Dragon Touch - G. A. Aiken - E-Book

Dragon Touch E-Book

G. A. Aiken

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Beschreibung

Die Drachen sind zurück! Gwenvael der Schöne ist bezaubert, als er dem angeblich schrecklichsten Geschöpf der Nord lande begegnet: Dagmar ist eine kleine Frau mit praktischer Kleidung und stahlgrauen Augen hinter einer strengen Brille. Ein Eisklotz in Menschengestalt, der sich ob der Reize von Gwenvael dem Schönen völlig unbeeindruckt zeigt. Doch Gwenvael setzt ihrer Zurückhaltung sein ganz eigenes Feuer entgegen. Wer wäre schließlich besser dafür geeignet, das kühlste Geschöpf der Welt zum Schmelzen zu bringen, als ein wirklich heißer Drache?

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Veröffentlichungsjahr: 2011

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig

ISBN 978-3-492-95167-8 Januar 2016

© 2009 G.A. Aiken Titel der amerikanischen Originalausgabe: »What A Dragon Should Know«, Zebra Books, New York 2009 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011 Umschlaggestaltung: www.guter-punkt.de Umschlagmotiv: Sylwia Makris / www.sylwiamakris.com

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck  

Für Kate Duffy. Du warst immer mutig genug, mich von der Leine zu lassen – selbst wenn du keine Ahnung hattest, wohin ich wollte oder was ich unterwegs demolieren würde – und dafür bin ich dir ehrlich dankbar.

Für Doug Lindquist. Auch wenn du fort bist – deine Anleitung, Unterstützung und deine Empfehlung, ich solle langsam machen, durchatmen und bloß nicht in Panik verfallen, helfen mir immer noch jedes Mal, wenn ich mich zum Schreiben hinsetze. Du fehlst sehr, mein Freund, aber du und deine Worte werden immer ein Teil von mir sein. Danke, Doug – für alles.

Liebe Leserin, lieber Leser,   

weil ich selbst eine Quasselstrippe und aufrührerische kleine Schwester war, habe ich mich darauf gefreut, die Geschichte des immer zu Streichen aufgelegten, schwatzhaften kleinen Bruders von Fearghus dem Zerstörer und Briec dem Mächtigen zu schreiben.

Aber ich kann nicht sagen, dass es leicht war, die Geschichte von Gwenvael dem Schönen zu schreiben, denn ich wusste, er braucht eine Heldin, die viel mehr kann als ihn im Schlafzimmer zu fordern. Damit einem mehr als zweihundert Jahre alten Drachen auch weitere sechshundert Jahre lang nicht langweilig wird, wenn dieser Drache den Großteil seiner Tage damit verbringt, Späße und Streiche zu planen und auszuhecken, brauchte ich eine Heldin, die förmlich für Späße und Streiche lebt. Und diese Heldin ist Dagmar Reinholdt, die Bestie der Nordländer.

Aber auch wenn es vielleicht nicht ganz einfach war, dieses Buch zu schreiben, hat es Spaß gemacht. Wie könnte es auch anders sein, mit zwei durchtriebenen Unruhestiftern am Ruder?

Obwohl meine Bücher in sich abgeschlossene Geschichten sind und auch so gelesen werden können, gibt es in der Welt der Drachenpolitik oft ziemlich viele Mitspieler, deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, als Erstes Fearghus’ Buch »Dragon Kiss« und Briecs Geschichte »Dragon Dream« zu lesen, damit Sie, was die Drachensippe angeht, auf dem neuesten Stand sind.

Und jetzt, nach dieser kurzen Nebenbemerkung, lade ich Sie in die Welt meiner Drachenfamilie ein – wo die Drachen sehr viel vernünftiger sind als es die Menschen um sie herum je zu sein hoffen können.

1 Es war nicht das erste Mal, dass er um sein Leben rannte. Und es würde höchstwahrscheinlich auch nicht das letzte Mal sein. In den vergangenen Jahrzehnten war er allerdings meistens vor wütenden Vätern geflohen, die ihn an Orten vorgefunden hatten, wo er ihrer Meinung nach nicht hätte sein sollen.

Doch heute rannte Gwenvael vor seiner eigenen Verwandtschaft davon. Nicht, dass das in irgendeiner Form neu gewesen wäre, aber es war schon eine Weile her, seitdem das zum letzten Mal hatte sein müssen.

Es stimmte schon, dass er den Mund hätte halten sollen. Dabei war es eine durchaus legitime Frage gewesen. Wie immer hatte seine Sippe aber alles unverhältnismäßig aufgebauscht und ließ ihre deplatzierte Wut jetzt an ihm aus.

