Dr. Stefan Frank Großband 36 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 36 E-Book

Stefan Frank

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2550 bis 2559 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1224

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 36

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2020 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © goodluz/shutterstock

ISBN: 978-3-7517-8300-2

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 36

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2550

Danke, dass du zu mir hältst

Dr. Stefan Frank 2551

Wohin du mich auch führst

Dr. Stefan Frank 2552

Weil man nur einmal lebt

Dr. Stefan Frank 2553

Noteinsatz am Fußballplatz

Dr. Stefan Frank 2554

Auf einmal warst du da

Dr. Stefan Frank 2555

Welche Farbe hat das Glück?

Dr. Stefan Frank 2556

Rendezvous mit Dr. Lindau

Dr. Stefan Frank 2557

Uns kann niemand trennen

Dr. Stefan Frank 2558

Mein Baby gehört nur mir allein!

Dr. Stefan Frank 2559

Unsichtbare Gegner

Guide

Start Reading

Contents

Danke, dass du zu mir hältst

Als alles gegen ihn spricht, bleibt Leonie an der Seite ihres Mannes

Kurz bevor der Architekt Jonathan mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter von Nürnberg nach München ziehen will, erleidet er auf einer Baustelle einen schweren Unfall. Seine rechte Hand wird von einer Betonplatte zerquetscht. Die Hand kann zwar gerettet werden, aber ob Jonathan sie je wieder richtig nutzen kann, ist fraglich. Er erhält starke Schmerzmittel und Antibiotika, um eine drohende Infektion abzuwehren. Der gesamte Umzug lastet nun auf Leonie, immerhin wartet die Doppelhaushälfte in Grünwald und ihre neue Arbeitsstelle.

Die Wochen vergehen, und Leonie sehnt Jonathans Entlassung entgegen. Der Alltag mit neuem Job, Kinderbetreuung und Haushalt fordert der jungen Mutter alles ab. Doch das so herbeigesehnte Familienleben, die Normalität wird zu einer harten Belastungsprobe für die junge Ehe, als Jonathan immer häufiger betrunken nach Hause kommt. Leonie weiß sich keinen Rat mehr, sie ist verzweifelt und wütend, denn Jonathan beteuert, er habe nichts getrunken …

Irgendetwas stimmt nicht. Jonny weiß nicht recht, wo er ist. Er steht in einer undurchsichtigen nebligen Wolke, vor seinen Augen wabert grauweißer Dunst, der in der Ferne etwas heller etwas wird. Unter ihm ist nur bodenlose Leere. Es gibt keine Geräusche, keine Schemen, keine Bewegungen – nichts, was darauf hindeuten würde, dass hier überhaupt etwas existiert.

Das Gefühl einer unheimlichen Bedrohung kriecht auf Jonny zu. Als es ihn erreicht, packt es ihn mit eisernen Klauen. Jonny versucht sich zu wehren. Gleich wird etwas noch viel Schrecklicheres passieren, er fühlt es deutlich.

Er trägt Jeans und normale Schuhe, wie an jedem Tag, dazu ein Hemd und ein leichtes Sakko. Saloppe Kleidung, die allen signalisiert, dass er zwar ein lockerer Typ, aber mit seinen Fünfundzwanzig durchaus ernst zu nehmen ist. Die Kleidung ist warm genug für die Jahreszeit, auch wenn es schon ein paar deftige Herbstgewitter gab.

Stimmt, Gewitter! Erst neulich hat dabei eine Windböe eine ganze Reihe Schindeln vom Dach geholt und einen weiteren Teil verrutschen lassen. Jonny erinnert sich undeutlich, dass die gesamte Dachseite noch einmal abgeräumt und neugedeckt werden musste, eine Woche Arbeit war umsonst.

Genau, jetzt fällt es ihm auch wieder ein: Er ist auf einer Baustelle, der letzten, bevor er in die neue Stadt umziehen wird. Er befindet sich hier im Auftrag seines alten Arbeitgebers, denn er ist angestellter Architekt und überwacht in dieser Funktion ein großes Bauvorhaben.

Ein viel zu großes! Es sind schon einige Dinge schiefgegangen. Jonny hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl, denn der Bauherr hat sich völlig übernommen, und jetzt sollen die Architekten es richten.

Etwas Dunkles beginnt, sich durch den Nebel auf ihn zuzubewegen. Es sind die Umrisse eines gigantischen Hauses. Noch nie hat Jonny ein so großes Haus gesehen: Irgendwer muss sich hier total verplant haben. Jonny blickt zweifelnd an der Fassade hinauf, die immer noch weiterwächst.

Eine ernste Gefahr geht von diesem Haus aus, Jonny fühlt es deutlich. Instinktiv tritt er mehrere Schritte zurück. Die Schritte, obwohl sehr vorsichtig ausgeführt, bringen das Haus zum Erzittern. Der gesamte Bau schwankt, wie auch der Boden unter ihm. Die aufspringende Angst presst Jonny den Brustkorb zusammen.

Dann sieht er, wie sich die Fassade des Hauses langsam zu neigen beginnt. Der Schatten der fallenden Wand rast über den Boden auf ihn zu, erreicht ihn und läuft über ihn hinaus, auf den Horizont zu. Mit einem Mal ist der Boden dunkel, und als Jonny verstört aufsieht, ist es der Himmel auch. Ein unheimliches Getöse liegt in der Luft, Jonny registriert das Krachen von berstendem Holz und brechendem Stein.

Ein Krake erhebt sich riesengroß aus dem Boden. Er greift nach Jonny, schlingt seine Tentakel um seinen Körper und drückt ihm den Brustkorb zusammen. Einer der unzähligen Fangarme züngelt an Jonnys rechtem Arm herunter, und als er die Hand erreicht, zerquetscht er sie mit unmenschlicher Kraft.

***

Dr. Stefan Frank schreckte vom Sofa hoch. Wo war er? Helles Sonnenlicht fiel durch die Gardine auf den Boden und malte ein feines Muster auf das Parkett. Das ganze Zimmer strahlte in einem milden nachmittäglichen Herbstgelb. Aus der Küche drangen leise Geräusche.

„Schatz?“

„Ja?“ Alexandra erschien an der Tür zum Wohnzimmer.

„Was … Wie spät ist es? Müssen wir los?“

„Es ist viertel vor drei. Wir haben noch ein paar Minuten. War ich zu laut? Ich bin schon mal in die Küche gegangen, um alles einzupacken. Ruth und Ulrich werden sich wundern, diesmal machen wir ihnen bestimmt Konkurrenz.“ Alexandra lachte.

Stefan setzte sich auf. „Warum hast du mich denn nicht geweckt?“, fragte er, während er versteckt gähnte und sich über das Gesicht rieb.

„Genau deshalb! Du bist völlig überarbeitet. Glaubst du, ich will mit einem hundemüden Mann gegen Ruth und Ulrich antreten? Da lasse ich dich lieber ein paar Minuten länger schlafen und packe schon mal unsere Sachen zusammen.“

„Das ist mir aber peinlich“, bekannte Stefan.

„Ach Schatz!“ Alexandra schüttelte den Kopf. „Warum seid ihr Männer nur immer so unvernünftig? Ihr beeindruckt eure Liebsten kein bisschen, wenn ihr euch heldenhaft den Schlaf verkneift und dann in wichtigen Situationen nicht ausgeschlafen seid. Es nimmt dir doch keiner übel, wenn du dich mal richtig ausruhst. Am wenigsten ich.“

Sie schüttelte lächelnd den Kopf und verschwand wieder in der Küche.

Stefan Frank rieb sich erneut die Augen und sah sich im Zimmer um. Wie anders seine Wohnung wirkte, wenn Alexandra da war. Obwohl sie nicht bei ihm wohnte und meist nur kurz blieb, veränderte sich mit ihrer Anwesenheit jede Mal die gesamte Atmosphäre. Er hätte gar nicht sagen können, woran es genau lag. Das ganze Haus wirkte plötzlich freundlicher, selbst die Praxis unten im Erdgeschoss strahlte mit einem Mal viel mehr Wohnlichkeit aus.

Er stand auf, ging in die Küche und lehnte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen. Es roch verführerisch nach frischem Backwerk. Vermutlich war es dieser Duft, der die Atmosphäre plötzlich so behaglich machte.

Das Wirken einer weiblichen Hand ließ sich einfach nicht verleugnen. Auch die Zeitungen, die er gestern achtlos auf der Anrichte im Flur abgelegt hatte, waren plötzlich ordentlich gefaltet, und das Fachbuch, in dem er neulich noch kurz etwas nachgeschlagen hatte, lag, mit einem Lesezeichen versehen, daneben.

