Dornen am Weg - Hans Ernst - E-Book

Dornen am Weg E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Die leidenschaftliche Florina Almander hat es nicht leicht mit ihrem trunk- und spielsüchtigen Vater. Hart muss sie arbeiten, um auf dem Hof die Arbeit der verstorbenen Mutter und des verbitterten Witwers zu schaffen. Da tritt eines Tages Heinz Stanzer in ihr Leben, und sie schöpft neue Hoffnung. Doch ist der windige junge Mann wirklich der Richtige für sie?

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LESEPROBE zum E-Book© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: © Jenny Sturm – Fotolia.com (oben) und © unpict – Fotolia.com (unten)

eISBN 978-3-475-54481-1 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Dornen am Weg

Die leidenschaftliche Florina Almander hat es nicht leicht mit ihrem trunk- und spielsüchtigen Vater. Hart muss sie arbeiten, um auf dem Hof die Arbeit der verstorbenen Mutter und des verbitterten Witwers zu schaffen. Da tritt eines Tages Heinz Stanzer in ihr Leben, und sie schöpft neue Hoffnung. Doch ist der windige junge Mann wirklich der Richtige für sie?

Heiß brannte die Sonne auf den Roggenacker nieder, und manchmal schrie ein Stein unter der Sense auf. Dann schrak Dominik Almander jedesmal zusammen, als verursache ihm der schrille Klang einen körperlichen Schmerz. Sein Körper war straff und sehnig gebaut. Das blonde Haar zeigte bei ihm noch keine Lichte und keine graue Strähne. Struppig wuchs es in die Stirn herein und hob sich wie eine helle Flamme von seinem dunkelgebräunten Gesicht ab, in dem der Mund schmal und streng, die Nase ein kleines bißchen gebogen war.

Das Korn stand dünn, mit schmalen Ähren. Auf der steinigen Lehne gedieh es nicht üppiger. Auch die Mohnblumen darin waren dürftig und von einer ganz hellen Farbe. Schwermütig stand der Bergwald über dem Acker. Um diese dritte Nachmittagstunde warfen die Fichten schon ihren Schatten über das halbe Feld hin.

Hinter dem Mäher raffte die achtzehnjährige Florina die Halme auf. Für ihr Alter war sie ziemlich groß gewachsen. Das schwarze Haar schimmerte bläulich in der Sonne. Sie trug es offen, und nur wegen des Bückens bei der Arbeit hatte sie es hinten mit einem Bindfaden zusammengebunden. Ihre Augen dagegen waren hell wie ein Septemberhimmel und leuchteten unter langen Wimpern manchmal traurig oder in einem wilden Feuer, wie es sich gerade gab. Als heranwachsendes Mädchen hatte man sie die „wilde Henn“ genannt, die sich mit den Buben raufte und zu jedem Streich zu haben war. Sie war mit Abstand die schlechteste Schülerin, machte nie eine Hausaufgabe und ergab sich nur unwillig dem Schicksal, das mit der Schule über sie gekommen war. Der alte Lehrer Holling in der kleinen Schule zu St. Ambros wußte nie, ob sie die Grunddinge überhaupt begriff, die zu lehren er sich Mühe gab. Sie gab auf Fragen so ungefähr die richtigen Antworten und dachte während des Rechnens an die Schmetterlinge, die vor dem Schulhausfenster flatterten, oder an die herbstlichen Kartoffelfeuer, und wenn sie dann mittendrin aufgerufen wurde, stand sie jedesmal gleich von selbst auf, ging zum Pult vor und streckte ihre Hände unbewegt hin, einmal die linke, dann die rechte, um hernach doch wieder eine verkehrte Antwort zu geben. Dabei lächelte sie stets, als täte ihr der alte Mann leid, der solche Mühe mit ihr hatte und sie manchmal sogar wieder zurückschickte, ohne ihr das übliche Maß von Schlägen mit dem Rohrstock über die dargereichten Hände gezogen zu haben.

Das war Florina Almander, die einzige Tochter des Kleinbauern Dominik Almander und seiner Ehefrau Claudia, geborene Röttler.

Später dann, als sie fünfzehnjährig aus der Schule kam, weil sie ein Jahr hatte nachsitzen müssen, kam insofern in ihr Leben eine Wende, als sie sich ganz bedenkenlos in den jungen Kaplan verliebte, der zur Stütze des alten Pfarrers nach St. Ambros gekommen war. Diese Liebe war für sie etwas Wunderbares. Da nichts, aber auch gar nichts von ihrem innigen Begehren beantwortet wurde, erlebte Florina an sich das herrliche Unglück ihrer ersten Liebe. Sie wurde merkwürdig still, in sich gekehrt und fromm, geriet in dem Wirrwarr ihrer Gefühle so durcheinander, daß sie nicht mehr zu unterscheiden vermochte, ob sie in diesem engelhaft schönen, jungen Priester den Mann, oder den Stellvertreter Gottes auf Erden liebte. Als er dann nach seiner Aushilfszeit wieder von St. Ambros fortging, erteilte er auch ihr den Segen. Florina senkte dabei ganz tief und demütig den Nacken und sagte laut und vernehmbar: „Vielen herzlichen Dank.“

Hernach wollte sie ins Kloster gehen und Nonne werden.

Aber der Bauernalltag griff schnell wieder mit seinen derben Händen nach ihr und zog sie aus ihren Wunschbildern heraus in die Wirklichkeit. „Ich werde nie mehr in meinem Leben einen Mann lieben können“, sagte sie sich und nahm den Kaplan noch eine ganze Weile mit hinein in ihre glühenden Wunschträume.

Ja, so war Florina Almander. Heftig in ihren Gefühlen und hernach wieder ganz traumversponnen, mit einer Stimme, die so dunkel war wie das Rauschen des Waldes um die abendlichen Stunden.

Ganz dünn kamen jetzt drei Schläge aus der Tiefe herauf. Die Klänge schienen zu schwingen in der zitternden Luft. Der Almander mähte noch ein paar Schwaden, das Korn raschelte und lag dann still beiseite.

„Machen wir Brotzeit“, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, die trocken und rissig waren.

Dann saßen sie im Schatten der Fichten. Florina nahm aus einer Wurzelhöhle das Körbchen mit etwas Brot und einem Krug Apfelmost. Zu Bier reichte es nicht, der Apfelmost war eigenes Erzeugnis und löschte mit seiner Säuerlichkeit den Durst gut.

Als sie so nebeneinandersaßen, bildeten sie einen seltsamen Kontrast. Vom Vater hatte das Mädel gar nichts. Wie ein knorriger Baum saß er da, in den Schultern ein wenig nach vorn gebeugt. Florina war daneben wie eine junge Lärche, kerzengerade, blühend vor lauter Gesundheit und Jugend. Kaum ein Lüftchen rührte die Zweige, irgendwo piepste ein Vogel vor sich hin, ganz leise, als nähme ihm die Gluthitze alle Lust zu fröhlichem Trillern.

Der Almander hatte einen tiefen Trunk getan und reichte den Krug der Tochter. Hinterher seufzte er, brach das harte Brot entzwei und schob einen Brocken davon in den Mund.

Dann schaute er über den Hang hinunter, wo unter den Obstbäumen das kleine Gütl lag, in dem sie lebten. Nein, kein großer Bauer war der Almander. Vier Kühe, drei Ziegen, ein paar Hühner und Schulden. Vor zwölf Jahren waren sie hergezogen, waren zuerst Pächtersleute gewesen und konnten dann das Anwesen kaufen. Mühsam rangen sie dem kargen Boden ab, was er herzugeben hatte. Nur an ganz hohen Festtagen ging der Almander einmal ins Wirtshaus. Sonst legten sie Mark für Mark auf die Seite, stotterten ehrlich ihre Schulden ab und vertrauten auf Gott.

Jetzt kam auf einmal ein Windstoß von unten herauf. Wie ein feines Sausen ging es durch den Wald, Fichtennadeln rieselten herab, und in den Zweigen war ein leises Singen, so ähnlich, wie wenn die Almanderin in der Küche manchmal vor sich hin sang in einer wunderlichen, klangreinen, fremden Sprache. Aber seit einem Jahr sang sie nicht mehr. Sie war krank, sehr krank, und lag da drunten in der niederen Stube. Am Mittag hatte der Mann sie so betten müssen, daß sie durch das offene Fenster heraufsah auf den Kornacker.

In dem Windstoß vom Tal herauf aber kam noch etwas mit: hastige, dünne Glockenklänge. Das Echo bimmelte im Wald koboldgleich dahin. Der Almander wurde auf einmal ganz starr. Der letzte Brocken Brot fiel aus seiner Hand, die schmalen Lippen öffneten sich zu einem stöhnenden Laut. „Nein! Nein! Das darf nicht sein!“

Dann sprang er auf und rannte hinunter, Florina mit flatternden Röcken hinter ihm her, als wollten sie vor den bimmelnden Glockentönen davonlaufen, die doch zu dieser ungewohnten Nachmittagsstunde nichts anderes sein konnten als das Sterbeglöcklein, wie man es jedem Christenmenschen in der Stunde seines Ablebens läutete.