Warum gaben sie nicht einfach zu, dass sie neidisch waren? Denn er war Gwenvael der Schöne. Drittgeborener Sohn und viertgeborener Nachkomme der Drachenkönigin, ehemaliger Hauptmann der Streitkräfte der Drachenkönigin im Norden und meistgeliebtes männliches Wesen im gesamten Gebiet der Dunklen Ebenen: Gwenvael war prachtvoll, großmütig und liebevoll.

Und seine Sippe hasste ihn dafür.

Abgesehen davon: Wer sollte ahnen, dass eine Königin so empfindlich sein konnte? Selbst eine menschliche.

Er hatte doch nur eine einfache Frage gestellt – »Ist das normal, dass du schon im siebten Schwangerschaftsmonat so dick bist?« Eine einfache Frage, die Tränen, unattraktive Schnieflaute und geschleuderte Waffen zur Folge gehabt hatte. Die Menschenkönigin mochte ihre Fähigkeit verloren haben, schnell zu laufen, aber ihr Wurfarm war immer noch effektiv. Sie hat mir fast mein verdammtes Ohr abgeschnitten!

Jetzt hatte der Gefährte der Königin – auch bekannt als Gwenvaels ältester Bruder und zukünftiger Drachenkönig der Südländer, Fearghus – das Bedürfnis, ihn wie ein Karnickel zu jagen.

Das war der Grund, warum Gwenvael davonrannte. Denn wenn Fearghus der Zerstörer Gwenvaels hübsches Gesicht tatsächlich zerstörte, würde man den großen Mistkerl nie dafür bestrafen. Man würde ihm wie immer seine brutalen Übergriffe verzeihen, während man Gwenvael seine sinnlichen nie verzeihen würde.

Er wurde nackt mit ein paar Küchenmädchen seines Großvaters erwischt? Sofort bekam er die Klaue seines Vaters am Hinterkopf zu spüren. Er deutete an, seine Mutter solle sich, wenn sie sich in ihrer menschlichen Gestalt befand, besser Dinge vermeiden, die die Größe ihres Hinterns betonten? Sofort bekam er die Klaue seines Vaters am Hinterkopf zu spüren. Er schmiss eine kleine Party zum achtzehnten Geburtstag seines jüngsten Bruders Éibhear, an der auch ein paar Mädchen aus dem örtlichen Bordell beteiligt waren? Sofort bekam er die Klaue seiner Mutter am Hinterkopf zu spüren.

Fearghus dagegen hatte ihm vor mehr als einem Jahrhundert die Schwanzspitze abgehackt und war bis heute nicht dafür bestraft worden. Während seine stachelbewehrte Schwanzspitze, die die meisten Drachen als Waffe benutzten, irgendwo in einem Fluss schwamm, schleppte Gwenvael einen Stumpf durch die Gegend. Glücklicherweise hatte er andere Verwendungsmöglichkeiten für seinen tragisch lahmen, entstellten Schwanz gefunden. Die meisten weiblichen Wesen wussten diese sehr zu schätzen.

Gwenvael schoss um eine Ecke, auf die Ställe zu und zum Hintereingang wieder hinaus. In diesem Moment sah er die süße Izzy, die Tochter der attraktiven Talaith und von Gwenvaels idiotischem Bruder Briec.

Izzy war nicht Gwenvaels echte Nichte; ihr leiblicher Vater war ein Mensch aus den Südländern gewesen, der viele Jahre zuvor in einer Schlacht gestorben war – lange, bevor Talaith und Briec sich kennengelernt hatten. Doch Izzy gehörte zur Familie, und er liebte sie heiß und innig, genau wie sie ihn. Oder zumindest hatte er das geglaubt, bis sie in ihn hineinrannte, als er vorbeistürmte, sodass er gegen eine der Stalltüren flog. Er vergaß ständig, wie stark seine menschliche Nichte war. Ihre Mutter mochte eine kleine, zarte Hexe sein, die dazu ausgebildet war, auf Befehl zu töten, doch Izzy war ein ziemlicher Rabauke – und gefiel sich in dieser Rolle ungemein.

