1,99 €
Ein Schneesturm legt Grünwald lahm, die Straßen sind unpassierbar. Dr. Stefan Franks Praxis wird zum Zufluchtsort für Patienten und Fremde. Die hochschwangere Camilla kämpft mit Schmerzen und Übelkeit, die ihr zunehmend Angst machen. Gitarristin Annika trifft auf Erik, einen Mann mit einem dunklen Trauma - und zwischen ihnen knistert es trotz aller Spannungen. Die Praxisschwestern Martha Giesecke und Marie-Luise Flanitzer behalten den Überblick, während Dr. Frank verzweifelt versucht, Ruhe zu bewahren und allen beizustehen. Draußen tobt der Schneesturm unaufhörlich weiter, sogar Strom und Handynetz fallen aus. Plötzlich verschlechtert sich Camillas Zustand dramatisch: hohes Fieber, sehr starke Schmerzen. Dr. Frank ist alarmiert - ohne Strom kann er keinen Ultraschall durchführen. Er fürchtet das Schlimmste: Eine Blinddarmentzündung, die das Leben seiner Patientin und ihres ungeborenen Kindes bedroht ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 121
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Eingeschneit in Grünwald
Vorschau
Hat Ihnen diese Ausgabe gefallen?
Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
Eine Winternacht wird zur Prüfungfür alle
Ein Schneesturm legt Grünwald lahm, die Straßen sind unpassierbar. Dr. Stefan Franks Praxis wird zum Zufluchtsort für Patienten und Fremde. Die hochschwangere Camilla kämpft mit Schmerzen und Übelkeit, die ihr zunehmend Angst machen. Gitarristin Annika trifft auf Erik, einen Mann mit einem dunklen Trauma – und zwischen ihnen knistert es trotz aller Spannungen. Die Praxisschwestern Martha Giesecke und Marie-Luise Flanitzer behalten den Überblick, während Dr. Frank verzweifelt versucht, Ruhe zu bewahren und allen beizustehen. Draußen tobt der Schneesturm unaufhörlich weiter, sogar Strom und Handynetz fallen aus. Plötzlich verschlechtert sich Camillas Zustand dramatisch: hohes Fieber, sehr starke Schmerzen. Dr. Frank ist alarmiert – ohne Strom kann er keinen Ultraschall durchführen. Er fürchtet das Schlimmste: Eine Blinddarmentzündung, die das Leben seiner Patientin und ihres ungeborenen Kindes bedroht ...
Im trüben Licht des Nachmittags stand Augenärztin Dr. Alexandra Schubert am Fenster und sah die dicken Flocken aus den Wolken fallen. Seit Tagen schneite es immer wieder. Das Weiß, das sich wie eine Decke auf die Landschaft legte, veränderte nicht nur die Farben, sondern auch den Klang der Welt.
»Es kommt mir so vor, als hätte jemand den Regler heruntergedreht und das Leben leise gestellt«, sagte Alexandra zu ihrer Praxispartnerin und Freundin Dr. Helene Braun, die hinter dem Tresen stand und sich ein paar Notizen zu einer Patientin machte.
Es war kurz nach sechzehn Uhr. Wie an jedem Donnerstagnachmittag war die Sprechstunde schon vorbei.
Alexandra rüstete sich zum Aufbruch. Sie schlüpfte in den Steppmantel und schlang sich einen Schal um den Hals, stülpte eine Mütze über die brauen Lockenpracht.
Nach einem heißen Sommer und einem sonnigen Herbst freute sie sich in diesem Jahr richtig auf den Winter. Wenn alles draußen frostig und weiß war, wurde ihre Wohnung im ersten Stock über der Praxis Dr. Frank noch gemütlicher als ohnehin schon.
