Das Haus Zamis 46 - Dario Vandis - E-Book

Das Haus Zamis 46 E-Book

Dario Vandis

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Beschreibung

Danielle schrie, so laut sie konnte. Und hätte es fast überhört. Das Geräusch zu ihrer Linken. Erde, die bewegt wurde. Rettung! Jemand kratzte an der Sargwand.
»Hier bin ich!«, rief Danielle. »Hier drin!«
Das Kratzen wurde stärker. Irgendwie ... gieriger. Gleichzeitig drang durch die Ritzen zwischen den Brettern ein süßlicher Geruch, der Danielle fast den Atem raubte.
»Helft mir ...«, stöhnte sie. »Wo bin ich?«
Da barst die Sargwand, und eine stinkende, glitschig feuchte Hand legte sich auf Danielles Bauch ...

Coco folgt der mysteriösen Einladung zum »Familientreffen«. Aber welche Familie überhaupt? Coco kann sich nicht erinnern- und sie geht ein hohes Risiko ein, um das Rätsel zu lösen, denn offenbar hat jemand ein Interesse, dass sie ihr Ziel unter keinen Umständen erreicht


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Seitenzahl: 141

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Inhalt

Cover

Was bisher geschah

GESCHWISTERBLUT

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

mystery-press

Vorschau

Impressum

Coco Zamis ist das jüngste von insgesamt sieben Kindern der Eltern Michael und Thekla Zamis, die in einer Villa im mondänen Wiener Stadtteil Hietzing leben. Schon früh spürt Coco, dass dem Einfluss und der hohen gesellschaftlichen Stellung ihrer Familie ein dunkles Geheimnis zugrunde liegt. Die Zamis sind Teil der sogenannten Schwarzen Familie, eines Zusammenschlusses von Vampiren, Werwölfen, Ghoulen und anderen unheimlichen Geschöpfen, die zumeist in Tarngestalt unter den Menschen leben und nur im Schutz der Dunkelheit und ausschließlich, wenn sie unter sich sind, ihren finsteren Gelüsten frönen.

Der Hexer Michael Zamis wanderte einst aus Russland nach Wien ein. Die Ehe mit Thekla Zamis, einer Tochter des Teufels, ist standesgemäß, auch wenn es um Theklas magische Fähigkeiten eher schlecht bestellt ist. Umso talentierter gerieten die Kinder, allen voran der älteste Bruder Georg und – Coco, die außerhalb der Sippe allerdings eher als unscheinbares Nesthäkchen wahrgenommen wird. Zudem kann sie dem Treiben und den »Werten«, für die ihre Sippe steht, wenig abgewinnen und fühlt sich stattdessen zu den Menschen hingezogen.

Während ihrer Hexenausbildung auf dem Schloss ihres Patenonkels lernt Coco ihre erste große Liebe Rupert Schwinger kennen. Als ihr schließlich zu einem vollwertigen Mitglied der Schwarzen Familie nur noch die Hexenweihe fehlt, meldet sich zum Sabbat auch Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, an und erhebt Anspruch auf die erste Nacht mit Coco. Als sie sich weigert, wird Rupert Schwinger in den »Hüter des Hauses« verwandelt, ein untotes Geschöpf, das fortan ohne Erinnerung an sein früheres Leben über Coco wachen soll.

Auf weitere Konsequenzen verzichtet Asmodi vorerst, als es Coco gelingt, einen seiner Herausforderer zu vernichten – durch die Beschwörung des uralten Magiers Merlin, der sich auf Cocos Seite stellt. Merlin aber ist seinerseits gefangen – im centro terrae, dem Mittelpunkt der Erde. Coco gelingt es, ihn zu befreien, doch im Anschluss verliert sie ihre Erinnerungen an die Reise ins centro terrae, so wie Merlin es ihr prophezeit hat.

Zurück auf der Erdoberfläche, erfährt Coco, dass Asmodis Groll auf die Zamis nicht geschwunden ist. Dennoch schließen Asmodi und Michael Zamis einen Burgfrieden. Die Leidtragende ist Coco, die in der Kanzlei des Schiedsrichters der Schwarzen Familie Skarabäus Toth von einer Armee von Untoten attackiert wird. Coco flieht aus der Stadt, doch als sie bald darauf nach Wien zurückkehrt, hat der Dämon Gorgon der Zamis-Sippe den Krieg erklärt. Die gesamte Stadt – Menschen wie Dämonen – sind unter einer magischen Glocke zu Stein erstarrt. Wieder gelingt Coco im letzten Moment die Flucht, diesmal nach Indien, doch führt der Bann dazu, dass sie ihre Erinnerungen verliert. Kurz darauf erhält sie eine Einladung zu einem »Familientreffen« in Frankreich. Welche Familie? Und wer ist der Absender? Coco macht sich auf den Weg zurück nach Europa, fest entschlossen, das Rätsel zu lösen ...

