schnee im Schein der Laternen. Das alles ist schön und gut und allemal geeignet als Kulisse für ein Zwillingsabenteuer.

Das endet jäh. „Bleibt stehen, ihr Wänste.“

Die Wänste vernehmen die Stimme ihres Bruders. Hela ist bei ihm … und lieb zu ihren kleinen Schwestern. Auch Jürgen zeigt sich merkwürdig freundlich. Er warnt: „Mutti wird euch zur Schnecke machen, sie ist rasend vor Angst. Onkel Helmuth hat angerufen und gesagt, dass er euch gefunden hat, und dann wart ihr wieder spurlos verschwunden. Mutti ist davon überzeugt, dass ihr mitgenommen wurdet. Macht euch auf was gefasst.“

Mutti regt sich furchtbar auf und sagt komische Sachen. Ihren Verstand habe sie beinahe verloren, außerdem sei sie fast gestorben. Ein Auto hätte uns überfahren, gefährliche Männer uns zu ihrer Beute machen können. Doch bald küsst sie uns, nimmt uns auf den Schoß. Pappi hat auch noch ein Wörtchen mit uns zu reden, er malt das Unglück seiner Gattin aus. Er spricht von Krankenhausreife, was auch immer das bedeuten mag. Unter uns gilt der Tag als gelungen. Im Bett nehmen wir uns fest vor, bald wieder wegzulaufen. Wir sind einer Meinung, ich und mein anderes Ich. Wir flüstern noch lange unter der Bettdecke, affiziert von unseren Entdeckungen und kosmisch indifferent gegenüber allen erwachsenen Ansagen.

Die Schulpflicht bezieht sich nun auch auf uns. Wir sollen ihr in neuen Kleidern nachkommen, geschneidert von unserer Hausschneiderin. Frau Zacher ist eine traurig alleinstehende Brillenschlange mit rabenschwarz gefärbtem Haar. Sie zählt zu den Weihnachtsstollenempfängerinnen der Familie. Sie kommt jedes Jahr zweimal ins Haus. Im Frühling näht sie zwei identische Sommerkleider. Für Sonntags und für Gut, sagt unsere Mutter. Für wenn wir fein gemacht werden. Ansonsten tragen wir Lederhosen. Die für Jungs. Die für Mädchen gefallen uns nicht, mit ihren roten Herzlederapplikationen, wir wollen die gleichen Hosen haben wie Jürgen und Götz von Herff, also solche mit grünen Eichblattlederapplikationen. Jedes neue Paar wird umgehend mit Dreck imprägniert, es soll getragen wirken.

Wir üben, wie Jungens im Stehen zu pinkeln. Inzwischen haben wir einen Freund. Er wohnt im Nachbarhaus und heißt Frank Gerland. Er ist älter als wir und kann vortrefflich im Stehen pinkeln. Er unterweist uns in dieser Kleinkunst, für die wir aber nicht begabt sind. Jutta übt mehr als ich.

Franks Eltern halten sich was auf strenge Erziehung zugute. Immer muss Frank erst seine Hausaufgaben erledigt haben, bevor er mit uns spielen darf, und nach dem Abendbrot wird er in der Wohnung festgehalten. Wir hingegen dürfen fast alles.

„Das sind kleine Leute“, meint Pappi, uns tröstend, wenn Frank in seinen vier Wänden eingesperrt ist. „Kleine Leute sind streng mit ihren Kindern.“

Pappi ist nie böse auf uns. Manchmal verlangt Mutti von ihrem Julius ein Machtwort, das uns zur Räson bringen soll. Dann schaut er uns an und sagt: „Schimpfe, Schimpfe“.

Jutta und ich sind uns noch nicht einig, wer von uns Pappi später einmal heiraten wird. Wir wollen beide. Vielleicht geht das irgendwie. Wir sind Pappis Sterntaler. Wir lassen im freundlichen Gegenzug Spielzeugautos über seine Glatze rollen.