»Das erinnert mich immer an meine Kindheit«, sinnierte sie. »Damals gab es kaum etwas Schöneres, als sich nach einem Nachmittag auf dem Schlittenberg zu Hause mit heißem Tee und selbstgebackenen Plätzchen aufzuwärmen.«
»Oder beim Skifahren auf einer gemütlichen Hütte einzukehren«, sagte Helene Braun war versonnen. »Hast du auch immer Germknödel mit Mohnbutter gegessen?«
»Hätte ich gerne«, lachte Alexandra. »Aber meine ältere Schwester verwaltete das Geld, das uns unsere Eltern für die Brotzeit mitgegeben hatten.«
»Lass mich raten: Du musstest immer Erbsensuppe essen«, scherzte Helene.
»Stimmt. Damals war ich Karen böse deswegen.« Ein Schatten huschte über Alexandras Gesicht. »Heute würde ich den Rest meines Lebens Erbsensuppe essen, wenn ich noch ein einziges Mal mit ihr Skifahren könnte.«
Nach schwerer Krankheit war ihre Schwester vor einigen Jahren verstorben. Inzwischen war Alexandra über Karens Tod hinweg. Meistens konnte sie sich an den schönen Erinnerungen freuen. Nur manchmal wurde sie wehmütig und haderte mit der Vergangenheit.
Aber meist nur kurz, denn nach einer angemessenen Trauerzeit hatte das Schicksal ihr auch die Liebe ihres Lebens, den Allgemeinarzt Dr. Stefan Frank, geschickt. Und wer wusste es schon: Vielleicht hatte ja Karen dabei ihre Hände im Spiel gehabt.
Schon konnte sie wieder lächeln. »Der Winter war ihre Lieblingsjahreszeit.«
»Ich liebe das auch, wenn alles wie verzaubert ist«, antwortete Helene. »Allerdings freuen sich unsere Patienten wahrscheinlich nur bedingt über die weiße Pracht.« Sie deutete aus dem Fenster. Unten auf der Straße wäre ein Passant um ein Haar ausgerutscht.
Die Mitarbeiter der Stadt gaben mit ihren Räumfahrzeugen ihr Bestes, um die Straßen freizuhalten. Die Verhältnisse waren trotzdem kein Vergnügen. Das hatte Helene an diesem Morgen auch am eigenen Leib gespürt. Bei einem Bremsmanöver war sie mit ihrem Wagen ins Rutschen geraten und um ein Haar auf ihren Vordermann aufgefahren. Es hatten nur Zentimeter gefehlt.
»Wenn man dem Wetterbericht Glauben schenken darf, soll es in den nächsten Tagen wieder tauen.« Alexandra bückte sich nach ihrer Tasche und hängte sie über die Schulter. »Dann ist es hoffentlich weniger gefährlich.«
Höchste Zeit, aufzubrechen, wenn sie nicht in völliger Dunkelheit nach Hause kommen wollte. Zum Abschied umarmte sie Helene und machte sich auf den Heimweg.
Die Praxis lag in einem modernen Viertel von Grünwald, etwa zwanzig Minuten Fußweg entfernt von der Villa, in der sie seit einiger Zeit mit Stefan lebte.
Alexa wanderte vorbei an den hell erleuchten Schaufenstern, in denen die neueste Wintermode, bunte Garne oder Schönes für Heim und Garten angeboten wurde. Das Angebot war verlockend. Doch an diesem Nachmittag hatte Alexa anderes im Sinn. Am Freitagabend kamen Uli Waldner und seine Frau Ruth zu Besuch. Deshalb machte sie einen Abstecher in den Supermarkt an der Ecke.
Aus unsichtbaren Lautsprechern wehte ihr Popmusik entgegen. Die Luft war erfüllt vom Duft nach frischem Obst und Gemüse. Alexa konnte sich nicht entscheiden. Sollte sie Fenchel mit Orangen und Granatapfelkernen servieren? Oder doch lieber Waldorfsalat vor dem Kartoffelgratin? Käse zum Nachtisch oder eine Tarte Tatin mit Schlagsahne? Die Boskop-Äpfel sahen wirklich verführerisch aus.
»Sie wollen das alles zu Fuß nach Hause schleppen?« Ungläubig blickte der Kassierer auf die prall gefüllten Taschen.
