Dr. Stefan Frank Großband 2 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 2 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!


Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:

Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!



Dieser Sammelband enthält die Folgen 2210 bis 2219 und umfasst ca. 640 Taschenbuchseiten.

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Seitenzahl: 1193

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Impressum

BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgaben: Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv von © shutterstock/wavebreakmedia ISBN 978-3-7325-6916-8

Stefan Frank

Dr. Stefan Frank Großband 2 - Arztroman

Inhalt

Stefan FrankDr. Stefan Frank - Folge 2210Melanie ist das hübscheste und intelligenteste Kind auf der ganzen Welt, das versichert ihr ihre Mama Barbara jeden Tag. Doch nun soll plötzlich alles anders werden. Seit Dr. Frank gesagt hat, dass Melanie bald ein Geschwisterchen bekommen wird, ist ihre Mama ganz aus dem Häuschen. Auf einmal ist nur noch die Rede von diesem Jungen. Ihre Mama ist sich ganz sicher: Der kleine Bruder wird alles noch viel toller machen als Melanie. Das kann die Fünfjährige jedoch nicht hinnehmen. Was soll denn dann aus ihr werden? Als sie im Kindergarten das Märchen von Hänsel und Gretel kennenlernt, nimmt in ihrem Kopf langsam ein Plan Gestalt an: Sobald das Baby auf der Welt ist, wird sie es in den Wald bringen. Von dort aus findet es bestimmt nie wieder nach Hause, und Melanie hat ihre Mama wieder ganz für sich alleine...Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2211Was für eine wundervolle Frau, denkt Simon Bethmann gleich beim ersten Mal, als ihm die hübsche Kostümbildnerin Sandra Albertz auf Korsika begegnet. Doch leider findet das auch sein Freund Tobias Kirchhoff, und der hat wesentlich mehr Erfahrung darin, Frauenherzen zu erobern - nur dass ihn das Herz in der Regel gar nicht interessiert. Es kommt, wie es kommen muss: Tobias erobert Sandra und lässt sie wenige Wochen später wieder fallen, um sich der nächsten Frau zu widmen. Als sich die beiden Cliquen im November beim Skilaufen in den Alpen erneut begegnen, ist Sandra zu sehr mit ihrem Groll auf Tobias beschäftigt. Wieder bemerkt sie nicht den stillen und aufmerksamen Simon, der bereit wäre, alles für sie zu tun. Doch dann kommt es zu einem tragischen Unfall, der von einer Sekunde auf die andere alles verändert ...Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2212Als Stefan Frank seine Kollegin Sarah Weinhäuser nach vielen Jahren zum ersten Mal wiedersieht, erschrickt er zutiefst! Die junge Kinderchirurgin ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Tiefe Sorgenfalten haben sich in ihr Gesicht eingegraben, und sie ist abgemagert bis auf die Knochen. Was mag ihr nur Schreckliches widerfahren sein? Stockend und unter Tränen erzählt sie dem Grünwalder Arzt schließlich, was der Grund für ihre Veränderung ist: Sarahs Ehemann hat sich vor ihren Augen das Leben genommen! Und nicht nur das: Auf seiner Beerdigung musste sie dann erfahren, dass er sie über Jahre hinweg mit anderen Frauen betrogen hat. Als sie ihren Bericht beendet hat, stellt sich Dr. Frank nur eine Frage: Kann ein Mensch, der so viel Leid ertragen musste, je wieder lernen, wie man lacht und liebt?Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2213Seitdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, ist für die hübsche Larissa nichts mehr so, wie es einmal war. Seit fünf Jahren trägt sie nun schon allein die Verantwortung für sich und ihre flippige Schwester Sina. Kein Wunder, dass ihr da Sicherheit über alles geht. Deshalb arbeitet sie in der Grünwalder Stadtverwaltung statt Biologie zu studieren, und deshalb ist sie mit dem sehr seriösen, wenn auch etwas langweiligen Holger Loh zusammen. Umso mehr trifft es sie, als er ihr eines Tages aus heiterem Himmel erklärt, dass eine andere Frau ein Kind von ihm erwartet. Auf einmal scheint das stabile Gerüst, auf dem Larissa ihr Leben aufgebaut hat, zu wanken. Als Sina ihr dann auch noch erklärt, dass sie in den nächsten Monaten in Florenz studieren und während dieser Zeit ein fremder Mann in ihrem Zimmer wohnen wird, scheint Larissas Welt endgültig aus den Fugen zu geraten. Doch wer weiß, vielleicht bringt dieser Fremde ja auch endlich wieder etwas Licht in ihr Leben ...Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2214Als die hübsche Ina im Skiurlaub der Liebe begegnete, "Ich hoffe ja, dass wir die drei Männer von der Talstation wieder treffen", sagte Dora mit einem verschwörerischen Lächeln. "Ich nehme den großen Blonden mit den lachenden grünen Augen, und für dich habe ich den gut gebauten Schwarzhaarigen mit dem markanten Gesicht vorgesehen." - "Mein Dorchen ist wie immer auf Männersuche! Es wird wirklich Zeit, dass dir mal der Richtige über den Weg läuft. Was ist denn mit Nummer drei?", fragte Ina belustigt. "Für wen hast du den vorgesehen?" - "Nun, der sieht auch ganz gut aus. Er hat braune lockige Haare, aber darauf stehen wir ja beide nicht so, oder?" Ina muss der Freundin recht geben, und so entscheidet sie sich für den attraktiven Mann mit dem schwarzen Haar - ein fataler Fehler, denn Torsten ist nur auf eins aus: Inas Vermögen!Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2215Was sich die kleine Lydia mehr als alles andere wünschte. Seit ihre Lehrerin Almut Rainer nicht mehr da ist, macht die Schule gar keinen Spaß mehr, denkt die kleine Lydia wieder einmal und seufzt herzerweichend. Die neue, Frau Magister Anna Carola Laimer-Finkel, kann sie nicht leiden - niemand kann das. Denn Frau Laimer-Finkel ist furchtbar streng, und den komischen Namen kann sich Lydia auch nicht merken. Frau Rainer hingegen hatte alle ihre Schüler lieb. "Mein Herz geht auf, wenn ich euch endlich wiedersehe", hat sie immer zur Begrüßung gesagt. Kurz vor Weihnachten schließlich hat Lydia eine hervorragende Idee: Sie schreibt einen Brief an den Weihnachtsmann und bittet ihn darum, dass er ihr ihre alte Lehrerin wieder zurückbringt. Dass sie mit diesem Brief eine ganze Kette von wundervollen Ereignissen auslöst, kann sie in dem Moment natürlich selbst noch nicht ahnen ...Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2216Warum ein böses Gerücht Schwester Marlene fast das Leben gekostet hätte. Zu gerne würde Sylvia von Anger den attraktiven Unfallchirurgen Dr. Molden für sich gewinnen! Doch wie es aussieht, hat der nur Augen für Schwester Marlene. Fieberhaft überlegt die Patientin, wie sie ihn davon abbringen kann, einer Pflegerin hinterherzulaufen, die ohnehin kein Interesse an ihm zeigt - und plötzlich hat sie eine Idee. Wenige Tage später trifft Mario Molden die hübsche Marlene auf der Straße. Sie wechseln gerade höflich ein paar Worte, als plötzlich ein Sportwagen heranrast. Sich selbst kann der Chirurg noch in Sicherheit bringen, nicht jedoch Schwester Marlene. Der Wagen erfasst sie und schleudert sie zu Boden. Zu seinem Erschrecken sieht Dr. Molden, wie das Blut aus ihrer Halsschlagader sprudelt. Nein, da kann er nicht helfen, unmöglich! Schließlich hat ihm Sylvia von Anger erst kürzlich erzählt, dass sich Schwester Marlene mit dem HIV-Virus infiziert hat...Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2217Doch rettet die Reise wirklich Lisas Ehe? Die hübsche Restauratorin Lisa Sommerburg versteht die Welt nicht mehr. Was ist nur los mit ihrem Mann? Früher haben sie und Adrian sich immer alles erzählt, sie haben gelacht und viel miteinander unternommen, sind gemeinsam um die halbe Welt gereist. Doch seit einigen Monaten distanziert sich Adrian mehr und mehr von ihr. Er arbeitet lang, spricht wenig und geht ihr aus dem Weg, wo er nur kann. Lisa hat keine Ahnung, warum Adrian das tut, aber eins weiß sie nach wie vor ganz sicher: Sie liebt ihren Mann! Wie sehr wünscht sie sich, dass alles wieder wie früher wird, dass sie einander wieder nah sind, dass sie wieder gemeinsam reisen - am liebsten nach Paris, in die Stadt der Liebe...Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2218Mit unsicheren Schritten nähert sich die siebenjährige Maja Feldmann der Praxis von Dr. Frank. Vor der Tür bleibt sie noch einen Moment stehen und schnuppert. "Vorsicht, mein Schatz!", warnt der Grünwalder Arzt, als Maja ihre Hand nach einem blühenden Rosenbusch ausstreckt. "Das sind Rosen, die haben Dornen, an denen du dich stechen könntest." "Oh!" Hastig zieht das blinde Mädchen die Hand wieder zurück. "Die duften so gut. Welche Farbe haben die?" "Rosarot." "Wenn ich sie doch nur sehen könnte!" "Sie sehen genauso aus wie die Rosenblüten auf deinem Kleid", erklärt ihr Dr. Frank. "Ich habe aber vergessen, wie mein Kleid aussieht", flüstert Maja. "Ich habe sogar vergessen, wie 'rosarot' aussieht. Und bald werde ich auch vergessen haben, wie du aussiehst."Jetzt lesen
Dr. Stefan Frank - Folge 2219Warum ein junger Arzt sein Neujahrsversprechen nicht hielt Was für ein charmanter Mann, denkt Nina, als sie auf einer Party dem attraktiven Neurologen Dr. Jonas Töpfer begegnet. Und auch er scheint Gefallen an ihr gefunden zu haben, zumindest umwirbt er sie in den nächsten Wochen auf sehr ritterliche Art und Weise. Doch als er sie schließlich bittet, sie auf eine Silvesterfeier bei seinen Freunden zu begleiten, ist Nina doch ein wenig verwundert. Er möchte sie allen vorstellen, hat Jonas gesagt. Aber ist es dafür nicht noch ein bisschen früh? Immerhin ist außer ein paar relativ unschuldigen Küssen noch gar nichts zwischen ihnen passiert! Dennoch sagt sie zu, nicht ahnend, dass um Punkt zwölf Uhr eine noch größere Überraschung auf sie wartet...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Ein Herbstspaziergang mit Folgen

