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Es knistert. Aus Julikas Lunge heraus. Ganz still ist es in dem großen Haus, in dem die junge Hotelangestellte mit ihrem Mann Benjamin lebt. Und wieder hört sie dieses Knistern, bei jedem Atemzug. Noch lange liegt Julika in dieser Nacht und vielen weiteren wach, bis sie sich endlich, nach zusätzlichen Symptomen wie erhöhter Infektanfälligkeit und einem schmerzhaften Husten, zu ihrem Hausarzt Dr. Braun begibt. Doch der tut ihre Beschwerden nur lapidar ab und verschreibt ein Asthmaspray. Als Julika kurz darauf beim Sport einen so schlimmen Hustenanfall bekommt, dass sie das Training abbrechen muss, hat ihre Freundin Bea genug: "Ich mache dir jetzt einen Termin bei meinem Hausarzt - Doktor Frank!" Was dieser nach einer eingehenden Untersuchung feststellt, reißt Julika zunächst den Boden unter den Füßen weg ...
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhalt
Unbekannte Ursache
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Impressum
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
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Julika leidet unter einer seltenen Entzündungsreaktion des Körpers
Es knistert. Aus Julikas Lunge heraus. Ganz still ist es in dem großen Haus, in dem die junge Hotelangestellte mit ihrem Mann Benjamin lebt. Und wieder hört sie dieses Knistern, bei jedem Atemzug. Noch lange liegt Julika in dieser Nacht und vielen weiteren wach, bis sie sich endlich, nach zusätzlichen Symptomen wie erhöhter Infektanfälligkeit und einem schmerzhaften Husten, zu ihrem Hausarzt Dr. Braun begibt. Doch der tut ihre Beschwerden nur lapidar ab und verschreibt ein Asthmaspray. Als Julika kurz darauf beim Sport einen so schlimmen Hustenanfall bekommt, dass sie das Training abbrechen muss, hat ihre Freundin Bea genug: »Ich mache dir jetzt einen Termin bei meinem Hausarzt – Doktor Frank!« Was dieser nach einer eingehenden Untersuchung feststellt, reißt Julika zunächst den Boden unter den Füßen weg ...
Ein Knistern. Von draußen drang das Zirpen der Grillen herein. Nur noch einzelne Nachtschwärmer unterhielten den Garten mit ihren Rufen. Das Knistern kam von Julika.
Mit offenen Augen starrte sie an die Decke und versuchte, Flecken auf dem reinen Weiß auszumachen. Es misslang ihr. Selbst im Silberlicht des zunehmenden Monds wollten sich keine Makel zeigen. Alles war perfekt.
Ein Brummen drang von ihrer rechten Seite an ihr Ohr. Benjamins Körper berührte ihren. Es war nur sein Ellbogen. Trotzdem hatte sie das Bedürfnis, ein Stück wegzurutschen.
Julika atmete durch die Nase ein und wieder aus. Dann atmete sie durch den Mund ein und lauschte dem Knistern, das aus ihrem Rachen kroch. Sie wiederholte den Vorgang. Atmete lange und tief ein und aus. Es klang, als würden kleine Papierfetzen in ihrer Lunge herumgewirbelt.
Ihr Kopf drehte sich zur Seite, um Ben beim Schlafen zuzusehen. Er lag auf dem Bauch, sein Mund war leicht geöffnet. Seine Wimpern bildeten einen dunklen Kranz über seinen geschlossenen Augen. Würde er seine Augen öffnen, sähe sie das stechende Blau darin.
Auch nach sieben Jahren Ehe bewunderte sie noch immer sein Aussehen. Seine Haare waren millimeterkurz geschnitten, um zu verstecken, dass er Locken hatte. Seine Haut war gebräunt. Sein Gesicht hatte noch immer dieses jugendliche Etwas, obwohl er bereits achtunddreißig Jahre alt war. So alt wie sie. Doch wenn sie sich selbst betrachtete, fiel ihr Urteil kritischer aus.
Julika atmete ein und aus. Knistern. In ihrer Lunge zündelte etwas.
Einen kurzen Moment war sie versucht, Bens Gesicht mit ihrer Hand zu berühren. Aber als sie ihre Hand anhob, hielt sie in der Luft inne. Eine unsichtbare Wand war zwischen ihnen aufgezogen worden. Die Bauarbeiten dazu hatten schon vor einigen Jahren begonnen. Leise, schleichend, sodass sie sie anfangs kaum bemerkt hatten. Julika hatte sich gesagt, dass es irgendwann schon wieder besser werden würde, und sich keine Sorgen gemacht. Mittlerweile war die Wand so hoch, dass es keine Leiter gab, um sie zu überwinden.