»Ich weiß, der Einkauf ist ein bisschen eskaliert.« Lachend hielt Alexa ihr Handy an den Kartenleser. »Zum Glück habe ich nicht mehr weit nach Hause.«
»Sind Sie sicher, Sie schaffen das?«
Rechts und links schulterte Alexa zwei Taschen. Zwei weitere trug sie in den Händen.
»Kein Problem«, erklärte sie, zwinkerte dem besorgten Mitarbeiter zu und verließ den Supermarkt.
***
Anders als sonst an einem Donnerstagnachmittag um diese Uhrzeit saß Camilla Kirsch in ihrem Lieblingsstuhl im Wohnzimmer. Die Füße auf einem Schemel, eine Decke über den Knien saß sie an der Terrassentür. Mit offenen Augen träumte sie von dem unverschämten Glück, dass sie doch hatte. Von ihrem Traummann Sascha und dem Wunschkind, das sie unter dem Herzen trug.
Hin und wieder nippte sie an ihrem inzwischen nur noch lauwarmem Tee. Camilla hätte Stunden dort sitzen und in die Winterlandschaft hinausblicken können, wäre da nicht das Problem mit ihrer Blase gewesen. Je weiter die Schwangerschaft fortschritt, umso öfter musste sie auf die Toilette.
»Ich sollte mein Bett im Bad aufstellen«, hatte sie Sascha zugeraunt, als sie in der vergangenen Nacht zum dritten Mal unter die Decke geschlüpft war.
Sie fühlte sich schlecht, weil er wegen ihrer nächtlichen Unruhe auch kaum Schlaf fand. »Oder wenigstens im Gästezimmer.« Doch davon wollte er nichts wissen.
»Kommt überhaupt nicht infrage«, hatte er in dieser Nacht erst wieder gemurmelt und sie an sich gezogen. »Ich sehe es positiv. So kann ich wenigstens schon einmal üben für die Zeit, wenn das Baby auf der Welt ist.«
Sascha tat alles, damit Camilla sich wohl und geliebt fühlte. Er war wirklich ein Traummann und sah obendrein auch noch unverschämt gut aus. Vor der Schwangerschaft waren sie ein tolles Paar gewesen, nach dem sich die Menschen auf der Straße umdrehten. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Inzwischen fühlte sich Camilla neben ihrem Mann wie ein Trampeltier.
Bei jeder Ultraschalluntersuchung rechnete sie damit, dass Dr. Stefan Frank ihr mitteilte, dass Zwillinge unterwegs waren. Doch ihr Arzt versicherte jedes Mal, dass ihr Bauchumfang keineswegs ungewöhnlich sei.
Camilla konnte das nur schwer glauben. Ein einziges Menschlein konnte doch nicht so dick machen! Dabei mussten sie es noch zwei Monate miteinander aushalten.
Allein der Gedanke daran ließ Camilla manchmal verzweifeln, zumal sie sich seit einigen Tagen nicht mehr wohlfühlte in ihrer Haut. Ein merkwürdiger Druck im Unterleib machte ihr das Leben schwer. Außerdem war die Schwangerschaftsübelkeit zurückgekehrt, unter der sie in den ersten Wochen so gelitten hatte. Nicht ungewöhnlich, wie sie aus dem Internet wusste. Trotzdem war Camilla froh, an diesem Nachmittag einen Termin bei Dr. Frank zu haben.
Sie sah auf die Uhr. Langsam aber sicher sollte sie sich auf den Weg machen.
Camilla brachte die Tasse in die Küche. Hoffentlich verbot Dr. Frank ihr die Arbeit im Blumenladen nicht. Er kannte sie und wusste, dass sie sich nicht zurückhalten konnte. Camilla war einfach nicht dafür gemacht, anderen bei der Arbeit zuzusehen. Schon gar nicht, wenn es so viel zu tun gab wie in dieser Jahreszeit.