„Sag mal“, meinte Stefan Frank, stieß sich vom Türrahmen ab, ging zu Alexandra und umfasste sie von hinten mit beiden Armen. „Willst du nicht doch endlich bei mir einziehen? Ich schwöre dir, dass es mir nicht um deine hausfraulichen Qualitäten geht, obwohl ich die Atmosphäre sehr mag, die hier jedes Mal mit dir einzieht. Wäre es nicht schön, wenn jeder Sonntag so verliefe? So … familiär?“

„Darüber haben wir doch schon so oft gesprochen“, erwiderte Alexandra tadelnd, während sie sich aus seinen Armen wand. „Natürlich mag ich es, bei dir zu sein, und als Hausmütterchen fühle ich mich kein bisschen, nur weil es mir Spaß macht, ab und zu ein bisschen Schwung in deine Junggesellenhütte zu bringen. Aber genauso gern mag ich meine eigene Wohnung – mit dir und ohne dich.“ Sie lachte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und das hat überhaupt nichts mit Beziehungsangst zu tun. Ich liebe es einfach, völlig unabhängig zu sein, als Ärztin und als Privatmensch.“

„Aber das wärst du doch auch, wenn du zu mir ziehen würdest“, startete Stefan Frank einen zweiten Versuch. „Stell es dir doch nur einfach mal vor: Jeden Sonntag wachen wir zusammen auf, ich bring dir das Frühstück ans Bett …“

„Bist du sicher, dass das auch so bleiben würde?“, fragte Alexandra neckend. „Wir sind doch gerade deshalb so gern zusammen, weil unsere Zeit so begrenzt ist. Du hast deine Praxis, ich habe meine, wir gehen zusammen ins Theater, in die Oper, zu anderen Events, fahren miteinander in Urlaub und übernachten öfter beieinander. Außerdem lieben wir es, uns zu überraschen, denn wir wissen nie im Voraus, wann was passieren wird. Ich finde das schön. Es ist spannend.“

„Ich finde es auch schön“, brummte Stefan Frank. „Deshalb möchte ich ja mehr davon. Ich könnte dir zum Beispiel auch montags den Kaffee ans Bett bringen. Und dienstags. Mittwochs. Donnerstags …“

„Stefan!“ Alexandra drohte ihm spielerisch mit dem Finger. „Das ist genau der falsche Weg. Wenn man jemanden für etwas interessieren will, dann muss man die entsprechende Sache schwer erreichbar machen. Also, wenn du mir zum Beispiel verbieten würdest, dich hier zu besuchen …“

„Aber das könnte ich doch gar nicht! Ich bin ja um jeden Abend und Morgen froh, den wir zusammen sind.“ Er versuchte, sie erneut in die Arme zu nehmen, aber Alexandra drehte sich mit einer raschen Bewegung von ihm weg.

„Das war ja auch nur theoretisch“, erklärte sie. „Ich denke jedenfalls, locken ist der völlig falsche Weg. Die angestrebte Sache schwer erreichbar zu machen, ist meist erfolgversprechender. Nicht, dass ich das schätzen würde“, fügte sie schnell hinzu.

„Hm“, Stefan schürzte die Lippen. „Du schlägst mir also allen Ernstes vor, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was ich wirklich will? Funktioniert das eigentlich auch umgekehrt? Isst du mir nicht mehr jedes kleine Stück Schokolade weg, wenn ich eine ganze Pralinenschachtel offen auf dem Tisch liegen lasse?“

Schmunzelnd griff er erneut nach ihr, aber wieder entwand sie sich ihm mit einer schnellen Bewegung.

„Ich habe gehört, dass diese Theorie in der Praxis hin und wieder mal versagt“, erklärte sie dabei lachend. „Und bei einer Versuchsanordnung mit Schokolade scheint mir ein Versagen fast vorhersagbar, jedenfalls, wenn ich selbst die Versuchsperson bin.“

„Ach so“, entgegnete Stefan. „Sag mal, warum flüchtest du eigentlich die ganze Zeit vor mir? Habe ich dich mit meinem Angebot dermaßen verschreckt?“

„Nein, hast du nicht. Irgendwie freut es mich sogar, denn es zeigt mir, dass du es ernst meinst. Ich wollte dir bloß mal zeigen, wie das funktioniert mit dem Schwer-erreichbar-Machen. Je mehr ich mich dir entziehe, desto hartnäckiger versuchst du, mich zu erwischen“, erwiderte Alexandra und blitzte ihn schelmisch an.

„Okay, ich verstehe.“ Herausfordernd gab Stefan ihren Blick zurück. „Aber was heißt hier ernst meinen? Natürlich tue ich das. Und das hieße nach deiner Theorie: Wenn du willst, dass ich dich weniger oft bitte, hier einzuziehen, dann solltest du am besten jeden Tag bei mir übernachten. Habe ich das so richtig erfasst?“

Alexandra zog einen Schmollmund.

„Mit dir kann man einfach nicht vernünftig diskutieren“, stellte sie fest und deutete auf die eingepackten Sachen, die auf der Arbeitsplatte lagen. „Da, nimm das und bring es schon mal runter ins Auto. Ich glaub, die zehn Minuten Schonzeit sind um!“

***

Eine knappe Viertelstunde später waren sie auf dem Weg nach Schwabing, wo ihre Freunde Ruth und Ulrich Waldner genau gegenüber dem Englischen Garten eine Penthouse-Wohnung in der siebten Etage der Waldner-Klinik bewohnten.

Als Leiter der gleichnamigen Klinik, vor allem aber als Chirurg war Ulrich durch die günstige Wohnsituation bei jedem Notfall in der Lage, in weniger als fünf Minuten in einem der OP-Säle zu sein. Solcherart Notfälle waren zwar selten, aber es hatte sie schon gegeben, zum Beispiel, wenn Massenunfälle auf den umliegenden Autobahnen viele Schwerverletzte gefordert hatten.

Auch dass Ruth, seine Frau, in solchen Momenten blitzschnell einsatzbereit war, war ein Glückfall, denn sie arbeitete als Anästhesistin und konnte ihm dadurch im OP unmittelbar zur Hand sein, bevor die eilig herbeigerufenen Bereitschaftsärzte eintrafen.

Ulrich und Ruth waren ein ausgezeichnet aufeinander eingespieltes Team, und das nicht nur im OP. Auch außerberuflich klappte ihre Verständigung oft wortlos, was die beiden Ärzte zum Anlass genommen hatten, ihre Freunde Stefan und Alexandra zu einem Kochwettbewerb herauszufordern.

Der September eignete sich ausgezeichnet dafür. Es war noch warm genug, um den Kaffee auf der Dachterrasse einzunehmen und dabei den wunderschönen Blick über den Englischen Garten zu genießen, wo sich die Bäume gerade in eine farbenprächtige Postkartenansicht umzuwandeln begannen.

Am späten Nachmittag aber war der Aufenthalt in der Küche heimeliger, denn sobald die Sonne auf ihrer absteigenden Bahn einen bestimmten Punkt überschritten hatte, wurde es auf der Terrasse schon empfindlich kühl. Der Sommer war endgültig vorüber. Das Abendessen war deshalb ins Wohnzimmer verlegen worden.

Diese Essen zu viert auf der Waldner’schen Dachterrasse hatten eine lange Tradition. Stefan Frank und Ulrich Waldner kannten sich bereits aus Studienzeiten. Während es Ulrich nach dem Staatsexamen aber in den OP gezogen hatte und er als renommierter Chirurg mittlerweile die Waldner-Klinik leitete, hatte sich Stefan als Hausarzt und Geburtshelfer eine eigene Praxis in Grünwald eingerichtet.

Patienten, die eine Operation benötigten, überwies er trotzdem meist in Ulrichs Klinik, was aber nicht vorrangig ihrer Freundschaft geschuldet war, sondern dem ausgezeichneten Ruf der Klinik. Natürlich hatte sich dadurch auch ihre Freundschaft vertieft, was umso angenehmer war, als sich ihre Lebensgefährtinnen ebenfalls ausgezeichnet verstanden.

Da Ruth eine exzellente Gastgeberin und Köchin war, luden die Waldners im Sommer öfter mal Freunde zu einem opulenten Festessen auf die Dachterrasse ein. Da war es unvermeidlich, dass, wenn Stefan und Alexandra die Gäste waren, es regelmäßig zu langen Fachgesprächen kam, die manchmal bei Wein und Kerzenschein bis weit nach Mitternacht andauerten. Sobald sich zwei Ärzte trafen, waren medizinische Themen unvermeidlich, und hier waren in diesem Fall gleich vier Ärzte versammelt.

Heute nun sollte sich zeigen, ob die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen Ruth und Ulrich auch in der Küche so gut funktionierte. Die beiden Paare hatten sich darauf geeinigt, dass die Waldners für den Hauptgang und das Ambiente zuständig waren, während sich Stefan und Alexandra um die Vorspeisen und den Nachtisch kümmern würden.

Zum Glück war die Küche groß genug für vier Personen. Aber je weiter der Nachmittag fortschritt, umso häufiger standen sie sich im Weg, und irgendwann wischte sich Ruth angestrengt über die Stirn.

„Ich glaube, wir sollten beim nächsten Mal lieber wieder nach altem Muster vorgehen“, sagte sie schließlich. „Wer einlädt, kocht, und die Gäste bringen den Wein mit. Ich kann mich in meinem Refugium gar nicht richtig bewegen.“

„Ja, das fände ich auch gut“, ging Stefan schnell auf das Angebot ein, da sein Beitrag in den letzten Minuten vor allem darin bestanden hatte, den anderen dreien auszuweichen. „Man weiß ja auch gar nicht, wo sich alles befindet. Stellt euch mal vor, das liefe in meiner Praxis genauso und meine gute Martha hätte plötzlich keinen Durchblick mehr.“

Alle lachten, denn natürlich kannten sie Stefans resolute Sprechstundenhilfe Martha Giesecke, die mit schnoddriger Berliner Schnauze und großem Berliner Herzen in seiner Praxis ein strenges Regiment führte. Wenn etwas nicht in festgefügten Bahnen lief und sich dadurch Verzögerungen einstellten, konnte Schwester Martha ziemlich ungemütlich werden.