Izzy stand über ihm und rief: »Hab ihn!«

»Iseabail!«, schrie er, am Boden zerstört. »Mein Liebling! Meine geliebte Nichte! Wie konntest du nur?«

»Du hättest nicht ihre Gefühle verletzen sollen. Das war gemein.« Sie wackelte mit dem Finger vor seinem Gesicht. »Sei nicht immer so gemein!«

Izzy. Die süße, schöne, aber ewig sonderbare Izzy. Ihre Treue der Königin gegenüber stand außer Frage. Selbst jetzt trainierte sie täglich mit den Soldaten, in der Hoffnung, in den Krieg geschickt zu werden, damit sie ihre Loyalität mit Blut beweisen konnte. Warum irgendwer das Bedürfnis zu so etwas hatte, ging über Gwenvaels Verstand. Er mochte es nicht zu bluten oder auf sonst eine Art verletzt zu werden. Er hatte seine Körperteile gern genau dort, wo sie hingehörten – und zwar funktionsfähig. Er hatte es seinem Vater mehr als einmal sagen müssen: »Ich sagte, ich würde für den Thron meiner Mutter kämpfen. Ich habe nie gesagt, ich würde dafür sterben!« Einfach nur, um den alten Dummkopf zu einem seiner schäumenden Wutanfälle zu provozieren, fügte er jedes Mal hinzu: »Findest du nicht, ich sehe viel zu gut aus, um zu sterben?«

»Ich dachte, du liebst mich!«, schrie Gwenvael Izzy an.

»Nicht, wenn du gemein bist!« Ihre Herzensgüte war so echt, dass ihm nur einmal ganz kurz – na ja, vielleicht auch zweimal – der Gedanke kam, sie für diesen Verrat mittels eines Feuerballs aus seinem Leben zu streichen.

Große, grobe Hände schnappten Gwenvael bei den Haaren und zerrten ihn von den Ställen fort.

»Lass mich los, du Bastard!«

»Du gehst wieder da rein, du Hurensohn«, knurrte Fearghus. »Du gehst wieder da rein und entschuldigst dich, und wenn es das Letzte ist, was du tust!«

»Es gibt nichts, wofür ich mich entschuldigen müsste!«

Als Beweis, dass er da anderer Meinung war, hielt Fearghus kurz an, um ihm mit seinem Riesenfuß in den Magen zu treten.

»Au!«

»Du hast sie zum Weinen gebracht. Niemand bringt sie ungestraft zum Weinen!«

Sie durchquerten jetzt den Rittersaal des Schlosses auf der Insel Garbhán. Einst war dies ein Ort des Schreckens gewesen, das Machtzentrum von Lorcan dem Schlächter. Jetzt gehörte es der Frau, die Lorcans uneheliche Halbschwester war und gleichzeitig diejenige, die ihn geköpft hatte.

»Ich kann allein gehen«, erklärte er Fearghus, als ihm klar wurde, dass die elende Echse nicht die Absicht hatte, in absehbarer Zeit anzuhalten. Obwohl Gwenvael bei seinem Fluchtversuch seine natürliche – und prächtige – Drachengestalt hätte annehmen können, hätte er damit nur unnötig die Menschen verstört, die hier lebten.Und das tat er sehr ungern. Er mochte Menschen … Nun, er mochte weibliche Menschen. Die Männer hätte er auch entbehren können.

»Ich jage dich nicht noch mal«, knurrte Fearghus und schleppte Gwenvael die harte Steintreppe hinauf. Als Gwenvael anfing zu treten und versuchte, sich aus Fearghus’ Griff loszureißen, schnappte der Zweitälteste, Briec, Gwenvaels Beine und half Fearghus.

»Du verräterischer Mistkerl!«

»Was machen wir mit ihm?«, fragte Briec erwartungsvoll. »Werfen wir ihn aus einem Fenster? Komm, lass ihn uns aus einem Fenster werfen! Oder vom Dach!«

»Wir bringen ihn zu Annwyl.«

»Meinst du nicht, dass unsere Mutter es merkt, wenn er keinen Kopf mehr hat?«

»Sie wird es merken«, antwortete Fearghus, der Gwenvaels Gezappel ignorierte. »Die Frage ist: Macht es ihr etwas aus?«

Jetzt, vor dem Schlafgemach der Königin, trat Fearghus die Tür auf und warf gemeinsam mit Briec den armen Gwenvael in den Raum hinein. Die Tür knallte zu, und Gwenvael ging auf, dass ihn seine Brüder auf Gedeih und Verderb der Königin der Dunklen Ebenen ausgeliefert hatten. Man nannte sie auch die Blutkönigin der Dunklen Ebenen, die Köpfende, die Verrückte Schlampe von Garbhán, oder noch markiger: Annwyl die Blutrünstige. Aus irgendeinem Grund war die Menschenkönigin dafür bekannt, ein kleines bisschen aufbrausend zu sein.