Ben atmete tief ein. Sein Oberkörper hob sich. Instinktiv rückte Julika ein Stück von ihm ab. Sein Ellbogen an ihrem Arm fühlte sich wie ein Störfaktor an, obwohl sie auch ohne diese minimale Berührung nicht einschlafen konnte.
Hätte sie den vorigen Abend beschreiben müssen, wäre ihr das Wort »Edelstahl« eingefallen. Einmal hatte sie eine Arbeitskollegin zu Hause besucht, die eine Edelstahlküche besaß. Die Küche war ordentlich, sauber, ein wenig elegant, aber kalt. Nie hätte Julika sich vorstellen können, darin zu kochen. Dieser Abend war ihr genauso erschienen. Sie hatten gegessen und sich über ihren Tag ausgetauscht. Ben hatte von seiner Arbeit in der Kanzlei erzählt, oberflächlich. Nie ging er in die Tiefe. Julika hatte von ihrer Arbeit am Empfang im Hotel erzählt. Anekdoten, nie erlebte sie viel.
Wenn sie nun daran dachte, wurde ihr bewusst, dass sich ihre Blicke stets auf ihren Tellern befunden hatten.
Danach hatten sie das Geschirr in die Spülmaschine eingeräumt, und Ben hatte sich von hinten an sie gedrückt. Sie kannte diese Geste. Es war seine Art, zu sagen, dass er Intimität von ihr wollte. Mittlerweile wusste sie nur nicht mehr, ob er es vielmehr verlangte.
Julika hatte so getan, als hätte sie es genossen. Seine Hände auf ihrem Bauch. Sein Atem in ihrem Nacken. Dabei genoss sie es schon lange nicht mehr.
»Bist du so weit?«, hatte Ben sie gefragt, während er kurze Zeit später auf ihr gelegen und ihre Schulter geküsst hatte.
Ein Nicken hatte genügt, und er war in sie eingedrungen.
Julika hatte sich angewöhnt, die Stöße zu zählen, während sie geistesabwesend über seinen Rücken streichelte. Ben schien es immer weniger auszumachen, dass sie nur noch dalag.
Sechzehn. So weit hatte sie an diesem Abend gezählt, bis er gekommen war. Danach hatte er ihr einen Kuss auf die Wange gegeben, nicht auf den Mund. Er hatte sich umgedreht und war eingeschlafen.
Knistern. Bei jedem Atemzug. Julika schloss die Augen. Sie wünschte sich, ein Loch in der Mauer zu entdecken. Benjamin fehlte ihr, obwohl er direkt neben ihr lag.
Sein Schlaf wirkte friedlich. Vielleicht war nur sie es, die von einer hohen Mauer umgeben war?
***
»Kleine Pause«, rief Stefan Frank und blieb stehen.
Schweiß lief von seiner Stirn. Um seinen Rücken zu entlasten, beugte er sich vor, sodass ihm einzelne Strähnen seines Haars in die Stirn fielen.
»Sag mal, mein Freund, wie lange ist dein letzter Lauf schon her?«, amüsierte sich Ulrich Waldner, der vorgelaufen war und nun gemächlich zu Stefan zurücktrabte.
Obwohl beide Männer etwa im selben Alter waren, schien der Eigentümer der Waldner-Klinik fitter zu sein als sein Kollege aus Grünwald.
»Du hast heimlich trainiert«, warf Stefan ihm vor und richtete sich wieder auf.
Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Trotz der späten Stunde hatte die Sonne noch genügend Kraft, um die Bewohner Münchens ins Schwitzen zu bringen.
»Erwischt.« Ulrich lachte auf und schlug seinem Freund leicht auf den Oberarm, als Ermunterung, auch noch die letzten Kilometer in Angriff zu nehmen.
Fast schon schämte sich Stefan Frank für seine mangelnde Ausdauer. Noch vor wenigen Stunden hätte er sich damit entschuldigt, dass er als Allgemeinmediziner und Geburtshelfer mit eigener Praxis keine Zeit für Sport hätte. Aber wenn er nun seinen Freund und Kollegen betrachtete, musste er sich eingestehen, dass diese Ausrede ihre Geltung verlor. Denn Dr. Ulrich Waldner besaß nicht nur eine Privatklinik, sondern arbeitete auch noch als Chirurg in Vollzeit. Vielleicht sollte Stefan die abendlichen Spaziergänge mit Alexa zu einem regelmäßigen Lauf ausweiten.