„Aber so weit hergeholt ist der Gedanke gar nicht“, sagte Ulrich Waldner und drehte sich, ein großes Küchenmesser in der Hand, zu seinen Freunden um. „Wie ich von mehreren Kollegen bundesweit gehört habe, stellen immer mehr Krankenhäuser auf sogenannte Pools um. Das heißt, da arbeiten nicht mehr bestimmte Krankenpfleger und -schwestern auf einer bestimmten Station, sondern die Pflegekräfte werden je nach Bedarf von den entsprechenden Stationen aus dem Pool angefordert.“

„Und wozu soll das gut sein?“, fragte Alexandra, während sie eine süße klebrige Masse auf ihrem Nachtisch, einem Blechkuchen nach altem Hausrezept, glattstrich.

„Das spart Geld“, entgegnete Ruth. „Dadurch können Ausfälle beim Pflegepersonal besser kompensiert werden. Und es gibt praktisch niemals Leerlauf.“

„Leerlauf?“, fragte Stefan Frank. „Gibt es denn so was in einem Krankenhaus überhaupt? Unter Pflegekräften? Das würde mich aber sehr wundern. In den meisten Einrichtungen arbeiten die doch sowieso schon am Limit.“

„Da hast du wohl recht“, bekannte Ulrich. „Bei dieser Poolgeschichte geht vor allem darum, den ganzen Betriebsablauf ökonomischer zu gestalten. Die Kliniken kommen zunehmend unter wirtschaftlichen Druck. Wenn man sich diesen Dingen verschließt, ist man da vielleicht ganz schnell nicht mehr konkurrenzfähig“, erwiderte Ulrich.

„Aber ist das nicht ziemlich gruselig?“, fragte Stefan Frank zurück. „Wirtschaftliche Überlegungen an erster Stelle? Wo es doch vorrangig um die Gesundheit der Menschen gehen sollte?“

„Du hast vollkommen recht. Ich bin auch hin- und hergerissen, ob ich auf diesen Zug überhaupt aufspringen sollte. Trotz der ökonomischen Vorteile.“

„Ich denke“, erwiderte Stefan Frank, „dass sich die Ökonomen da ziemlich was vormachen. Sie glauben, Geld einsparen zu können, aber eigentlich müssten sie dann doch alle Pflegekräfte ständig auf allen möglichen Gebieten qualifizieren und fortbilden. Jemand, der jahrelang auf der, sagen wir, dermatologischen Abteilung gearbeitet hat, den kann man doch nicht einfach zu den Frischoperierten auf die Chirurgie schicken. Oder jemanden von der Augenklinik auf die Intensivstation.“

„Ach, es geht auch noch krasser“, warf Alexandra ein. „Ein alter Bekannter von mir, Krankenpfleger in der Kinderpsychiatrie, der jahrelang im Nachtdienst Kinder ins Bett gebracht und Tränen getrocknet hat, fand sich plötzlich auf der Krisenstation wieder, zwischen lauter randalierenden Suchtkranken. Nach seiner Aussage hatte er keine Chance, das abzulehnen, das wäre ihm als Arbeitsverweigerung ausgelegt worden.“

„Und?“, fragte Ulrich. „Hat er es unbeschadet überstanden?“

„Ja“, antwortete Alexandra. „Aber er hat sich anschließend krankschreiben lassen. Das erste Mal übrigens seit vielen Jahren. Ob das nun ökonomischer für das Haus war? Meiner Meinung nach hat er damit richtig gehandelt, denn so darf man mit seinen Pflegekräften nicht umgehen. Sie haben es schon schwer genug.“

„Stimmt“, erwiderte Ulrich. „Ich sollte das lieber bleiben lassen, was?“

„Zumindest, Uli, würde ich die Pflegekräfte zu solchen Dingen nicht verpflichten“, warf Stefan Frank ein. „Freiwillig ist es eine andere Sache. Du könntest ja beispielsweise eine Umfrage erstellen lassen, ob überhaupt jemand lieber in so einem Pool arbeiten will. Und den entsprechenden Kräften könntest du vielleicht einen besseren Lohn anbieten, schließlich sind dort auch der Stress und der Fortbildungsdruck höher.“

„Womit sich die Ersparnis schon wieder relativiert“, erwiderte Ulrich nach kurzem Überlegen. „Aber ihr habt völlig recht. Danke, dass ihr mir das grade nochmal so klar vor Augen führt. Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.“

„Wobei es in deinem Fall ein ganz besonderer Wald ist“, entgegnete Stefan Frank schmunzelnd, „schließlich hat deine Klinik einen ausgezeichneten Ruf. Aber glaubst du tatsächlich, dass das Renommee deines Hauses nur die auf hervorragenden Leistungen der Ärzte zurückzuführen ist? Das hast du zu mindestens fünfzig Prozent auch der guten Arbeit deiner Pflegekräfte zu verdanken.“ Er zwinkerte Ulrich zu. „Wie ich meiner Schwester Martha. Und Pflegekräfte arbeiten nun mal umso besser, je harmonischer die Abläufe auf der Station sind. Stell dir doch mal vor, was los wäre, wenn dort jeden Tag die Hälfte der Belegschaft wechseln würde.“

„Na, so krass wäre es nun auch wieder nicht“, wandte Ulrich Waldner ein. „Es gäbe immer noch eine Stammbesetzung. Aber ja, das würde die Ablaufe und die Atmosphäre auf den einzelnen Stationen schon empfindlich stören. Schließlich sind die alle aufeinander eingespielt.“

„Ganz genau! Und nur zufriedenes Pflegepersonal garantiert eine hervorragende Pflege. Was meinst du, warum ich meine gute Martha beinahe schalten und walten lasse, wie sie will? Je mehr sie mitmachen darf, umso mehr kann ich mich auf sie verlassen. Und verlässlich ist sie, das kann ich euch sagen. Auch wenn sie manchmal ein bisschen anstrengend ist, ich wüsste nicht, was ich ohne sie täte.“

„Womit wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs wären“, sagte Alexandra lachend.

„Dann ist es ja gut, dass wir das geklärt haben“, mischte sich plötzlich Ruth ein.

Sie war in den letzten Minuten auffällig still geblieben. Stefan Frank hatte mit einem Mal den Verdacht, dass die ganze Idee dieses Kochwettbewerbs nichts anderes gewesen war als ein von Ruth sorgfältig eingefädeltes Zusammentreffen.

Wahrscheinlich hatten sie hier zu viert – schön abgelenkt von der Küchenarbeit – ganz zufällig über die Einrichtung eines solchen Pflegekräftepools sprechen sollen. Womöglich hatte Ruth mit ihren Mann schon häufiger über dieses Thema diskutiert, war aber gegen Ulrich, der als Klinikleiter natürlich einen anderen Blick auf die ganze Sache haben musste, nicht angekommen.

Es schien tatsächlich so zu sein, denn als sie später zusammen die Schüsseln und Teller ins Wohnzimmer trugen, drängte Ruth sich kurz an Stefans Seite.

„Danke euch“, murmelte sie leise und bekräftigte damit seinen Verdacht.

„Gern geschehen“, antwortete der Arzt schmunzelnd.

Er war felsenfest davon überzeugt, dass sein Freund Ulrich früher oder später auch ohne dieses Gespräch zum gleichen Ergebnis gekommen wäre. Aber manchmal war es nicht verkehrt, bei der Meinungsfindung ein bisschen nachzuhelfen.

***

Leonie Faber saß in einem Nürnberger Krankenhaus am Bett ihres Mannes und hielt vorsichtig seine Hand. Es war die verletzte rechte Hand.

„Lass mal, Jonny, das kriegen wir schon wieder hin“, sagte sie tapfer und schluckte. „Hauptsache, dir ist nicht mehr passiert.“ Dabei zitterten ihre Lippen, der blonde Pferdeschwanz wippte und die großen blauen Augen schauten verunsichert.

Mit vierundzwanzig Jahren um ein Haar Witwe geworden zu sein, das steckt sie nicht so einfach weg, dachte Jonathan Faber, den auch im Krankenhaus alle nur Jonny nannten. Hier lag er nun mit mehreren gebrochenen Rippen, einem angebrochenen Becken, unzähligen blauen Flecken und einer deftigen Gehirnerschütterung beinahe unbeweglich im Bett.

Die Gehirnerschütterung war zum Glück schon wieder etwas abgeklungen. Gottseidank, denn diese ständigen Schwindelgefühle und Kopfschmerzen waren auch mit Medikamenten nur schwer erträglich. Noch immer verhinderte sein angeschlagener Kopf, dass er ganz klar denken konnte.

Die Erinnerungen an die ersten Tage nach dem Unfall fehlten ihm sogar ganz. Wahrscheinlich hatte er ziemlich dümmlich herumgestottert und auch sonst ein absolutes Bild der Lächerlichkeit abgegeben. Allerdings war angesichts seines jetzigen Zustands fraglich, ob das nicht sogar als besser einzuschätzen war.

Denn nun bekam er alles mit, was mit ihm passierte, und das war unerträglich peinlich. Sich als erwachsener Mann tagtäglich den Hintern abwischen lassen zu müssen, das war der Gipfel der Demütigung. Fehlte nur noch, dass sie ihn hier in Windeln packten wie ein Baby. Aber das angebrochene Becken erlaubte im Moment wohl keine andere Vorgehensweise.

Noch schlimmer, wenn auch weniger peinlich, war die Sache mit seiner rechten Hand. Da konnte Leonie ihm über den Arm streichen, so viel sie wollte, Jonny war sich sicher, dass sie die Dramatik dieses Umstandes nicht annähernd erfasste.