Auch nach all den Jahren liebte Camilla ihren Beruf als Floristin wie am ersten Tag. Schon jetzt graute ihr davor, in Mutterschutz zu gehen. Dabei hätte Sascha es am liebsten gesehen, wenn sie ihre Stunden jetzt schon reduziert hätte.
»Drei Tage wären mehr als genug«, hatte er bei einem ihrer vielen Gespräche über dieses Thema gemahnt. »Du vergisst dich einfach, wenn du im Blumenladen bist. Gerade jetzt, wo das Weihnachtsgeschäft beginnt.«
Camilla wusste, dass er recht hatte. Sie hatte schließlich nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Baby die Verantwortung.
»Aua!« Sie zuckte zusammen, als ihr ein dumpfer Schmerz in den Bauch fuhr. Sie lehnte sich gegen den Kühlschrank und atmete ein paar Mal durch. Waren das die ersten Senkwehen? War das nicht viel zu früh? Camilla atmete tief durch, versuchte, sich zu entspannen.
»Na, Liliput, alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie und legte beide Hände auf den Bauch.
Es dauerte nicht lange, da bewegte sich die Bauchdecke. Das Baby antwortete auf ihre Frage, und Camillas Herz wurde warm vor Glück.
***
Auf dem Weg zum Tresen fiel Dr. Franks Blick aus dem Fenster.
»Bitte halten Sie die Tür auf. Frau Reinhardt kommt gleich mit dem Rollator herein«, rief er seiner Sprechstundenhilfe Marie-Luise Flanitzer zu. Ihre Kollegin Schwester Martha telefonierte an ihrem Schreibtisch.
Marie-Luise war schon unterwegs, um die Bitte ihres Chefs zu erfüllen, als auch ihr Telefon klingelte.
»Kein Problem, ich gehe ran.« Stefan Frank beugte sich über die Theke und griff nach dem Hörer.
Herbert Meininger wollte seinen Termin verschieben.
»Einen Moment, Marie-Luise ist gleich zurück. Sie hat einen besseren Überblick als ich.«
Dr. Frank sprang Regina Reinhardt zu Hilfe, während Marie-Luise schon den Kalender im Computer öffnete.
Ein Fall nach dem anderen zog an diesem Nachmittag durch den Wartebereich ins Sprechzimmer. Dr. Stefan Frank prüfte den Zustand seiner Patienten. Er notierte rasch Befunde und erklärte ruhig, was als Nächstes zu tun war.
Schwester Martha bereitete eine Infusion für einen älteren Patienten vor und sprach beruhigend auf den aufgeregten Vater ein, dessen Sohn von einem eisigen Schneeball am Kopf getroffen worden war.
Zwischen den Terminen blieb wenig Zeit für Ruhe. Besucher standen am Tresen Schlange, um Rezepte oder Krankmeldungen abzuholen. Manch einer hielt die Sprechstundenhilfen mit ängstlichen Fragen von ihrer Arbeit ab.
Doch auch der heftigste Ansturm neigte sich einmal seinem Ende entgegen. Am späten Nachmittag wurde es langsam ruhiger.
»Wir warten nur noch auf zwei Patienten«, seufzte Marie-Luise. Mit einem Blick auf die Patientenkarten trank sie einen großen Schluck Wasser aus ihrem Glas. »Camilla Kirsch fühlt sich seit ein paar Tagen nicht mehr wohl. Und dann ist da noch Herr Panajott. Seine Schnittwunde schmerzt. Er fürchtet, sie könnte sich entzündet haben und sitzt schon im Wartezimmer.«
»Det sehe ick mir schon mal an«, bot Schwester Martha ihrem Chef an und war schon unterwegs, als sich die Tür zur Praxis ein weiteres Mal öffnete.
Alexandra schleppte sich herein. Mütze und Schultern waren schneebedeckt. Offenbar schneite es noch immer. Trotz der Kälte glänzten Schweißperlen auf ihrer Stirn.
»Halleluja!«, stöhnte sie und entledigte sich ihrer Last.
Eine der Taschen fiel um. Kartoffeln, Äpfel, Karotten und Orangen kullerten bunt durcheinander über den Praxisboden.