Der Hund lag vor dem Haus, hielt den Kopf hochgestreckt und jaulte. An ihm vorbei stürzte der Almander ins Haus und in die Kammer.

Die Frau saß halb aufgerichtet im Bett, den Blick starr durchs Fenster gerichtet. Die Hände lagen ausgestreckt auf dem Deckbett und wurden langsam wächsern. Der Zeigefinger der rechten Hand war etwas gekrümmt, genau so, wie sie Florina manchmal zu sich hergebeten hatte. Fremd und kühl war die Luft über ihrer leblosen Gestalt. Und als begreife Florina jetzt erst, daß der gekrümmte Zeigefinger kein Herbitten mehr andeuten konnte, brach sie mit einem lauten Schrei vor dem Bett nieder und preßte ihre Stirn auf die kaltgewordenen Hände der Mutter.

*

Drei Tage später wurde sie beerdigt. Das ganze Dorf gab ihr das Geleit, obwohl sie keine Einheimische war, sondern aus einem fremden Bergtal hergezogen war. Manchmal hatte man sie die „Welsche“ genannt, aber das stimmte nicht. Ihre Wiege stand irgendwo im Bergell. Wenn es wahr ist, daß sich die Wertschätzung eines Menschen am deutlichsten an seinem Grabe beweist, so traf dies auf Claudia Almander in vollem Maß zu. Bescheiden, gutmütig und hilfsbereit hatte sie unter den Menschen von St. Ambros gelebt, es war eine merkwürdige Strahlkraft von ihr ausgegangen, ohne daß sie sich dessen bewußt war. Darum sprach der alte Pfarrer am Grab so schöne Worte und nannte die Tote eine Magd des Herrn, die ihr Leid mit so großer Geduld getragen habe.

Es war nicht gewiß, ob der Almander diese Worte als Trost empfand. Die Schultern nach vorn geneigt, stand er da, mit müdem, schwerem Sinn, und er bedachte, daß seine Claudia in ihrem hellen Fichtensarg vor diesem Lob erröten müßte, wie sie immer rot geworden war und verlegen, wenn man sie gelobt hatte.

Wie eine Statue aus bräunlichem Marmor stand Florina neben dem Vater und hatte ihren Blick über die Friedhofsmauer weg zu den Bergen emporgerichtet. In wirren Locken fiel ihr das Haar über die Schultern, und ihr Mund stand wie im Staunen halb offen, als begreife sie immer noch nicht, wie Gott es fertiggebracht hatte, seinen Schweigefinger auf der Mutter Mund zu legen, auf daß er für ewig verstumme. In ihren Händen hielt sie ein Sträußerl Edelweiß, das sie hernach auf den Sarg hinunterwerfen wollte.

Hernach, als sich die Leute schon verlaufen hatten, standen sie zu dritt noch auf dem freien Platz vor der Kirche. Warm lag die Sonne auf den Dächern, von den Weiden herein hörte man das Gebimmel der Kuhglocken, und beim Rößlwirt quietschte eine Sau ganz erbärmlich, als sie von einem Metzger ins Schlachthaus getrieben wurde, als wüßte sie, was ihr bevorstand.

„Wie ist es, Vater? Kriegen die Sargträger was?“, fragte Florina, die in dem dunklen, langen Faltenrock und dem enganliegenden Spenzer etwas reifer und älter aussah.

„Ja, geh voran, Florina. Die Rößlwirtin soll für jeden drei Weißwürst einlegen, und zwei Maß Bier kriegen sie auch.“

„Ein Glück für dich, Almander, daß die Florina schon so groß ist“, meinte der Pfarrer und sah zu der Amsel auf, die in den Büschen hinter der Friedhofsmauer ihre Triller in den glasklaren Himmel hinaufschickte.

Der Almander putzte mit seinem Taschentuch das Lederband in seinem Hut trocken, bevor er ihn aufsetzte. Dann antwortete er: „Eine Tochter ist noch lange keine Frau. Und Töchter bleiben nie bei einem Vater. Jetzt ist sie achtzehn. Wie lange dauert es noch, dann kommt einer und holt sie weg.“

„Notfalls müßtest du halt nochmal heiraten.“

Der Almander schaute den Pfarrer ganz entsetzt an und schüttelte den Kopf. „So eine, wie die Claudia war, gibt es keine zweite mehr, Herr Pfarrer. Für mich ist sie auch gar nicht tot.“ Er klopfte sich an die Brust. „Da drinnen lebt sie weiter, Herr Pfarrer, und man soll es den Toten nicht verbieten, wenn sie weiter in uns leben wollen.“

Wenn Tote auf Besuch kämen, erwiderte der Pfarrer, dann stiegen sie nicht aus dem Grab herauf, sondern aus der Seele. Und der Almander möge bedenken, daß das Leben weitergehe und daß es von den Lebenden das fordere, was die Toten nicht mehr vollenden oder erfüllen konnten.

Der hat leicht reden, dachte der Almander, als der Pfarrherr sich von ihm mit Händedruck verabschiedet hatte und nun durch seinen Rosengarten auf sein Haus zuging.

Die Menschen hatten sich inzwischen verlaufen. In beschaulicher Vormittagsruhe lag das Dorf da. Von der Schmiede kam klingender Hammerschlag, und weiter vorn ratterte ein Bauernfuhrwerk von der holprigen Straße auf einen Feldweg hinein. Im Schulhaus standen die Fenster weit offen. Sie hatten gerade Gesangsstunde. Almander hörte, wie der Geigenbogen aufs Pult geklopft: wurde und wie dann die Kinder zweistimmig einfielen. Die Geige vereinte sich mit den Kinderstimmen zu einer Melodie, die sich über das stille Dorf erhob.

„Sah ein Knab' ein Röslein stehn“, sangen sie.

Claudia hat auch gesungen, mußte der Almander denken. Aber er hatte nie recht gewußt, was sie in ihrer fremden Sprache sang, mit ihrer schönen, dunklen Stimme. Und nun würde er nie mehr ihre Stimme hören. Sie hatte die Melodien vorzeitig abgebrochen und ihn allein gelassen. Nie mehr würde ihre Hand da sein, die ihn immer gelenkt hatte, so unaufdringlich, daß er niemals gemerkt hatte, wie er gelenkt wurde. Nie mehr würde sie mit ihm am Abend auf der Hausbank sitzen oder vor dem Herd stehen, und nie mehr konnte sie ihm sagen: „Mach endlich Feierabend jetzt, Dominik …“

Nein, sie war nicht zu ersetzen. Das spürte er sogleich wieder, als er die Gaststube beim Rößlwirt betrat. Florina saß bei den Sargträgern, aber sie redete nichts. Zwei Maß Bier hatte sie hinstellen lassen, obwohl er es anders gemeint hatte. Für jeden Mann zwei Maß, hatte er gemeint. Sie hatten die Tote vom Haus weg bis zur Grube hingetragen und sollten dafür belohnt werden. Wenn er auch nur ein armer Kleinbauer war, außerhalb des Dorfes auf einem Höhenrücken, in einem Haus, in dem man noch kein elektrisches Licht hatte, so wollte er sich dennoch nicht anschauen lassen.

„Für jeden Mann zwei Maß Bier“, sagte er der Bedienung, als sie kam und ihn nach seinem Begehr fragte.

„Du solltest dich wegen uns nicht in Unkosten stürzen“, sagte einer der Männer.

„Ihr habt sie so vorsichtig getragen, und der Weg war doch weit“, erwiderte Almander.

„Aber sie war so leicht wie ein Engel. Man hat sie kaum gespürt auf den Schultern.“

„Ja, sie war wie ein Engel. Florina, willst du nichts essen?“

Florina schüttelte den Kopf. „Es ist noch etwas von gestern daheim, Vater. Wir müssen heute das Korn heimfahren.“

Genau das hätte Claudia auch so sagen können. Genau so würde auch Claudia dasitzen und das Geld im Handtäschchen zählen, ob es reichte für die Zeche.

Es reichte gerade. Als die Mittagsglocke läutete, brachen sie auf und strebten der Höhe zu. Das Haus war wie ausgestorben. Der Geruch des Todes war noch nicht ganz draußen. Florina riß alle Fenster weit auf, machte Feuer im Herd und rückte das Pichlsteiner von gestern über die Herdplatte.

„Du mußt jetzt etwas essen, Vater“, forderte sie. Aber es war nicht so, als wenn die Mutter es gefordert hätte. Er aß nur ein paar Bissen, trank aber, seit sie daheim waren, bereits den dritten Schnaps. Darauf wurde ihm ein wenig wohler. Die Trostlosigkeit wollte weichen, und der Atem wurde ihm ein wenig leichter in der schweren Brust.

Nach dem Essen spannte Florina zwei Kühe vor den Wagen. Sie fuhren zum Lehnacker hinauf und holten das Korn heim.

*

In neunzig von hundert Fällen ist es so, daß ein Hinterbliebener sich wieder findet, wenn Tage und Wochen vergangen sind. Der Schmerz klingt ab, und im Volksmund sagt man, es wachse Gras über alles Leid.