Sonntags veröffentlicht Mutti ihre schlechte Laune. Man soll ihr Frühstück ans Bett bringen. Dazu Beethovens Fünfte. Mutti in ihrer Sonntagsstimmung ist eine zu meidende Person.

Jutta: „Du brummst wie Pappi“, behaupten Mutti und Hela und Jürgen. Sie lachen sich halb tot, angesichts der singenden Kleinen.

„Komm, sing noch mal.“

Die Bagage kriegt sich nicht mehr ein. Ich weiß noch nicht, was das bedeutet. Ist das gut? Was bedeutet Brummen? Ich singe doch schön.

„Nein“, heißt es unisono, „wer brummt, der kann nicht singen.“ So wie Pappi, seine Intonationsversuche sind nicht zum Aushalten. „Jutta kommt auf Pappi raus.“

Mir ist die Heiterkeit, für die ich sorge, überhaupt nicht recht. Ich möchte nicht ausgelacht werden. Klar singt Gisela besser als ich. Ich beschließe, nie wieder zu singen.

Gisela: Mit der Schule ist es von Anfang an schwierig. Nicht dass ich nicht lernen will, aber das lange Stillsitzen auf den Schulbänken ist unerträglich langweilig. Halte ich das nicht mehr aus, gehe ich zu Jutta (die Schweine haben uns auseinander gesetzt) und sage: „Komm, wir spielen.“ Dann verziehen wir uns zusammen in eine Ecke und vergessen die anderen. Diese Exklusivität ist uns nie lang gestattet. Man befördert uns auf unsere Plätze.

In unserer Familie sind Bücher Lebensmittel. Jutta und ich schauen uns stundenlang Bilderbücher an, vor allem deutsche Heldensagen. Darin sind Zeichnungen von Wikingern mit langen, wehenden Haaren und Königinnen mit noch längeren und noch mehr wehenden Haaren. Wir möchten so aussehen und in diesen wilden Welten mit Rittern und Zauberinnen leben. Darauf laufen unsere Berufswünsche hinaus: Prinzessin oder Zauberin, am besten in Personalunion.

Hela liest uns Märchen vor, von einem sind wir besonders eingenommen. Es ist extrem unheimlich. In diesem Märchen kommt ein Pferdekopf vor, der über ein Tor in einer finsteren Gasse genagelt wurde und zur Gänsemagd, die von Haus aus eine fies vertauschte Prinzessin ist, mit unsäglich trauriger Stimme spricht. Die Prinzessin läuft jeden Morgen mit ihren Gänsen durch das Tor, schaut zum Pferdekopf auf und sagt: „O du Falada, da du hangest.“ Und der sprechende Kadaver sagt: „O du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüsste, ihr Herz tät’ ihr zerspringen.“

Als die Königsbraut nun wieder auf ihr Pferd steigen wollte, das da hieß Falada, sagte die Kammerfrau „auf Falada gehör ich, und auf meinen Gaul gehörst du“, und das musste sich die Königsbraut gefallen lassen. Dann befahl ihr die Kammerfrau mit harten Worten, die königlichen Kleider auszuziehen und ihre schlechten anzulegen …

Jutta und ich halten uns selbst für vertauschte Königskinder. Wir können es manchmal kaum erwarten, von unseren richtigen Eltern, somit dem König und seiner Königin, abgeholt zu werden. Passieren kann das jeden Tag.

Nicht, dass wir Mutti und Pappi nicht lieb haben. Aber wir wissen, es gibt noch eine andere Wirklichkeit, in der mehr Wahrheit steckt als in diesem Kasseler Nachkriegsalltagsmuff.

Jutta: Pappi hat ein Buch voller Zeichnungen. Sie zeigen deutsche Soldaten, die in Sibirien gefangen gehalten werden. Ihre Wärter beschränken sich auf die Aufforderung: „Rabotni, Rabotni“. Die Deutschen sind total im Elend. Viele müssen sich eine Brotrinde teilen und die meisten sterben vor Hunger oder Kälte oder Erschöpfung. Wie zerfetzte kleine Haufen liegen sie, halb verweht, im Schnee. Aus der weißen Hölle gibt es kein Entrinnen.