»Verrate mir mal dein Geheimnis«, bat er und kam nun langsam wieder zu Atem.
Um die Muskeln nicht erkalten zu lassen, was bei den Temperaturen vermutlich unmöglich war, setzten sich die beiden Männer in Bewegung und gingen in einem angenehmen Tempo nebeneinander her.
»Ach, weißt du, als Mediziner bekommt man so einiges mit. Aber das weißt du doch selbst«, begann Ulrich. »Habe ich dir schon mal von dem Patienten erzählt, dessen Herz einfach aufgehört hat, zu schlagen? Er war genauso alt wie ich, gerade mal achtundvierzig. Und weißt du, was sein Beruf war?«
Stefan schüttelte den Kopf, betrachtete aber nun das Gesicht seines Freundes, das erstaunlich ernst geworden war.
»Chirurg. Der Mann hätte ich sein können.« Ulrich hielt inne, sah vor sich in die Ferne.
Der Grünwalder Forst wirkte im Licht der untergehenden Augustsonne wie verzaubert. Das Grün der Büsche und Bäume wurde in Orange getaucht. Etliche Spaziergänger waren noch unterwegs, um den Tag an diesem besonderen Fleck ausklingen zu lassen.
Die beiden Freunde kamen an einer Bank vorbei, auf der es sich ein Paar gemütlich gemacht hatte. Der Arm des Mannes lag auf den Schultern seiner Begleiterin. Gemeinsam schauten sie der Sonne beim Untergehen zu.
Stefan Frank wandte den Blick ab, um den beiden ein wenig Privatsphäre zu gönnen.
»Ich verstehe, was du meinst. Und es sind ja nicht nur die Todesfälle, die betroffen machen. Es sind ja auch die etlichen Krankheitsfälle.« Der Arzt erinnerte sich an jemanden, den er schon behandelt hatte, als dieser noch Student gewesen war. »Neulich wurde ich zu einem Patienten gerufen, der einen Schlaganfall erlitten hatte. Einunddreißig Jahre alt. Hat gerade erst geheiratet. Seine Frau ist im siebten Monat schwanger.«
»Das macht Angst, oder?«, erwiderte Ulrich.
Seine Nachdenklichkeit schien den Mann so im Griff zu haben, dass er keine Anstalten mehr machte, die letzten Kilometer bis zum Ziel zu joggen.
Stefan überlegte. »Ich weiß gar nicht, ob es Angst ist. In erster Linie empfand ich für das junge Paar mit. Aber dann, wenn man allein mit sich und seinen Gedanken ist, fragt man sich schon, ob man das Leben nicht vielleicht doch ein wenig zu selbstverständlich nimmt.«
Ulrich nickte. »Mir hat es auf jeden Fall noch mal vor Augen gehalten, dass ich etwas tun will. Ich will nicht mein Leben lang arbeiten und mit jedem Jahr mehr die Belastungen des Alltags spüren. Ich will mich noch lange gesund fühlen.«
Stefan blieb stehen und holte noch einmal tief Luft.
»Du hast recht. Es gibt schon genügend Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Aber wenn man das Risiko von Krankheiten auch nur ein bisschen verringern kann, sollte man es auch tun.«
Triumphierend klopfte Ulrich ihm auf die Schulter. Sein Lächeln war zu breit, um als ungefährlich eingestuft zu werden.
»Siehst du, mein Freund. Und deshalb jage ich dich jetzt auch noch die letzten Kilometer durch den Wald.«
Ehe Stefan reagieren konnte, sprintete Ulrich in einer Geschwindigkeit los, die er selbst niemals würde halten können.
»Gib dir jetzt keine Blöße«, murmelte er zu sich selbst.
***
»Guten Morgen«, begrüßte Julika ihren Kollegen.
Routiniert ging sie um den Empfangstresen herum und ließ den Blick über ihren Arbeitsplatz schweifen. Alles war ordentlich und sauber. Nicht einmal die Tastatur des Computers wies Gebrauchsspuren auf.
Mario stand in zwei Metern Entfernung. Sein Lächeln war unterschwellig. Es wies immer etwas Verschlagenes auf.