Wie sollte er denn, bitte schön, als Architekt mit einer zerquetschten rechten Hand noch Bauzeichnungen anfertigen können? Gut, wahrscheinlich war hier das letzte Wort noch nicht gesprochen. Nötigenfalls trainierte er eben auf die linke Hand um, andere schafften das ja auch.

Aber was würde sein neuer Arbeitgeber sagen, wenn er Jonnys Hand sah? Die sah aus wie von einem Wolf zerfleischt, verkrustet und geschwollen, und bewegen ließ sie sich auch nicht mehr.

Jonny hatte einen furchtbaren Schreck bekommen, als er die unförmige Pranke beim Verbandswechsel zum ersten Mal gesehen hatte. Noch schlimmer war das Röntgenbild, das ihm der behandelnde Arzt auf sein Drängen hin gezeigt hatte. Normalerweise hatte ein Mensch doch fünf klar erkennbare Finger an einer Hand, oder nicht? Aber auf dem Bild war nur eine undefinierte Menge von Knochenfragmenten zu sehen gewesen, notdürftig in eine handähnliche Struktur zurückoperiert.

Zu allem Unglück hatten sich nun auch noch die Nähte entzündet. Um eine drohende Amputation zu verhindern, musste Jonny täglich Unmengen von Antibiotika schlucken. Schon allein davon konnte einem anders werden. Und das wurde es im Grunde auch, denn manchmal überkam ihn fast ein Lachen, wenn er daran dachte, wie verkorkst seine Situation jetzt war. Mit fünfundzwanzig ein Krüppel zu sein, war nicht das, was er sich vom Leben erhofft hatte.

Bisher war er ein Gewinner gewesen – ein Macher, ein richtig cooler Typ. Jung, sportlich, attraktiv, und clever obendrein! Das Architekturstudium hatte er mit Bravour bestanden, und es war ihm nicht einmal besonders schwergefallen. Mathematik lag ihm im Blut, Physik ebenfalls, und ein perfektes Vorstellungsvermögen hatte er schon immer gehabt.

Übrigens auch im Hinblick auf Frauen. Selten hatten die Frauen, mit denen er eine Beziehung begonnen hatte, nicht in der allerersten Liga gespielt. Obwohl, Beziehung konnte man das wohl nicht nennen. Affäre oder Kurzbekanntschaft traf es eher.

Nur von Leonie hatte er sich nicht so leicht wieder lösen können. Obwohl er anfangs vorgehabt hatte, auch sie, genau wie die anderen, nach einer gewissen Zeit wieder gehen zu lassen. Das war die ziemlich freundliche Umschreibung dafür, dass er sich meistens recht unvermittelt aus dem Staub gemacht hatte, wenn ihn eine Frau nach kurzer Zeit wieder gelangweilt hatte. Schließlich war das Leben kurz, und Gelegenheiten gab es viele, da wäre es dumm gewesen, sich allzu früh festzulegen.

Und dann hatte ausgerechnet er, der coole Jonny, Leonie einen Heiratsantrag gemacht. Mit nicht mal dreiundzwanzig! Vor knapp drei Jahren war das gewesen, und mittlerweile war er sogar Vater. Zwei Jahre war Alva jetzt alt, und sie war sein Schatz, sein Ein und Alles.

Jonny konnte nur den Kopf schütteln vor Verwunderung, wie sein Leben sich entwickelt hatte. Und das Allerverrückteste war, dass er wirklich alles wieder genauso machen würde. Leonie war einfach klasse: als Geliebte, als Partnerin, als Mutter und als Freundin. Selbst jetzt ließ sie sich nicht unterkriegen.

***

Erschöpft trat Leonie durch das Krankenhausportal hinaus auf die Straße.

Der Besuch eben bei Jonny hatte sie mehr geschlaucht, als sie zugeben mochte. Mit vierundzwanzig Jahren plötzlich völlig auf sich gestellt zu sein, ohne zu wissen, ob der Mann jemals wieder richtig gesund werde würde, war keine leichte Sache, zumal, wenn man auch noch ein Kleinkind zu versorgen hatte. Zum Glück hatte Jonny nicht bemerkt, wie niedergeschlagen sie wirklich war.

Dieser verdammte Unfall hätte einfach nicht passieren dürfen! Es war reine Schlamperei gewesen. Irgendjemand auf der Baustelle hatte eine Fertigbauplatte nicht richtig arretiert, und sie war mit ihrem ganzen Gewicht auf Jonny gefallen, als der gerade dabei gewesen war, die Arbeit eines Gewerkes zu überprüfen.

Zum Glück hatte er sich noch zur Seite rollen können, als sich die Platte plötzlich aus der Verankerung gelöst hatte, sonst wären ihm die Beine und vielleicht sogar der Brustkorb zerdrückt worden. So hatte es nur die rechte Hand dermaßen schlimm erwischt. Leonie hatte die Befürchtung, dass Jonny nie wieder richtig schreiben oder zeichnen können würde. Ob ihm das klar war?

„Na, wo bist du mit deinen Gedanken?“

Vor dem Krankenhaus wartete Inga, Leonies beste Freundin. Inga war genau wie Leonie vierundzwanzig Jahre alt. Sie waren früher zusammen in die gleiche Schule gegangen, sogar in dieselbe Klasse. Ihre Freundschaft war allerdings noch älter. Sie hatte auf einem Spielplatz begonnen, wo ihre Mütter sich regelmäßig mit anderen Müttern zum Aufbau einer Krabbelgruppe getroffen hatten.

Seither waren Leonie und Inga unzertrennlich, obwohl sie sich, zumindest äußerlich, überhaupt nicht ähnlich waren. Leonie war zart und fast ein bisschen elfenhaft, während Inga einen eher kräftigen Körperbau aufwies. Auch war Ingas Haar viel dichter, brünett und leicht gekraust, während Leonie so feines blondes Haar hatte, dass auf ihrer hellen Haut die Ansätze fast nicht zu sehen waren.

In einem aber waren sie sich gleich: Sie dachten beide sehr praktisch und konnten kräftig zugpacken. Vor allem die zarte Leonie wurde dahingehend oft unterschätzt, denn man traute ihr anstrengende körperliche Arbeit einfach nicht zu.

Dabei hatte sie sogar eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert, und das war ja nicht gerade eine Arbeit, die im Ruf stand, besonders leicht zu sein. Seit Alvas Geburt war sie allerdings zu Hause geblieben, aber das sollte sich ab Oktober eigentlich wieder ändern.

„Oh, Inga! Ich weiß wirklich nicht, wie das demnächst gehen soll. Gerade war wieder alles im Lot und Jonny kurz davor, dieses schwierige Projekt endlich abzuschließen. Und nun das!“ Ratlos hob Leonie die Hände.

„Ach Leonie“, sagte Inga mitfühlend und hängte sich bei ihrer Freundin ein. „Sag mal, hast du vielleicht noch ein paar Minuten? Wollen wir noch irgendwo einen Kaffee trinken gehen?“

Leonie nickte. „Gute Idee. Meine Mutter wartet zwar sicher schon, aber ich werde ihr einfach eine SMS schicken. Sie wird es verstehen.“

Leonies Mutter passte im Moment auf Alva auf. Dagmar Köhler war aufgrund einer schweren degenerativen Muskelerkrankung frühverrentet, was keine schöne Sache war, weder gesundheitlich noch finanziell. Zusätzlich hatte sie vor vielen Jahren durch einen schmutzigen Scheidungskrieg gehen müssen und ihre einzige Tochter anschließend allein aufgezogen.

Aber hinsichtlich Alvas Betreuung war es jetzt natürlich ein Glücksfall, denn auf diese Weise konnte sie Leonie die Kleine öfter mal abnehmen. Vor allem jetzt, wo der ganze Haushalt auf Leonies Schultern lastete und sie sich noch zusätzlich um Dinge kümmern musste, die eigentlich in Jonnys Aufgabenbereich fielen, war die Frühverrentung von Vorteil.

Der Schwiegersohn lag nun seit einer Woche im Krankenhaus, und es war nicht absehbar, inwieweit seine Gesundheit wieder vollständig hergestellt werden konnte. So, wie Dagmar Köhler ihre Tochter verstanden hatte, hatte der Unfall eventuell sogar Auswirkungen auf Jonnys berufliche Zukunft. Zum Glück hatte er den neuen Arbeitsvertrag schon unterschrieben – nicht auszudenken, wenn der Unfall zuvor passiert wäre!

Dagmar Köhler mochte ihren Schwiegersohn. Er war ihr zwar manchmal ein bisschen zu selbstbewusst und machte mit seiner schwarzen Lederjacke und dem Motorrad gern auf supercool, aber er liebte Leonie aufrichtig und hatte sich – vor allem, seit Alva auf der Welt war –, zu einem mustergültigen Ehemann gemausert.

Außerdem hatte er beruflich schon einige Erfolge aufzuweisen. Wie es damit allerdings weitergehen würde, stand in den Sternen.

Insofern war die SMS, mit der Leonie anfragte, ob sie Alva noch ein bisschen länger bei ihrer Mutter lassen könne, schon in Ordnung. Dagmar Köhler tat alles, um ihrer Tochter durch diese schwere Zeit zu helfen, und wenn es schon nicht mit Geld war, so wollte sie Leonie zumindest zeitlich etwas mehr den Rücken freihalten. Es nutzte ja nichts, wenn Leonie jetzt auch noch zusammenbrach.