Sich innerlich wappnend, blickte Gwenvael zu der schönen Königin Annwyl auf und sagte: »Meine liebe, süße Annwyl. Meine Seele sehnt sich nach dir. Mein Herz verzehrt sich nach dir. Sag mir, dass du mir meine vorschnellen, törichten Worte vergibst und dass unsere Liebe nie vergehen wird.«

Sie starrte ihn lange an, und dann, zu Gwenvaels größtem Entsetzen, brach sie schon wieder in Tränen aus.

In diesem Augenblick wusste er, dass er das seinen Brüdern nie verzeihen würde.

Sie nannten sie Die Reinholdt-Bestie. Oder kurz: Die Bestie.

Das gefiel ihr nicht, vor allem, weil ihr Name eigentlich Dagmar war, aber sie tolerierte es. Es gab schlimmere Dinge in ihrer Welt als einen Namen zu bekommen, von dem sie nicht glaubte, dass sie ihn verdiente.

Na gut … vielleicht verdiente sie ihn ein bisschen.

Dagmar klappte ihr Buch zu und seufzte. Sie wusste, dass sie sich nicht den ganzen Tag in ihrem Zimmer verstecken konnte, egal, wie sehr sie sich das wünschte. Sie wusste, sie musste sich ihrem Vater stellen und ihm sagen, was sie getan hatte. Die Tatsache, dass sie es für das Herrschaftsgebiet und das Volk ihres Vaters getan hatte, würde Dem Reinholdt, dem mächtigsten Warlord der Nordländer, wenig bedeuten. Doch sie hatte früh in ihrem Leben gelernt, die »fünf Minuten« ihres Vaters, wie sie sie gern nannte, zu ignorieren, wenn sie letztendlich das bekam, was sie wollte.

Sie legte ihr Buch beiseite, stand auf und zog eines ihrer grauen Wollkleider an. Sie zog es zurecht und schlang sich dann einen schlichten Ledergurt um die Hüften. Den kleinen Dolch, den sie benutzte, um kleinere Dinge zu schneiden, steckte sie in den Gurt und band sich dann ein graues Kopftuch um; ihr langer, geflochtener Zopf reichte ihr weit über den Rücken hinab.

Bevor sie sich in dem mannshohen Spiegel neben ihrem Bett einen flüchtigen Blick zuwarf, setzte sich Dagmar vorsichtig ihre Augengläser auf die Nase. Zum Lesen brauchte sie sie nicht, aber für alles andere. Vor vielen Jahren war es ein Mönch, der liebe Bruder Ragnar gewesen, der Dagmar ihre ersten Augengläser geschenkt hatte, als er bemerkte, wie oft sie blinzelte, wenn sie mehr als ein paar Zentimeter über ihre Nase hinausschaute. Er hatte die Augengläser selbst gemacht, und sie trug sie seitdem.

Ein schneller Blick in den Spiegel sagte ihr, dass das Ganze nicht zu furchtbar aussah, also verließ sie ihr Zimmer und erlaubte ihrem Hund vorauszurennen. Dagmar schloss ihre Tür ab und kontrollierte zweimal, ob sie auch wirklich fest verschlossen war, bevor sie die steinernen Hallen der Festung ihres Vaters durchquerte. Sie war hier geboren und hatte sich nie weiter als bis in die nächste Stadt entfernt. Sie wusste, sie würde eines Tages hinter diesen Mauern sterben, es sei denn, sie konnte ihren Vater überreden, ihr ein kleines Haus irgendwo in den umliegenden Wäldern vor den Toren zu schenken. Tragischerweise würde sie noch mindestens zehn Jahre warten müssen, bis sie ganz sicher in die Kategorie »alte Jungfer« gehörte.

In den Nordländern entfernten sich Frauen niemals weit von ihren Angehörigen, bis sie ihren Ehemännern übergeben wurden. Nach drei Eheversuchen bezweifelte sie, dass noch irgendein Mann daherkommen würde, der närrisch genug war, im Reinholdt-Clan seinen Hals zu riskieren, nur um sie ins Bett zu bekommen. Was sie, wenn sie ehrlich mit sich war – und wann war sie das nicht? – sehr erleichternd fand.

Einige Dinge gehörten von Natur aus zu den Eigenschaften ihres Geschlechts. Gefällig zu sein, liebevoll, charmant und zärtlich – sie kannte viele Frauen, die diese Gaben von Natur aus besaßen. Dagmar dagegen besaß keine dieser Eigenschaften – wenn sie auch für kurze Zeit so tun konnte, als ob. Wenn sie durch Vortäuschung bekam, was sie wollte, warum also nicht?

