1,99 €
Unsichtbare Fesseln legten sich um meine Glieder. Ich wurde wie von Geisterhand aus dem Stuhl emporgehoben und kam in horizontaler Lage etwa einen Meter über dem Boden schwebend im Zentrum des Raumes zur Ruhe. Was hatte Skarabäus Toth mit mir vor? Er ging um den Schreibtisch herum. Die Sanduhr in der erhobenen Rechten, blieb er vor mir stehen. Ich starrte ihn furchterfüllt an. Mit seinen ekelerregenden, trockenen Knochenhänden machte er sich daran, meinen Oberkörper zu entblößen. Die Sanduhr stellte er zwischen meine Brüste, die er ansonsten keines Blickes würdigte. »Diese Uhr wird das Pfand sein, das Asmodi von dir erhält, Rebecca ...«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Was bisher geschah
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
mystery-press
Vorschau
Impressum
Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen gewidmet, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es dem »Dämonenkiller«, ihnen die Maske herunterzureißen.
Bald kommt Dorian seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Teufel, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Um für seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen blieben ungeschoren. Als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, ging seine Seele in den nächsten Körper über. So ging es fort bis in die Gegenwart. Dorian Hunter begreift, dass es seine Aufgabe ist, de Condes Verfehlungen zu sühnen und die Dämonen zu vernichten.
In seinem Kampf findet Dorian mächtige Verbündete – die Freimaurerloge der Magischen Bruderschaft; den Hermaphroditen Phillip, der stets in fremden Sphären zu leben scheint; den Steinzeitmenschen Unga, der einst dem legendären Weißmagier Hermes Trismegistos diente; den früheren Secret-Service-Agenten Donald Chapman, der von einem Dämon auf Puppengröße geschrumpft wurde; vor allem aber die ehemalige Hexe Coco Zamis, die aus Liebe zu Dorian die Seiten gewechselt hat und ihm einen Sohn, Martin, geboren hat. Aber die Dämonen bleiben nicht untätig: Es gelingt ihnen, mit dem Castillo Basajaun einen wichtigen Stützpunkt der Magischen Bruderschaft in Andorra zu zerstören. Damit bleibt Dorian als Rückzugsort nur noch die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road.
Bei Ausgrabungen in Israel wird ein geheimnisvoller Kokon entdeckt, dem der Angisus Nathaniel – ein »Engel« – entsteigt. Dieses mächtige Wesen ist schockiert über den Zustand auf der Erde. Nathaniel plant den Untergang der Dämonen und Menschen, um der Welt einen kompletten Neubeginn zu ermöglichen. Doch ohne seine Waffe, den Diz, ist dies nicht möglich. Der Erzdämon Luguri, der derzeitige Fürst der Finsternis, hat sich den Diz dank einer abtrünnigen Artgenossin Nathaniels aneignen können und zerstört ihn. Nathaniel entführt den Hermaphroditen Phillip aus der Jugendstilvilla und ist verschwunden.
In Wien bereitet die Vampirin Rebecca, eine Jugendfreundin Cocos und dank des Erbes des Baphomet mit überragenden magischen Fähigkeiten ausgestattet, den Sturz Luguris vor. Ihre Schwachstelle ist das magische Band, das ihr Leben mit dem Hexer Leopold Nevermann verknüpft. Dorian Hunter verbündet sich mit dem mächtigen Wiener Dämon Hugo Nowottny, um Nevermann in den Schweizer Alpen aufzuspüren, aber sie geraten in eine Falle Rebeccas, der sie knapp entkommen. Rebecca gibt Luguri drei Tage Zeit, um den Thron zu räumen ...
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
von Dario Vandis
Kurz nachdem die Dämmerung über Wien hereingebrochen war, setzte Coco sich in den Mietwagen und fuhr über die Lainzer Straße in Richtung Meidling. Die Rechtskanzlei kannte sie noch von früher; war sie doch einmal tagelang von Skarabäus Toth dort gefangen gehalten worden.