Nachdem ihre Zusage also auf Leonies Handy eingegangen war, gingen die beiden Freundinnen in ein nahe gelegenes Café, wo sie sich jeweils einen Café Latte bestellten. Inga orderte noch zusätzlich ein Stück Kuchen, während sich Leonie mit dem zum Kaffee servierten Plätzchen begnügte.

„Und?“, fragte Inga, nachdem die Kellnerin den Tisch wieder verlassen hatte. „Wie geht es Jonny? Macht er Fortschritte?“

Leonie nickte unschlüssig. „Na ja. Zumindest ist er jetzt wieder einigermaßen klar im Kopf. Das war echt gruselig, als er mich am Anfang gar nicht erkannt hat. Laut Auskunft seines Arztes hatte er anfangs wohl auch ziemliche Alpträume und konnte nicht mehr richtig zwischen Traum und Realität unterscheiden.“

„Echt? Gruselig. Stell dir mal vor, du wärst in einer Zeitschleife gefangen und müsstest deine schlimmsten Erlebnisse immer wieder durchmachen.“

„Nein, das will ich mir gar nicht vorstellen. Mir reicht, was ich zur Zeit erlebe.“

„Stimmt, da hast du recht.“ Inga nickte. „Hat denn der Arzt sonst noch was gesagt?“

Leonie schluckte. „Ja. Das Becken und die Rippen kommen wohl wieder ganz in Ordnung, und die Gehirnerschütterung auch. Zum Glück ist der Kopf nicht noch schlimmer angeschlagen. Aber die Hand, da sieht es leider nicht so gut aus.“ Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Gar nicht gut, um genau zu sein.“

„Wieso, was ist denn los?“

Leonie sah Inga an. „Die Nähte haben sich schlimm entzündet. Es könnte sogar sein, dass sie die Hand amputieren müssen, trotz dieser ewig langen Operation.“

„Was?!“ Inga sah Leonie erschrocken an. „Das ist ja … Um Gottes willen! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Ich habe keine Ahnung, wie das werden soll. Ich meine, wie soll ich das denn alles ganz allein schaffen? Den Umzug, das Einrichten der Wohnung, und dann noch die neue Stelle in München? Ich habe doch auch nur zwei Hände …“ Sie stockte. „Was für ein blödes Wortspiel!“, flüsterte sie, während ihr eine Träne über die Wange rollte.

„Ach Mensch“, sagte Inga und nahm Leonie in die Arme. Es ging ihr unglaublich nahe, die Freundin so leiden zu sehen. „Ich bin sicher, das sieht jetzt alles viel schlimmer aus, als es tatsächlich ist“, versuchte sie, Leonie zu trösten. „Blöd ist natürlich, dass der Umzug ausgerechnet jetzt ansteht. Könnt ihr den nicht verschieben?“

„Leider nein.“ Leonie schüttelte den Kopf. „Mit den neuen Arbeitgebern ließe sich zwar bestimmt verhandeln, vor allem mit meinem, denn ich habe meinen Arbeitsvertrag ja noch nicht unterschrieben. Das sollte am ersten Arbeitstag passieren. Und mit Jonnys neuem Chef könnte man sicher auch reden. Das Problem ist ein anderes: Wir müssen Ende September aus unserer Wohnung raus sein. Die ist nämlich schon wieder neu vermietet.“

„Ach, das ist ja blöd.“

„Du sagst es. Die Wohnung muss dann auch renoviert sein. Aber das lässt sich über Jonnys Büro organisieren, die kennen die besten und günstigsten Handwerker. Nur der Umzug selbst, der macht mir Bauchschmerzen. Selbst wenn wir nämlich eine Firma beschäftigen, die alles einpackt und am Ende eine komplett eingerichtete Wohnung übergibt, gibt es ja hinterher noch viel zu machen. Wer baut mir zum Beispiel die neuen Möbel auf? Wir nehmen ja nicht alle Möbel mit.“

Leonie zuckte entmutigt die Schultern.

„Und ganz nebenbei habe ich dort auch noch das normale Leben am Hals, also arbeiten, einkaufen, Haushalt, dazu die Ummeldungen und das alles. Und Alva braucht in den ersten Tagen natürlich auch mehr Zuwendung, weil ihr die Umgebung völlig fremd ist. Ich habe echt keine Ahnung, wie ich das alles stemmen soll.“ Ratlos sah sie die Freundin an.

„Weißt du was?“, sagte Inga und legte ihre Hand beruhigend auf Leonies Arm. „Ich werde einfach ein paar Tage Urlaub nehmen. Dann kann ich dir hier beim Umzug helfen, mache die Übergabe für dich und komme anschließend nach München. Dann wärst du die ersten Tage nicht ganz allein.“

Leonie sah Inga an. „Das würdest du tun?“

Inga zuckte mit den Schultern.

„Hey, du bist meine beste Freundin. Na klar würde ich das tun. Außerdem lerne ich dann endlich mal München kennen. Wo werdet ihr eigentlich wohnen?“

„In Grünwald.“ Leonie lächelte schwach. „Das ist ein Vorort oder ein Stadtteil, ganz wie du willst, und sehr grün, wie der Name schon sagt. Wir haben dort eine Doppelhaushälfte gemietet, nicht ganz billig zwar, aber dafür in einer super Lage, ganz nahe am Wald.“

„Das klingt gut.“ Inga sah ihre Freundin an. „Kopf hoch, Leonie. Das kommt alles wieder in Ordnung. Jonny ist ein Kämpfer, du kennst ihn doch. Es würde mich nicht wundern, wenn der in drei Monaten schon wieder mit Free Climbing oder irgendwas anderem Verrückten anfängt.“

Leonie musste trotz der verfahrenen Situation lachen.

„Oh Gott, Inga, ich hoffe, du hast recht. Im Moment wird er jedenfalls erst mal ziemlich mit Antibiotika vollgepumpt. Hoffentlich wirkt das auch!“

„Das wird es“, versicherte Inga „ganz bestimmt! Du wirst sehen, in einem halben Jahr ist die ganze Sache wieder Geschichte.“

***

Zwei Wochen später sah die Sache tatsächlich schon ein bisschen besser aus, zumindest aus Jonnys Perspektive. Jetzt durfte er sich nämlich, zumindest einmal am Tag, vorsichtig in den Rollstuhl hieven, der neben seinem Bett stand, um sich zur Toilette schieben zu lassen.

Darauf hatte er bestanden, obwohl sein Becken ihm dabei immer noch jedes Mal sehr unfreundlich Bescheid gab, dass es mit der Aktion ganz und gar nicht einverstanden war. Aber so konnte er zumindest die peinlichste Sache der Welt wieder selbst erledigen. Wobei das nicht ganz so einfach war, wie es klang, denn seine rechte Hand ließ sich immer noch nicht gebrauchen.

Aber das machte nichts, dachte Jonny grimmig, dann schulte er eben hier schon auf die linke Hand um. Irgendwann musste er mit dem Training sowieso beginnen, warum also nicht an einem Ort, wo ihn wirklich niemand beobachten konnte?

Die ersten Versuche fielen zwar jämmerlich aus, und das Ergebnis war auch nicht gerade zufriedenstellend, aber er hatte ja Zeit. Viel Zeit. Es würde schon werden.

Die Tatsache, langsam wieder Herr über seine elementaren Körperfunktionen zu werden, ließ Jonny sich um einiges besser fühlen. Wenn man es nicht ganz furchtbar genau nahm, war er schon fast wieder ein Mann, abgesehen davon, dass er sich immer noch nicht bewegen durfte, wie er wollte, und weiterhin darauf hören musste, was andere ihm sagten.

Aber das würde sich in kürzester Zeit auch wieder geben, dachte Jonny, während ihn eine Schwester mit verbiestertem Gesichtsausdruck den Flur zu seinem Zimmer entlangschob. Leider war sie auf der ganzen Station als Drachen verschrien, sonst hätte er jetzt gern einen ersten Flirt versucht. Das hatte nichts mit Leonie zu tun, er brauchte nur einfach mal wieder das Gefühl, nicht die ganze Zeit nur als Patient, sondern auch als Mann gesehen zu werden.

Als die Schwester die Tür zu seinem Krankenzimmer öffnete, stand sein Kumpel Nico dort und schaute mit auf dem Rücken verschränkten Händen und vorgerecktem Hals zum Fenster hinaus. Wie ein verschrobener Professor sah er mit dieser Haltung aus. Jonny musste grinsen. Nico war ebenfalls fünfundzwanzig Jahre alt und sein bester Freund.

Jetzt drehte er sich zur Tür herum. „Na, zurück von der Keramikausstellung?“

Jonny bedachte Nico mit einem speziellen Blick, während er sich mit Hilfe der Schwester mühsam wieder ins Bett hievte. Nico durfte sich solche Scherze erlauben, denn er wusste genau, wie weit er dabei gehen konnte. Ihm hätte Jonny sogar seine Frau anvertraut, ohne zu argwöhnen, dass Nico die Situation ausnutzen würde.

„Und? Wie läuft‘s?“, fragte Nico, nachdem sich Jonny endlich wieder im Bett eingerichtet hatte.

„Wird!“

„Cool.“

„Ja.“

Das reichte schon. Mehr mussten sie gar nicht sagen. Jonny konnte sicher sein, dass Nico ihn richtig verstand und sowohl seine Freude über die kleinen Fortschritte als auch seine Angst hinsichtlich der beruflichen Zukunft aus der Antwort herauslesen konnte.