Anfangs war es nicht einfach gewesen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er war verschlossen, gleichzeitig aber verhielt er sich absolut ambivalent. Mal war er freundlich, dann wiederum beachtete er sie kaum. Erst mit der Zeit hatte Julika gelernt, mit Mario umzugehen. Immerhin verrichtete er seine Arbeit tadellos.
»Hattest du einen schönen Urlaub?«, fragte er mit seiner dunklen Stimme, ohne sie dabei anzusehen.
Stattdessen sortierte er die Flyer auf dem Tresen neu.
Julika setzte ihre Handtasche ab und verstaute sie in dem kleinen Fach unter dem Arbeitstisch.
»Oh ja, diesmal habe ich mal etwas ganz Neues ausprobiert«, antwortete sie in einem ironischen Ton.
Nun glitt sein Blick auf ihr Gesicht. Seine hochgezogenen Augenbrauen stellten wortlos die Frage, die unweigerlich kommen musste.
Julika zog die Lippen kraus, ehe sie antwortete: »Ich habe zwei Wochen lang krank im Bett gelegen.«
Marios Mundwinkel verzog sich, sodass ein schiefes Grinsen entstand.
»Und was hast du in der dritten Woche gemacht?«
»Da ging es mir schon viel besser«, erklärte sie aufgesetzt fröhlich. »Da konnte ich schon auf der Couch liegen.«
»Ein echter Abenteuerurlaub also.«
Am liebsten hätte Julika ihn in die Seite gestoßen. Doch davon abgesehen, dass nun Gäste in die Lobby traten, hätte sie sich zu so viel Nähe bei ihm nicht getraut.
Mario wandte sich den Gästen zu, sodass seine Kollegin in Ruhe ankommen konnte. Drei Wochen lang war Julika zu Hause geblieben. Den Urlaub hatten sie verschieben müssen. Wenigstens hatte die Reiserücktrittsversicherung gegriffen. Ben hatte entschieden, während dieser Zeit zu arbeiten. Er hatte es damit begründet, dass er dann später im Jahr noch mal Urlaub nehmen konnte, um mit ihr zu verreisen.
Julika atmete durch. Die Umgebung war laut, da das Hotel direkt an der Maximilianstraße lag. Daher hörte sie das Knistern aus ihrer Brust nicht. Vielleicht tauchte es auch nur dann auf, wenn sie lag.
Ihr Blick wanderte von dem Empfangstresen aus Mahagoni über den kunstvoll gefliesten Boden hoch über die Säulen zu dem schweren Kronleuchter, der selbst an Sonnentagen eingeschaltet war. Manchmal verachtete sie den Prunk und die Verschwendung, die damit einherging. Manchmal aber auch, so wie heute, fühlte sich das Hotel wie Heimkommen an.
Von der Seite betrachtete sie ihren Kollegen. Gleichzeitig sah er zu ihr hinüber. Eine Spannung lag zwischen ihnen, die es ihr nicht erlaubte, sich abzuwenden. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich freute, Mario wiederzusehen. Zwar hatte sie ihn in den zurückliegenden Wochen nicht vermisst. Aber jetzt, wo sie mit ihm hinter dem Empfang stand, fühlte sich ihre Verbindung fast wie etwas an, das des Vermissens würdig war.
***
Julika lenkte den Wagen in die Garage. Früher hatte sie nicht einmal ein Auto besessen. Während ihrer Ausbildung zur Hotelfachfrau hatte sie auch keines gebraucht, da sie im Hotel gewohnt hatte.
Während sie nun ausstieg und die Garage durch das Tor verließ, um noch einmal frische Luft atmen zu können, glaubte sie kaum, in dieser Gegend zu leben. Ihrem Grundstück gegenüber stand eine Villa – ein gewöhnliches Gebäude für Grünwald, wie ihr eigenes es auch war. Hier waren die Häuser groß und die Gärten noch größer. Etliche Eigentümer besaßen Pools – richtige Pools. Eingebaut. In sämtlichen Formen. Meistens mit Beleuchtung. Julika hatte sich selbst während der vielen Grillnachmittage bei den Nachbarn überzeugen können.
Die Straße lag ruhig da. Nicht einmal ein Auto war zu hören. Aufgrund der Ferien war im Hotel viel zu tun gewesen. Die meisten Besucher waren Touristen gewesen, aber auch einige Geschäftsleute hatten sich darunter befunden. Da in der Bar daher mehr Betrieb geherrscht hatte als außerhalb der Saison, hatte sie noch zwei Stunden ausgeholfen. Manchmal mochte sie den Perspektivwechsel und die Einblicke in andere Arbeitsbereiche, zumal sie seit Jahren am Empfang stand.