Fünfundzwanzig Minuten später stand sie vor dem altersschwachen, zweistöckigen Gebäude, das von den übergroßen Nachbarhäusern schier erdrückt zu werden schien. Den Wagen hatte sie in einer Seitenstraße abgestellt.
Einer inneren Eingebung folgend, suchte sie zuerst das gegenüberliegende Haus auf und drückte den untersten Klingelknopf. Es existierte keine Gegensprechanlage, was ihr sehr gelegen kam. Der Summer ertönte, und sie betrat das Treppenhaus. Eine Wohnungstür öffnete sich, und ein schmächtiger Mann im Rentenalter erschien.
»Kenne ich Sie, junge Dame?« Cocos Anblick schien nicht dazu angetan, sein Misstrauen zu erregen. Mit der Möglichkeit, einer ehemaligen Hexe zu begegnen, konnte er ja auch unmöglich rechnen.
Coco hypnotisierte ihn und fragte nach dem Haus auf der anderen Straßenseite. Der Mann hatte den ganzen Tag in seiner Wohnung zugebracht, aber er konnte sich nicht erinnern, etwas Besonderes festgestellt zu haben. Angeblich stehe die Kanzlei seit Wochen zum Verkauf, aber niemand habe bisher Interesse gezeigt.
Coco runzelte die Stirn und befahl ihm, sich in seine Wohnung zurückzuziehen. Sie versuchte es an der nächsten Tür und später im ersten Stock. Schließlich hatte sie Glück. Eine dunkelhaarige, füllige Rentnerin erinnerte sich daran, heute Morgen ein seltsames Erlebnis gehabt zu haben. Bevor Coco dazu kam, sie unter Hypnose zu setzen, plauderte sie bereits munter drauflos.
»Ich habe meinen Augen nicht getraut, aber ich sah es ganz deutlich! Die Fenster drüben sind nicht abgedunkelt, und besonders vormittags, wenn die Sonne hinter dem Haus steht, kann man manchmal einen Blick hineinwerfen. Nicht dass ich das öfter tun würde, aber heute Morgen sehe ich doch ganz zufällig einmal hinüber. Sie glauben mir doch, dass das wirklich nur Zufall war, oder? Naja, und da erblicke ich doch glatt die alte Einrichtung hinter den Scheiben. Nicht zu fassen, denke ich, und als ich eine Stunde später noch mal hingucke, ist alles wieder wie vorher. Ich muss es mir eingebildet haben, und doch ...«
»Wann war das ungefähr?«, wurde sie von Coco unterbrochen.
»So gegen zehn, glaube ich. Wissen Sie denn etwas Näheres darüber?«, fragte die Mollige neugierig.
Die ehemalige Hexe schüttelte den Kopf und verabschiedete sich. Sie ließ die Matrone einfach auf der Türschwelle stehen und verließ das Treppenhaus.
Es passte alles zusammen. Heute Morgen um zehn hatte Rebecca Coco einen Besuch abgestattet. Dafür hatte sie den Schutzschirm um das Toth-Haus für kurze Zeit aufbrechen müssen. Das Gespräch mit Coco musste ihr sehr viel bedeutet haben.
Die ehemalige Hexe überquerte die Straße und begab sich langsamen Schrittes zur Haustür der Rechtskanzlei. Aufmerksam taxierte sie die Fensterscheiben des Erdgeschosses, konnte aber nichts Besonderes erkennen. Die Illusion war perfekt.
Überrascht registrierte sie, dass der Zettel an der Tür verschwunden war. Hatte Rebecca etwa einen Käufer gefunden? Oder war sie das Versteckspielen einfach nur müde geworden?
Die ehemalige Hexe ging ein hohes Risiko ein, wenn sie das Toth-Haus dennoch betrat. Wie in Zeitlupe drückte sie die Klinke hinab. Anders als gestern war das Haus nicht verschlossen. Sie zuckte zusammen, als das Schloss aufschnappte und die Eingangstür aufschwang. Bisher war es nur eine Vermutung gewesen, jetzt aber konnte sie sicher sein, dass Rebecca sie bereits erwartete.