Wie erwartet nickte Nico. „Und München? Bleibt da alles wie gehabt?“

„Muss ja. Die Wohnung ist gekündigt, der neue Arbeitsvertrag unterschrieben … Was soll ich machen? Außerdem brauche ich mal wieder frischen Wind um die Nase. Das Projekt hat mich sowieso nur noch genervt. Und jetzt hat es mir auch noch einen besonderen Abschiedsgruß beschert.“ Jonny hob die verletzte Hand. „Wahrscheinlich hätte ich schon viel früher kündigen sollen.“

„Könnte sein. Obwohl ich’s immer noch schade finde.“

„Kannst uns ja jederzeit besuchen kommen.“

„Logisch! Und Leonie? Kommt sie klar soweit?“

„Denke schon. Obwohl es wirklich blöd ist, dass ich ausgerechnet jetzt ausfalle. Für den Umzug haben wir ein gutes Unternehmen gefunden, und meine Eltern haben noch was zugeschossen, sonst wär’s zu teuer geworden. Die Renovierung geht auch klar. Schwerer wird’s dann in München. Da kennen wir niemanden, und ich komme ja erst ’ne Ecke später nach.“

Nico zog die Stirn in Falten. „Leider kann ich mich nicht freimachen. Sonst hätte ich Leonie beim Aufbau der neuen Möbel helfen können.“

„Muss eben warten. Hauptsache, mit Alva geht alles klar. Leonie hat für die erste Zeit eine Kinderfrau gefunden, über eine Agentur, sie wollte sichergehen. Ich denke, das wird schon.“

Nico nickte unschlüssig. So richtig konnte er Jonnys Zuversicht nicht teilen, denn es war schon ein ganz schöner Berg an Aufgaben, den Leonie da vor sich hatte. Machte sich Jonny nicht ein bisschen was vor?

Andererseits brachte es wohl nichts, wenn Nico seinem besten Kumpel ausgerechnet jetzt die gute Laune verhagelte. Jonny war gerade richtig gut drauf, fast ein bisschen euphorisch. Dabei war es ziemlich heftig, was er hier selbst durchgerade durchmachte. Da musste Nico ihm nicht unbedingt jetzt mit seinen Befürchtungen kommen. Und Leonie, da hatte Jonny recht, war tatsächlich viel tougher, als sie aussah.

„Gut, dann mache ich mich mal wieder auf den Weg, Kumpel“, sagte er also und schlug Jonny vorsichtig-freundschaftlich auf den linken, unverletzten Arm. „Ich melde mich die nächsten Tage noch mal. Und ich hole dich natürlich ab, wenn du hier wieder rauskommst. Dann trinken wir noch ein kühles Bier im ‚Einstein‘, zum Abschied, okay?“

„So machen wir’s“, erwiderte Jonny und grinste.

***

Der Tag des Umzugs war da. Leonie, die bei ihren Freunden im Allgemeinen als sehr entspannt galt, rannte im Versuch, möglichst überall gleichzeitig zu sein, aufgeregt die Treppen hinauf und hinunter.

Die ersten Möbel wurden bereits eingeladen, während im Kinderzimmer und der Küche weitere Mitarbeiter der Umzugsfirma immer noch beim Einpacken waren. Vorsichtig nahmen sie die Sachen aus den Schränken, Schubladen und Anrichten, und obwohl sie sie sorgsam in Zeitungs- oder Seidenpapier einschlugen, ging das Ganze in einer atemberaubenden Geschwindigkeit vor sich.

Es fühlte sich schon ziemlich komisch an, ihr altes Leben jetzt einfach so hinter sich zu lassen. Mit vierundzwanzig dauerhaft aus der Geburtsstadt wegzuziehen, war ein nicht so ganz einfacher Schritt.

Leonie war zwar schon vor vier Jahren ganz zu Hause ausgezogen, aber dies war ein Neustart. Ein Jahr lang hatte sie mit Jonny das Zusammenleben in der gemeinsamen Wohnung ausprobiert. Als dann klar gewesen war, dass sie heiraten würden, und kurze Zeit später Alva unterwegs gewesen war, hatte Leonie auch alles aus ihrem alten Kinder- und Jugendzimmer zu sich in das neue Zuhause geholt.

Zum Glück war Alva heute bei dem ganzen Trubel nicht dabei, sie wurde zur Zeit von Leonies Mutter beaufsichtigt. Dafür war Jonnys Vater gekommen und schleppte zusammen mit den Möbelpackern Kisten und Boxen nach unten, als wäre er keinen Tag älter als zwanzig.

Inga war natürlich auch da und wachte mit Argusaugen darüber, dass beim Einpacken nichts schiefging oder eine wichtige Sache vergessen wurde. Einige Möbel blieben ja auch hier. Die würde Jonnys Vater später noch abholen und erst einmal in seiner eigenen Garage unterstellen, bevor Leonie und Jonny sie verkaufen konnten.

Heute allerdings würde er erst einmal mit nach Grünwald fahren und den Möbelpackern beim Einräumen der neuen Wohnung helfen, denn das war der Teil, der eigentlich Jonny zugedacht gewesen war.

Am frühen Nachmittag setzte sich der Transporter endlich Richtung Autobahn in Bewegung. Als der Transporter unter Ächzen und Schnaufen um die Ecke bog, atmeten Inga und Leonie auf. Der erste Akt war geschafft. Nun ging es noch ans Ausfegen der Wohnung und ans Abdecken der zurückgelassenen Möbel, die mittlerweile alle im hintersten Zimmer standen. Dann konnten schon die Maler kommen, denn bis zur Wohnungsübergabe waren es nur noch drei Tage.

Leonie drückte Inga den Mietvertrag, sämtliche Schlüssel sowie eine Vollmacht in die Hand. Dann ging sie noch einmal langsam durch alle Zimmer und nahm Abschied. In diesen Räumen hatte sie die glücklichsten Stunden ihrer bisherigen Ehe erlebt. Hoffentlich ließ sich das gute Gefühl nach München mitnehmen.

***

Es war schon dunkel, als Leonie bei ihrer Mutter ankam. Zuvor hatte sie mit Inga noch einen Kaffee getrunken und der Freundin allerletzte Instruktionen gegeben. Außerdem hatten sich die beiden noch einmal ihrer festen Freundschaft versichert und sich mehrere Male in die Hand versprochen, einander so schnell wie möglich zu besuchen.

Angesichts der Tatsache, dass Inga sofort nach der Wohnungsübergabe nach München kommen würde, war das vielleicht etwas zu viel gewesen. Aber schließlich gab es solche Abschiede nicht alle Tage. Wie man hörte, war schon mehr als eine Freundschaft an einer großen Entfernung zerbrochen, auch wenn Inga und Leonie das in ihrem Fall für völlig ausgeschlossen hielten.

Alva schlief bereits. Leise schnaufend lag sie in ihrem Prinzessinnenbettchen, als Leonie vorsichtig in ihr Zimmer schaute. Der morgige Tag würde aufregend genug für sie werden, deshalb wollte Leonie sie nicht wecken und schloss die Tür ihres ehemaligen Kinderzimmers schnell wieder.

Am schlimmsten war die ganze Angelegenheit sowieso für Leonies Mutter, die nun jedes Mal eine weite Anreise auf sich nehmen musste, wenn sie die Enkelin sehen wollte. Da half es auch nichts, dass Leonie ihr bei einem Glas Wein ebenfalls versprach, so oft wie möglich mit Alva nach Nürnberg zu kommen.

Die Nacht verlief vergleichsweise ruhig, obwohl Leonie vor lauter Aufregung nicht übermäßig viel Schlaf bekam. Spätabends hatte Jonnys Vater noch angerufen und berichtet, dass der Transport gut angekommen und die Wohnung zum größten Teil schon wieder eingerichtet war.

Die Doppelhausnachbarn waren anscheinend sehr kulant. Sie hatten ihn bis spät in die Nacht hämmern und bohren lassen, nachdem sie vom Unfall seines Sohnes erfahren hatten. Es schienen nette Leute zu sein, ein Paar in mittlerem Lebensalter, das selbst keine Kinder bekommen konnte und sich deshalb auf Alvas Ankunft freute.

Sogar die Schlüssel hatte Jonnys Vater bei ihnen deponieren dürfen, was bedeutete, dass er sich nicht noch spätabends in den Zug setzen musste, um am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe wieder in Nürnberg zu sein. Das waren doch gute Nachrichten.

Trotzdem wallten die Gemüter am nächsten Tag, noch einmal ziemlich hoch, als es ans endgültige Verabschieden ging. So schnell es ihre Gesundheit zuließ, würde Dagmar Köhler nach Grünwald kommen. Jetzt unterdrückte sie um Alvas willen, die nicht noch zusätzlich aufgeregt werden sollte, ein paar Tränen, als sie Tochter und Enkelin zum vorerst letzten Mal in den Arm nahm und sie dann in die fremde Stadt entließ.

Die Fahrt nach München verlief zum Glück ohne größere Aufregung, obwohl es anstrengend war, Alva im Kindersitz ruhig zu halten und gleichzeitig auf die Straße zu achten.

Da Alva entgegen Leonies Hoffnung von den schunkelnden Bewegungen des Autos nicht wieder eingelullt worden war, hatte Leonie kurz überlegt, nicht die Autobahn zu nehmen, wo der Verkehr die ganze Zeit in einem wahnsinnigen Tempo an ihr vorüberbrauste.