Doch der Gütler Dominik Almander fand sich nicht mehr. Es klang nichts ab bei ihm, und es wuchs kein Gras drüber, außer wenn er bis in die späte Nacht hinein im Wirtshaus saß. Einmal im Rößl, einmal beim Stieflwirt und neuerdings auch in der etwas verrufenen Kneipe beim Rattl im Holz. Ihm, der früher nie oder nur ganz selten einmal ins Wirtshaus ging, genügten am Anfang drei halbe Bier schon, daß er das graue Kleid seines Leides abstreifte und seine Zunge sich lockerte.

„Wie weit ihr auch gehen mögt, ihr werdet nirgends eine Frau finden, wie meine Claudia eine war.“

Man hatte Mitleid mit ihm und manchmal auch Spaß, wenn nach der vierten oder fünften Halbe seine Zunge immer mehr stolperte und mitteilsamer wurde. Dann zählte er alle Vorzüge seiner verstorbenen Frau auf.

„Eine Tochter kann einem die Frau nicht ersetzen“, hatte er dem Pfarrer gesagt. Das fand er mit jedem Tag neu bestätigt, obwohl Florina sich abplagte wie ein Tier. Aber Florina besaß nicht die sanfte Gewalt, mit der ihn ihre Mutter gelenkt hatte. In ihren Worten lag noch keine Überzeugungskraft, und wenn sie ihm wirklich sein Wirtshausgehen vorhielt, dann sah er sie nur störrisch an und fragte: „Vergönnst mir das Tröpferl Bier nicht?“

Das Mitleid mit ihm hielt nur eine gewisse Zeit an, dann verlosch es, und man begann ihn für einen zu halten, der auf die niederste Stufe eines landfahrenden Ernteknechts herunterstieg, der sich von diesem oder jenem einen Krug Bier zahlen ließ.

Nein, es stimmte nicht mehr mit dem Almander, dem einst so ehrsamen, arbeitsfreudigen Menschen. Wie sollte man sich denn das sonst zusammenreimen, wenn er jeden Abend ans Grab seiner Claudia hintrat und dort über den Hügel hinklagte, sein Leben sei ohne sie ganz sinnlos geworden, um dann vom Grab weg ins Wirtshaus zu eilen und doch einen Sinn im Alkohol zu finden. Um die Mitternachtsstunde torkelte er grölend heim.

Die Rößlwirtin hielt es für richtig, ihm nicht mehr als zwei Halbe Bier geben zu lassen. Beim Stieflwirt war man großzügiger, und beim Rattl im Holz war er immer herzlich willkommen.

Mittlerweile war der Sommer seinem Bruder Herbst in die Arme geeilt. Das Laub färbte sich, die Äpfel und Birnen fielen überreif ins Gras, und auf den Wiesen blühten die Herbstzeitlosen. Marienfäden schwammen durch die Luft, voll Schwermut waren die Tage. Die Berge stiegen wie verschleierte Riesen empor; ihre Gipfel waren von Wolken verhüllt.

Bis zum Spätherbst, diese Frist hatte Florina sich gesetzt, bis zum Spätherbst schau ich noch zu. Was dann geschehen sollte, das wußte sie freilich selbst noch nicht. Auf alle Fälle konnte es so nicht weitergehen, sie mußte versuchen, den Vater von den Wirtshäusern fernzuhalten. Vielleicht gelang es mit gutem Zureden. Vielleicht würde sie ihm auch sagen, sie habe immer in Ehrfurcht und Bewunderung zu ihm aufgeschaut, aber nun begännen sich die Bilder ihrer Kindheit zu verdunkeln. Auf keinen Fall würde sie ihm ein böses Wort sagen oder murren, daß er ihr die schwersten Arbeiten aufbürdete. Sie tat es ja gern, sie hing mit ihrem ganzen Herzen an diesem kleinen Bauerngütl, an den Tieren im Stall, am kargen Boden, weil es eben ihre Heimat war.

Am Samstagvormittag nun, Florina war gerade vom Kartoffelacker heimgekommen, um noch schnell das Mittagessen anzurichten, kam der Brotfahrer Andersch in den Hof. Wie zu Mutters Zeiten nahm Florina zwölf Semmeln und vier Laugenbrezeln aus dem großen Korb, den der Andersch auf die Hausbank gestellt hatte. Sie wollte das Geld dafür aus der kleinen Schüssel im Küchenschrank nehmen. Zu ihrem Schrecken stellte sie fest, daß das Schüsselchen leer war. Siedend heiß ging es durch ihren Körper, und am liebsten hätte sie geweint. Dann nahm sie die Semmeln und trug sie hinaus. Mit hochrotem Kopf sagte sie zum Brotfahrer: „Ich kann es nicht zahlen.“

Der Mann kam schon seit acht Jahren her mit seinem spindeldürren Rappen und dem klapprigen Gefährt, und man war ihm noch nie etwas schuldig geblieben.

„Geh, Madl, mach dir doch nichts draus. Zahlst mir's halt am nächsten Samstag.“

Nur widerstrebend ließ sich Florina darauf ein. „Gern tu ich es zwar nicht. Aber der Vater müßt' ja sowieso jeden Augenblick vom Acker 'reinkommen.“

„Dein Vater – oh, mein Dirdl!“, seufzte der Brotfahrer und zog die Lederdecke wieder über seinen Semmelkorb. „War einmal so ein rechtschaffener Mensch. Aber jetzt wirst nimmer viel Freud' haben mit ihm.“

Florinas Brauen schoben sich hart zusammen. Sofort nahm sie innerlich Partei für den Vater. „Warum? Wie meinst du das?“

„Ich mein' gar nichts“, antwortete der Brotfahrer schnell, als er ihre trotzige Reaktion merkte. „Weiß ja selber, wie es einen durcheinanderwirbelt, wenn einem was Liebes genommen wird. Mir ist doch auch mein Weib gestorben vor drei Jahren, und ich hab auch gemeint, ich könnt' meinen Schmerz im Alkohol ertränken. Bloß hab ich dann noch rechtzeitig gemerkt, wie es bergab mit mir ging.“

„Und was das kostet!“, platzte Florina heraus. „Am Mittwoch waren noch zwanzig Mark im Küchenkasten, und jetzt ist nichts mehr drin.“

„Wem sagst du das! Obendrein wird man noch zum Gespött der andern. Gott sei Dank, ich hab alles gut hinter mich gebracht.“

„Was könnt' ich denn bloß tun?“, fragte Florina, und in ihrer Stimme klagte der Jammer ihrer Ohnmacht.

„Red' ihm halt einmal gut zu, vielleicht hört er auf dich.“

„Ja, das werd' ich jetzt schon tun müssen. Und laß mich nicht vergessen am nächsten Samstag: fünfundachtzig Pfennig kriegst noch von mir.“

Sie stand vor dem Haus und schaute dem Gespann nach. Schmal und gebückt saß der Mann auf dem Karren, die Feder auf seinem Hut wippte bei jedem Stein, über den die Räder gingen.

Dann wandte sie ihren Blick zum Kartoffelacker hinauf. Der Vater spannte gerade die zwei Kühe vor den Wagen, der mit Kartoffeln beladen war. Florina dachte: Fünfzig Zentner könnten wir vielleicht verkaufen. Die Ernte fiel in diesem Jahr besser aus als sonst.

In der Küche machte sie schnell eine Suppe. Vom Vortag war noch etwas Kraut und Rauchfleisch da. Der Vater aß ja in letzter Zeit so wenig, klagte nur immerzu über Durst.

Immer wieder fielen ihr die zwanzig Mark vom Küchenkasten ein. Heute abend hatte sie ins Dorf gehen und sich ein Paar Strümpfe kaufen wollen, denn barfuß in den Schuhen war es jetzt, besonders in der Frühe, wenn es gereift hatte, recht kalt. Ihre Hoffnung war nur, daß der Vater dieses Geld vielleicht bei sich trug.

Auf einmal übermannte sie ein großer, heftiger Schmerz, so ähnlich wie damals, als sie die Mutter tot im Bett liegen sah. Eine grenzenlose Verlassenheit spürte sie in sich und Sorge um die Zukunft. Sie wollte sich schon ganz diesem Jammergefühl hingeben, als sie spürte, daß sich etwas anderes dazugesellte, und das war Zorn – Zorn gegen den Vater, der sich so haltlos gehenließ.

In diesem Augenblick fuhr der Almander in den Hof, spannte die Kühe aus und brachte sie in den Stall. Mit schmalen Augen betrachtete ihn Florina, und es kam ihr vor, als sähe sie heute erst, wie sich seine Schultern gebeugt, in sein Gesicht sich tiefe Falten gegraben hatten und seine Augen von wulstigen Ringen umgeben waren. Mitleid und Ekel zugleich regten sich in Florina. Als sie seinen Schritt vom Stall herüberkommen hörte, straffte sie sich.

Der Almander warf seinen Hut in die Ecke, sah verdrossen zum Herd und verzog verächtlich die Lippen.