Vorschau

Ein Herbstspaziergang mit Folgen

Warum Melanie nicht nach Hause zurückkehrte

Melanie ist das hübscheste und intelligenteste Kind auf der ganzen Welt, das versichert ihr ihre Mama Barbara jeden Tag. Doch nun soll plötzlich alles anders werden. Seit Dr. Frank gesagt hat, dass Melanie bald ein Geschwisterchen bekommen wird, ist ihre Mama ganz aus dem Häuschen. Auf einmal ist nur noch die Rede von diesem Jungen. Ihre Mama ist sich ganz sicher: Der kleine Bruder wird alles noch viel toller machen als Melanie.

Das kann die Fünfjährige jedoch nicht hinnehmen. Was soll denn dann aus ihr werden? Als sie im Kindergarten das Märchen von Hänsel und Gretel kennenlernt, nimmt in ihrem Kopf langsam ein Plan Gestalt an: Sobald das Baby auf der Welt ist, wird sie es in den Wald bringen. Von dort aus findet es bestimmt nie wieder nach Hause zurück, und Melanie hat ihre Mama wieder ganz für sich alleine …

„Ach, Sie schon wieder! Na, das hätte ich mir ja denken können. Mal sehen, wie lange haben Sie denn diesmal durchgehalten?“

Barbara Bär stieß einen verächtlichen Seufzer aus, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf mit der kunstvollen Hochsteckfrisur, aus der einzelne blonde Korkenzieherlocken herunterhingen, die bei jeder Bewegung neckisch auf und ab tanzten.

„Jacob oder so ähnlich, nicht wahr?“, fragte sie mit gekräuselter Nase, ohne der hübschen jungen Frau, die mit gesenktem Kopf vor ihr stand, einen Sitzplatz anzubieten.

„Jacobs. Heidi Jacobs.“

Diese Frage war eigentlich vollkommen überflüssig, denn Barbara Bär war Heidis Name durchaus geläufig: Die beiden Frauen wohnten in Grünwald in derselben Straße. Zwar lebte Frau Bär in einer schicken Villa und Heidi Jacobs in einer kleinen Wohnung, aber dennoch liefen sie sich oft über den Weg – nicht zuletzt, weil sie beide Töchter im gleichen Alter hatten, die denselben Kindergarten besuchten.

Die Frage nach dem Namen sollte vermutlich nur unterstreichen, dass Frau Bär sich momentan – oder, ihrer Meinung nach, eigentlich immer – in der überlegenen Position befand, während Heidi hier die Bittstellerin war, mit der sie keine nähere Bekanntschaft wünschte.

„Fast drei Monate!“, rief Barbara Bär nun übertrieben enthusiastisch aus, nachdem sie mit ihren langen, halb dunkelrot, halb rosa lackierten Fingernägeln Heidis Namen in die Tastatur ihres Computers getippt und die gesuchte Datei geöffnet hatte. „Glückwunsch! Sie steigern sich ja von Mal zu Mal! Den letzten Job hatten Sie nur zwei Monate lang und den vorletzten keine fünf Wochen.“

Sie lachte gehässig.

„Was war’s denn diesmal? Keine Lust, jeden Tag so früh aufzustehen? War das Wetter zu schön? Oder finden Sie es vielleicht nicht zumutbar, dass Sie Ihre Lieblingsserie im Fernsehen versäumen?“

„Nein, Frau Bär, ganz gewiss nicht.“ Heidi stand noch immer, während Barbara Bär sich gemütlich in ihrem gepolsterten Bürostuhl zurücklehnte und ihre Fingernägel einer genauen Inspektion unterzog. „Lilly hatte Angina, und ich musste zu Hause bleiben. Bei dem geringen Lohn, den man mir bezahlt hat, kann ich mir keine Betreuerin leisten. Ich habe um Pflegeurlaub gebeten, aber stattdessen hat man mir fristlos gekündigt. Ich war ja noch in der Probezeit.“

„Na ja, es ist ja auch viel praktischer, sich vom Staat durchfüttern zu lassen, nicht wahr?“

„Nein, das ist nicht wahr“, erwiderte Heidi ruhig. „Aber dass Mütter mit kleinen Kindern am Arbeitsmarkt nicht gern gesehen sind, müssten Sie doch eigentlich wissen.“

„Fabelhafte Ausrede!“, spottete die Beraterin der Arbeitsagentur und hackte erneut mit spitzen Fingern auf die Tasten. „Nur muss ich Sie enttäuschen. Aus einem gemütlichen Dauerurlaub wird leider nichts, denn ich habe hier genau das Richtige für Sie. Das wird Ihnen Spaß machen, da bin ich ganz sicher.“

„Ja?“ Heidi blickte die Sachbearbeiterin, trotz ihrer harten Worte, erwartungsvoll an. „Etwas in meinem erlernten Beruf als Goldschmiedin und Designerin? Das wäre wunderbar!“

„Ach, Schnickschnack!“ Frau Bär machte mit der Hand eine Geste, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen. „Das können Sie vergessen, so was braucht keiner! Wer kann sich denn heutzutage noch Schmuck leisten?“

Bei diesen Worten schüttelte Frau Bär ihre rechte Hand so heftig, dass die fünf goldenen Armreifen klimperten, und fasste sich ans Dekolletee, wo eine dreireihige Perlenkette mit diamantbesetztem Verschluss schimmerte.

„Nein, ich habe hier das Angebot einer Reinigungsfirma“, stellte sie dann klar. „Die suchen dringend Verstärkung.“ Barbara Bär kritzelte etwas auf einen Zettel und warf diesen über den Schreibtisch in Heidis Richtung. „Gehen Sie anschließend sofort hin, dann können Sie schon morgen früh anfangen und müssen sich nicht schon wieder arbeitslos melden.“

„Eine Reinigungsfirma? Was müsste ich da machen?“

„Na, was wohl? Putzen werden Sie ja können, oder? Die klappern alle Bürohäuser, Kliniken, großen Warenhäuser und all so was ab. Die putzen auch hier bei uns.“

Frau Bär fuhr probeweise mit zwei Fingern über den oberen Rand ihres Flachbildschirms und hielt diese dann triumphierend hoch.

„Na? Gar nicht mal so schlecht! Und das Beste ist: Man sieht sie nie. Die machen das nachts, wie die Heinzelmännchen. Dafür braucht man auch keine besondere Qualifikation, das kann jeder. Und Sie können sich sogar aussuchen, ob Sie lieber von vier Uhr morgens bis mittags oder von sechs Uhr abends bis zwei Uhr morgens arbeiten möchten. Das ist doch praktisch, nicht?“

„Das kann ich nicht!“ Heidi Jacobs presste erschrocken eine Hand auf ihr laut pochendes Herz. „Ich habe eine fünfjährige Tochter, um die ich mich …“

„Ich habe ebenfalls eine fünfjährige Tochter!“ Frau Bär erhob energisch die Stimme, hievte sich ein wenig aus ihrem Stuhl hoch und strich sich über den prallen Bauch. „Wie Sie sehen, werde ich sehr bald zwei Kinder haben. Ich kann Ihnen gerne mal erklären, wie man es anstellt, für seine Kinder zu sorgen, ohne betteln gehen zu müssen: Man bringt die Kinder morgens in den Kindergarten, geht zur Arbeit und holt die Kinder abends wieder ab.“

Barbara Bär taxierte ihr Gegenüber verächtlich von oben bis unten.

„So mache ich das, gute Frau“, fuhr sie dann mit schneidender Stimme fort. „Obwohl ich das gar nicht nötig hätte, weil mein Mann mehr als genug verdient. So machen das die meisten Mütter, die nicht auf Kosten anderer leben wollen.“

„Aber …“

„Nein, kein Aber!“, brauste die Beraterin auf. „Ich verliere langsam die Geduld mit Ihnen. Und noch etwas: Ich bin seit Jahren die erfolgreichste Beraterin in diesem Haus, und ich lasse mir von Ihnen meine Erfolgsbilanz nicht kaputtmachen!“

Heidi trat verstört einen Schritt zurück, als Frau Bär bei jedem einzelnen Wort mit der Faust auf den Schreibtisch hämmerte.

„Seit fast einem Jahr verlieren Sie jede Stelle, die ich Ihnen vermittle, innerhalb weniger Wochen. Und immer benutzen Sie Ihr Kind als Ausrede. Wenn ich es schaffe, einen anstrengenden und anspruchsvollen Job und ein Kind unter einen Hut zu bekommen, dann werden Sie es wohl wenigstens auf die Reihe kriegen, ein bisschen putzen zu gehen.“

Frau Bär hob abwehrend die Hand, als sie sah, dass ihre Klientin abermals protestieren wollte.