Pappi beim Abendessen. Er gibt Kriegsgeschichten wie Burlesken zum Besten. Gekonnt, das muss man ihm lassen. Er und sein Freund von Planitz verdanken dem Krieg viele lustige Erlebnisse. Einmal spürten die passionierten Waidmänner in einem ausgehungerten russischen Dorf den wohl weit und breit letzten Hasen auf. Und im Lande der Franzosen fanden sie Champagner, um sich damit zu betrinken. Mutti bittet den Schwadroneur zu schweigen, ihr hat der Krieg nicht so gut gefallen wie ihrem Gatten. Der vergleicht die Kameradschaft an der Front mit einem Priesterorden. Das wirkliche und wahrhaftige Leben sei zu haben nur im Stahlgewitter. Der Frieden hingegen könne nur Laumänner zufriedenstellen, zumal in diesem Scheißstaat, für den Pappi keinen Finger krümmen will. Noch immer trauert er um von Planitz, der sein Leben über die Schwelle des Zusammenbruchs nicht zu retten vermochte … und dazu vielleicht auch gar nicht bereit war. Vermutlich fiel er als Letzter … ein verwanzter Löwe, dem das elende Hundedasein der Verlierer schon deutlich vor Augen stand.

Das Wort „gefallen“ löst in mir Gefühle aus, die ich nicht verstehe. Vielleicht liegt der Grund für diese Emotion im Ton meines Vaters. Seine ganz besondere Stimmlage macht mich traurig und neugierig zugleich. Glauben wir nicht alle, dass eines Tages von Planitz hier durch die Esszimmertür tritt, als triumphierender Widergänger und so auch als Bote ewig deutscher Größe?

Pappis Glatze gleicht einer Weltkugel und, mehr noch, dem Mond in „unserer Vorstellung“. Die Zwillinge besteigen ihren Erzeuger und halten sich mit seiner kahlen Oberfläche auf. Sie erforschen Krater und Aderflüsse, während Pappi Zeitung liest. „Ach, Kindchen“, sagt er, zur Strenge nicht bereit.

Woher die Narbe am Kinn kommt, wollen die in seinem Haushalt wie aus dem Weltall angekommenen kleinen Wesen wissen. „Das ist ein Schmiss“, erklärt Pappi, der als Student einer schlagenden Verbindung angehörte.

„Schlagende Verbindung“ fällt als neuer Begriff im Kinderland auf fruchtbaren Boden. „Wir wollen mehr wissen.“

Gisela: Pappi zeigt uns ein Album mit festen Pappseiten. Es birgt braun vergilbte Fotos. Sie zeigen einen kostümierten Mann. Auf dem Kopf trägt er eine Kappe. Er blutet. Das ist Pappi. Er trägt einen fatalen Stolz zur Schau … und veröffentlicht eine Empfänglichkeit für jede Dolchstoßlegende. Deutschland erwache in mir, der ich noch lange nicht Pappi bin und gebunden an eine erschöpfte Frau.

Jutta: Pappi spricht im Radio für eine neue Partei, die Deutschland retten soll. Abends, nach der Ansprache, begeben wir uns in die Aue. Am Mahnmal für den deutschen Soldaten brennen Fackeln, viele Menschen finden sich vor dem Monument ein. Pappi hält uns an den Händen, er ist stolz auf uns. Männer treten hervor und sprechen beschwörend und eindringlich. Ich verstehe nicht viel, es geht aber darum, dass die Deutschen im Krieg tapfer gekämpft haben und dass das deutsche Volk eines Tages wieder auferstehen wird und der Sieg unser ist.

Besuch aus der Zone. Man spricht heftig bis in die tiefe Nacht. Es geht um Deutschland. Wir lauschen an der Tür. Wir stellen eine Kerze ins Fenster, der armen Deutschen gedenkend, die in der Ostzone gefangen gehalten und von den Russen unterjocht werden.