„Schon wieder was Aufgewärmtes?“

„Die Suppe ist frisch“, antwortete Florina und merkte, wie das Mitleid schwand und nur der Ekel übrigblieb. Aus diesem Gefühl heraus sagte sie ziemlich patzig:

„Grad bei mir schimpfst allweil. D'Mutter hat die Sachen dreimal aufwärmen dürfen, dann war es dir auch recht.“

„Ja, d' Mutter“, meinte er langgedehnt, „das war ganz was anderes.“

„Tu ich vielleicht nicht auch alles, bloß in dem Wunsch, es dir recht zu machen?“

„Davon ist keine Rede. Bring mir ein Bier!“

„Haben, sagen die Schwaben“, antwortete Florina, und das war ziemlich frech.

Der Almander riß die Augen auf. „Wie redest du denn mit mir? Gestern waren doch noch drei Flaschl da.“

„Ja, gestern. Aber zwei mußt du heut nacht noch getrunken haben, wie du heimgekommen bist. Und eins hab ich dir zum Acker mit 'naufgenommen.“

„So ist's recht, nicht einmal ein Bier im Haus!“

„Zu Mutters Zeiten war nie ein Bier im Haus.“

„Ja, zu Mutters Zeiten. Wenn ich da noch dran denk!“

Florina hatte nun die Suppenschüssel auf den Tisch gestellt und zwei Löffel aus der Schublade genommen. Sie aßen hier immer noch aus einer Schüssel. Mißmutig schob sich der Vater auf die Bank. Florina aber blieb stehen. „Du denkst aber nicht mehr daran, an Mutters Zeiten, sonst könntest dich nicht so gehenlassen.“

Verdutzt schaute er auf und erschrak beinahe vor dem drohenden Funkeln ihrer Augen. „Wer läßt sich gehn? Was ist denn das für ein Ton?“

„Der Ton, mit dem ich schon lang mit dir hätte reden müssen. So kann es nicht mehr weitergehen. Und wenn du nicht wieder der Mensch wirst, der du einmal warst und zu dem ich hab aufschauen können, dann renn' ich dir eines Tages fort.“

Eine kalkige Blässe zog über sein Gesicht. „Dann rennst halt fort. Aber 'reinkommen tust mir nimmer. Da hört sich doch schon alles auf! Da trinkt man einmal ein paar halbe Bier oder ein paar Stamperl Schnaps, und schon wird es einem von der eigenen Tochter vorgeworfen. Mir scheint, ich hab es an der nötigen Erziehung fehlen lassen. Hätte dich öfter einmal schlagen sollen.“

„Ich weiß nicht, Vater, ob ich jemals Schläge verdient habe. Eines sag ich dir aber: heut ist es dazu zu spät, denn ich tät mich wehren.“

„Zruckschlagen? Dem eigenen Vater zruckschlagen?“

„Wahrscheinlich“, gab Florina zu und hatte plötzlich alle Angst verloren. Und weil er nichts antwortete, fügte sie hinzu: „Heut hab ich dem Brotfahrer die Semmeln schuldig bleiben müssen, weil kein Pfennig mehr im Küchenkasten war.“

„Wirst es schon woanders verwurstelt haben.“

„Am Mittwoch waren noch zwanzig Mark drinnen. Ich hab sie nicht gebraucht, also kannst nur du sie 'rausgenommen und versoffen haben.“

„Und wenn? Muß ich mir vielleicht von dir Vorschriften machen lassen?“

„Das braucht es nicht. Aber wenn die Mutter das wüßt', die tät sich im Grab umdrehn.

„Kann schon sein, wenn sie wüßt', wie frech du mit mir redest.“

„Im guten kann man ja mit dir nimmer reden. Oder hörst du vielleicht einmal auf mich, wenn ich dich bitte, du sollst früher heimgehn und nicht soviel im Wirtshaus hocken? Du versprichst mir's dann wohl, aber heimkommen tust dann doch immer erst nach Mitternacht.“

Ganz nahe war er schon daran, zerknirscht den Kopf zu senken und zuzugeben, daß sie recht habe. Aber dann blies ihm ein böser Geist seinen Atem wieder ein. Aufrumpelnd schrie er mit verzerrtem Gesicht:

„Ja, Himmelherrgottsakrament, wie hätten wir's denn? Wer bist du denn schon, daß du mit mir so reden darfst?“ Seine rechte Hand fuhr hoch, doch keinen Schritt wich Florina zurück, mit keiner Geste dachte sie ans Abwehren. Nur ihre Augen funkelten jetzt in einem Licht, wie er es noch nie gesehen hatte. Seine Hand fiel herunter, und Zerknirschung umschattete sein Gesicht.

„Hast recht, Florina, ganz recht hast. So einem wie mir g'hört einmal die Meinung richtig gesagt. Die zwanzig Mark, ja, ich hab sie im Wirtshaus verbraucht. Aber übermorgen ist ja schon der Erste, da gibt's das Milchgeld. Kartoffeln können wir verkaufen, und Obst ist auch noch da. Gleich nächste Woch gehst 'nunter ins Dorf, darfst dir ein neues Kleidl kaufen.“

„Ich brauch kein neues Kleidl, wär mit einem Paar Strümpf schon zufrieden gewesen und wär überglücklich, wenn du umkehren tätst, Vater. Schau, ich bin jung, und was hab ich von meinem Leben? Jeden Abend bin ich allein. Die Arbeit überläßt du fast ganz mir. Aber ich arbeite gern und verzichte gern auf alles, wenn wir nur die Heimat erhalten können.“

„Freilich, die Heimat“, nickte er. „Gehört einmal alles dir. Und wann es an der Zeit ist, Madl, dann such ich dir einen braven, tüchtigen Mann. Und damit du siehst, daß ich gar nicht so bin, bleib ich heut abend schön brav bei dir daheim.“

Ja, diesen einen Abend blieb er daheim. Florina aber war es, als sei er trotzdem nicht da. Den Kopf in die Hände gestützt, saß er in der Stube und starrte wortlos vor sich hin. So sehr sich Florina auch Mühe gab, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, es interessierte ihn nichts. Nur als sie sagte, daß der alte Lehrer Holling in Pension gegangen sei, riß er seinen Schädel hoch.

„Da hat man's wieder! So ein Lehrer, wenn er fünfundsechzig ist, geht in Pension, geht spazieren, trinkt sein Schöpperl Wein oder zwei, und unsereins hat nicht einmal einen Schluck Bier daheim.“

„Most wär noch da“, sagte Florina.

„Was nützt der Most, ohne Unterhaltung? Ja, das sollst auch einmal wissen, Madl, die du doch sonst so gescheit bist: Das beste Bier schmeckt nicht, wenn man keine richtige Unterhaltung dazu hat.“

„Und die richtige Unterhaltung findest du ausgerechnet beim Rattl im Holz?“

„Ja, da verkehrt alles, bis auf die Großkopferten. Und grad lustig geht es oft: zu dort. Und wenn ich gestern auch zehn Mark verspielt hab, ein andersmal gewinn ich das Doppelte wieder.“

Erschrocken sprang Florina auf. „Was? Du spielst? Das hab ich ja gar nicht gewußt. Darum also fehlen die zwanzig Mark im Küchenkasten.“

„Die kommen schon wieder hinein. Ich seh es schon, mit dir kann man sich nicht richtig unterhalten, gleich bist mit Vorwürfen da. Es ist g'scheiter, wenn ich mich schlafen leg.“

„Gute Nacht, Vater“, sagte Florina mit dünner, trauriger Stimme hinter ihm her, bekam aber keine Antwort als nur das quietschende Geräusch des Türschließens.

Sie ging in den Stall hinaus, richtete für den Hund noch das Fressen und sperrte alles ab. Dann suchte auch sie ihre Kammer auf; die war unterm Dach, im Sommer brühheiß, im Winter klirrend kalt. Die Kerze, die sie mit hinaufgenommen hatte, flackerte in einem Flaschenhals so unruhig, als blase ein Wind in sie hinein. Die Nacht aber war ganz windstill. Florina stand im derben, leinenen Nachtgewand am offenen Fenster und kämmte den schwarzen Mantel ihrer Haare durch. Sie schaute zu den Sternen hinauf, als warte sie, ob nicht etwas Tröstliches von dort zu ihr herunterfalle. Aber die Sterne standen still, blinzelten nur manchmal ein wenig.

Ruhiger als sonst schlief sie dann ein. Heute brauchte sie nicht mehr zu warten auf den torkelnden Schritt des Vaters, wenn er spät heimkam. Sie betete ganz inbrünstig, daß es nicht nur bei diesem einen Abend bleiben möge, daß der Vater wieder in die Gelassenheit des alten Lebens zurückfinden könne.