Unter diesen Umständen pausenlos ein hellwaches Kind zu bespaßen, fühlte sich nicht gut an. Aber die Fahrt über Land hätte sehr viel länger gedauert, und so hatte Leonie schließlich in den sauren Apfel gebissen. Irgendwann wurden Alvas Augen dann wieder klein.

Als sie am frühen Nachmittag in Grünwald ankamen, herrschte dort bestes Herbstwetter. Die Sonne schien mild auf die vielen rot und gelb gefärbten Bäume und tauchte den Ort in ein zauberhaftes Licht. Auch Leonies neues Heim befand sich in einer baumbestandenen Straße, ganz in der Nähe zum Grünwalder Forst, und der Garten leuchtete in prächtigen Farben.

Leonie rangierte das Auto in den zum Haus gehörenden Carport und ließ die nun doch eingeschlafene Alva im Wagen, während sie bei den neuen Nachbarn klingelte, um die Schlüssel entgegenzunehmen.

Die Übergabe klappte reibungslos. Das nette Paar hatte sogar Brot und Salz vorbereitet, um Leonie die Ankunft im neuen Heim zu erleichtern – eine Geste, die Leonie zu Tränen rührte. Mit Alva auf dem Arm trat sie dann an die Haustür heran, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um.

Es war so weit! Ein neuer Lebensabschnitt konnte beginnen.

***

Der Montagmorgen begann allerdings mit großem Stress. Es war der erste Werktag und zugleich Leonies erster Arbeitstag auf der neuen Stelle.

Leonie war ungeheuer aufgeregt, denn seit Alvas Geburt war sie in keinem Krankenhaus mehr gewesen – außer, um Jonny zu besuchen. War sie überhaupt noch fähig, als Krankenschwester zu arbeiten? Kannte sie die ganzen Geräte und Medikamente noch, mit denen sie jetzt wieder zu tun haben würde? Erinnerte sie sich noch an all die Handgriffe, mit denen man jemanden umbettete, wusch, einen Verband wechselte?

Seit zwei Jahren hatten ihre Hände nur noch Alvas kleinen Körper berührt, um ihn zu waschen, zu cremen und zu windeln. Jetzt würde es ihr sicher nicht leicht fallen, sich wieder auf Erwachsene umzugewöhnen.

Aber die Hauptumstellung musste ohnehin in ihrem Kopf stattfinden, denn jetzt würde sie es mit wieder Menschen zu tun haben, die sie nicht kannte und zu denen sie logischerweise kein so ein inniges Verhältnis hatte wie zu Alva.

Es war schon erstaunlich, wie stark so ein kleines Kind das eigene Gefühlsleben umkrempelte und alles andere in den Hintergrund rücken ließ.

Gestern Nachmittag war Alvas neue Kinderfrau noch kurz vorbeigekommen. Wenn sie ehrlich war, hatte Leonie kein gutes Gefühl, Alva dieser Fremden zu überlassen, noch dazu in Räumen, die Alva noch nicht vertraut waren, auch wenn es sich hier um ihr neues Zuhause handelte.

Eigentlich hatte Jonny die nächsten zwei Wochen mit Alva zu Hause bleiben und sie langsam auf die Tagesmutter vorbereiten sollen, denn seine Stelle begann erst Mitte Oktober. Zugleich war geplant gewesen, dass sich Leonie langsam an ihre neue Stelle gewöhnte, einschließlich der Fahrwege, denn – hin oder her – ein Neueinstieg ins Arbeitsleben, noch dazu mit einem kleinen Kind, war alles andere als einfach.

Selbst wenn die übrigen Umstände in Ordnung waren, Jonny fehlte wirklich an allen Ecken und Enden.

Zum Glück kam heute Inga aus Nürnberg. Sofort nach der Übergabe der alten Wohnung würde sie in den Zug steigen und ganze sieben Tage hierbleiben, das hatte sie kurzfristig mit ihren Kollegen arrangieren können. Somit war wenigstens die erste Woche gerettet. Irgendwann am zeitigen Nachmittag wollte sie hier eintreffen, die Kinderfrau war bereits informiert, damit sie sie später einlassen konnte.

Alva würde sich sicher freuen, endlich ein bekanntes Gesicht zu sehen. Vielleicht kam sie nach dieser Woche ja auch schon allein mit der Tagesmutter klar.

Während sie Alva anzog, hatte Leonie das deutliche Gefühl, der ganzen Sache nicht gewachsen zu sein. Alva spürte ihre Ungeduld und Unsicherheit, denn sie quengelte, jammerte und wurde immer unleidlicher. Irgendwann wand sie sich schreiend aus Leonies Armen und wälzte sich brüllend auf den Boden des Zimmers.

Exakt in diesem Moment klingelte es an der Haustür. Es war die neue Tagesmutter.

Mit hochrotem Kopf bat Leonie die Frau, deren Augenbrauen sich angesichts des Geschreis verärgert zusammengezogen hatten, in die Diele und führte sie sofort in Alvas Zimmer.

„Sie müssen entschuldigen, die Situation ist für Alva ganz neu … Sie kommt noch nicht klar …“

„Na, so wird das aber auch nichts!“, unterbrach die Tagesmutter Leonie schroff. „Sie müssen schon ein Morgenritual einführen, damit das Kind eine feste Vorstellung vom morgendlichen Tagesablauf bekommt. Hat Ihnen das denn niemand gesagt?“

„Doch … schon …“ Leonie schluckte. „Aber es ist der allererste Tag, und ich …“

„Tja, so ein Ritual muss man eben zuvor schon mal geübt haben, sonst geht das nicht! Aber das macht natürlich Mühe. Manch eine setzt sich da lieber vor den Fernseher!“

Die Frau beugte sich zu Alva hinunter und zog ihr mit einer geschickten Bewegung den Pullover über den Kopf und fast gleichzeitig die Schühchen an. Das Ganze ging so schnell, das Alva es gar nicht richtig mitbekam.

Mit großen Augen starrte sie die fremde Frau an, die da plötzlich vor ihr kauerte und ihr die Hände entgegenhielt. Zögernd griff Alva zu und ließ sich von der Fremden vom Boden hochziehen, überrascht, aber doch bereit, die neue Tagesmutter sympathisch zu finden.

Obwohl Leonie froh war, dass diese Frau anscheinend wirklich gut mit Kindern umgehen konnte, fühlte sie, wie die ungerechtfertigte Zurechtweisung in ihr brodelte. Sie hatte gestern noch bis spät in die Nacht herumgeräumt, Dinge ein- und umsortiert und sogar einige kleinere Möbel aus eigener Kraft noch ein Stück verrutscht.

Auch Alvas Kinderbett hatte sie selbstständig ins Elternschlafzimmer hinaufgetragen, damit die Kleine nicht allein in ihrem Zimmer übernachten musste, das ihr ja noch völlig fremd war.

Das hatten sie zu Hause in Nürnberg genauso gehalten. Jonny und Leonie hatten gleich zu Anfang beschlossen, Alvas Bett solange im Elternschlafzimmer zu lassen, bis die Kleine von sich anzeigte, dass das nächtliche Schlafen im eigenen Zimmer kein Problem mehr für sie war.

Heute Nacht allerdings hatte Leonie Alva sogar zu sich ins große Bett nehmen müssen, ein Umstand, der nicht gerade dazu beigetragen hatte, Leonies eigenen Schlaf zu fördern. Zur Zeit schlief Alva ziemlich unruhig und warf sich beim Umdrehen minutenlang hin und her.

Leonie vermutete, dass der unruhige Schlaf auf den Trubel der letzten Tage und Wochen zurückzuführen war. Der Verlust der bisherigen vertrauten Umgebung war da wahrscheinlich nur das i-Tüpfelchen. Dass ihr Papa schon so lange nicht mehr aufgetaucht war, hatte in Alvas kleiner Seele vermutlich auch schon irgendein unbewusstes Verlustprogramm anlaufen lassen. Alva fühlte sich im Moment überhaupt nicht geborgen, das war deutlich zu merken.

Trotzdem musste die Kinderfrau jetzt sein. Und so war es nur zu begrüßen, dass sie mit Alva anscheinend gut auskam. Während die beiden inzwischen auf dem Boden saßen und sich mit einem Spielzeug beschäftigten, huschte Leonie ins Bad und schminkte sich kurz, dann goss sie den letzten Schluck des inzwischen kalt gewordenen Kaffees hinunter und griff nach Mantel, Tasche und Autoschlüssel.

Als sie noch einmal ins Kinderzimmer kommen wollte, um sich von Alva zu verabschieden, ließ ein warnender Blick der Tagesmutter sie an der Tür erstarren.

Die Frau hatte wahrscheinlich recht, im Moment war Alva so gut abgelenkt, dass sie Leonies Verschwinden bestimmt nicht bemerken würde. Trotzdem spürte Leonie einen schmerzhaften Stich im Herzen, als sie die Haustür jetzt leise ins Schloss fallen ließ.

Es fühlte sich an, als würde sie ihr Kind in der Höhle einer Hyäne zurücklassen.

***

Das Krankenhaus befand sich in einem weit entfernten Stadtbezirk.

Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln war die Klinik nach fünfundvierzig Minuten erreicht. Leonie ging zur Rezeption, um sich zu erkundigen, wo sie die Büros der Personalabteilung fand. Auf der entsprechenden Etage angekommen, ging sie noch einmal schnell zur Toilette, um ihre äußere Erscheinung zu prüfen und den Lippenstift nachzuziehen.

Normalerweise schminkte sie sich für ihre Arbeit als Krankenschwester nicht, aber für das Vorstellungsgespräch – nein, für den Vertragsabschluss, denn das Gespräch hatte sie ja schon per Skype geführt – war eine etwas gepflegtere Erscheinung sicher angebracht.