GESCHWISTERBLUT

von Dario Vandis

Port Blanc, 1832

Danielle erwachte.

Holte Luft. Und schrie.

Sie schrie ihre Angst hinaus, die Angst, die sich mit eisigen Fingern in ihre Brust krallte, die in ihre Lunge stach, ihr Herz umkrampfte. Und die jeden Muskel unterhalb ihres Bauchnabels lähmte.

Ihre Füße – wie tot. Ihre Oberschenkel – ohne Gefühl.

Ja, selbst ihre Hände konnte sie nicht einen Zentimeter bewegen. Sie lag da wie festgenagelt. Nur das Gesicht und die Brust schienen zu existieren.

Atme. Atme!

Aber das war kein Trost, denn um sie herum herrschte Finsternis. Sie spürte, dass sie nicht in einem Bett lag. Keine Matratze, sondern hartes Holz bohrte sich in ihren Rücken. Bretter. Nicht ein einziger Lichtpunkt in der Finsternis.

Nur dunkel. Dunkel. Dunkel.

1. Kapitel

Es ist Nacht, sagte sie sich. Ich bin zu Hause, liege in der Scheune. Die Fenster sind hoch. Wenn man auf dem Boden liegt, kann man die Gaslaternen in der Ferne nicht sehen. Aber warum liege ich in der Scheune?

Sie merkte, dass sie noch nicht ganz klar im Kopf war. Sie war nicht zu Hause. Sie war auf Reisen gewesen. Allein. Das war gefährlich für ein Mädchen von 16 Jahren, aber wenigstens nicht so gefährlich, wie sich daheim von dem Alten grün und blau schlagen zu lassen. Freiheit! Es gab kein erhabeneres Gefühl, wenn man die letzten fünf Monate in Angst zugebracht hatte – Angst davor, dass der Vater von der Liebe zu einem einfachen Bauernjungen erfuhr. Und von dem Kind, das bereits unter ihrem Herzen wuchs.

Sie war zusammen mit Pierre geflohen und zunächst ziellos die Küste hinaufgewandert. Hier und da hatte ihnen eine freundliche Bauersfrau Unterschlupf gewährt – als Gegenleistung dafür, dass Pierre ein paar Klafter Holz hackte. Danielle sah ihm dabei zu, während ihr Bauch Tag um Tag weiter anschwoll. Sie war so glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben.

Dann waren sie nach Port Blanc gekommen, ein kleines Städtchen mit einem alten Leuchtturm, an den eine Herberge angeschlossen war. Danielle war jetzt im neunten Monat, und Pierre beschloss, dass es Zeit wurde, die Strohballen der Bauernhöfe gegen ein richtiges Bett einzutauschen. Danielle protestierte, aber bevor sie Pierre daran hindern konnte, hatte er die »Herberge zum Leuchtturm« betreten und seine letzten Münzen auf den Tresen gelegt. Der Herbergsvater, ein hagerer Mann, dessen Gesicht von tiefen Sorgenfalten durchzogen war, hatte sie nach längerem Zögern eingesteckt und ihnen ein Zimmer zugewiesen. Danielle konnte nicht verstehen, weshalb er sich zunächst so abweisend gezeigt hatte. Es waren doch genug Zimmer frei.

So hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Daunenbett gelegen und sich wie ein Engel gefühlt. Sie hatten sich geliebt – unbeholfen in ihrer Sorge, dem Ungeborenen nicht zu schaden, und dann war Danielle in Pierres Armen eingeschlafen.

Und hier erwacht. Allein. Auf einem Untergrund, der viel härter war als eine Daunenmatratze.

Wie war sie hierher gekommen? Und wo war Pierre?

Sie hörte ihren Atem lauter als gewöhnlich, wie durch einen Trichter. Der Raum, in dem sie sich befand, musste klein sein. Sehr klein.

Sie versuchte, den Kopf zu bewegen. Nach rechts. Nach links. Sie blinzelte in die Finsternis. Keine Orientierung.