„Ich weiß schon, man kann nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Meine Tochter ist mit ihren fünf Jahren bereits sehr selbstständig, zudem äußerst intelligent, selbstbewusst, stark und durchsetzungsfähig. Eine richtige Persönlichkeit eben. Und sie geht leidenschaftlich gerne in den Kindergarten, weil sie dort beliebt ist, anerkannt und bewundert wird, vor allem aber weil sie wissbegierig und an allem interessiert ist. Meine Melanie ist …“

Barbara Bär stockte und schüttelte unwillig den Kopf.

„Na, lassen wir das, das führt ja doch zu nichts. Ich hatte eben Glück mit meiner Melanie. Also, Sie melden sich noch heute bei dieser Firma, sonst muss ich Sie leider als arbeitsunwillig und unvermittelbar einstufen. Und Sie wissen ja, was das bedeutet …“

Die Beamtin hackte mit einer ihrer rosa-roten Krallen ein paar Mal auf den Zettel mit der Adresse und blickte Heidi herausfordernd an.

Heidi nahm ihn seufzend und ging wortlos zur Tür. Sie wollte Frau Bär nicht die Genugtuung gönnen, die ihre Tränen ihr vermutlich bereitet hätten.

„Bitte! Gern geschehen!“, rief ihr die Beraterin noch zynisch hinterher, bevor Heidi leise die Tür hinter sich schloss.

Draußen musste sie sich erst einmal gegen die Wand lehnen. Ihre Beine zitterten, ihr Herz fühlte sich unsagbar schwer an, und in ihrem Kopf wirbelten düstere Gedanken, Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst durcheinander wie Herbstlaub im Wind.

„Alles in Ordnung? Brauchen Sie vielleicht ein Glas Wasser? Ist Ihnen übel geworden?“

Heidi blickte überrascht auf, als sie eine leichte Berührung an ihrer Schulter fühlte. Vor ihr stand ein etwa fünfunddreißigjähriger, ziemlich attraktiver Mann mit dunklen Locken und blickte sie aus gefühlvollen braunen Augen besorgt an.

Heidi schüttelte den Kopf.

„Danke, es geht schon wieder“, hauchte sie und versuchte, die Tränen am Fließen zu hindern.

„Waren Sie bei der Bär?“

Heidi nickte.

„Die kenne ich. Das ist ein übler, sadistischer Drachen. Nehmen Sie sich bloß nicht zu Herzen, was die sagt“, riet er. „Die kann Ihnen gar nichts. Auch wenn es ihr schwerfällt, an die Gesetze muss sie sich ja doch halten. Ach, ich heiße übrigens …“

Bevor er sich vorstellen konnte, wurde die Tür energisch aufgerissen.

„Nummer siebzehn!“, rief Barbara Bär aggressiv. „Wer hat hier noch immer nicht kapiert, dass man zügig eintritt, wenn die Nummer über der Tür aufleuchtet? Siebzehn!! Nochmal sage ich es nicht! Dann nehme ich die nächste Nummer dran, und die Siebzehn hat dann eben den Termin versäumt und bekommt die Unterstützung gestrichen!“

„Ich habe die Nummer siebzehn“, sagte der Mann mit den dunklen Locken ruhig und blinzelte Heidi grinsend zu.

„Na dann, guten Morgen!“, ätzte Frau Bär. „Sind Sie jetzt endlich aufgewacht? Vielleicht hätten Sie dann eventuell die Güte einzutreten? Ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Ich bin ja schließlich hier, um zu arbeiten … im Gegensatz zu Ihnen, Herr … Sowieso!“

„Krüger, liebe Frau … ähm … Dings. Felix Krüger“, hörte Heidi ihn noch sagen, dann fiel krachend die Tür hinter ihm ins Schloss.

***

„Das ist eine richtige, echte Spritze.“

Während ihre Mutter in München verzweifelt die Arbeitsagentur verließ, stand Lilly Jacobs im Vorschulraum des Grünwalder Kindergartens, der wie eine richtige Schulklasse eingerichtet war, vorne an der Tafel und hob stolz eine Einwegspritze aus Plastik hoch.

„Die Nadel hat Dr. Frank weggemacht, damit ich mich nicht damit verletze. Mit der kann man Wasser aufziehen und es dann in den Blumentopf spritzen.“

Lilly strich sich mit einer raschen Handbewegung den langen dunkelbraunen Pferdeschwanz zurück, der sie am Hals kitzelte.

„Oder aus dem Fenster“, fügte sie, schuldbewusst lächelnd, hinzu. „Aber das sieht Mama nicht gerne, weil ich da jemanden treffen und sich der dann erschrecken könnte.“

„Boah!“ Lukas, ein kleiner rothaariger Junge mit Segelohren, beugte sich interessiert über sein Pult. „Darf ich nachher auch einmal damit spritzen, Lilly?“

„Klar, Lukas!“ Das kleine Mädchen eilte auf die dritte Bankreihe zu und legte die Spritze vor Lukas auf das Pult. Dann nahm sie wieder vorne Aufstellung und warf der Erzieherin, die ganz hinten im Klassenzimmer Platz genommen hatte und Lillys Vortrag lauschte, einen fragenden Blick zu. „Wenn es Claudia erlaubt, kannst du damit die Pflanzen gießen. Jeder, der möchte, darf mal.“

„Du bist ein sehr großzügiges Mädchen, Lilly“, lobte Claudia. „Ihr könnt nach dem Unterricht in den Garten gehen, die Spritze an der Regentonne füllen und damit die Blumen nass spritzen. Möchtest du uns jetzt noch etwas erzählen, Lilly?“

Das Mädchen nickte und hob lächelnd den linken Arm hoch.

„Das hat mir auch Dr. Frank geschenkt.“ Stolz zeigte sie die rosafarbene Plastikarmbanduhr herum, die an ihrem Handgelenk befestigt war. „Die zeigt richtig die Zeit an, das ist nicht bloß ein Spielzeug. Dr. Frank ist jeden Abend zu mir gekommen. Am Anfang, als ich noch ganz viel Fieber hatte, auch morgens. Und jeden Tag hat er mir etwas mitgebracht, weil ich so tapfer war und wegen der schlimmen Halsschmerzen nie geweint habe. Also … na ja … zumindest fast nie.“

„Billiges Plastikzeug!“, zischte ein entzückendes kleines Mädchen mit langen blonden Haaren, das ganz vorne saß. Es hob seinerseits seinen Arm hoch. „Bei mir ist alles echt. Mein Bettelarmband ist aus echtem Gold – und alles, was dranhängt, auch. Mein Halskettchen auch, und zu Hause habe ich noch einen echten Goldring, echte Ohrringe und eine goldene Armbanduhr.“

„Dein Armband ist auch sehr hübsch, Melanie.“ Claudia stand seufzend auf, ging nach vorne und stellte sich neben Lilly. „Aber Lillys neue Uhr gefällt mir besonders gut. Ich hoffe zwar nicht, dass ich demnächst krank werde, aber falls doch, hoffe ich, dass Dr. Frank mir auch so eine hübsche Uhr mitbringt.“

„Als ich die Röteln hatte, hat Papa mir einen Laptop mitgebracht. Der hat über fünfhundert Euro gekostet, und da sind Lernspiele für besonders kluge Kinder drauf“, meldete sich Melanie wieder zu Wort. „Aber damit könntet ihr ohnehin nichts anfangen, weil die Spiele zu schwierig für euch wären. Und zu meinem Geburtstag …“

„Warte einen Moment, mein Schatz.“ Claudia hob mahnend einen Zeigefinger hoch. „Wenn du uns auch etwas erzählen möchtest, dann kannst du das anschließend tun, wenn noch genügend Zeit bleibt. Aber zuerst sagen wir Lilly, dass ihr Vortrag sehr interessant war und dass wir alle froh sind, sie endlich wieder gesund und munter bei uns zu haben.“

Die Erzieherin klatschte in die Hände, und alle Kinder taten es ihr gleich. Alle, bis auf Melanie. Die sprang auf, noch bevor sich Lilly, stolz über das Lob und den Applaus, wieder auf ihren Platz gesetzt hatte.

„Mich hat’s überhaupt nicht interessiert!“ Melanie nahm vor der großen Tafel Aufstellung und übertönte die Kinder, die noch immer Lillys Vortrag applaudierten.

„Sie kann es nicht ertragen, wenn ein anderes Kind im Mittelpunkt steht“, raunte Claudia Sommer ihrer Kollegin Renate zu.

„Kein Wunder, bei dieser Erziehung“, flüsterte Renate zurück. „Sie wird ja auch wie eine Prinzessin behandelt und ist schon jetzt – mit fünf Jahren! – eine echte Egozentrikerin. Armes kleines Mädchen.“

„Angina und eine blöde Plastikspritze, das ist langweilig“, rief Melanie laut und beendete damit den Applaus. „Wenn ich so welche haben wollte, dann würde Papa mir hundert Spritzen kaufen. Große Spritzen. Goldene. Mit Nadel. Solche, wo viel mehr Wasser reingeht, und das könnte man dann mit der Nadel in die Pflanzen hinein spritzen, nicht bloß obendrauf. Und morgen bringe ich meine Uhr mit, dann könnt ihr alle sehen, dass die aus Gold ist, nicht bloß aus Plastik.“

„Du musst ja zu Hause ganz besonders brav sein, Melanie, wenn du so viele teure Geschenke bekommst.“ Renate stricht dem kleinen Mädchen übers Haar.