Die Eltern beim Abendbier. Die Fotomodelle in spe sind schon zu Bett gegangen, très très chic. Sie hören Pappi, der Schiller im Vortrag seine Reverenz erweist. Mutti dient als Auditorium und guter Kamerad.

Gisela: Ab und zu schneit sie herein, um uns mit der Frage zu unterhalten: „Schlaft ihr schon?“

Manchmal werden wir auch zu später Stunde noch vorgeführt, als Attraktion im Hause Schmidt. Wir treten dann auf als Inbegriff der Niedlichkeit. Das lieben wir natürlich, lange aufzubleiben ist sowieso das Schönste.

Eine weitere Variante: „Pappi und ich lesen euch noch etwas vor.“

In unseren Nachthemden verfügen wir uns umgehend auf Muttis Schoß. Der Schauplatz dieser Inszenierung ist schwach erleuchtet, die Hirschgeweihe an den Wänden werfen lange Schatten. Nun lautet die Ansage: „Eure Mutter und ich wollen euch ein Gedicht vorlesen. Wir haben es gerade gelesen und es ist sehr schön. Auch wenn ihr es vielleicht noch nicht richtig versteht, sollt ihr es hören.“

So lieb sind unsere Eltern. Jutta und ich verschmelzen auf der weichen Fläche. Pappi kommt uns mit Conrad Ferdinand Meyers lyrischer Story vom königlichen Reiter, der vor dem Sturm Schutz sucht in einer Burg: „Der Reiter tritt in einen dunkeln Ahnensaal.“ Schaurig ist ihm zumute, denn er hat sich als Täter am Tatort eingefunden. Zum Mörder wurde er an dieser Stelle, und zwar so: Einst wollte ihm die Burgherrin, „ein fein, halsstarrig Weib“, nicht sagen, wo der Junker steckt. „Ich zerre das Geschöpf./ Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie/ Tief mitten in die Glut. ‚Gib ihn heraus!’ “ … „Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.“

Jutta und ich sind entsetzt. Der königliche Reiter wird erkannt … und doch nicht um die Ecke gebracht, weil der Mann, den er zum Witwer gemacht hat, dem König treu zu sein beliebt. Er stellt seine Loyalität über die Rache. Pappi mustert uns mit äußerstem Ernst, wir sitzen hier auf Muttis Schoß, um zu kapieren: dass Treue zum König schwerer wiegt als der Verlust eines braven Weibes.

Pappi findet unsere Zustimmung nicht. Trotzdem bin ich beeindruckt und sehe noch lange die Füße im Feuer vor meinem inneren Auge, als ich wieder im Bett liege und nicht schlafen kann.

Kassel ist zerschlagen. Allenthalben passiert man abgesoffene Trümmergrundstücke und vollgelaufene Bombentrichter. Das sind Heimstätten für Frösche und Kaulquappen – für Kinder gesetzlose Zonen und Spielparadiese zugleich. Von übertriebener Besorgnis sind Eltern noch nicht angekränkelt, „wir hatten alle Freiheiten“. Zu festgelegten Zeiten hat man mit gewaschenen Händen am Abendbrottisch zu sitzen. Wer zu spät kommt, kriegt was hinter die Ohren. Damit hat sich das.

Jutta: Wir spielen in der „Wüste“, einer Brache am Ende unserer Straße. Spielen bedeutet Abenteuer. Eines Tages werden wir einen toten Soldaten oder eine Bombe oder Gewehre finden. Abwegig ist das nicht. Bomben werden ständig gefunden. Zum Bergungsprocedere gehören Evakuierungen der aus ihren Verliererlumpen gestiegenen Wirtschaftswunderbürger.

Gisela: Die „Wüste“ ist auch ein Dschungel, in dem Jutta zum ersten Mal über sich hinauswächst und ihren ersten „Flow“ erlebt wie zum Beweis einer Außerordentlichkeit, für die es in der Banalität alltäglicher Verrichtungen kein Wort gibt.