Am andern Tag aber, gerade als ob er das gestern Versäumte nachholen wollte, ging er bereits nach dem Mittagessen fort. Als es dunkel wurde, ging Florina ihn suchen. Da sie wußte, daß er kein Geld mehr hatte, steckte sie alles, was sie selbst hatte, in ihre Kitteltasche und machte sich auf den Weg ins Dorf. Beim Rößlwirt war er nicht gewesen an diesem Abend, beim Stieflwirt nur bis sieben Uhr. Beim Rattl im Holz fand sie ihn dann in einem Zustand, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Die Arme auf den Tisch gestemmt, saß er da, in den zitternden Händen ein paar Kartenblätter, Schaum vor dem Mund, mit Augen, die zum Fürchten waren. Um ihn herum ein paar Kumpane, auf dem Tisch eine Menge Silbergeld. Florina hätte laut aufschluchzen mögen, als sie ihn so sah. Dann aber packte sie ehrlicher Zorn. Ihre Hände faßten nach dem Betrunkenen und rissen ihn vom Tisch zurück. „So hältst du also dein Versprechen!“

Totenstille herrschte im Raum. Die Wirtin schlich, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, in die Küche hinaus. Nur einer von den Burschen pfiff leise durch die Zähne und schob die Schiefertafel über das Silbergeld, woran dann Florina erkannte, daß es sich um ein verbotenes Spiel handeln müsse.

Der Almander fing an zu grölen und wollte sich freimachen. Aber Florinas Hände waren wie Eisenklammern an seinen Schultern, zerrten ihn aus der Bank heraus. Dann aber konnte sie ihn nicht mehr halten, und als sie ihn losließ, plumpste er grunzend zu Boden. So betrunken war er.

Ein paar von den Kumpanen lachten. Florina warf den Kopf zurück und schrie voll lodernden Zornes: „Schämt ihr euch denn nicht? Er ist doch betrunken, und ihr nehmt ihm auch noch Geld ab!“

„Er hat ja keins“, schrie einer zurück. „Steht bereits mit fünfundzwanzig Mark in der Kreide.“

Ein anderer, ein hünenhafter Kerl mit hängendem Schnauzbart, schob sich vor, packte Florina um die Hüfte und zischelte: „Das hat er uns verschwiegen, der alte Hallodri, daß er so was Sauberes daheim hat. Her mit einem Bußl, dann sind seine Schulden gestrichen.“

Mit einem Ruck machte Florina sich frei. Blitzschnell schlug ihre Hand in das Gesicht vor sich. Noch ein heftiger Stoß mit der Schuhspitze an das Schienbein, daß der Kerl mit einem Aufschrei zurücktaumelte.

„Du Luder!“, schrie er. „Wart, dir werd' ich's zeigen!“

Endlich schob sich der Wirt dazwischen. „Ruh' muß jetzt sein.“ Und sich zum Almander niederbückend: „Geh weiter, Dominik, steh auf, dein Madl ist da.“

Der Almander drehte sich nur auf die andere Seite und blieb liegen.

„Was ist er an Zeche schuldig?“, fragte Florina.

„Bier hat er sechs Halbe. Und drei Schnäps. Macht drei Mark miteinander.“

Florina griff in ihren Kittelsack und legte drei Mark auf den Tisch. „Und die andern fünfundzwanzig Mark, die könnt ihr euch bei der Gendarmerie holen.“

Das schlug wie eine Bombe ein. Besonders dem Wirt schien es an die Nieren zu gehen. „Geh, du wirst doch nicht zur Polizei rennen? Es ist ja alles nach Recht und Brauch gegangen.“

„Warum hat dann der das Geld so schnell zugedeckt, wenn es kein verbotenes Spiel ist? Ich muß dem Brotfahrer die Semmeln schuldig bleiben, und hier nimmt man ihm das Geld ab. Schämen sollt ihr euch!“

Man schämte sich in diesem Kreis durchaus nicht. Es war schon viel, daß man ihr half, den Almander auf die Füße zu stellen und vor die Türe hinauszuführen. Dort stand sie dann allein mit dem Betrunkenen, dem die frische Luft erst recht die Kraft aus den Beinen nahm. Ratlos stand Florina in der Nacht, während man drinnen in der Stube lachte und lärmte. Schließlich fand sie im Schuppen einen Schubkarren, mit dem sie den Vater heimfuhr. Hell und blinkend standen die Sterne am Himmel, aber sie schenkten auch heute keinen Trost. Ihr Licht fiel mild auf das Gesicht des Betrunkenen nieder, dessen Kopf hin- und herwackelte. Manchmal schimpfte er etwas Unverständliches vor sich hin, und einmal grölte er: „Schön ist die Juuugend bei frohen Zeiten …“

Ja, besonders die meine!, dachte Florina verbittert, und es war schon kein Zorn mehr, sondern beinahe Haß gegen den willenlosen Mann, der ihr Vater war und nun ihre Jugend zerstören wollte.

Ich muß mich freimachen von ihm, dachte sie. So geht es ja nicht weiter. Er versäuft und verspielt mir am Ende meine Heimat noch.

Dann hatte sie Angst, daß ihr jemand begegnen könnte. Darum wich sie von der Straße ab und schob den Schubkarren über Feldwege zur Höhe hinauf. Die Kirchenglocke schlug die zehnte Nachtstunde hinter ihr her.

Der Vater war eingeschlafen. Sein Kopf hing ein wenig zur Seite, das Sternenlicht lag auf seiner linken Wange, die Arme hatte er verkreuzt über der Brust. Und auf einmal hatte Florina wieder Mitleid mit ihm und dachte, wie sehr er doch die Mutter geliebt haben mußte, wenn er ohne sie so aus den Fugen geraten konnte. Er kann nichts dafür, entschuldigte sie ihn, als sie ihn mühsam in die Stube zerrte und dort auf das Kanapee bettete.

*

Nun war es später Herbst geworden, nicht mehr die farbenprangende, stille Zeit mit den Herbstzeitlosen und den Marienfäden in der Luft, sondern die düstere Jahreszeit, in der keine Vögel mehr sangen und die Stürme die letzten Blätter von den Bäumen rissen. Eines Morgens lag dann eine dünne Schneedecke ausgebreitet; sie hielt sich aber nicht und wurde von einem scharfen Westwind wieder aufgesaugt.

Am Allerheiligentag zerrissen am frühen Nachmittag die Nebel, da und dort zeigte sich ein Stückchen blauet Himmel, und die Sonne blinzelte wäßrig herab, als wolle sie sehen, was es nach den sieben Nebeltagen Neues auf dieser wunderlichen Erde gäbe.

Nun, sie sah zum Beispiel, wie sich zwei schwarzgekleidete Menschen anschickten, ins Dorf zum Gräberumgang zu gehen. In seinem schwarzen Anzug sah der Almander noch düsterer aus. Die Hände in den Hosentaschen, stapfte er dahin. Florina hielt leicht Schritt mit ihm. Auch sie hatte keinen Mantel, und da sie gerade in letzter Zeit noch gewachsen war, schien der Spenzer aus den Nähten platzen zu wollen. Über dem Kopf trug sie einen dunklen Schal mit langen Fransen. Das Gesicht, der Sommerbräune beraubt, schien ein wenig blaß in der dunklen Umhüllung.

Der Friedhof war schwarz von Menschen. Was in den Bauerngärten das Welken noch überstanden hatte, in der Hauptsache Astern, lag in verschwenderischer Pracht über den Gräbern ausgebreitet. Der Pfarrer ging mit den Ministranten durch die Gräberreihen, segnete nach rechts und links. Als er am Almandergrab vorbeiging, sah es aus, als hebe er die Hand nachdrücklich hoch zum Segen, so als bedürfe dieser Mann besonderen Schutzes.

Das Grabkreuz war aus Schmiedeeisen. Auf einem kleinen weißen Täfelchen stand geschrieben:

„Hier ruht in Gott Claudia Almander.“

Der Almander neigte seinen Kopf einmal leicht zur Seite und flüsterte Florina zu: „Die Schrift müßte kleiner sein. Da hab ich nimmer Platz drauf.“

Wenn du so weitermachst, dachte Florina, dann wirst du bald unter Mutters Namen stehen.

Dann schaute sie wieder umher. Noch nie hatte sie das Armsein so drastisch verspürt wie an diesem Allerheiligentag, der für die Toten bestimmt sein sollte, hier aber zu einer alljährlichen Modeschau degradiert wurde.

Die Rößlwirtin trug einen neuen Pelzmantel, für den zwei Fohlen ihr Fell hatten opfern müssen. Man sah dicke Fuchspelze über die Schultern reicher Bauerntöchter gelegt. Fuchspelze waren gerade große Mode.

Der Almander neigte wieder den Kopf zur Seite. „Demnächst fang ich dir auch einen Fuchs. Das Gerben ist nicht so teuer.“

Aber Florina wollte keinen Fuchspelz und keinen Fohlenmantel. Sie sah etwas ganz anderes. Eine Tochter vom Stockmüller war mit ihrem Mann aus der Hauptstadt des Landes gekommen. Die trug einen grauen Persianermantel, und Florina ertappte sich bei dem Gedanken, wie der sich an ihr ausnehmen würde. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust, ihre Augen schimmerten in einem seltsamen Licht. Arm und dürftig stand sie am Grab der Mutter, ihre Gedanken aber wanderten und erfüllten ihre Seele mit Wunschbildern, die selbst den trostlosen Novembertag noch schön machten, an dem die Sonne nur immer für ein paar Minuten durchlugte.