„Nein, muss ich gar nicht“, entgegnete Melanie. „Ich bekomme so viele Sachen, weil ich nämlich etwas ganz Besonderes bin.“

„Oh ja, das bist du“, stimmte Claudia ihr zu. „Aber das gilt für alle hier. Jeder von euch ist etwas ganz Besonderes.“

„Die nicht.“ Melanie schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich bin besonders, weil ich das hübscheste Kind der Welt bin. Schon bei der Geburt war ich so schön, dass alle anderen Mütter in der Klinik neidisch auf meine Mama waren. Und ein Wunderkind bin ich auch. Mama sagt, dass ich bestimmt einmal in der ganzen Welt berühmt sein werde. Als Schauspielerin oder als Weißschaft … Wissens …“

„Wissenschaftlerin“, half Claudia aus und hoffte, diesen Vortrag damit rasch beenden zu können. „Wollen wir jetzt noch ein schönes Lied …“

„Ich bin noch nicht fertig!“, fiel Melanie ihr zornig ins Wort und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Ich wollte doch noch von meinem Wochenende erzählen!“

„Na gut, mein Schatz!“ Die Erzieherin seufzte und warf ihrer Kollegin einen vielsagenden Blick zu. „Aber kurz, bitte. In fünf Minuten ist die Unterrichtsstunde um, und dann gehen wir in den Garten.“

„Ich war das ganze Wochenende lang im Freizeitpark“, sprudelte Melanie hastig drauflos. „Wir sind mit dem Bentley hingefahren. Das ist ein Auto, das hier wohl keiner kennt, weil sich das keiner leisten kann. Außer meinem Papa. Der könnte sich auch zehn Stück davon kaufen, wenn er wollte.“

„Schön. Das war bestimmt ein sehr aufregendes Wochenende.“ Erneut versuchte Renate, Melanies Redestrom zu unterbrechen, aber Melanie war noch nicht fertig.

„Im Freizeitpark hat Papa mir einen Plüschelefanten gekauft.“

„Ach, wie süß! Ich mag Elefanten auch sehr gern.“ Claudia klatschte in die Hände und holte tief Luft, um die Erzählstunde, in der jeden Tag ein anderes Kind berichten durfte, was es erlebt oder auf dem Herzen hatte, zu beenden.

„Der war so groß, dass er nicht ins Auto gepasst hat. Wir mussten ihn mit einem Lieferservice nach Hause schicken lassen. Und Mama hat mir zwei Puppen gekauft und fünf Filme auf DVD und vier T-Shirts mit allen wichtigen Sesamstraße-Figuren drauf und drei Sonnenbrillen, weil ich mich nicht entscheiden konnte, welche mir am besten gefällt.“

„Oh!“ Claudia verdrehte heimlich die Augen. „Hast du denn dort auch gespielt oder nur eingekauft?“

„Klar habe ich auch gespielt. Ich bin mit allem gefahren, was es dort gab, und im Klettergarten war ich das einzige Kind, das es bis oben geschafft hat. Mama hat gesagt, dass sie sehr froh ist, dass sie keines von den tollpatschigen, krummbeinigen, stumpfsinnigen Dingern hat, sondern ein richtiges Wunderkind, das alles kann und …“

„Jedes Kind hat eben andere Talente, Melanie“, versuchte Renate mit Engelsgeduld zu erklären. „Man soll sich niemals mit anderen vergleichen, denn …“

„Ich bin aber das einzige Kind der Welt, das alles kann!“ Das süße Engelsgesicht nahm einen abweisenden und arroganten Ausdruck an, der die beiden Erzieherinnen erschreckte. „Mama sagt, ich bin ein Schön … Schin … Tschen …“

„Ein Genie?“

„Genau! Mama sagt, dass ich …“

In diesem Augenblick ertönte eine Klingel und beendete die Schulstunde.

Verzweifelt versuchte Melanie, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erringen, indem sie immer lauter redete, doch nach zwei Stunden des Stillsitzens – und mit der Aussicht auf Spaß mit Lillys Spritze im Garten – waren die Kleinen nicht mehr zu halten.

Stuhlbeine scharrten über den Holzboden, laut schnatternd wurden Malbücher, Schreibhefte und Buntstifte in Schubladen verstaut, und als Claudia nickte, rannte die ganze Bande jubelnd auf den Flur hinaus.

„Und ich habe außerdem auch einen echten Roboter bekommen!“, brüllte Melanie ihren kleinen Freunden hinterher. „Und mit dem lasse ich keinen von euch spielen! Auch nicht mit meinem neuen Zauberstab, der richtig zaubern kann! Und Papa hat mir …“

Als auch noch das letzte Kind durch die Tür verschwunden war, verlor Melanie endgültig die Fassung. Sie trampelte mit beiden Füßen auf den Boden, rannte zu ihrem Pult und fegte, laut schreiend, alles, was sich darauf befand, hinunter.

Das Wasserglas, in das sie zuvor ihren Malpinsel getaucht hatte, zerschellte an der Wand neben dem Pult, Wachsmalkreiden zersprangen auf dem Boden in kleine Stücke, und das Schreibheft, in das sie den heute gelernten Buchstaben mit viel Fleiß in verschiedenen Farben geschrieben hatte, landete genau in der bunten Pfütze. Als wäre das alles noch nicht genug gewesen, begann sie nun auch noch, so heftig an ihren schönen blonden Haaren zu reißen und dabei so schrill zu kreischen, dass Claudia es mit der Angst zu tun bekam.

Die Erzieherin umschlang das tobende Kind mit beiden Armen, hielt es wie in einem Schraubstock umklammert und versuchte, es durch beruhigend gemurmelte Worte zu beruhigen. Als die schrillen Schreie nach einer Weile in heftiges Schluchzen übergingen und Melanie ihr Gesicht tief in Claudias Bauch grub, wiegte sie das Mädchen sanft hin und her und strich ihm übers Haar.

Mit Entsetzen dachte sie darüber nach, was für ein Weltbild man einem Kind wohl tagtäglich vermitteln musste, um ein so zartes Engelswesen in so kurzer Zeit in einen menschenverachtenden, egozentrischen kleinen Satansbraten zu verwandeln.

***

„Wat gäbe ick für ein paar Minuten Stille! Det jeht nun schon seit zwei Wochen so.“

Martha Giesecke betrat das volle Wartezimmer der Grünwalder Praxis, machte dort eine scharfe Kehrtwendung und trat sofort wieder den Rückzug an. In der Tür blieb sie stehen.

„Ick habe mal jelesen, det ständiger Lärm angeblich dumm macht. Jetzt weiß ick, dass det wahr ist. Ick habe vor einer halben Minute auf meine Liste geguckt, wer als Nächstes drankommt, und jetzt weiß ick es schon nicht mehr. Peinlich! Ick komme gleich wieder.“

„Nicht nötig, Frau Giesecke, ich weiß es genau. Frau Sommer ist vor mir hier gewesen, dann komme ich und dann der junge Mann dort in der Ecke.“

Der ältere Herr, der Stefan Franks Arzthelferin mit der richtigen Reihenfolge der Patienten ausgeholfen hatte, tippte mit dem Finger auf die Zeitung, in der er gerade blätterte.

„Lange kann der Krach nicht mehr dauern, Schwester Martha. Hier, in der Bezirkszeitung steht, dass bereits an diesem Samstag eine große Einweihungsmesse in der Kirche stattfindet. Bis dahin müssen die Renovierungsarbeiten am Kirchturm ja wohl abgeschlossen sein.“

„Ja?“ Martha Giesecke beugte sich interessiert über die Zeitung. „Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Krämer. Wenn det noch lange so …“

Schwester Martha stockte, zog den Kopf zwischen die Schultern, biss die Zähne zusammen und hielt sich die Ohren zu, als in diesem Augenblick ein besonders ekelhaftes Geräusch ertönte. Es klang wie eine Motorsäge, die sich durch ein dickes Eisenrohr fraß.

In diesem Moment kam der Grünwalder Arzt mit einer Patientin aus dem Behandlungsraum.

„Nächste Woche möchte ich mir das noch einmal ansehen, Frau Koch. Kommen Sie Mitte der Woche mal vorbei und …“ Dr. Frank musste schreien, um den Lärm von der nahen Baustelle zu übertönen.

Als in diesem Augenblick auch noch ein vollbeladener Lastwagen an der Praxis vorbeidonnerte, gab er es auf, noch etwas sagen zu wollen, zuckte mit einem schmerzlichen Grinsen die Schultern und reichte der Patientin wortlos die Hand.

Martha Giesecke seufzte erleichtert auf, als plötzlich völlige Stille eintrat.

„Oh mein Gott, tut det jut!“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „Kurz vor Mittag. Det heißt, wir haben jetzt eine Stunde Ruhe.“

„Großartig!“, freute sich Stefan Frank.

Der Arzt streckte sich und massierte mit einer Hand seinen Nacken, der bereits etwas verspannt war, weil er bei jedem unerwartet lauten Geräusch unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte.

„Schenken Sie mir bitte noch fünf Minuten?“, fragte er und blickte lächelnd in die Runde. „Dr. Waldner hat bereits dreimal versucht, mit mir zu sprechen. Das war aber bisher nicht möglich, weil ich kein Wort verstanden habe.“

„Aber sicher, Herr Doktor.“ Frau Sommer, die bereits aufgestanden war, setzte sich wieder. „Ich habe Zeit.“

„Danke. Ich werde mich kurz fass …“

Der Rest des Satzes ging in einem gewaltigen Donnerschlag unter, und der Boden unter Dr. Franks Füßen vibrierte wie bei einem leichten Erdbeben.