Jutta: Wir stromern wieder einmal durch unsere „Wüste“ wie kleine Indianer; voll geschmiert oder kriegerisch bemalt, je nachdem wie man uns anschaut, mit dem Saft der Johannisbeere. Unversehens gerate ich ans „falsche Ende“ des Areals, wo ein bewaldeter Übergang in einen anderen Stadtteil sich tückisch zeigt. In diesem Quartier haben wir nichts zu suchen. Plebs, wie Pappi sagt, haust hier, der Nachwuchs organisiert sich bandenförmig rabiat. Die gefährlichen Knirpse sind darauf aus, kleine höhere Töchter zu quälen. Jetzt kommen welche auf mich zu, ich mache auf dem Absatz kehrt und fliehe. Nein, ich fliege, nein, es rennt und fliegt. Nicht ich bin das, sondern eine Kraft, die sich in mir ausbreitet, sich manifestiert in meiner Gestalt. Ich überflügele mich selbst und bin mir dessen auch bewusst – in freudigem Erstaunen.

Jedoch weiß ich bald schon nicht mehr, ob es nicht richtiger gewesen wäre, mich fangen zu lassen, um an einem Marterpfahl in das Zentrum einer Aufregung zu geraten. Das beschäftigt mich. Der Grenzerfahrung des Geflogenwerdens folgt ein Schatten. Vielleicht habe ich etwas Grandioses verpasst.

Ferien auf Schloss Pappenheim. Peter von Herff nennt uns Mistbienen. Die Familie übernimmt den Ausdruck. Im Schloss spielen wir mit Peter, der an sich eher unzugänglich ist. Wir krabbeln zu ihm ins Bett und nehmen uns seine großen Füße vor. Seine Küsse sind uns unangenehm. Das sagen wir ihm auch.

Reise an den Bodensee. Wir sind in einem alten Hotel untergebracht. Ein junger Mann interessiert sich mehr für Gisela als für mich. Er möchte sie in einen Schrank sperren, sie will nicht. Aber ich. Doch will dieser Verehrer meiner Schwester mich nicht einsperren. Ich fühle mich zurückgesetzt bis zur Verzweiflung. Warum nicht ich, ich bin doch genauso wie Gisela, nur dass ich in den dunklen Schrank will.

Alberjänchen

In der Weihnachtszeit backt Mutti viele Stollen. Jutta und ich bringen die Kuchen zu Freunden und zu Bekannten, denen sich unsere Eltern verpflichtet fühlen. Eine Greisin gehört dazu, die Mutter des sich wie ein Onkel gebenden Zeitungsverlegers, für den Pappi arbeitet. Wir gehen gern zu ihr, obwohl auch Angst diesen Gang begleitet. Die Ahne wohnt in einer unheimlich alten Villa, die in einem verwunschenen, wuchtig wuchernden Garten steht. Im Sommer kann man den Feudalbau von der Straße aus nicht sehen; wie ein Wald schirmen die Bäume im Garten ihn ab.

Jedes Jahr müssen wir der Hausherrin ausführlich erklären, wer wir sind. Ihr Erinnerungsvermögen nimmt im Verlauf unserer Erzählung zu. Schließlich erkennt sie in uns die Kindchen des ewigen Jägers Julius, eines aufrechten Deutschen mit Glatze und ohne Führerschein. Sie belohnt uns für unsere Herkunft mit einem unvorstellbar hohen Betrag. Fünf Mark rückt die Alte jedes Mal raus. Sie ist fast blind und führt jede Münze ihren Augen vor, zu ausdauernder Betrachtung, bevor die Abgabe erfolgt. Wir wünschen uns, dass dieser Vorgang sich bis in alle Ewigkeit wiederholt.