Neben ihr konnte eine Wand aufragen oder endlose Leere herrschen – sie konnte es nicht sehen. Sie konzentrierte sich auf ihre Finger. Da war ein Kribbeln, das sie spürte, irgendwo in der Ferne. Sie versuchte ihre Fingerspitzen zu bewegen. Ging nicht. Ein Kribbeln. Wenigstens. Plötzlich konnte sie den Boden unter ihren Fingern fühlen. Es war tatsächlich Holz. Ein Splitter saß in ihrem Zeigefinger, schmerzte. Sie lachte über den Schmerz, Tränen liefen über ihre Wangen. Sie lachte, weil sie ihre Finger spürte.

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie ließ die Füße kreisen, vernahm das Knacken der Knöchel, mit dem das Vakuum aus den Gelenkkapseln entwich. Ihre Freude darüber, dass die Taubheit aus ihren Gliedern schwand, verwandelte sich in bange Erwartung. Wo war sie? In einem fremden, engen Zimmer?

Sie hob den Arm. Zentimeterweise. Du schaffst es, raunte sie sich zu. Und sie schaffte es. Der Arm schwebte über ihrem Körper. Mit unmenschlicher Anstrengung gelang es ihr, ihn dort zu halten. Abwarten. Mit jeder Sekunde wurde sie stärker. Mit jeder Sekunde wurde sie sicherer. Sie strich mit der Hand über ihren Bauch. Sie wollte fühlen, dass alles in Ordnung war. Dass das Kind lebte. Mach dich nicht verrückt, sagte sie sich. Dann tastete sie über ihre Beine. Auch dort war das Gefühl zurückgekehrt. Sie hätte jauchzen können vor Glück.

Aufstehen. Ein Fenster öffnen. Nachsehen, wo sie sich befand. Das war eine gute Idee.

Sie zog die Beine an und streckte die Ellenbogen aus, um sich abzustützen.

Die Knie trafen im selben Augenblick auf Widerstand wie ihre Ellenbogen. Sie konnte die Beine nicht vollständig anziehen. Sie konnte die Ellbogen nicht ausstrecken.

Eine Panikwelle raste durch ihren Körper. Holz. Es war rechts von ihr und links von ihr. Es war oben und unten. Sie tastete die Bretter ab. Es gab keine Lücke. Kein Fenster, keinen Spalt.

Die Erkenntnis war so bizarr, dass ihr Verstand sich weigerte, sie zu akzeptieren. Niemand wird lebendig begraben. Schon gar nicht jemand, der so weit vom Tod entfernt war wie sie. Sie lebte doch.

Und doch war sie lebendig eingesperrt.

In einem Sarg ...

»Hilfe! Hört mich jemand?«

Sie schrie, so laut sie konnte. Ihre Trommelfelle kippten über. Sie schrie wieder und wieder.

Und hätte es fast überhört. Das Geräusch zu ihrer Linken. Erde, die bewegt wurde. Rettung! Jemand kratzte an der Sargwand.

»Hier bin ich!«, rief Danielle. »Hier drinnen!«

Das Kratzen wurde stärker. Irgendwie ... gieriger. Etwas drückte gegen die Sargwand. Gleichzeitig drang durch die Ritzen zwischen den Brettern ein süßlicher Geruch, der Danielle fast den Atem raubte.

Leichengeruch.

»Helft mir ...«, stöhnte sie. »Wo bin ich?«

Ihre Worte wurden verschluckt von einem krachenden Geräusch. Die Sargwand barst, und eine stinkende, glitschig feuchte Hand legte sich auf Danielles Bauch.

Jahre später

»Johan!«

Die Stimme schnitt scharf wie eine Sense durch die Herberge. Die Flamme der Öllampe in Johans rechter Hand flackerte, als er in der Eingangshalle kehrtmachte und sich die Treppe hinaufschleppte. Seine Muskeln heulten empört auf und hielten ihm jedes seiner fünfundvierzig Jahre vor. Aber er durfte sie nicht im Stich lassen. Er hatte versprochen, bei ihr zu sein, wenn es geschah.

»Johan ...!«

Schwer atmend erreichte er die Tür am Ende des Flurs und öffnete sie. Mechanisch hatte er bereits die Luft angehalten. Trotzdem drang ihm der Gestank von Kot, Urin, Erbrochenem und etwas noch viel Schlimmerem wie der Atem der Hölle in die Nase.

Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Im Halbdunkel lag eine abgemagerte Gestalt im Bett. Spindeldürre Arme zitterten auf einem Berg von Decken aus bester Gänsefeder. Ein übergroßer, von strohigen Haaren umrahmter Kopf drehte sich langsam auf die Seite. Ein sanft geschwungener Mund und hoch angesetzte Wangenknochen verrieten, um welche Schönheit es sich bei dieser Frau einmal gehandelt hatte. Jetzt waren die Augen tief eingesunken, und ein fieberglühender Blick traf Johan, der sich auf die Bettkante setzte.