„Heiliges Kanonenrohr!“ Martha Giesecke presste eine Hand auf ihr laut pochendes Herz. „Wat war det denn? Klang wie eine Explosion.“

Der junge Mann, der in der Ecke gesessen und in einem Automagazin gelesen hatte, sprang auf und lief zur Tür.

„Ach du meine Güte!“, rief er erschrocken aus.

„Was denn? Was ist passiert?“ Stefan Frank trat durch die offene Praxistür nach draußen. Er sah, wie eine riesige Staubwolke über der Baustelle aufstieg. „Der Kirchturm steht noch. Gott sei Dank! Es hat sich so angehört, als ob …“

„Der Turm schon!“, unterbrach ihn der junge Mann aufgeregt. „Aber – sehen Sie doch, Herr Frank! – der Baukran steht nicht mehr. Abgebaut können die ihn in der kurzen Zeit nicht haben. Der muss umgekippt sein.“

„Um Himmels willen! Genau auf das Dach der Schule!“, stellte der Grünwalder Arzt entsetzt fest, als die Staubwolke sich ein wenig gelichtet hatte.

Und dann setzten auch schon die Schreie ein, die die kurze Stille nach dem gewaltigen Krachen zerrissen. Sie klangen so schrill und waren so voller Entsetzen, dass die Arme aller sich im Wartezimmer befindlichen Personen sich augenblicklich mit Gänsehaut überzogen.

„Martha, meine Not …“

In der Tür stieß Stefan Frank mit Schwester Martha zusammen, die ihm wortlos die Notfalltasche entgegenstreckte.

„Ick komme mit, Chef.“ Die Pflegerin wandte sich an die Patienten, die nun alle aufgesprungen waren und sich in der Tür drängten. „Soweit ick weiß, ist hier niemand, der akute Hilfe braucht. Ick muss Sie um Verständnis bitten, aber …“

„Schon gut, gehen Sie! Laufen Sie!“, rief Frau Sommer, die vor Schreck etwas kurzatmig war. „Um diese Zeit ist in der Grundschule noch Unterricht. Nicht auszudenken, was dort jetzt los sein muss!“

„Ich komme auch mit!“ Der junge Mann eilte hinter dem Grünwalder Arzt her, der bereits die Gartenstraße entlanglief und dann in den Park einbog. Die Kirche und die Grundschule lagen auf der anderen Seite. „Bestimmt wird jede helfende Hand gebraucht.“

Als der Grünwalder Arzt den Unglücksort erreicht hatte, hatte sich dort bereits eine große Menschenmenge versammelt. Die Leute aus den umliegenden Häusern und Läden standen fassungslos vor dem Trümmerhaufen und hielten sich ihre Hände oder Taschentücher vor Mund und Nase, um sich vor der dichten Staubwolke zu schützen, die noch immer in der Luft lag.

Alexandra Schubert – Stefans Freundin – eilte auf den Arzt zu.

„Stefan! Ich wusste ja, dass du kommen wirst!“

„Die Kinder?“, fragte Stefan atemlos.

„Stell dir vor, die gesamte Grundschule ist heute auf Wandertag im Bayrischen Wald. Nur der Hausmeister war da, und der war zum Zeitpunkt des Unglücks im Keller und hat nicht mal einen Kratzer abbekommen.“

„Gott sei Dank!“ Dr. Frank stieß erleichtert eine ganze Menge Luft aus. „Und der Kranführer?“

„Man weiß noch nicht, ob er noch lebt. Ein paar Bauarbeiter versuchen, zu der Kabine zu ge …“ Die attraktive Augenärztin riss erschrocken die Augen auf, als Stefan Frank zu dem umgestürzten Baukran rannte, dessen deformierte Kabine aus dem zertrümmerten Dach des Schulgebäudes ragte. „Stefan! Was machst du? Bist du verrückt?“

Alexandra presste entsetzt eine Hand vor ihren Mund, als sie sah, wie ihr Freund entschlossen auf die unterste Verstrebung des schräg liegenden Krans stieg und sich dann, die Notfalltasche mit einer Hand haltend, mühsam nach oben bewegte.

„Das ist zu gefährlich! Das Dach kann jeden Augenblick ganz zusammenkrachen!“, rief sie ihm nach. „Warte doch lieber auf die Feuerwehr!“

„Vielleicht ist noch was zu machen!“, rief Stefan über die Schulter zurück und kletterte unerschrocken weiter.

„Oh! Da muss ick leider passen.“ Martha Giesecke, die nun auch am Unglücksort angelangt war, blickte zweifelnd nach oben. „Ick bin nicht besonders sportlich.“

„Dr. Frank!“ Horst Bichler, der Baustellenleiter, beugte sich über den Rand des zerklüfteten Dachs. „Er lebt noch, aber es sieht übel aus. Wir versuchen, die Kabine aufzuschneiden. Passen Sie bloß auf, dass Sie sich nicht auch noch wehtun. Hier stehen da und dort ein paar scharfe Teile raus.“

„Nehmen Sie mir bitte die Tasche ab!“, rief der Grünwalder Arzt, als er an einer Stelle angekommen war, an der ein gebrochener Dachbalken über das Metallgerüst ragte. „Mit nur einer freien Hand kann ich da nicht drüber klettern.“

Der Baustellenleiter beugte sich nach unten und nahm die Tasche in Empfang.

„Langsam und vorsichtig, Herr Doktor!“, mahnte er, und nach einem Blick hinter sich, fügte er rasch hinzu: „Jetzt nicht erschrecken! Die schneiden jetzt mit der Trennscheibe die Kabinenwand auf.“

„Danke für die Warnung!“ Stefan musste schmunzeln, als das laute Kreischen, mit der sich die Trennscheibe durch das Metall fraß, ertönte. „Ich hätte mir jetzt sicher reflexartig die Ohren zugehalten und wäre abgestürzt …“

Unten hielt sich Alexandra Schubert beide Hände vors Gesicht und lugte nur vorsichtig zwischen den Fingern hindurch, als Stefan nun über den wackeligen Dachbalken kletterte.

„Oh mein Gott! Mir wird übel!“, stöhnte sie.

Martha Giesecke, die sich beim Hausmeister erkundigt hatte, kam zu Alexandra zurück.

„Die Treppe zum Dachboden ist verschüttet, Frau Schubert“, berichtete sie. „Aber dort hinten auf dem Schulhof ist ein Mann, der – glaube ick – och wat abgekriegt hat. Kommen Sie, vielleicht können wir uns doch auch nützlich machen.“

„Geschafft!“ Der Grünwalder Arzt atmete erleichtert auf, hielt sich an einem anderen Dachbalken fest und sprang durch das klaffende Loch auf den Speicher der Schule.

„Gehen Sie hinter mir her!“, empfahl Horst Bichler. „Hier ist der Boden einigermaßen sicher.“

„Oh!“ Ein Blick auf den verletzen Kranführer reichte Stefan, um zu erkennen, dass der Mann nicht mehr sehr viel Zeit hatte. Rasch zog er eine Aludecke aus seiner Notfalltasche und breitete sie auf dem Boden aus.

„Legen Sie ihn bitte hier drauf. Aber bewegen Sie ihn nicht zu viel“, wies er die beiden Männer an, die den blutüberströmten, etwa fünfzigjährigen Mann nun vorsichtig aus der Kabine zogen. Unterhalb des gebrochenen Schlüsselbeins des Verunglückten sprühte in regelmäßigen Abständen eine Blutfontäne aus einer kleinen Wunde.

„Haben Sie ein Handy eingesteckt?“, fragte Dr. Frank den Bauleiter, während er eine Aderpresse aus seiner Tasche nahm.

„Hab schon angerufen, Herr Frank. Der Rettungswagen ist bereits unterwegs.“

„Rufen Sie nochmal die Rettungszentrale an, die sollen einen Hubschrauber schicken.“

„Einen Hubschrauber?“ Horst Bichler zog sein Handy aus der Hosentasche. „Oh Mann! So schlimm?“

„Ja“, erwiderte Stefan knapp, kniete sich auf den dick mit Staub überzogenen Boden und legte mit flinken Fingern einen Druckverband an der Stelle an, an der das gebrochene Schlüsselbein eine Arterie verletzt hatte. Dann begann er unverzüglich mit der Überprüfung der Vitalfunktionen.

„Wie heißt der Mann?“, fragte er, als er plötzlich sah, dass die Augen des Schwerverletzten halb geöffnet waren und der Mann ihn flehend anschaute.

„Axel Jäger.“ Der Baustellenleiter steckte sein Handy wieder weg, nachdem ihm versichert worden war, dass der Hubschrauber in Kürze eintreffen würde. „Einer der erfahrensten Männer, die wir haben. Wenn da eine Schlamperei passiert ist, dann kann er mit Sicherheit nichts dafür.“

Der Grünwalder Arzt zwang sich, trotz des schockierenden Zustands des Mannes, zu einem zuversichtlichen Lächeln und zog ein Analgosedativum in eine Spritze auf.

„Halb so schlimm, Herr Jäger“, flunkerte er mit beruhigender Stimme. „Das kriegen wir schon in den Griff. Sie werden jetzt gleich einschlafen und nichts mehr spüren. Sie brauchen sich um gar nichts mehr zu kümmern, Herr Jäger, ich mache das schon.“

Axel Jäger stöhnte, und blutiger Schaum quoll aus seinem Mund. Er versuchte, etwas zu sagen. Stefan glaubte das Wort „Frau“ verstanden zu haben.