Hernach gingen sie zum Rößlwirt. Dort herrschte ein großer Betrieb. Auch die ganze Stockmüllersippe war vertreten, und Olga mit dem Persianermantel, die in die Stadt geheiratet hatte, fragte die Rößlwirtin unter vorgehaltener Hand: „Was ist denn das für ein bildhübsches Mädl dort hinten?“

Die Wirtin warf einen kurzen Blick in die Ecke hin. „Das ist die Tochter vom versoffenen Almander. Hübsch, sagst du, ist die?“

„Und wie! Das ist noch Rasse. Die könnte ihren Weg in der Stadt machen. Almander – die vom Berg oben, das kleine Sachl?“

„Ja, die sind's. Im Sommer ist die Almanderin gestorben, und seitdem hat er allen Halt verloren.“

Florina merkte nichts von diesem Gespräch. langsam, als wolle sie jeden Bissen besonders genießen, aß sie die Schweinswürstl mit Kraut und bat den Vater vergebens, daß er auch etwas esse. Der weigerte sich aber und hatte bloß wieder Durst. Nur mit Mühe brachte sie ihn nach einer Stunde soweit, daß er mit ihr heimging. Kaum aber fiel die Dämmerung, wollte er sich wieder drücken und ihr allein die Stallarbeit überlassen. In diesem Augenblick klopfte es an das Fenster. Draußen stand ein Fremder und fragte nach dem Weg nach St. Ambros. Nebel war inzwischen eingefallen und verwehrte die Sicht bis auf wenige Meter.

„Komm 'rein“, sagte Almander. „Ich gehe hernach sowieso ins Dorf.“

Florina dachte, daß sie in ihrem ganzen Leben nie den Augenblick vergessen würde, als der Fremde die Stube betrat und sich am Ofen die Hände rieb. Er war ziemlich groß, trug einen kurzen Mantel mit Pelzkragen und sagte, er heiße Heinz Stanzer und sei Elektromonteur, den seine Firma mit noch zwei Kameraden nach St. Ambros geschickt habe, um die Stockmühle ganz aufs Elektrische umzustellen. In seinen dunklen Augen lag etwas Faszinierendes. Wie gebannt blickte er auf Florina, die an der Kammertür stand und auch keinen Blick von ihm wenden konnte. Sie wußte selbst nicht, warum ihr Herz auf einmal so unruhig klopfte. Ihre Lippen öffneten sich ein paarmal, als wollte sie etwas sagen, aber sie fand die rechten Worte nicht.

„Setz dich doch nieder“, sagte dann der Almander. „Wo kommst denn eigentlich her?“

„Die Gegend wollte ich mir ein wenig anschaun, bergwärts bin ich gewandert, und auf einmal ist dieser dicke Nebel eingefallen. Zum Glück sah ich euer Haus.“

„Wer weiß, wo Sie sonst noch hingekommen wären“, sagte Florina und erschrak vor sich selbst, daß sie es gesagt hatte. Langsam wandte er seinen Blick wieder ihr zu. Seine Augen waren wie schwarzer Samt, auf seiner Oberlippe sproß ein kleines, dünnes Bärtchen. Und ohne den Blick von ihr zu wenden, sagte er: „Vielleicht wäre ich in eine Spalte gestürzt oder im Fluß ertrunken.“ Ein Lächeln, das zwei Grübchen zeigte und ganz lausbübisch wirkte. „Und es wäre doch schade um mich.“

„Hier herum ist keine Spalte, und die Tschern hat zur Zeit kaum Wasser“, antwortete der Almander. „Haben wir nichts zum Aufwarten, Florina?“

Florina schob die Unterlippe ein wenig vor. „Bei uns hält sich ja kein Bier mehr. Aber wenn der Herr einen Tee mag?“

„Nein, danke, wirklich nicht. Ich muß auch wieder zurück, für sechs Uhr haben wir das Essen bestellt beim Stieflwirt, wo wir uns einlogiert haben.Aber ich sehe, ihr habt noch kein elektrisches Licht?“

„Da sind wir nicht allein. Rings um uns herum die Einöden haben auch keins.“

„Ich weiß. Aber sie sollen es jetzt bekommen. Die Überlandwerke sind sehr interessiert daran, daß das Netz erweitert wird.“

„Das glaub ich schon, damit sie noch reicher werden.“

„Das wäre hier weniger der Fall, sondern es ist mehr ein Entgegenkommen. Und was bräuchtet ihr hier schon? Vielleicht zwei oder drei Masten. Ich müßte mir das morgen einmal anschaun.“

„Ja, schön wär' es schon, wenn wir bloß aufzudrehen brauchten“, sagte Florina und lachte dabei. Sie wollte den Fremden gar nicht anlachen, aber er zog mit seinen Augen ihr Lachen wie magnetisch zu sich her. Verwirrt schlug sie die Augen nieder und wisperte: „Ich muß jetzt in den Stall.“

„Mit der Petroleumlampe?“

„Ja, leider.“

„Da wird es aber höchste Zeit – wie ist euer Name?“

„Der Almander bin ich, und das dort ist meine Tochter.“

„Ja, das hab ich bereits mitgekriegt. Was für ein seltener Name – Florina?“

„Meine verstorbene Frau hat den Namen haben wollen für unsere Tochter.“ Der Almander nahm seine Joppe vom Haken. „Wir können gehen.“

„Ach so, ja.“ Das hörte sich wie Bedauern an. Aber der Almander stand schon an der Tür und konnte seine Ungeduld kaum meistern. Ihm kam dieser Besuch sehr gelegen. Eine schönere Gelegenheit, doch noch ins Wirtshaus zu kommen, hätte sich ihm gar nicht bieten können.

Notgedrungen mußte Heinz Stanzer mitgehen, der gerade angefangen hatte, sich heimisch zu fühlen in der warmen Stube – und bei dem Mädchen, das ihn mit den hellen Augen so unbefangen und neugierig ansah, daß es dem Frauenkenner direkt einen Riß gab.

Umständlich knöpfte er seinen Mantel zu und griff nach seinem Hut. Dann trat er auf Florina zu und reichte ihr die Hand. „Ich weiß nicht, ob ich auf Wiedersehen sagen darf?“

„B'hüt Gott“, antwortete Florina verwirrt. Der Fremde umspannte ihre Hand so warm und fest, drückte sie mehrmals, als erwarte er etwas mehr als nur die zwei Worte „B'hüt Gott.“ Dann riß sie ihre Hand aus der seinen.

Na schön, überlegte er kurz. Da muß ich offenbar eine andere Tour einschalten. „Vielleicht will es der Zufall, daß mich der Weg wieder einmal hier vorbeiführt.“

„Ja, hoffentlich“, rutschte es Florina heraus, und dann deckte sie schnell ihre Hand auf den Mund wie im Schreck, daß sie etwas aus ihrem Innern verraten hatte.

Heinz Stanzer schloß für einen Moment die Augen, deutete damit Einverständnis an, dann trat er hinter dem Almander her hinaus ins Freie.

Florina stand noch eine ganze Weile in der Stube, hatte die Hand auf das Herz gelegt und horchte in sich hinein. Was war denn das auf einmal, dieses wunderliche Singen und Klingen, das den ganzen Körper zu durchdringen schien? Eine ganz merkwürdige Angst, in der eine erregende Freude mitschwang, die sie bisher nicht gekannt hatte. Sie wußte noch nichts von der Liebe und wollte auch das nicht als Liebe verstanden wissen, was der Fremde nun zurückgelassen hatte, mit seinem bubenhaften Lächeln und der stummen Sprache seiner Augen. Und doch war auf einmal etwas anders geworden, so, als ob sich ein Tor geöffnet und gleich wieder geschlossen hätte, noch ehe sie sehen konnte, was sich dahinter an Wundern oder Abgründigem verbarg. Einem jungen Baum gleich war sie, an dem ein heftiger Windstoß gerüttelt hatte und der nun immer noch nachzitterte bis in das feinste Geäder seiner Blätter hinein.

Währenddessen stapften die beiden Männer dem Dorf zu. Hinter der Nebelwand war der Mond hochgestiegen und machte den Weg leichter sichtbar. Man hörte die Tschern plätschern, und einmal jaulte ein Hund von einer der Einöden herunter in langgezogenen Tönen.

„Eine saubere Tochter hast du“, brach Heinz Stanzer das Schweigen.

„Gell ja“, lachte der Almander. „Und arbeitsam ist sie. Ein braves Dirndl, da fehlt nichts.“

„Wie alt ist sie denn?“

„Achtzehn ist sie im Sommer geworden.“ Der Almander blieb stehen und schneuzte sich. „Sie ist noch recht unerfahren und leichtgläubig. Da muß ich schon ein bißl obacht geben, daß sie nicht auf den Nächstbesten 'reinfällt. Wenn die Mutter noch leben tät, die würde sich schon kümmern darum. So muß halt ich umschaun. Allerdings, es hat ja noch Zeit.“

Sie waren vor dem Wirtshaus angelangt, an dem über der Haustür ein goldener Stiefel hing. Es ging ziemlich laut zu da drinnen. Viele saßen noch vom Nachmittag hier und begrüßten den Almander mit lautem Hallo. „Bist jetzt doch noch kommen, alter Bazi? Hock dich nur gleich her zu uns, da ist grad noch ein Platzl frei für dich.“

Der Almander fühlte sich geschmeichelt und dachte bei sich: Sie mögen mich halt doch recht gern hier beim Stieflwirt. Soll die Rößlwirtin ihren Plempl nur selber saufen!