Die ehemalige Hexe überquerte die Schwelle und zuckte im selben Augenblick unter dem magischen Schlag zusammen, der ihr der Schutzschirm des Kristallfeldes vermittelte. Genau wie damals ...
Sie spürte, wie sie binnen einer Sekunde ihrer Hexenkräfte beraubt wurde. Ein unangenehmes, deprimierendes Gefühl der Leere erfasste sie. Jeder Schritt fiel ihr mit einem Male schwer, und wie von Zentnergewichten niedergedrückt erklomm sie langsam die breite Wendeltreppe, die zu den Kanzleiräumen des Schiedsrichters der Schwarzen Familie führte. Die Privatzimmer im Erdgeschoss hatte sie auch bei ihren früheren Aufenthalten in diesem Gebäude nie betreten.
Die Luft schien stickiger zu werden, je weiter sie die Treppe hinaufstieg. Coco fühlte, wie ihr der Schweiß aus den Poren brach, aber sie zwang sich weiterzugehen. Von Rebecca würde sie sich jedenfalls nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Sie durchquerte einen kahlen Korridor, der ihr als geschmackvoll eingerichtete Diele in Erinnerung geblieben war, und betrat den ausladend großen Raum, in dem Skarabäus Toth sein Büro untergebracht hatte. Auch Menschen gehörten seinerzeit zum Klientel seiner Kanzlei, aber er hatte ihnen stets einen schlechten Dienst erwiesen, ihr Vertrauen missbraucht und ihnen geschadet, ohne dass sie es bemerkten. Manche waren durch Toths Umtriebe ruiniert worden, und nur den Mitgliedern der Schwarzen Familie gegenüber war er wirklich als fairer, neutraler Jurist aufgetreten.
Coco erinnerte sich daran, wie sie sich vor dem Kampf gegen die Winkler-Forcas mit Georg hierher begab, um von Skarabäus Toth Informationen über die feindliche Familie zu bekommen. Als sie eintraten, saß er hinter einem riesigen Schreibtisch, von dem aus er tagein, tagaus seine zwielichtigen Geschäfte erledigte.
Ihr zweiter Aufenthalt in der Schönbrunner Straße war mit weitaus schlimmeren Erinnerungen verknüpft. Tagelang hielt Toth sie damals im Auftrag ihres verstorbenen Vaters Michael Zamis fest, der aus dem Jenseits auf die Einhaltung seines Schwarzen Testaments bestand. Es war sein posthumer Wille gewesen, seine Tochter mit dem Grafen Cyrano von Behemoth zu verheiraten, der pikanterweise ihr eigener Patenonkel gewesen war und fünf Jahre lang ihre Erziehung übernommen hatte. Ihr Vater stellte ihr ein Ultimatum von vier Wochen, die Heirat zu vollziehen, andernfalls hatte er ihr gedroht, sie von einem wiedererweckten Toten ermorden zu lassen. Als sei es gestern gewesen, erblickte sie vor ihrem geistigen Auge das abstoßende, von zwei hässlichen Narben durchzogene Gesicht des Grafen von Behemoth, dessen weißliches, wachteleigroßes rechtes Auge ihr lüstern entgegenstierte. Natürlich hatte sie sich geweigert, das Testament zu akzeptieren, und mit der Hilfe des Dämonenkillers war es ihr schließlich auch gelungen, dem Bannkreis des Skarabäus Toth zu entfliehen – Sekunden bevor das Ultimatum abgelaufen war. Ihr Patenonkel war bei diesem Kampf getötet worden, und sie hatte ihm nie auch nur eine Träne nachgeweint. Da es nun auch noch den Schiedsrichter der Schwarzen Familie selbst erwischt hatte, waren die alten Geschichten endgültig zu Schatten der Vergangenheit geworden.