»Servus, Juli, heute so spät?«
Julika hob ihren Blick und sah ihre Nachbarin auf sich zukommen. Heike, die etwa Mitte sechzig war, trug wie immer einen Kittel, darunter einen Feinstrickpullover, seniorenfein mit Strasssteinen am Ausschnitt.
»Heute war mein erster Arbeitstag«, erklärte sich Julika, die sich immer zu transparent fühlte, wenn sie ihrer Nachbarin gegenüberstand.
Heike besaß die Fähigkeit, ihre Mitmenschen zu durchschauen und vor allem, die Neuigkeiten detailliert an Dritte weiterzugeben.
»Immer die Karriere im Kopf«, amüsierte sie sich über Julika und fuhr sich mit den Fingern durch die kurze Dauerwelle.
Julika suchte nach einer harmlosen Antwort.
»Ja, Karriere«, wiederholte sie lahm und dachte sich, dass es wohl kaum eine Karriere war, jahrelang am Empfang eines Hotels zu stehen.
Manchmal glaubte sie, dass sie den Job nur hatte, weil sie am unauffälligsten war. Sie äußerte nie Wünsche bezüglich einer Gehaltserhöhung oder einer Beförderung. Stattdessen sah sie dabei zu, wie Leute, die nach ihr gekommen waren, mittlerweile leitende Positionen innehatten. Es störte sie nicht. Mit den Jahren war Julika häuslich geworden. Ihr Fokus lag nicht auf ihrer Arbeit. Das Leben lief seinen gewohnten Gang. Und wieso sollte sie Aufregung riskieren, wenn sich alle darin wohlfühlten?
»Na, dann will ich mal schnell nach den Rouladen schauen«, sagte Heike und nickte in Richtung Villa. »Robert wollte heute unbedingt Rouladen.«
Noch so etwas, das ihre Nachbarin ausmachte. Es gab täglich Festessen. Etwas, das Juli nicht einmal an Festtagen hinbekam.
Heike winkte aufgeregt und war schon über die Straße verschwunden, sodass Julika aufatmen konnte.
Der Schlüssel war kaum herumgedreht, da spürte sie bereits, dass das Haus leer war.
»Ben?«, rief sie trotzdem in den Flur.
Sie erhielt keine Antwort.
Drinnen hängte sie ihre Handtasche an die Garderobe. Ihre Schritte hallten auf dem gefliesten Boden. Das Haus kam ihr dann immer zu groß für zwei Personen vor.
Sie warf einen Blick in den Wohnbereich. Alles war unangetastet. Also lief sie zurück in den Flur, um ihr Smartphone aus der Handtasche zu holen. Der Bildschirm blinkte auf, als sie die Seitentaste drückte. Ben hatte geschrieben. Eine leichte Welle der Enttäuschung schwamm durch ihre Brust.
Bin mit Jakob beim Squash. Warte nicht auf mich. B.
Irgendwann im Laufe ihrer Ehe waren ihre Worte füreinander knapper geworden. Angefangen hatte es mit den geschriebenen Worten. Mittlerweile schien es ihnen auch Schwierigkeiten zu bereiten, wenn sie sich persönlich unterhielten.
Julika verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen tippte sie auf das Daumen-hoch-Zeichen, um ihm zu bedeuten, dass sie seine Nachricht gelesen hatte.
In der Küche belegte sie ein Baguette mit Tomaten und Mozzarella und schnitt es in fünf Stücke. Eines davon legte sie auf einen Kuchenteller. Der Rest war für Ben. Folie war um seinen Teller herumgewickelt, damit das Essen im Kühlschrank frisch blieb. Zurzeit war das Julikas einzige Möglichkeit, ihm ihre Zuneigung zu zeigen. Winzige Gesten im Haushalt. Hier ein belegtes Baguette. Da der Kuchen, den er so gerne mochte, weil seine Mutter ihn stets zu seinem Geburtstag gebacken hatte. Ihre Ehe war eine Art höfliches Miteinander mit kleinen Zugeständnissen. Ben hatte ihr einmal Blumen mitgebracht. Gladiolen. Er hatte sie ihr nicht mit einem Kuss überreicht, sondern sie auf den Esstisch gelegt mit den Worten, dass sie Gladiolen doch so sehr mochte. Gesten ohne Blickkontakt. Aber trotzdem Gesten.