»Wo warst du nur so lange, Johan?«

Er hob die bauchige Emaillekanne in seiner Linken. »Ich habe Wasser geholt. Ich war sicher, du könntest eine Kühlung vertragen ...«

Mit einer ansatzlosen Bewegung, die er ihrem ausgemergelten Körper nicht mehr zugetraut hatte, stieß sie die Kanne fort. Der Deckel flog durch die Luft, Wasser spritzte über Johans Kleider.

»Du weißt, was ich brauche, Johan! Bring es mir.«

»Aber Estelle«, versuchte er zu widersprechen. »Es ist zu spät. Du hast nicht mehr die Kraft ...« Er hielt inne, als er etwas Feuchtes, Glitschiges auf seinem Knie spürte. Ein unförmiges, schwarzes Ding schlängelte sich unter der Bettdecke hervor, kroch über seine Beine. Der Gestank nach Blut und Verwesung wurde übermächtig. Fast hätte er sich übergeben.

»Sieh aus dem Fenster, Johan. Sieh hinaus!«

Er gehorchte. Sein Blick fiel auf den Friedhof vor dem Haus. Im rechten Augenwinkel erblickte er den Leuchtturm, der der Herberge ihren Namen gab. Die meisten Gräber auf dem Friedhof waren verrottet, die Grabsteine halb eingesunken, weil sich vor ihnen tiefe Risse und Mulden aufgetan hatten – als wären die Särge in den Gräbern zusammengebrochen und die Erde in den entstehenden Hohlraum gestürzt.

»Ich will leben«, krächzte Estelle, die sich halb aufgerichtet hatte. Sie versuchte einen Blick auf den Friedhof zu erhaschen. Wieder schlängelte etwas Schwarzes, Unförmiges unter der Decke hervor, züngelte auf das Fenster zu. »Das kann er nicht gemeint haben, als er mir versprach, dass er über mich wachen würde!«

Johan schauderte, als sie ihn erwähnte. Er dachte ungern zurück an jenen Besucher, der eines Abends in einer schwarzen Kutsche vor der Herberge aufgetaucht war. Und sich eine Nacht lang mit Estelle vergnügt hatte. Johan hatte es geduldet. Wie er alles erduldet hatte, was Estelle das Leben angenehmer machte. Vor jener Nacht und seitdem.

»Dafür ist es zu spät, Estelle«, sagte Johan rau. »Du kannst nicht mehr hinaus.«

»Dann bring sie mir. Bring sie mir hier ans Bett!«

Er überlegte, wie er sie überzeugen konnte, dass es besser war, Frieden zu schließen. Das Schicksal zu akzeptieren – und Gott dafür zu danken, dass die Qualen ein Ende hatten. Stets war er der Einzige gewesen, dem sie vertraute. Doch jetzt, da ihre Kräfte nachließen, schien sie in ihm einen Feind zu sehen. Dabei wollte er ihr nur helfen. Damit nicht noch mehr Menschen sterben mussten.

»Hörst du das, Johan?« Das längliche Ding am Bett peitschte. »Rettung naht!«

Er zuckte zusammen, als er die Kutsche erblickte, die soeben auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Gebäude einfuhr. Der Kutscher war in schwarzes Tuch gehüllt, sein Kopf von einer Kapuze verdeckt. Der Schein zweier Öllampen tauchte die schweißnassen Rücken der Rapphengste in glänzendes Licht.

»Wer ist es?«, krächzte Estelle.

Eine Gänsehaut kroch über Johans Nacken. »Nur ein Reisender. Er wird vorüberziehen, wenn er sieht, dass die Herberge geschlossen ist.«

»Er ist es! Ich spüre es!«

»Estelle ...«

»Ich will, dass du ihm ein Zimmer gibst.«

Johan schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Er suchte nach einer Ausrede, mit der er Estelle beschwichtigen konnte. Sie war seit zwei Wochen ans Bett gefesselt und ganz wahnsinnig vor Hunger. Aber jedes Opfer würde ihr Leiden nur hinauszögern.

Er sah, wie der Kutscher vom Bock sprang und die Tür öffnete. Eine edel gekleidete Gestalt stieg aus. Sie trug einen schwarzen Anzug und einen Zylinderhut. Johan erkannte sie wieder.

»Geh schon! Öffne die Tür!«

Er musste ihr gehorchen, hatte ihr immer gehorcht.