Sie besann sich auf das Nächstliegende und durchforschte den kahlen Saal. Sie vermutete, dass die Einrichtung immer noch vollständig vorhanden war. Die von den Kristallen erzeugte Illusion wirkte auch innerhalb der magischen Glocke fort. Doch auch als sie durch das Zimmer wanderte und jeden Augenblick erwartete, gegen das Holz des Schreibtisches zu stoßen, tasteten ihre Hände immer wieder ins Leere. Das Trugbild hob sogar die stoffliche Beschaffenheit der verborgenen Gegenstände auf.
Coco versuchte sich auf den Anblick des alten Arbeitszimmers zu besinnen. Ihre Stirnadern quollen vor Anstrengung hervor, als sie mit aller Kraft und Konzentration gegen den Kristallzauber ankämpfte.
War sie einer Einbildung erlegen, oder schälte sich an manchen Wandstellen tatsächlich das altbekannte Muster der Holzvertäfelung heraus? Jedes Mal, wenn sie ihren Blick direkt auf die betreffende Stelle richtete, verschwand das Bild wieder.
Vielleicht gab es von außerhalb der Glocke bessere Möglichkeiten, die Wirkung der Kristalle aufzuheben.
Tatsächlich schien der Zauber an Kraft zu verlieren, je geübter sie darin wurde, die Täuschung von der Realität zu unterscheiden. Der Schreibtisch war nun in Ansätzen zu erkennen, und wenn Coco mit der Hand über die Arbeitsfläche strich, fühlte sie ihre Finger in eine eigenartig widerspenstige Masse von gummiartiger Konsistenz eintauchen.
Sie verließ das Zimmer und warf einen kurzen Blick in jene Räume, in denen Toth sie damals festgehalten hatte. Deutlich erblickte sie den Ansatz des Bettes, den Tisch und die Stereoanlage, auf der sie damals unentwegt Musik gedudelt hatte, um die Zeit totzuschlagen.
Wieder musste sie sich fast zwingen, den Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln.
Rebecca aber suchte sie im ganzen ersten Stock vergeblich. Als sie schließlich die Wendeltreppe herabstieg, besaß sie bereits einige Übung darin, den Trugzauber zu durchschauen.
Das Erdgeschoss durchsuchte sie nicht ohne Neugierde. Skarabäus Toth hatte zeit seines Lebens darauf geachtet, nicht zu viel von seinem Privatleben an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, was ihn unter all den durchschnittlichen Schwarzblütigen zu einer geheimnisvollen, wenn nicht sogar furchterregenden Figur gemacht hatte. Niemand wusste, welche Kräfte er genau besessen hatte, und auch Rebecca konnte ihn in seiner neuen Inkarnation als Baphomet nur überwinden, weil er durch den magielosen Zustand in New York abnorm geschwächt worden war. Seine Kräfte gingen auf sie über, und damit war sie vermutlich die einzige Person auf der ganzen Welt, die über seine wahre Stärke informiert war.
Was hatte der Schiedsrichter, dessen dämonische Wurzeln allem Anschein nach im antiken Griechenland lagen, in seinen Privatgemächern vor der dämonischen Öffentlichkeit verborgen gehalten?
Kaum hatte sie das erste Zimmer betreten, blieb sie enttäuscht stehen.
Mit aller Macht versuchte sie, den magischen Schleier zu durchdringen, aber anscheinend funktionierte das nur, wenn sie – wie oben im Arbeitszimmer – wusste, was sich hinter den Trugbildern verbarg. Schulterzuckend gab sie schließlich auf.
Unschlüssig stand sie in der Diele und lehnte sich mit der rechten Schulter gegen die Wendeltreppe, als hinter ihr ein Geräusch ertönte. Erschrocken fuhr sie herum. Eine Tür hatte sich geöffnet, und blendend helles Licht fiel aus dem angrenzenden Zimmer auf den Flur. Im Rahmen stand eine Gestalt, deren Umrisse sich wie ein Scherenschnitt gegen die Helligkeit abhoben.