Der Ablauf in der Wiederholung, verlangsamt:

Das Portal wirkt mit seinem Prunk einschüchternd. Die torartige Haupttür wird von einem Gespenst aufgesperrt. Es ist kein Mensch, der uns da begrüßt, während unsichtbare Hände nach uns greifen. Palmen und Skulpturen bilden ein Spalier für den Auftritt der Sterntaler. Grausam dunkel sind die Ölschinken an den Wänden. Teppiche rauben unseren Schritten ihre Geräusche. Wir wispern nur noch, einen Clashtitel vorwegnehmend: „Should we stay or should we go?“

Endlich vernehmen wir den Ruf der Greisin. Sie taucht aus einer künstlichen Dämmerung auf, ein Gremlin im Morgenmantel.

„Wer seid ihr?“ will sie wissen. (Wäre dies ein Film, läge Hall auf der Stimme. – Frage an die Bodenstation: Zeigen wir jetzt „Heart of Darkness“ oder bringen wir das wie die „Gebrüder Grimm“?) Auf jeden Fall stehen die Kindchen in ihren Kleidchen, wie von Balthus gemalt, scheu und naseweis zugleich vor dieser steinreichen, aber nicht stocktauben Repräsentantin einer Kasseler Dynastie und führen Folgendes aus: „Unsere Eltern haben uns geschickt, wir sollen dir diese Stolle mit herzlichen Weihnachtsgrüßen übergeben.“

„Wer sind eure Eltern?“

„Unsere Eltern sind Julius, der ewige Jäger, und seine Frau, die Mutti. Wir kommen doch jedes Jahr zu dir, das könntest du dir eigentlich mal merken.“

Nach ein paar Umständlichkeiten geht der Dame ein Licht auf: „Ihr seid die schönen Töchter des Julius.“ Vielleicht sagt sie es aber auch so, also echt kasselänerisch: „Ihr sid dem Julius sine Zwillen, das Gisela un’s Juttelchen. Was tut ihr denn am liebsten tun?“

„Am liebsten malen wir.“

„Ihr interessiert euch für Kunst?“

„Ja.“

Mit der Krücke weist unsere Inquisitorin auf ein Bild. Man sieht darauf die Löwenburgruine im Sturm.

„Das da hot’n berühm’der Maler fabriziert.“

Nun dürfen wir in aller Ruhe alle Bilder in diesem verzauberten Haus anschauen, und die Hausherrin beantwortet uns alle unsere Fragen. Jutta und ich fühlen uns plötzlich bei ihr sehr wohl und als etwas ganz Besonderes.

Jutta: Nur Weihnachten ist noch schöner als eine Wanderung mit Mutti und Pappi, den Geschwistern und Freunden der Familie und deren Kindern in stadtnahen Wäldern. Pappi unterhält uns mit Sagen und Märchen. Er erklärt Flora und Fauna. Jedes Kraut kann er benennen. Er deutet Fährten, ermisst an geknickten Ästen, wann ein Hirsch hier seiner Wege ging. Er spürt Gott im Wald, den Atem seiner großartigen Schöpfung. Ewigkeit ist auch so ein Wort, das uns einleuchten soll. Der Wald sei Gottes wahre Kirche, behauptet Pappi. Trotzdem will ich in eine richtige Kirche. In mir ruft fortwährend eine Erinnerung an die alte dunkle Kirche mit ihren geheimnisvollen Seitenwegen und Nischen, dem erhöhten Altar und der von Weihrauch erfüllten, ewig mystischen Lampe, die ich in den Ferien gefunden und allein betreten habe: ein magischer Ort, der mich ganz gefangen nahm und in dem ich unbedingt das Geheimnis der Stille ergründen wollte.

Ich möchte den lieben Gott, vormals Herr Göttle, treffen.

Gisela und ich dürfen nicht mehr zueinander ins Bett kriechen. Mutti ist darauf gekommen, dass wir was machen, was wir nicht machen sollen. Ich rieche an Giselas Po. Er riecht sehr gut. Ich lecke daran, auch weiter unten, wofür es eigentlich keinen Ausdruck gibt. Unter Kindern sagen wir manchmal „der Puller“. Aber das dürfen wir auch nicht sagen. Gisela fragt mich, wie das schmeckt. Ich sage: „Wie Kuchen.“ Das stimmt, es riecht wunderbar. Wir kitzeln uns da und das ist auch schön. Aber Mutti und die größeren Geschwister behaupten, dass man jetzt unsere Betten auseinander stellen muss.