Erfreulicherweise hatte Leonie damals für das Vorstellungsgespräch nicht extra nach München fahren müssen; mittlerweile war es üblich, Gespräche auch via Internet zu führen. Und es war ihr tatsächlich gelungen, den neuen Arbeitgeber von ihrer Eignung für die Stelle zu überzeugen.

Auch jetzt wurde sie sehr freundlich empfangen. Der Vertrag lag bereits in zweifacher Ausführung auf dem Tisch der Personalchefin. Nach der Unterschrift und einem freundlichen Händedruck meldete sich Leonie auf der für sie vorgesehenen Station. Es war die Chirurgie.

Auf der Station ging es an diesem Morgen hektisch zu. Für den allerersten Tag hätte sich Leonie eigentlich einen netteren Empfang und vor allem eine bessere Einweisung gewünscht. Aber anscheinend wusste niemand hier, dass sie beruflich längere Zeit ausgesetzt hatte. Nun gut, es würde auch so gehen.

Leonie zog sich um und stieg dann sofort voll in den Stationsbetrieb ein. Die meisten Handgriffe hatte sie tatsächlich nicht vergessen, und die Medikamente kannte sie auch alle noch. Die Kollegen waren soweit nett, auch wenn sie sich kaum um Leonie kümmerten. Es war schon ein bisschen seltsam, dass sich niemand die Mühe machte, wenigstens Leonies Namen zu behalten, und sich auch keiner dafür interessierte, wo sie herkam und was sie bisher gemacht hatte.

Als ihre Schicht um war und Leonie sich verabschieden wollte, bat die Oberschwester sie, noch anderthalb Stunden länger zu bleiben, da es beim Personal einen unerwarteten Ausfall gegeben hatte. Leonie wurde unruhig, denn sie wollte Alva nicht schon am ersten Tag so lange warten lassen. Die Kleine war es noch nicht gewohnt, dass ihre Mutter über längere Zeit wegblieb.

Zum Glück war Inga inzwischen in Grünwald eingetroffen und hatte eine SMS geschickt. Da Leonie bei ihren Kollegen nicht schon am ersten Tag unangenehm auffallen wollte, sagte sie schließlich zu. Vorher versicherte sie sich aber noch einmal per Telefon bei Inga, dass es Alva wirklich gut ging.

Die Kinderfrau war allerdings weniger begeistert. Sie nahm Inga kurzerhand das Handy aus der Hand und hielt Leonie einen Vortrag über junge Mütter, die zwar Kinder in die Welt setzen konnten, aber hinterher weder die Lust noch die Bereitschaft aufbrachten, sich angemessen um ihren Nachwuchs zu kümmern.

Im Interesse einer guten Zusammenarbeit hörte sich Leonie den Vortrag mit zusammengepressten Kiefern an und wünschte der Frau anschließend einen angenehmen Nachmittag.

Aus den anderthalb Stunden wurden zwei, da zwischendurch ein weiterer Notfall zu versorgen war und niemand außer Leonie abkömmlich war. Schließlich aber durfte sie gehen. Leonie zog sich schnell um und ging dann noch einmal ins Schwesternzimmer zurück, um sich zu verabschieden.

„Bis morgen“, rief sie und lächelte der Oberschwester zu.

„Wieso bis morgen? Wir haben für morgen niemanden angefordert“, erwiderte die Oberschwester erstaunt und wandte sich, schon im Gehen, noch einmal zu Leonie um.

Anscheinend sah Leonie so entgeistert aus, dass die Oberschwester sie nochmal kurz zur Seite nahm.

„Sie bekommen spätestens heute Abend eine Mail, wo man Sie morgen braucht“, informierte sie Leonie mütterlich. „Hat Ihnen das denn niemand erklärt? Sie sind wohl ganz neu im Pool, was?“

Leonie schüttelte den Kopf und lächelte schwach.

***

Die zweite Arbeitswoche war fast um. Gottseidank!

Erleichtert schaute Leonie auf die Uhr. Noch vier Stunden, heute wieder auf der chirurgischen Station, dann war erst einmal Wochenende. Die Aussicht auf die bevorstehenden zwei freien Tage machte ihr die Arbeit um einiges leichter.

Die letzten drei Tage hatte sie auf der Gastroenterologie gearbeitet. Das war sehr nett gewesen, die Kollegen dort hatten sie freundlich begrüßt und auch mit ein paar netten Worten wieder verabschiedet. Auf der Onkologie hingegen, wo sie Ende der letzten Woche eingesetzt worden war, hatte ein noch raueres Klima geherrscht als hier auf der chirurgischen Station.

Heute würde nun Jonny endlich kommen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wollte er sich noch kurz mit Nico treffen, der für ihn eine Tasche mit frischer Wäsche aufbewahrte, und anschließend einen Mietwagen nach München nehmen.

Leider fuhr heute aber auch Inga wieder nach Hause. Sie hatte ihren Urlaub zum Glück noch für eine weitere Woche verlängern können, sonst hätte Leonie nicht mehr ein noch aus gewusst.

Die Tagesmutter hatte nämlich, nachdem Leonie zwei weitere Tage nicht pünktlich aus dem Krankenhaus gekommen war, verärgert wieder gekündigt, nicht ohne Leonie noch einmal eine Standpauke über unverantwortliche junge Mütter zu halten.

Da war sie bei Inga allerdings an die falsche Adresse geraten. Die Freundin hatte der Frau zum Abschied noch ein paar gepfefferte Worte über unsensible alte Jungfern mitgegeben, die keine Ahnung mehr von der heutigen Arbeitswelt hatten.

Leonie fand es sehr schade, dass Inga praktisch gar nichts von München mitbekommen hatte außer ein paar Spaziergängen durch Grünwald und zwei kurzen Aufenthalten in einem Café. Ansonsten hatte sie sich fast die gesamte Zeit um Alva gekümmert und Leonie beim Haushalt entlastet. Auch die neuen Möbel waren inzwischen aufgebaut, was die beiden Frauen viel Geduld und ein paar gequetschte Finger gekostet hatte.

Einen längeren Spaziergang an der Isar entlang hatten sie leider wieder abbrechen müssen, weil Alva fieberte. Seit einigen Tagen kränkelte sie. Anscheinend ging der Stress, den Leonie täglich im Krankenhaus erlebte, auch an ihr nicht spurlos vorüber. Kinder waren wie kleine Seismographen, sie registrierten noch die geringsten Erschütterungen im Leben ihrer Eltern. Und Leonie hatte es in den letzten Wochen gleich mehrfach heftig durchgeschüttelt.

Es war Zeit, dass Jonny nach Hause kam.

Im Moment saß dieser allerdings noch mit seinem Freund Nico im „Einstein“, ganz so, wie sie es vor knapp vier Wochen verabredet hatten. Nico hatte die Sporttasche mit Jonnys Sachen dabei, und draußen auf dem Parkplatz stand der Mietwagen, den Nico vor einer knappen Stunde beim Verleiher abgeholt hatte. Jonny würde ihn in München wieder in einer Filiale abgeben.

„Aber fahre mir keine Beule in die Karre, hörst du?“, sagte Nico und hob sein Bierglas.

„Sehe ich so aus, als hätte ich zwischendurch das Autofahren verlernt?“, fragte Jonny zurück, griff mit der linken Hand nach seinem Bier und erhob es ebenfalls.

„Ich meine ja nur wegen deiner Hand. Geht das denn überhaupt?“

„Nee, das geht nicht, siehst du doch. Aber ich kann das Lenkrad ja auch mit einer Hand halten.“

Sie stießen an und nahmen jeder einen großen Zug. Nico wischte sich etwas Schaum von der Oberlippe.

„Sorry“, murmelte er dabei, „ich hab mich immer noch nicht dran gewöhnt.“

„Glaubst du, ich?“ Jonny hob unwillig seine rechte Hand, die weiterhin streng einbandagiert war. Aber wenigstens hatte der Umfang des Verbandes schon deutlich abgenommen. Dass die Hand trotzdem nicht in Ordnung war, war klar zu erkennen.

„Wird das denn überhaupt wieder?“, fragte Nico.

„Ganz wohl nicht. Ich kann von Glück reden, wenn sich die Finger irgendwann wieder alle einzeln bewegen lassen. Richtig zugreifen werde ich damit wohl nicht mehr können und so komplizierte Sachen wie einen Bleistift halten, schon gar nicht.“

„Mist.“

„Kann man so sagen! Aber ich lass mir die Stimmung nicht versauen, nicht mal von dir.“ Jonny grinste und hob sein Glas erneut. „Prost! Heute geht’s endlich zu meinen beiden Liebsten. Leonie hat mir in den letzten Tagen ein paar Videos von Alva geschickt. Unglaublich, wie die schon wieder gewachsen ist. Hier, schau mal.“

Er holte sein Handy mit der linken Hand aus der Hosentasche, legte es auf den Tisch und tippte, ebenfalls mit der linken, auf dem Display herum. Dann schob er es zu Nico herüber. „Da!“

„Süß.“ Nico bemühte sich ehrlich, Jonnys Freude zu teilen, aber mit Kleinkindern hatte er es nicht so, obwohl die Tochter seines Freundes wirklich sehr niedlich war. Sie sah ihm unglaublich ähnlich. Und Leonie war auch sehr hübsch. Jonny konnte wirklich froh sein, dass er so eine tolle Familie hatte.