Ein leises Lachen ertönte.
»Komm schon, Coco«, sagte Rebecca, »ich kann es einfach nicht mehr mit ansehen, wie du im ganzen Haus herumirrst ...«
Mit einem Schritt zur Seite gab sie die Tür zur Wohnstube frei.
Coco gab sich äußerlich gelassen, während sie der Einladung der Vampirin folgte. Der uralte Parkettfußboden knarrte unter ihren Schritten, als sie auf die Tür zuschritt. Unwillkürlich erwartete sie, in einen geschmackvoll eingerichteten Wohnraum zu gelangen, doch auch dieses Zimmer machte den Eindruck, bereits vor längerer Zeit geräumt worden zu sein.
Lediglich zwei dunkle, bequeme Ledersessel standen verloren in der Mitte des Zimmers und wirkten absurd deplatziert innerhalb der kahlen Räumlichkeiten.
»Setz dich doch«, wurde die ehemalige Hexe von Rebecca aufgefordert.
Coco beschloss die Posse mitzuspielen, obwohl sie nicht im Geringsten ahnte, was die Vampirin sich davon versprach. Aber was hatte sie selbst sich denn davon versprochen, hier einzudringen?
Sie ließ sich in einem der Sessel nieder und blickte Rebecca misstrauisch ins Gesicht.
»Getränke?«, fragte die Vampirin, und aus dem Nichts entstand neben Coco ein kleiner Beistelltisch, auf dem sich ein Glas und eine große Auswahl an antialkoholischen Getränken befand.
»Kein Wein, nichts Hartes«, erklärte die Hausherrin, »wir haben noch eine Menge vor heute Nacht. Ich denke, du kannst dir selbst einschenken, oder?«
»Ich bin kein kleines Kind mehr, Rebecca«, erwiderte Coco mürrisch.
Die Vampirin nickte und lächelte ein wenig herablassend. »Ja, du hast dich verändert, seit wir uns vor Jahren das letzte Mal richtig gesehen haben. Es hat mich überrascht, wie lange du gebraucht hast, um den Trick mit den Kristallen zu durchschauen. So etwas vergisst man doch nicht so einfach!«
Coco ertrug den Spott mit zusammengebissenen Zähnen. Sie wusste ja selbst nicht, weshalb gewisse Erlebnisse ihrer Jugend wie unter einem dichten Schleier verborgen lagen. Als habe jemand ihr Gedächtnis manipuliert! Aber wenn es so war, musste es sich um einen ausgesprochenen Dilettanten gehandelt haben, denn Fragmente ihrer Erinnerung brachen in letzter Zeit immer öfter durch und verwirrten die ehemalige Hexe.
»Entsinnst du dich noch unseres Abenteuers in Irland?«, fragte die Vampirin leichthin, ohne zu ahnen, dass sie damit Salz in Cocos Wunden streute. Die ehemalige Hexe hatte keinen blassen Schimmer, wovon Rebecca redete.
»Natürlich«, log sie dennoch mit aller Dreistigkeit, zu der sie fähig war, und hoffte, dass ihre Jugendfreundin auf das Versteckspiel hereinfiel.
»Oirbsen hat uns ganz schön aufs Kreuz gelegt«, sinnierte Rebecca. »Ich hätte ihm damals zu gern einen Denkzettel verpasst, aber was sollte ich als kleine unbedeutende Vampirin schon gegen ihn ausrichten? Heute sollte er mir besser nicht noch einmal über den Weg laufen.«
Oirbsen? Coco glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Was hatte der Gnom mit Rebecca zu schaffen? Und Coco selbst sollte ihm früher schon einmal begegnet sein?
Dabei hätte sie bis eben Stein und Bein geschworen, dem narbengesichtigen Zwerg vor wenigen Wochen bei ihrer Rückkehr aus der Vergangenheit zum ersten Mal gesehen zu haben!
Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie Rebecca und versuchte zu ergründen, ob sich die Vampirin vielleicht einen Spaß erlaubte. Das schien nicht der Fall zu sein.
»Bist du Oirbsen später noch einmal begegnet?«, tastete Coco sich behutsam vor.
»Nach dem Abenteuer im Dunbrody Castle, bei dem du dich einfach dünngemacht hast? Nein. Aber es würde mich immer noch brennend interessieren, weshalb du mir damals verschwiegen hast, was in meiner Abwesenheit geschah.«
Das wurde ja immer toller! Coco musste sich bemühen, nicht allzu überrascht dreinzuschauen, als Rebecca wie beiläufig aus dem Nähkästchen zu plaudern begann.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, gab Coco stotternd zu, weil ihr auf die Schnelle keine vernünftige Ausrede einfiel.
Die Vampirin lachte auf. »Nun, mir soll es gleich sein. Es ist Jahre her, und wenn du meinst, deine Geheimnisse vor mir bewahren zu müssen ... Ich könnte sie dir mit Gewalt entreißen, aber was für einen Nutzen hätte ich davon? Lassen wir die Vergangenheit ruhen.«
Nein!, schrie es in Coco. Erzähl mir mehr! Ich weiß so wenig über mich!
Aber sie wagte nicht, sich Rebecca zu offenbaren. Der Schein der gemütlichen Unterhaltung täuschte. Sie standen inzwischen auf verschiedenen Seiten.
»Was soll diese Farce?«, griff Coco den ursprünglichen Faden wieder auf. Sie deutete auf die Sessel, dann auf die trostlose Umgebung. »Weshalb hast du mich eingeladen?«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Du täuschst dich. Ich habe dich nicht gebeten zu kommen.«
»Warum tötest du mich dann nicht, wenn ich dir lästig bin?«
»Warum sollte ich? Hast du mir etwas zuleide getan? Habe ich einen Grund, dich zu hassen? Ich hasse ja nicht einmal mehr deinen geliebten Dämonenkiller! Er musste übrigens unverrichteter Dinge aus der Schweiz abreisen, wie mir zu Ohren kam.« Rebecca genoss die Unsicherheit, die sich auf Cocos Gesicht widerspiegelte.
»Was hast du ihm angetan?«
»Nichts, gar nichts, meine Liebe! Ich habe ihm die Chance gegeben, Nevermanns Höhle unversehrt zu verlassen.« Die Stimme der Vampirin troff vor Ironie. »Ich habe ihm ein kleines Rätsel aufgegeben. Es war nicht schwierig, und er hat es auch prompt gelöst. Fast zu schnell, für meinen Geschmack. Aber ich werde ihm die Rückkehr dennoch nicht zu leicht machen.«
»Was ist mit Nevermann?«, hakte Coco nach.
»Was soll mit ihm sein?«
»Das weißt du doch nur zu gut!«, zischte die ehemalige Hexe.
Aber die Vampirin gab sich keine Blöße.
»Habe ich es überhaupt nötig, mich dir gegenüber zu rechtfertigen?«, entgegnete sie schnippisch. »Du weißt gar nicht, wie gut du es bei mir hast. Dein Geliebter lebt. Ihr werdet euch vermutlich demnächst wiedersehen. Was begehrst du mehr?«
Rebecca hatte also nicht die Absicht, sie zu töten. Doch der Ton, in dem die Vampirin sprach, ließ Coco einen Schauer über den Rücken rinnen. Jeder Satz, den sie in den Mund nahm, klang auf eine schwer zu bezeichnende Weise traurig und verbittert.
War das noch die stolze Vampirin, die Luguri die Stirn bieten wollte?
»Ich habe einige deiner Opfer getötet, wenn ich mich recht erinnere«, erwiderte Coco. »Und selbst die Geauscus dürften arg dezimiert sein, seit wir gestern Abend in ihrer Villa auftauchten.«