Zum ersten Mal im Kino. Dick und Doof wird gegeben. Wir sehen einen schrecklich brutalen Film. Wir sind entsetzt, dass das Publikum über die Missgeschicke der Protagonisten lauthals lacht. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Gisela und ich weinen, während sich die Leute kaputt lachen. So ergeht es uns später auch mit Tom und Jerry – mit all diesen unerträglichen Gemeinheiten, die einer Belustigung dienen, die uns komplett verfehlt.

Ich freue mich jetzt auf Weihnachten. Habe Angst, dass ich vorher sterbe. Wir bekommen wunderschöne Adventskalender (die wir immer wieder benutzen). Giselas Kalender entspricht einem spitzgiebeligen Fachwerkhaus und meiner einer kleinen rosa Villa, die glitzert. Hinter den Fensterchen liegen kleine Geheimnisse. Gisela und ich denken uns Streiche aus. Wir verschmieren Gartentürschlösser mit Dreck. Wir spielen im Schnee, legen uns hinein und bewegen die Arme. Der Abdruck sieht wie ein Adler aus.

Wir malen und basteln viel. Wenn der Abwasch nach dem Mittagessen erledigt ist, dann wird die Küche wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt: als künstlerisches Studio für Gisela und mich. Erwachsene sollen sich da raushalten. Das wird akzeptiert.

Wir bauen unsere Fantasiewelt aus. Darin sind wir Freundinnen, die sich Schwestern nennen. Außerdem spielen wir noch Alberjänchen, eine Art Till Eulenspiegel, nur alberner. Und dies in vielen langen Nächten. Im Bad sehe ich Pappi zum ersten Mal nackt. Er benutzt das Klo, obwohl ich in der Wanne bin. Pappi erwartet, dass ich wegschaue. Ich schaue aber heimlich schnell hin.

Pappi scheint zu Vielem berufen. Er malt, zeichnet und schreibt. Außerdem bildet er Männer zu Jägern aus. Der theoretische Unterricht findet bei uns im Haus statt. Wir rücken Stühle, improvisieren Sitzgelegenheiten und sind in unseren Augen eine große Gemeinschaft. Gisela und ich lieben das, wir bekommen von den Aspiranten mitunter etwas mitgebracht, dürfen manchmal dabei sein, in einem wunderbaren Trubel.

Später werden wir an der Schießausbildung teilnehmen. Die Jagd selbst, erklärt Pappi, ist nichts für Frauen.

Eines Tages hängt ein totes Reh an einem Haken auf dem Balkon. „Es muss ausbluten“, erklärt Pappi.

Das Reh hängt tagelang am Haken. Gisela und ich verbringen viel Zeit mit dem Reh. Wir staunen über die Schönheit und Stille, die das tote Tier umgibt. Es hat einen kleinen Zweig im Maul.

„Der letzte Bruch“, sagt Pappi. „Das Reh war krank“, erklärt er, „deshalb musste es erlegt werden.“

Pappi findet keine feste Stelle. Er müsste für eine Anstellung den Führerschein machen, das ist ihm zuwider, so wie alles Technische. Er kann noch nicht einmal einen Lichtschalter umlegen.

Er will nicht aus seinem schmerzhaften Traum vom verlorenen und in seiner Person trotzdem stolz gebliebenen Deutschlands gerissen werden. Der gewesene Offizier und Stabsjägermeister findet seinen Weg nicht in diesem Scheißstaat. Er malt Soldaten und schreibt für Onkel Henner, den Besitzer der Kasseler Zeitung, der späteren Hessischen Allgemeine. Seine Kolumne heißt „Der ewige Jäger“.