Stefan bückte sich danach. »Was hast du vor?« Er drückte seiner Liebsten einen Kuss auf die kalten Lippen. »Willst du ein Weihnachtsessen für die ganze Stadt geben?«
»Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, was wir Uli und Ruth servieren sollen.« Ein spitzbübisches Lächeln spielte um ihre schön geschwungenen Lippen. »Gut möglich, dass ich es deshalb ein wenig übertrieben habe.«
»Ick verstehe Sie sehr gut«, meldete sich Schwester Martha aus dem Hintergrund zu Wort. »Ick habe auch lieber zu viel zu essen zu Hause als zu wenig. Det empfiehlt übrigens auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.«
Stefan Frank ließ einen Granatapfel zurück in die Tasche fallen.
»Wenn ich mich nicht irre, geht es dabei um haltbare Lebensmittel wie Konserven, H-Milch und Fertiggerichte«, schmunzelte er. »Von Granatäpfeln habe ich noch nichts gehört.«
»Vielleicht hat Eva ihren Adam ja mit einem Granatapfel verführt.« Alexandra zwinkerte ihrem Liebsten zu und nahm die beiden Taschen wieder hoch. »Den Rest hole ich gleich ab.«
»Ich würde dir ja helfen, aber...«
»Selbst ist die Frau«, winkte die Augenärztin gut gelaunt ab und machte sich auf den Weg nach oben.
***
Hausdächer und Baumkronen waren unter der Schneedecke verschwunden. Inzwischen dämmerte es, doch der Schnee erhellte die aufziehende Dunkelheit. Im Licht der Straßenlaternen tanzten noch immer Flocken durch die Luft.
Mit ihrer Gitarrentasche über der Schulter wanderte Annika Kröger von der Musikhochschule Richtung S-Bahnhof. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten. Was für ein wunderbares Geräusch! Was für ein wunderbarer Anblick!
Dies war einer der Momente, in denen Annika bewusste wurde, wie sehr sie ihre Wahlheimat München liebte. In ihrer Heimatstadt Emden schneite es so gut wie nie. Umso mehr genoss sie diese ganz besondere Stimmung.
Sie schritt zügig voran, um ihre Bahn zu erreichen, die sie in die Gemeinde Grünwald vor den Toren Münchens bringen sollte. Dort hatte sie eine kleine Wohnung in einem Mietshaus ergattert.
Ihr Atem ging schneller, ihr wurde ordentlich warm. Das war das Ergebnis ihrer eigenen Nachlässigkeit. Annika bemerkte, dass sie lange nicht trainiert hatte. Ihre ganze Zeit widmete sie der Musik und ihrem Studium. Aber auch wenn es anstrengend war, tat ihr die Bewegung gut.
Um diese Uhrzeit war die S-Bahn gerammelt voll. Von Station zu Station stiegen mehr Leute aus. Endlich wurde ein Platz frei. Annika setzte sich. Sie stellte die Gitarre zwischen ihre Beine, lehnte sich zurück und schloss die Augen. In ihrem Kopf spielte eine Melodie. Sie spürte die Energie des Publikums, das den Atem anhielt. Es gab nur noch Annika und ihre Gitarre. Applaus brandete auf. Er klang wie quietschende Bremsen. Annika öffnete die Augen und sah sich um. Tatsächlich! Schneller als erwartet hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stieg am Bahnhof Grünwald aus und machte sich auf den Nachhauseweg.
Lauter und immer lauter klatschte das Publikum in ihrem Kopf. Sie hörte die Bravorufe und die Bitte nach einer Zugabe. Lächelnd verbeugte sie sich immer und immer wieder. Immer tiefer ...
Das Nächste, was Annika wahrnahm, waren das Dröhnen eines Motors und ein durchdringendes Hupen, dann ein scharfer Ruck. Sie stolperte rückwärts, direkt in die Arme eines fremden Mannes. Verdattert starrte sie ihn an.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte er sie an. »Gibt es noch nicht genug Elend auf dieser Welt?«