Die Stufen knarrten unter seinem Gesicht. Draußen stand die Gestalt mit dem Zylinderhut vor der Glastür und wartete.

Johan schloss die Tür auf. Stockte.

Die Gestalt lächelte ihn an. Es war ein Mann, schlank, in den besten Jahren. Aber etwas Unheimliches ging von ihm aus. Das Lächeln erreichte seine Augen nicht – diese Augen waren so kalt, als ob sie den tiefsten Gründen der Hölle entstammten.

Wir haben geschlossen, wollte Johan sagen, aber er bekam kein Wort heraus.

»Wie geht es ihr?«, fragte der Mann.

»Sie stirbt«, sagte Johan traurig.

»Nein«, sagte der Fremde, und seine kohlschwarzen Augen blitzten. »Sie wird noch sehr lange leben.«

2. Kapitel

Gegenwart

Welch ein Lichtermeer!

Ich saß verträumt auf meinem Fensterplatz in der Boing 747, die mich von Istanbul nach Frankreich brachte, und starrte auf den ausgefransten, weißen Fleck unter mir, als der sich Paris uns Ankömmlingen darstellte. Ein riesiger Lichterhaufen, umgeben von schwarzer Nacht, das war wie ein Zeichen angesichts der inneren Unruhe, die mich antrieb und die ich in Frankreich, genauer gesagt, in der Bretagne, abzustellen versuchte.

Ich kramte noch einmal den Zettel hervor, den mir jemand in mein Hotelpostfach in Istanbul gesteckt hatte.

Liebe Coco, zu unserem Familientreffen laden wir dich herzlich ein! Ort und Zeitpunkt: Port Blanc, Hôtel au Phare, 21. August.

Nicht besonders wortreich, aber er enthielt alle notwendigen Informationen. Obwohl ich weder den Grund für die Einladung kannte noch denjenigen, der sie ausgesprochen hatte, wollte ich das Treffen nicht versäumen. Immer wenn ich mich an meine Familie zu erinnern versuchte, war da nur ein seltsamer Fleck, der alle Erinnerungen überdeckte. Woher stammte ich? Wer waren meine Eltern? Waren das nicht Fragen, die jeden von uns bewegen? Ich hatte mich bisher nicht darum gekümmert. Ich hatte mich noch nie darum gekümmert, wie es schien. Und jetzt diese Einladung, die alles geändert hatte. So leicht würde man es mir vermutlich nie wieder machen, etwas über meine Wurzeln zu erfahren.

Ich fragte mich nur, wie die Einladung in mein Postfach in Kalkutta gelangt war. Woher wusste meine Familie, in welchem Hotel ich dort residierte? Und warum verlangte sie jetzt, mich zu sehen, nachdem sie jahrelang offenbar kein Verlangen danach verspürt hatte? Sie ist eben deine Familie, versuchte ich mich zu beruhigen. Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Fragen zu stellen. Noch nicht.

Ein Ruck ging durch den Rumpf der Maschine, als das Fahrgestell auf der Landebahn des Charles-de-Gaulle-Flughafens aufsetzte. In der Flughafenhalle angekommen, wartete ich über eine Viertelstunde auf meinen Koffer. Neben mir stand ein Kerl vor dem Laufband, dessen Nähe mir ein seltsames Kribbeln verursachte. Er besaß keine dämonische Aura – die hätte an einem belebten Ort wie diesem nicht mal automatisch eine Bedrohung bedeuten müssen. Es war etwas anderes, Unbeschreibliches in seiner Haltung, an seinem Äußeren.

Ich musterte ihn aus dem Augenwinkel. Sein Haar war schwarz und glatt. Er hatte es am Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden. Dadurch wirkte sein herbes Gesicht noch markanter: eine scharfrückige, gerade Nase, ein schmaler Mund und Augen, die schwarz wie Kohlen waren. Er war schlank und besaß breite Schultern. Ein Typ, auf den viele Frauen flogen. Ich tat es nicht, allein schon wegen seiner Kleidung. Er trug ein hautenges T-Shirt mit einer offenen Lederjacke darüber. Seine Füße steckten in langen, schwarzen Stiefeln. Um seinen Hals hing ein Lederband mit einem Talisman aus billigem Silber. Er hatte etwas Missionarisches an sich – wie diese alternativen Popsänger, die in dem Wahn lebten, ihre Lieder würden helfen, die Abholzung der Regenwälder zu stoppen.

Da endlich kam mein Gepäck. Ich atmete auf und streckte die Hand aus. Aber Mr. Womanizer war schneller.