Seine Kunst bringt Pappi kein Geld. Er scheut sich aber, nach Geld zu fragen, wird unwillig, wenn Mutti ihn darauf anspricht.

Uniformen malt er bis auf den Knopf genau, das interessiert nach dem Krieg keinen Menschen. Pappi aber nimmt seine Soldatenmalerei tödlich ernst. Er zelebriert sie, sie bietet ihm die Möglichkeit, gänzlich aus der Verantwortung für seine Familie zu scheiden und in sein eigenes Reich einzutreten. Malend versetzt er sich zurück in die Zeit des Alten Fritz. Pappi identifiziert sich mit dem Soldatenkönig, dem er tatsächlich ähnlich sieht.

An seinem Schreibtisch haben wir ohne Aufsicht nichts verloren. Wenn Pappi zeichnet, dürfen wir manchmal neben ihm stehen und zuschauen. Er zeigt uns seine Stifte, die in einer alten Blechschachtel verwahrt sind. Jeder Stift darf sich auf sorgfältige Behandlung freuen. Die Schachtel war im Krieg, vielleicht hat sie sogar mitgekämpft und ist deshalb sehr kostbar. Wir wollen eine Kriegsgeschichte hören. Pappi sagt, er habe mit der Saufeder, die hinter seinem Schreibtisch steht, sieben Russen erst erledigt und sie dann mit einem Fußstreich wieder abgestrichen. Unser Pappi.

„Julius.“ Mutti betritt unser Reich der Träume und Geschichten mit Zerstörungsabsichten. „Wie kannst du den Kindern nur solche Sachen erzählen?“

Der Schreibtisch ist ein Wunderwerk voller Verwahrgelegenheiten. In seinem Bücherfach steht auch ein in schwarzes Leinen geschlagener Band. Der Einband hat eine Aufprägung aus Silber. Sie stellt einen quer verlaufenden Stacheldrahtzaun dar. So sieht unser Lieblingsbuch aus. Es enthält Fotos von ausgemergelten Soldaten in verschlissenen Wehrmachtsuniformen. Das sind karg gehaltene Kriegsgefangene. Kaum, dass sie zu essen kriegen. In Kälte und Schnee verharren sie hungrig. Ihre russischen Wächter feiern in der Zwischenzeit Triumphe der Barbarei. Deren Gesichter offenbaren eine niedrige Gesinnung. Sie schikanieren die deutschen Soldaten, die tapfer durchhalten oder sterben. Wieder und wieder nehmen wir uns das Buch vor.

Ein Lexikon mit interessanten Zeichnungen findet außerdem unser Interesse. Es kommt der Tag, an dem wir darin nachschauen, was „Ficken“ bedeutet.

Wir hören nachts ein Wildschwein in Muttis Schlafzimmer. Wir haben schreckliche Angst und liegen wie gelähmt vor Angst im Bett. Hela beruhigt uns. Am nächsten Tag lebt Mutti immer noch, ist auch nicht verletzt, und gar nichts ist passiert. Seltsam. Das kommt immer mal wieder vor, und keiner spricht weiter darüber.

Sonntags Beethoven und eine wütende Mutti, weil Pappi nicht aufsteht.

Opa ist gestorben. Wir besuchen Oma jetzt oft, schlafen bei ihr. Sie fürchtet sich in ihrer Einsamkeit. Stets geht der Nachtruhe eine Inspektion des Hauses vom Keller bis zum Dachboden voraus. Oma vermutet Einbrecher und Mörder in allen Winkeln. Drei Ketten sichern die Eingangstür.

Blitz und Donner machen aus Oma einen Angsthasen. Bei Gewitter werden die Gardinen zugezogen. Oma hält sich an der Bibel fest, gleich geht die Welt unter. Nur eine Handvoll Auserwählte werden überleben auf einer Erde öd und leer. Ich beschließe, mich von den Auserwählten nicht ausschließen zu lassen. Also klammere ich mich erst mal ans Bein meiner Oma und lasse nicht los.