„Nicht sprechen, Herr Jäger. Ich habe alles im Griff. Wenn Sie wieder aufwachen, liegen Sie in einem sauberen Bett in der Klinik, und Ihre Frau sitzt daneben und hält Ihre Hand. Es wird alles wieder gut.“

Erleichtert schoss der Mann die Augen und ließ sich beruhigt in eine tiefe Bewusstlosigkeit sinken.

„Oh mein Gott, das sieht ja …“, begann Horst Bichler zu klagen, als er nun das ganze Ausmaß der Verletzungen sah.

„Das wird schon wieder!“, fiel ihm der Grünwalder Arzt ins Wort, schüttelte mahnend den Kopf und fuhr mit den Erste-Hilfe-Maßnahmen fort.

„Verstehe schon.“ Horst Bichler nickte, dann sagte er übertrieben enthusiastisch: „Der Axel wird wieder ganz gesund. Das sind ja bloß ein paar lächerliche Kratzer.“

***

Während Stefan Frank in Grünwald um das Leben des verunglückten Kranführers kämpfte und auf das baldige Eintreffen des Rettungshubschraubers hoffte, saß Barbara Bär im Büro ihres Chefs und lauschte, salbungsvoll lächelnd, den lobenden Worten, die ihrer Meinung nach das Mindeste waren, was ihr für ihre herausragende Leistung zustand.

„Ihre Statistik, liebe Frau Bär, war auch in diesem Halbjahr wieder unübertroffen“, bemerkte Herr Oberkleiner anerkennend. Er bemühte sich redlich, freundlich zu lächeln, was ihm einige Mühe bereitete.

Die Beraterin, die ihm gegenübersaß, erzielte zwar stets die mit Abstand besten Ergebnisse von allen beratenden Mitarbeitern der Arbeitsagentur, aber sonderlich beliebt war sie bei niemandem.

Doch Albert Oberkleiner war ein fairer Chef, der seine Position noch nicht sehr lange innehatte, und als solcher musste er in Erwägung ziehen, dass die Unbeliebtheit der Kollegin und die Beschwerden über ihr unkollegiales Verhalten durchaus mit ihrer hervorragenden Leistung zu tun haben konnten. Man kannte das ja zur Genüge: Konkurrenz, Neid und Eifersucht.

Obwohl … um ganz ehrlich zu sein, er selbst konnte sie auch nicht leiden. Sie hatte irgendwie so eine … fiese Ausstrahlung.

„Wie schaffen Sie das nur, dass bei Ihnen niemand länger als ein paar Wochen lang arbeitslos ist?“, fuhr Albert Oberkleiner nun doppelt so freundlich und anerkennend fort – er hatte ein schlechtes Gewissen wegen seiner garstigen Gedanken. „Wenn Sie dafür ein Geheimrezept haben, dann würde ich Sie gerne zusätzlich für Mitarbeiterschulungen einsetzen.“

„Ach!“ Barbara Bär machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn Sie möchten, kann ich das gerne versuchen. Aber erhoffen Sie sich bitte nicht zu viel davon.“ Sie zog eine ihrer spiralförmigen Locken in die Länge, und Herr Oberkleiner sah fasziniert zu, wie das blonde Gebilde zurückschnellte, als sie es losließ. „Entweder man hat Verstand, oder man hat keinen – wenn Sie wissen, was ich meine.“

„Nun, ich denke doch, dass all unsere Mitarbeiter über genügend Verstand verfü …“

„Ach, erzählen Sie mir doch nichts!“, fuhr sie ihrem Chef über den Mund. „Frau Duffek zum Beispiel, bei der muss nur einer ein paar Krokodilstränen aus den Augen quetschen und ein paar rührselige Geschichten erzählen, und schon …“

„Eigentlich wollte ich nicht mit Ihnen über nicht anwesende Kolleginnen …“, versuchte Herr Oberkleiner, mögliche Attacken im Keim zu ersticken.

„Ja, ja, verstehe! Man muss die arbeitsscheuen Pappenheimer nur richtig motivieren. Die meisten, mit denen wir hier zu tun haben, sind einfach nur faul, antriebslos und primitiv. Mit denen darf man sich auf keine Diskussionen einlassen, man muss sie – wie die kleinen Kinder – zu Disziplin und Leistungswillen erziehen.“

„Oh! Also …“ Diese Sichtweise irritierte Herrn Oberkleiner nun doch sehr. „In einzelnen Fällen mag das schon zutreffen. Aber man muss doch auch immer den jeweiligen Hintergrund …“, versuchte er zu differenzieren, aber Barbara Bär war nicht daran gewöhnt, dass man ihr widersprach.

„Sicher, es gibt solche, die arbeiten wollen und die jede Möglichkeit, die man ihnen bietet, dankbar annehmen. Aber es gibt eben auch solche, die sich ein gemütliches Leben auf Kosten anderer machen wollen und hundert Ausreden erfinden, warum sie nicht arbeiten gehen können. Und denen muss man zeigen, wo der Hammer hängt! Ich glaube, dass ich das hervorragend …“

Als Herrn Oberkleiners Telefon klingelte, lehnte sie sich unwillig seufzend zurück und schlug die Beine übereinander.

„Oh!“ Der Leiter der Arbeitsagentur machte ein betroffenes Gesicht, nachdem er eine Weile zugehört hatte. „Ich verstehe. Gut, ich werde der Sache nachgehen. Ach, und der Vorfall tut mir sehr, sehr leid.“

„Ist was vorgefallen?“ Interessiert beugte sich Barbara Bär nach vorne, als ihr Chef das Gespräch beendet hatte.

„Ja, leider. Haben Sie einen gewissen Herrn Hubert Ritter als qualifizierten, erfahrenen Bauarbeiter an das Bauunternehmen Leimer vermittelt?“

„Ja!“ Barbara Bär lachte amüsiert auf. „Das war auch einer dieser Fälle, an denen die Kollegen sich die Zähne ausbeißen würden. Hat versucht, mir zu erzählen, dass er unter Konzentrationsstörungen leidet und somit als Lokführer nicht mehr einsatzfähig ist. Er wollte deswegen sogar in Frührente gehen!“

„Und?“

„Nicht mit mir! Umschulung zum Bauarbeiten und wieder ein Sozialschmarotzer weniger.“ Barbara klatschte in die Hände. „Als Bauarbeiter kann er ja nicht viel falsch machen.“

„Das glauben Sie!“, erwiderte Herr Oberkleiner bitter. „Das war eben Herr Leimer persönlich. Ein Baukran ist umgestürzt, weil der angeblich erfahrene Mitarbeiter nicht wusste, dass das errechnete Höchstgewicht der Last auf gar keinen Fall überschritten werden darf.“

„Ups!“ Frau Bär zuckte mit den Schultern und kicherte neckisch. „Und? Wird er entlassen und bringt mir meine schöne Erfolgsstatistik durcheinander?“

„Der Kranführer – ein Familienvater mit drei Kindern – wird den Unfall vermutlich nicht überleben, Frau Bär.“

„Ist das wahr?“ Die Beraterin sprang, trotz ihres inzwischen recht beachtlichen Bauchumfangs, erstaunlich behände von ihrem Stuhl. „Ein toter Kranführer? Also, das ist ja …!“

Herr Oberkleiner, dem klar war, dass er die Beamtin in ihrem Zustand ohnehin nicht entlassen durfte, versuchte einzulenken. Fälschlicherweise ging er davon aus, dass Frau Bär, entsetzt über das tragische Unglück, sich nun mit Selbstvorwürfen quälte.

„Na, na! Schon gut. Noch lebt er ja. Und Herr Leimer hat keinerlei Schuldzuweisungen ausgesprochen.“

„Warum auch?“, fragte sie verwundert. „Übernehmen wir neuerdings etwa die Verantwortung für die mangelnde Intelligenz der vermittelten Personen? Nein, oder?“

Sie lachte laut auf und eilte zur Tür.

„Jetzt stimmt meine Statistik wieder“, rief sie über die Schulter zurück. „Ich habe nämlich einen meiner Pappenheimer zu einem Kranführerkurs motiviert. Da hatte ich ja wieder mal genau den richtigen Riecher – den kann ich jetzt sofort ins Rennen schicken. Was für ein großartiger Zufall!“

„Ähm … großartiger Zufall?“

Herrn Oberkleiner fehlten die Worte, aber es war auch gar nicht mehr nötig, etwas zu sagen.

Frau Bär hatte es sehr eilig. Sie wusste schließlich stets, den richtigen Zeitpunkt und die richtige Gelegenheit zu nutzen.

***

Am Unglücksort in Grünwald war inzwischen der Rettungshubschrauber eingetroffen. Da der Treppenaufgang zum Dachboden verschüttet war, wurde der Verunglückte über die Drehleiter der Feuerwehr geborgen.

„Patient von Ihnen, Kollege Frank?“, fragte der Notarzt.

„Das nicht“, schrie Stefan Frank gegen den Lärm des Hubschraubers an. „Trotzdem will ich, dass er die bestmögliche Versorgung erhält. Ich denke, die Unfallklinik hat die beste Ausstattung für solche Fälle.“

„Stimmt.“ Der Notarzt überwachte das Einladen des Verunglückten. „Sachte, sachte!“, rief er laut. „Nicht zu viel bewegen, und die Atmung im Auge behalten!“ Dann wandte er sich wieder Dr. Frank zu. „Aber die Waldner-Klinik hat die besten Ärzte.“

„Richtig! Dann also bitte in die Waldner-Klinik.“

Kaum eine Minute später hielt sich der Grünwalder Arzt hustend einen Zipfel seines weißen Kittels vor Mund und Nase, als der abhebende Hubschrauber die ungeheuren Mengen an Staub, die sich inzwischen bereits gesetzt hatten, wieder aufwirbelte.