Im hintersten Winkel der großen Gaststube saßen zwei Männer an einem weißgedeckten Tisch: Heinz Stanzers Arbeitskollegen. Sie waren das Vorkommando eines Arbeitstrupps, der morgen nachfolgen sollte.

„Wo warst denn du die ganze Zeit?“, fragte einer.

Stanzer zog seinen Mantel aus, hängte ihn auf und rieb sich die Hände. „Heute hätte ich mich bald verlaufen im Nebel. Hätte ich da nicht ein Lichtl blinzeln sehen hinter einem Stubenfenster, tappte ich wahrscheinlich jetzt noch draußen umeinander.“ Er lächelte auf besondere Weise dazu.

„Ich meine, deinem Gesicht nach, war das ein Lichtl mit zwei Haxen“, feixte der andere.

„Und was für Haxerln!“, schwärmte Stanzer und strich sich über das dünne Bärtchen. „Die hat Füß wie eine Zirkusprinzessin. Und ein G'sichtl, wie man's nicht schöner malen könnt.“

„Auweh, da hat schon wieder einmal einer Feuer gefangt!“, meinte sein Kollege Ampletzer. „Wir sind noch gar nicht richtig da in dem Kaff, hat er sich schon wieder was angeblinzelt.“

„Kann ich dafür, wenn mir die Wunder grad so in die Händ' neinlaufen? Also, ich geh hinein bei der Tür, steht da ein Mädl – ich hab gemeint, mich trifft der Schlag. Habt ihr schon gegessen?“

„Nein, wir haben auf dich gewartet.“

„Aber dann schnell. Ich hab einen Appetit, sag ich euch. Fräulein, die Speisenkarte! Übrigens, der Blondschopfige da drüben am Ofentisch, der grad mit mir 'reinkommen ist, das ist ihr Vater.“

Die beiden schauten hin, dann meinte der eine: „Daß der so was Sauberes als Tochter haben soll?“

„Nicht bloß sauber, ganz was – wie soll ich denn gleich sagen – ganz was Exquisites ist die. Bei der ist alles beieinander, Rasse, Charme und ein Goscherl zum Neinbeißen.“

„Das hast bei der Traudl in Schroffing auch gesagt, heuer im Frühjahr“, erinnerte ihn Ampletzer. „Und nach sechs Wochen hast du sie auf die Seite geworfen. Für dich wär es am besten, du tätst eine heiraten, die dich fest am Bandl hat und auf Montage mitgeht, damit du nicht auf die Seite springen kannst.“

„Mach mich doch nicht schlechter, als ich bin“, lachte Stanzer. „Also, Fräulein, ich krieg eine Schweinshaxn mit Knödl, ein Schöpperl Rotwein, und wenn S' recht brav sind, dürfen S' du sagen zu mir. Heinz heiße ich. Und der da ist der Gustl, und der andere heißt Ferdl. Und Zimmernummer hab ich sieben.“

O ja, er war schon ein verflixter Kerl, dieser Stanzer Heinz! Er hatte viel gesehen und gelernt, vor allem, wie man die Mädel behandeln mußte. Hierin hatte er eine große Geschicklichkeit entwickelt; er tappte nie gleich mit beiden Füßen in ein neues Abenteuer hinein, sondern immer zuerst nur mit einem, den er dann sofort wieder zurückziehen konnte, wenn der Wind nicht ganz günstig wehte.

Hier schien ihm ein günstiger Wind zu wehen. Wie sie ihn angeschaut hatte! Mit richtigen Märchenaugen und gerade so, als ob sie noch nie mit einem Mann in Berührung gekommen wäre. Bei ihrem Aussehen war das zwar nicht anzunehmen, auch wenn der Alte gesagt hatte, sie sei noch ganz unerfahren. Stille Wasser gründen mitunter recht tief, und sie würde wahrscheinlich ihrem Herrn Vater auch nicht alles auf die Nase binden. Auf alle Fälle wollte er das Terrain zunächst einmal gründlich auskundschaften, damit es ihm nicht so ginge wie vor zwei Jahren, als ihm in der Wolfratshauser Gegend ein eifersüchtiger Bauernbursche ein Messer zwischen die Rippen rannte, daß er acht Wochen im Krankenhaus liegen mußte.

Der Alte schien übrigens recht beliebt zu sein in der Gesellschaft. Den Hut weit aus der Stirn geschoben, saß er weit über den Tisch gelehnt und schien die ganze Tischgesellschaft zu erheitern. Wie ein Horn hing ihm ein Büschel seines blonden Haares in die Stirn herein.

So blond, dachte er. Und die Tochter so rabenschwarz im Haar. Überhaupt sah das Mädl ihrem Vater in nichts gleich und hatte nichts gemein mit der polternden, fröhlichen Art des Zechers da vorne am runden Ofentisch, der gerade sagte, das Bier dürfe man nicht schlucken, man müsse nur die Zunge auf die Seite legen und den Gerstensaft in die Gurgel hinunterrinnen lassen.

*

Florina war mit der Stallarbeit fertig, hatte noch einmal Wasser in den Trog gelassen und schaute versonnen zu, wie die vier Mäuler das kristallklare Quellwasser schlürften. Dahinter stand noch ein Kälbchen, das bereits verkauft war. Der Rößlwirt sollte es morgen holen, obwohl Florina gebettelt und gefleht hatte, man möge es behalten, damit wieder Nachwuchs in den Stall käme. In der andern Ecke grunzte ein Schwein. Weihnachten sollte es geschlachtet werden, obwohl der Vater auch hier schon von einem Verkauf gesprochen hatte.

Ach ja, sie mußte lernen, in Zukunft ein bißchen dawider zu reden, wenn sich etwas zum Schaden auswuchs. Zusammenhalten und mehren muß man sein Sach, hatte die Mutter immer gesagt, deren stiller Traum es gewesen war, Boden dazuzukaufen, ein paar Rinder mehr im Stall zu haben, ein Roß für den Pflug, damit man nicht mehr ein kleiner Gütler war, der gerade von der Hand in den Mund zu leben hatte. Aber seit die Mutter tot war, hatte sich die Kurve mehr und mehr nach unten geneigt.

Sie sah nach, ob beide Stalltüren geschlossen waren, dann nahm sie die Lampe und ging hinüber in die Küche. Auf dem Herd stand der Topf mit dem Schweinernen vom Mittag, in der brodelnden Soße lagen ein paar entzweigeschnittene Knödel.

Sie streifte das Stallgewand ab und wusch sich am Ausguß. Das eiskalte Wasser empfand sie wie eine erquickende Kühlung an ihrem Körper. Hernach kämmte sie ihr Haar und sah dabei ganz anders in den Spiegel als sonst. Jede Linie ihres Gesichtes studierte sie, zog die Stirn kraus und glättete sie wieder, machte die Augen eng und wieder weit. Sie beobachtete ihr Lächeln und die Strenge der Miene bei hart geschlossenem Mund. Sie wußte gar nicht, ob man so ein Gesicht wie ihres schön nennen konnte, oder ob es ein Alltagsgesicht war. Ganz nahe ging sie an den Spiegel heran, so daß ihre Lippen den eigenen Mund berührten. Ich küsse mich selber, dachte sie und erschauerte plötzlich bei dem Gedanken, daß dieser Mund im Spiegelglas ein fremder Mund sein könnte. Der knabenhaft lockere Mund dieses Fremden, der heute abend aus dem Nebel gekommen und wieder darin verschwunden war.

Sonderbar, während der ganzen Zeit, in der sie im Stall gearbeitet hatte, war ihr kein anderer Gedanke gekommen. Immer wieder sah sie ihn vor sich und spürte den drängenden Wunsch, ihn wiederzusehen. Nun zog sie den Spenzer an und zählte die Knöpfe ab, als frage sie ein Orakel, ob dieser Fremde aus dem Nebel etwa der schicksalhafte Gefährte sei, auf den zu warten sich gelohnt habe. Hernach saß sie am Tisch und aß ganz langsam, mit einer Hand nur, in die andere hatte sie die Wange gestützt. Bin ich halt wieder allein, dachte sie bitter. Nicht einmal heute hat er daheimbleiben können. Und das Alleinsein war ihr noch nie so bitter gewesen wie heute.

Plötzlich hob sie den Kopf. Der Hund, der neben dem Herd lag, streckte sich ebenfalls und knurrte.

„Sei still, Tasso!“

Der Hund jedoch sprang mit den Vorderbeinen auf die Bank und bellte gegen die geschlossenen Fensterläden hin. Florina nahm ihn beim Halsband und beruhigte ihn.