„Das war ziemlich leichtsinnig von dir, Stefan.“ Alexandra Schubert trat neben ihren Freund und blickte dem Hubschrauber nach, der nur noch als dunkler Punkt in der Ferne zu sehen war. „Aber wenn der Mann überlebt, dann nur, weil du ein Held bist.“

„Ich glaube, mein Heldentum verlässt mich gerade!“, stöhnte Stefan Frank.

Die Augenärztin lachte leise, als er sich vornüber beugte, sich mit beiden Händen auf seinen Beinen abstützte und tief durchatmete. Jetzt, da die Gefahr vorüber war, machten sich seine Nerven bemerkbar.

„Dem Helden ist leider keine Pause vergönnt.“ Alexandra schmunzelte. „Kommst du mit? Du hast noch einen Patienten.“

„Ist noch jemand verletzt worden?“, fragte Stefan erschrocken.

„Das nicht. Aber Herr Ritter – der Mann, der das Unglück ausgelöst hat – hat einen schweren Schock erlitten. Dort sitzt er.“ Alexandra zeigte auf eine Bank, die im Schulhof stand. „Martha kümmert sich um ihn, aber ich denke, er braucht ein Beruhigungsmittel.“

Hubert Ritter saß mit geschlossenen Augen auf der Bank, hielt seine zitternden Knie fest umklammert und schaukelte unentwegt vor und zurück.

„Genau so etwas wollte ich vermeiden, und jetzt ist es doch passiert. Ich habe einen Menschen auf dem Gewissen. Umgebracht habe ich ihn“, wimmerte er. „Ermordet. Tot. Am liebsten wäre es mir, ich würde auch tot umfallen. Wie soll man denn mit dem Wissen, einen Menschen umgebracht zu haben, weiterleben?“

„Herr Jäger ist nicht tot.“ Dr. Frank fasste den Mann fest an der Schulter. „Er lebt noch.“

„Ja, aber wie lange noch?“, fragte Herr Ritter und blickte mit rotgeränderten Augen zu ihm auf.

„Ich bin zuversichtlich“, flunkerte der Grünwalder Arzt. „Und Sie können nichts für das Unglück. Herr Bichler, der Bauleiter, hat mir gesagt, dass Sie heute zum ersten Mal in Ihrem Leben auf einer Baustelle arbeiten, dass Sie auf Ihre Konzentrationsstörungen deutlich hingewiesen haben und dass Sie zu diesem Job mehr oder weniger genötigt wurden.“

„Frau Bär von der Arbeitsagentur hat gesagt, dass jeder Trottel auf einer Baustelle arbeiten kann. Ich war sogar dazu zu blöde.“

„So ein Unsinn!“ Stefan schüttelte verärgert den Kopf. „Das spricht nicht sonderlich für die Intelligenz von Frau Bär. Jeder weiß, dass es gerade dort, wo so große Maschinen verwendet werden, auf Fachwissen, Erfahrung und ein schnelles Reaktionsvermögen ankommt.“

„Drei Kinder hat er gehabt, der Axel“, wimmerte der Mann weiter, während er unermüdlich vor und zurück schaukelte. „Bevor er auf den Kran raufgeklettert ist, hat er mir noch Fotos gezeigt. Drei Kinder, die jetzt keinen Vater mehr haben. Diese Schuld werde ich im Leben nicht mehr los.“

„Ick denke, da hilft im Augenblick nur noch ein starkes Beruhigungsmittel, Chef.“ Martha Giesecke löste eine der schwieligen Hände, die fest um die Knie verkrampft waren, und beugte sich über den geschockten Mann. „Herr Ritter! Können Sie ein Stück laufen? Denn nehmen wir Sie mit in die Praxis, und Dr. Frank gibt Ihnen wat, damit Sie ein wenig abschalten können. Sie können sich bei uns im Ruheraum hinlegen.“

„Abschalten?“ Herr Ritter warf Schwester Martha einen müden Blick zu. „Da müssten Sie mir schon eine tödliche Dosis verpassen, damit ich das aus meinem Kopf bekomme.“

„Das ist doch …“ Alexandra Schubert trat wütend gegen einen Stein, der vor ihren Füßen lag. „Ich wollte schon vor zwei Wochen eine Beschwerde gegen diese Frau Bär einreichen, das werde ich jetzt sofort nachholen. Uns hat sie eine fünfzigjährige Frau, die nach dreißig Jahren in einem Chemie-Labor eine schwere Allergie entwickelt hat, zum Putzen geschickt. Nach einer halben Stunde mussten wir den Rettungswagen rufen, weil sie uns nach Gebrauch des Desinfektionsmittels fast erstickt wäre.“

„Ick habe da och schon so einige Geschichten gehört.“ Schwester Martha zog an der Hand des noch immer kläglich vor sich hin wimmernden Mannes. „Ick habe schon mehrmals versucht, Frau Bär ins Gewissen zu reden, aber det prallt alles an ihr ab.“

Stefan Frank fasste Herrn Ritter unter dem Arm und half seiner Arzthelferin, ihn auf die Füße zu stellen.

„Frau Bär hat heute einen Kontrolltermin bei mir. Ich werde auch noch einmal versuchen, mit ihr zu reden“, versprach er.

Horst Bichler kam auf sie zu.

„Ich hätte da noch ein paar Fragen für die Versicherung“, sagte er und wedelte mit einigen Formularen.

„Tut mir leid, aber Herr Ritter steht unter Schock.“ Der Grünwalder Arzt schüttelte den Kopf. „Er ist jetzt nicht in der Lage, Auskunft zu geben.“

„Oh! Verstehe.“ Der Bauleiter klopfte Hubert Ritter, der schwankend zwischen Martha und Dr. Frank stand, auf den Rücken. „Keiner macht dir einen Vorwurf, Hubert. Wenn uns das Amt nicht versichert hätte, dass du geschult und erfahren bist, hätten wir dich niemals für das Beladen des Krans eingesetzt. Dafür braucht man doch Erfahrung! Mach dir bloß keinen Kopf. Das ist ja gerade so, als würde mich das Amt nach einem zweiwöchigen Kurs als Chirurgen einsetzen. Das würde keiner überleben.“

„Reichen Sie eine Beschwerde über Frau Bär ein“, empfahl Alexandra. „Ich tu’s auch.“

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Ich muss in die Praxis zurück, ich habe gleich einen Termin“, fügte sie dann hinzu. „Alles Gute, Herr Ritter. Frau Bär ist für das Unglück verantwortlich. Nehmen Sie ihr nicht die Schuld ab, sonst geht das ewig so weiter. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis es wieder einen ähnlich tragischen Vorfall gibt …“

***

„Das ist doch hoffentlich nicht Ihr Ernst, oder?“

Felix Krüger wurde um etliche Nuancen blasser im Gesicht, als ihn der Anruf mit dem Auftrag ereilte, er möge sich am nächsten Tag pünktlich um sieben Uhr Morgens an der Baustelle in Grünwald einfinden.

„Ecke Kastanienallee – Waldstraße. Sie wohnen ja ohnehin dort in der Gegend, da werden Sie wohl keine Probleme haben, hinzufinden. Immer dem Kirchturm nach, bis Sie mit der Nase anstoßen. Dort sind Sie dann richtig.“ Ein amüsiertes Glucksen tönte aus dem Telefonhörer. „Aber nicht fest anstoßen, sonst holen Sie sich eine blutige Nase und melden sich schon am ersten Tag krank!“

Frau Bär musste über ihren Scherz herzlich lachen.

„Hallo? Sind Sie eingeschlafen?“, fragte sie irritiert, als es am anderen Ende der Leitung still blieb.

„Natürlich nicht. Was habe ich dort zu tun? Hilfsarbeiten?“, wollte Felix hoffnungsvoll wissen, aber Barbara Bär zerstörte das bisschen Hoffnung, das er noch hatte, sofort und bestätigte gut gelaunt seine schlimme Vorahnung.

„Sie werden dort als Kranführer gebraucht, Herr … Sowieso. Oder denken Sie, ich habe Ihnen die teure Umschulung bezahlt, damit Sie ein neues Hobby haben?“

„Frau Bär!“ Felix suchte nach Worten, mit denen er die Beraterin vielleicht doch noch zur Einsicht bewegen konnte. „Ich bin für so etwas nicht geeignet, das habe ich Ihnen bereits vor diesem Kurs gesagt. Ich bin Juwelier und möchte nur die Zeit überbrücken, bis ich hier einen geeigneten Laden gefunden habe. Das habe ich Ihnen doch alles ausführlich erklärt.“

„Ja, ja, klar!“, spottete Barbara Bär. „Alle erklären mir ständig, dass sie kurz vor der großen Karriere stehen. Das können Sie vergessen. Juweliere gibt es schon mehr als genug. Bauarbeiter werden gebraucht, Kranführer werden gebraucht, handfeste Arbeit ist gefragt, keine Träumereien. Also, morgen um sieben!“

„Aber …“

„Nein, nein und wieder nein!“ Frau Bärs Stimme wurde so schrill, dass Felix sein Handy etwas auf Abstand halten musste. „Ich wünsche kein Aber mehr zu hören! Ich gehe Ende der Woche in Mutterschutz, und bis dahin wünsche ich, dass mir niemand meine Erfolgsstatistik versaut! Ist das klar? Morgen um sieben! Oder ich streiche Ihnen wegen mangelnder Bereitschaft das Arbeitslosengeld!“

„Oh Gott!“ Als die Verbindung einfach abgebrochen wurde, begann es vor Felix’ Augen zu flimmern. Er hatte während der kurzen Ausbildung genau dreimal in einem zehn Meter hohen Übungskran gesessen, und schon in dieser Höhe hatte er alle Mühe gehabt, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, denn er litt unter starker Höhenangst. „Wenn das nur mal kein schlimmes Ende nimmt.“

Felix kannte die Baustelle, er ging täglich mindestens einmal daran vorbei. Und der Kran, der dort eingesetzt wurde, war mindestens vierzig Meter hoch.