„Ist jemand draußen?“, fragte sie.

Ein leichtes Räuspern, dann ein dunkles Lachen und die Worte: „Ich habe dich hoffentlich nicht erschreckt.“

Sofort erkannte sie seine Stimme wieder und spürte ihr Blut, wie es durch den Puls raste. Trotzdem fragte sie beinahe barsch: „Was willst denn?“

„Ach, eigentlich nichts, nur sehen wollte ich dich noch einmal. Oder wenigstens deine Stimme hören.“

„Du bist schon gut. Jetzt, mitten in der Nacht! Wie fällt dir denn so was ein?“

„Ich habe öfter so gute Einfälle, und eine innere Stimme sagt mir dann immer, daß ich dem Einfall nachgeben soll. Im übrigen, so spät ist es noch nicht. Gerade hat es neun Uhr geschlagen.“

Florina schwieg, der Hund knurrte, aber trotzdem konnte sie ihr eigenes Herz schlagen hören. Merkwürdig war das. Da draußen stand ein fremder Mensch und sagte, daß er sie noch einmal habe sehen wollen. Das war beglückend und verwirrend zugleich. Meinte er vielleicht gar, daß sie ihn hereinlassen sollte?

Ja, genau das meinte er, denn er sagte jetzt: „Hat denn das liebe Mädl da drinnen ein Herz aus Stein, daß es mich armen Kerl da heraußen in Nebel und Kälte stehenlassen will?“

Nochmals überlegte sie, und es war ihr dabei, als hänge von dieser Entscheidung ihr ganzes Leben ab. „Wart“, sagte sie dann entschlossen, „ich mach dir auf.“

Den Hund verwies sie in seinen Ofenwinkel, dann nahm sie die Lampe und ging in den Flur hinaus. Und auf einmal kroch sie eine leise Angst an. War es nicht leichtsinnig, einen völlig fremden Menschen hereinzulassen? Wer weiß, was er im Schilde führte. Man las in letzter Zeit so viel von Gewalttätigkeiten. Aber dann siegte in ihr das Bewußtsein ihrer Kraft; und der Hund war ja auch da.

Der hölzerne Riegel flog zurück. Florina hob die Lampe und leuchtete damit in das Gesicht vor sich. Stumm und groß stand er da, um seinen Mund das bubenhafte Lächeln, in den Augen ein demütiges Bitten.

„Mein Gott“, flüsterte er. „Wie schön du bist!“

Florina trat einen Schritt zurück, ließ ihn herein, öffnete die Stubentür vor ihm, stellte die Lampe auf den Tisch und zündete die Hängelampe mit dem gelblichen Milchglasschirm an. Dann drehte sie sich um, sah ihn an und sagte in ihrer burschikosen Art: „Kimmt der heut noch daher!“

„Ja, entschuldige, ich mußte ganz einfach.“

„Entschuldigen brauchst du dich deswegen nicht. Aber setz dich doch hin.“ Sie deutete auf das Lederkanapee und löschte dann die zweite Lampe aus. In dem Augenblick wurde die Türklinke niedergedrückt, der Hund kam herein, knurrte und fletschte die Zähne.

Unbehaglich bewegte Stanzer die Schultern. „Muß der da sein?“

„Das weiß ich noch nicht. Wenn du frech werden willst, ist es besser, er ist da. Kusch dich, Tasso!“

Der Hund legte sich gehorsam neben den Ofen und bettete den Kopf auf die Vorderpfoten.

„Du bist schon gut“, lächelte Stanzer. „Seh ich denn so aus, als ob ich frech werden möchte?“

„Das grad nicht, aber man kann nie wissen. Ich kenn dich ja kaum.“

„Wenn du Wert drauf legst, Florina, ich bin gern bereit, mich ganz genau kennenlernen zu lassen.“

Er lächelte, weil sie nun auch auf dem Kanapee Platz nahm, aber ganz weit weg von ihm in der äußersten Ecke. Und immer hatte der Hund seine Augen auf ihn gerichtet.

Das kann ja nett werden!, dachte Heinz Stanzer. Dieses Hundsvieh läßt mich kaum aus den Augen. Dann langte er in seine Joppentasche und zog eine Zigarettenschachtel hervor. „Darf ich rauchen, Florina?“

„Du bist schon gut. Da brauchst doch mich nicht um Erlaubnis fragen.“

„Hast du eine Ahnung, um was man im Leben alles bitten muß!“ Er stieß den Rauch schwungvoll gegen die Decke. „Sag einmal, Florina, du bist wohl über St. Ambros noch nicht weit hinausgekommen?“

„Zweimal in die Kreisstadt, mit der Mutter noch.“

„Ach so. Soweit ich mich erinnere, ist dort auch die Welt noch mit Brettern vernagelt. In unsere Hauptstadt bist du noch nie gekommen?“

„Wenn ich einundzwanzig Jahre alt werd', darf ich hinfahren, hat mir d'Mutter immer versprochen. Aber jetzt lebt sie ja nicht mehr.“

„Ja, ich weiß.“ Er machte ein bekümmertes Gesicht. „Ich kann es dir nachfühlen. Hab auch meine Mutter schon mit fünf Jahren verloren.“

„Ach, du armer Kerl!“, sagte sie, Mitleid und Erbarmen in der Stimme.

Aha, dachte er, auf diese Tour spricht sie an. Er lehnte sich weit zurück und legte ein Bein über das andere. Er sprach von einer Stiefmutter und von einer lieblosen, harten Kindheit.

„Steine waren mein Spielzeug“, sagte er, „und mein bester Freund war der Hunger.“ Er erzählte von einem düsteren Hinterhof, in den die Sonne höchstens zwei Stunden am Tag hineinschien, und daß er im Winter keinen Mantel und keine festen Schuhe gehabt habe. Und weil er um die Wirkung seiner Stimme wußte, legte er noch mehr Schmelz und Wehmut hinein, sprach langsam, wie von weither, aus der versunkenen Welt seiner Kindheit.

Florina schaute ihn immerzu an und spürte, wie ihr Herz sich anfüllte mit Erbarmen bis zum Rand. Als er dann einmal kurz schwieg, drängte sich ihr die Frage auf: „Aber jetzt geht's dir doch gut?“

Ein brunnentiefer Seufzer und eine Müdigkeit im Blick, dem nichts verborgen geblieben war, womit Gott die Menschen heimzusuchen pflegte.

„Ja, heute geht es mir soweit recht gut“, gab er zu. „Aber nur, weil ich mich aus eigener Kraft heraufgearbeitet habe.“

„Was bist denn jetzt?“

Führer einer Arbeitsgruppe, hätte er sagen müssen. Aber das klang nicht gut. Obermonteur klang besser, am liebsten aber hätte er Ingenieur gesagt.

„Ich habe neun Mann unter mir“, ließ er sie wissen. „Hab da schon eine ziemlich große Verantwortung. Aber es füllt mich aus.“ Er rutschte ein bißchen näher an sie heran. „Das überbrückt meine innere Einsamkeit. Glaub nur nicht, daß es ein herrliches Leben ist, immer unterwegs auf Montage zu sein, keinen häuslichen Herd, keine Hand, die streichelt, kein Herz, das mitfühlt und an dem man sich ausrasten könnte. Manchmal ist meine Einsamkeit und Verlassenheit so stark, daß ich mich ernstlich frage, wo denn der Sinn des Lebens liegt. Oder kannst du mir sagen, worin der Sinn des Lebens liegt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß noch nicht viel vom Leben.“

„Sei froh, Florina. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, daß du die Schattenseiten des Lebens nie kennenlernst.“ Er rutschte wieder ein bißchen näher und kam ganz dicht an sie heran. Der Hund knurrte sofort, aber Florinas Stimme zwang ihn zur Ruhe. „Sei still, Tasso!“

Jetzt konnte Stanzer, der sich in solchen Situationen bestens auskannte, bereits wagen, ihre Hand zu fassen, die auf der Innenseite ganz rauh war. Seine Finger legten sich um ihr Handgelenk, so daß er ihren Puls spürte. Ganz hart und schnell schlug er, wie ein kleines Hammerwerk, das von einem viel zu starken Strom getrieben wurde.

„Was du für schöne Hände hast, Florina!“

Das war nicht einmal gelogen. Florina hatte tatsächlich lange, schlanke Hände, mit stumpfen Fingernägeln allerdings, weil sie immer daran kaute, wenn sie erregt war.

„Was soll denn an meinen Händen schon Schönes sein?“, fragte sie. „Arbeitshände sind es halt.“

Ganz zärtlich streichelte er ihre Hand, und so nahe war er herangerutscht, daß er die Wärme ihres Körpers spürte. In ihrem Blick leuchtete es warm und voller Güte. Kaum vermochte sie dem Drang zu widerstehen, auch seine Hand zu streicheln. Ja, sie spürte die Kraft in sich, ihn aus seiner Verlassenheit aufzurichten, sein Bubenlächeln wachzurufen und ihm Wärme zu schenken, die er so sehr vermißte.

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