In dieser Nacht schlief Felix nicht besonders gut.

***

Nach einem kurzen erfreulichen Telefonat mit der Reinigungsfirma, die Barbara Bär mitteilte, dass Frau Jacobs morgen um vier Uhr früh ihren Dienst antreten würde, schloss die Beamtin der Arbeitsagentur nun auch die Akte von Heidi Jacobs, schaltete zufrieden ihren Computer aus und hängte sich ihre Designerhandtasche über die Schulter.

„Na, wer sagt’s denn!“, murmelte sie selbstzufrieden, als sie wenig später in ihrem Wagen nach Grünwald fuhr, um Melanie vom Kindergarten abzuholen. „Man muss die Leute nur richtig motivieren können.“

Sie lachte amüsiert auf.

„Nach der Elternzeit nehme ich dann den Chefsessel in Angriff. Dieser Oberkleiner ist ein Weichei, der mir nicht das Wasser reichen kann. Es wird im Raum München keine Sozialschmarotzer mehr geben, wenn ich erst einmal Chefin der Agentur bin.“

Kurze Zeit später erreichte sie Melanies Kindergarten.

„Mama! Endlich!“

Mit einem freudigen Aufschrei kam Melanie den Flur entlang gerannt und wollte sich in die Arme ihrer Mutter werfen, kaum dass diese das Gebäude betreten hatte.

Wie fast jeden Tag waren die meisten Kinder bereits abgeholt worden und wie jeden Tag hatte Melanie beobachtet, wie die einzelnen Mütter ihre Kinder hochgehoben, geküsst und gedrückt hatten. Obwohl sie von ihrer Mutter wusste, dass es sich dabei entweder um arbeitslose, alleinerziehende Mütter oder um einfache Hausfrauen handelte, die nichts anderes zu tun hatten, hatte sich bei diesem Anblick doch so etwas wie Sehnsucht oder Eifersucht in ihrem Herzen eingenistet.

„Nicht! Stopp!“

Bevor das kleine Mädchen sich in die Arme seiner Mutter werfen konnte, wie es das bei den anderen Kindern gesehen hatte, streckte Barbara Bär abwehrend beide Hände nach vorne.

„Das ist ein sehr teures Kostüm, mein Schatz!“, mahnte sie. „Wenn da Flecken reinkommen, kann ich es nur noch wegwerfen. Und ich möchte auch nicht, dass du mir meine Frisur durcheinanderbringst. Wir müssen nämlich anschließend noch zu Dr. Frank, und am Abend gehe ich noch mit Papa aus.“

„Oh! Ach so.“

Tapfer versuchte die Kleine, ihre Gefühle zu verbergen, trotzdem war es offensichtlich, wie unglücklich sie über diese Zurückweisung war.

„Nun, mein Schatz, hast du heute von deinem großartigen Wochenende erzählt?“, erkundigte sich Barbara Bär, während sie darauf wartete, dass ihre Tochter ihre Schuhe gefunden hatte.

„Nein, keiner hat mir zugehört.“ Melanie setzte sich auf eine Bank und schlüpfte in ihre Schuhe. „Lilly hat die ganze Zeit geredet. Der haben alle zugehört.“

„Du meine Güte!“ Frau Bär stieß ein verächtliches Lachen aus. „Was sollte die schon zu erzählen haben? Die können sich doch nicht mal ein Ticket für den Zoo leisten.“

„Lilly hat von Dr. Frank eine Spritze geschenkt bekommen. Eine, mit der man die Blumen im Garten nass spritzen kann.“

„Du meine Güte!“, wiederholte sich Melanies Mutter. Dann wandte sie sich der Erzieherin zu, schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. „Na ja, wenn man sonst nichts hat, dann findet man wohl selbst Abfall aufregend.“

Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu.

„Lillys Mutter hat kein Geld, weißt du, Schätzchen?“, erklärte sie. „Sie ist arbeitslos. Das heißt … Ich habe ihr heute eine Stelle als Putzfrau verschafft“, fügte sie mit einem weiteren Blick in Claudias Richtung hinzu. „Da wird vielleicht demnächst mehr als nur eine geschenkte Plastikspritze möglich sein.“

Und wieder an ihre Tochter gerichtet:

„Hast du denn gar nicht von dem riesigen Elefanten erzählt, den Mama und Papa dir gekauft haben? Der so groß war, dass er nicht mal in den Bentley gepasst hat? Und vom Freizeitpark? Und den Puppen und dem Roboter und …“

„Nein.“ Melanie ließ resigniert den Kopf hängen. „Das hat die nicht interessiert.“

„Du meine Güte! Das fängt ja schon früh an!“

„Was meinen Sie, Frau Bär?“, wollte die Erzieherin wissen. „Was fängt früh an?“

„Na, das Konkurrenzdenken, der Neid und die Eifersucht“, erklärte sie, nahm Melanies Jäckchen vom Garderobenhaken und half ihrer Tochter, hineinzuschlüpfen. „Gewöhn dich dran, mein Schatz!“, seufzte sie. „Wenn man so schön und klug ist wie du, hat man ein Leben lang mit Neid und Eifersucht zu kämpfen.“

Claudia holte tief Luft, um etwas zu erwidern, denn genau über dieses Thema wollte sie mit Frau Bär sprechen. Doch Melanie war schneller. Teure Geschenke und Gespräche darüber, dass sie viel besser war als alle anderen Kinder, waren so ziemlich die einzige Zuwendung, die sie von ihren Eltern erhielt. Und das wollte sie sich nicht nehmen lassen.

„Und was bin ich noch? Außer schön und klug?“, fragte sie und hielt gespannt den Atem an.

„Ein Wunderkind“, ließ sich Barbara Bär sofort auf dieses Thema ein.

„Und warum?“

„Du konntest schon mit zwei Jahren in ganzen Sätzen sprechen und mit drei – während alle anderen Kinder noch dümmliche Babywörter gebrabbelt haben – hast du bereits schwierige Fremdwörter benutzt.“

„Relativ!“, sagte Melanie mit Nachdruck, hob den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften.

„Na bitte!“ Frau Bär warf Claudia einen triumphierenden Blick zu. „Haben Sie das gehört? Ist sie nicht außergewöhnlich intelligent?“

„Außergewöhnlich wäre es, wenn Melanie auch wüsste, was dieses Wort bedeutet“, erwiderte die Erzieherin und versuchte noch einmal, zu dem Thema überzuleiten, über das sie gerne mit Melanies Mutter gesprochen hätte. „Frau Bär, ich würde gerne …“

„Relativ heißt, dass etwas sehr tief ist!“

Der Blick, den Melanie ihr zuwarf, ließ Claudia Sommer das Blut in den Adern gefrieren. Darin lag nicht nur die gleiche Arroganz, die sie von der Mutter des kleinen Mädchens schon zur Genüge kannte, sondern auch eine Art Drohung.

Melanie wusste genau, dass Claudia ihrer Mutter den Vorfall, der sich nach der Unterrichtsstunde ereignet hatte, petzen wollte. Angst stieg in ihr hoch, und Hass legte sich wie eine eiserne Klammer um ihr Herz. Sie fühlte instinktiv, dass ihr nichts bleiben würde, wenn sie die Bewunderung ihrer Mutter verlöre.

„Ich habe heute das schönste E von allen Kindern geschrieben“, sagte sie hastig. „Dafür habe ich ein Bonbon bekommen und einen goldenen Stern in mein Schreibheft.“

„Das stimmt nicht, Melanie“, korrigierte Claudia. „Lilly hat heute den Stern und das Bonbon bekommen. Aber wenn du dich bemühst, dann bekommst du vielleicht schon morgen …“

„Ach!“ Barbara Bär unterbrach die Erzieherin mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Je dümmer die Leute, desto schöner schreiben sie. Merk dir das, mein Schatz. Wirklich intelligente Leute schreiben schnell und schlampig.“

Sie lächelte Claudia Sommer geringschätzig an.

„Melanie kennt die Buchstaben ja schon seit zwei Jahren“, fuhr sie dann fort. „Es ist schrecklich langweilig für sie, sich dem Tempo der dümmeren Kinder anpassen zu müssen.“

„Ja! Lilly ist besonders dumm, drum schreibt sie so schön!“, bestätigte Melanie sofort und seufzte theatralisch. „Schrecklich langweilig ist das, wenn man von so vielen dummen Kindern umgeben ist!“

„Frau Bär, Sie tun Ihrer Tochter nichts Gutes, wenn Sie sie dazu ermuntern, sich ständig an anderen Kindern zu messen. Das wird sehr bald zu Einsamkeit und Frustration führen. Bitte …“

„Ich weiß, ich weiß! Das ist ein großes Problem“, pflichtete Frau Bär der Erzieherin sofort bei.

„Aber warum …“, wollte Claudia nachhaken, doch Melanies Mutter übertönte sie.

„Ich kenne das von mir selbst. Auch ich bin von lauter frustrierten Kollegen umgeben, die mir meinen Erfolg neiden. Aber was will man da machen? Man kann doch nicht sein eigenes Licht ständig unter den Scheffel stellen, nur damit die anderen nicht frustriert sind.“