Denn Dagmar wusste, dass es Schlimmeres auf dieser Welt gab als vorzugeben, eine liebevolle, sittsame Frau zu sein. Nämlich zum Beispiel, wirklich eine liebevolle, sittsame Frau zu sein. Die Nordländer waren eine raue, harte Gegend und nichts für solche, die reinen Herzens und schwachen Geistes waren. Sich tatsächlich zu kümmern oder wirklich so schwach zu sein, wie die Nordmänner es von ihren Frauen erwarteten, war ein ausgezeichneter Weg, jung zu sterben.

Und Dagmar hatte die Absicht, hundert Jahre alt zu werden. Mindestens.

Das intensive Studium der Papiere in ihren Händen erlaubte es Dagmar, alles zu ignorieren, was um sie herum vorging. Die heftigen Streits, die betrunkenen Angehörigen, die überall auf dem Boden herumlagen, die sich windenden Körper in dunklen Ecken.

Ein Morgen wie jeder andere in der Reinholdt-Festung.

Sie hatte sich selbst schon vor langer Zeit beigebracht, all die irrelevanten Aktivitäten um sich herum einfach auszublenden, die sie nur von den wichtigen Dingen ablenkten.

Das war einfach, wenn ihr Hund Knut kühn neben ihr herging, mit Argusaugen wachte und sie beschützte. Sie hatte ihn von seiner Geburt an aufgezogen, und jetzt war er ihr treuer Gefährte. Er war einer der vielen Kampfhunde, die sie für ihren Vater gezüchtet und ausgebildet hatte, seit sie neun Winter alt gewesen war, aber Knut gehört ihr und niemandem sonst. Seit drei Jahren beschützte er sie, wie Knuts Vater sie beschützt hatte: wild, grimmig und brutal. So wild, grimmig und brutal, dass niemand in ihre Nähe kommen konnte. Das gefiel ihr.

Dagmar war sich wohl bewusst, dass es für eine Frau ungewöhnlich war, für die Hunde zuständig zu sein, die ein Warlord wie ihr Vater im Kampf benutzte, aber er hatte die Augen nicht davor verschließen können, wie gut sie mit Hunden umgehen konnte. Aber vor allem konnte er die Tatsache nicht ignorieren, dass sie jeden einzelnen Kampfhund innerhalb seines Gebietes darauf trainiert hatte, nur auf ihre Stimme, ihren Befehl zu reagieren. Es war einen Monat vor ihrem zehnten Geburtstag gewesen, als sie ihren ersten Sieg ausgeheckt, geplant und durchgeführt hatte. Sie erinnerte sich gut daran, wie sie vor ihrem Vater gestanden hatte und sämtliche bösartigen, unbändigen Kampfhunde in Habtachtstellung vor, neben und hinter ihr, die nur auf ihren Befehl gewartet hatten. Sie hatte mit zusammengekniffenen Augen zu ihrem Vater hinaufgeblinzelt, denn schon damals war sie kurzsichtig gewesen, und hatte ihm leise erklärt: »Es tut mir leid, dass dein Hundetrainer seinen Arm verloren hat, Vater. Vielleicht brauchst du jemanden, der ein bisschen besser mit diesen Tieren zurechtkommt, eher mit Freundlichkeit als mit Brutalität.«

»Du bist noch ein kleines Mädchen«, hatte er zurückgeknurrt und dabei mit dem zerfetzten, blutgetränkten Arm seines Ausbilders gestikuliert. »Was verstehst du schon von Krieg und Kampf?«

»Gar nichts«, hatte sie fast geflüstert, die Augen niedergeschlagen. »Aber ich kenne mich mit Hunden aus.«

»Dann zeig es mir. Zeig mir, was du kannst.«

Sie hatte den Blick gehoben, ihrem Vater in die Augen gesehen und auf einen Hund gedeutet, dann auf einen der Wächter. Nur einer der achtzehn Hunde stürmte los und ging auf den Mann los, der sie einmal als »hässliches Mädchen« bezeichnet hatte.

Ihr Vater hatte dem Hund dabei zugesehen, wie er tat, wozu er ausgebildet war, und sich nicht im Geringsten um die Hilfeschreie des Wächters gekümmert.

»Sehr gut«, hatte er schließlich gesagt, aber sie hatte gewusst, dass die Prüfung noch nicht vorüber war.

»Danke.«

»Jetzt ruf ihn zurück.«

Sie hatten beide gewusst, dass das die wahre Herausforderung war, denn die Kampfhunde der Reinholdts wurden oft unkontrollierbar, wenn sie im Blutrausch waren. Viele von ihnen wurden am Ende der Schlacht von ihren Hundeführern getötet.

Also hatte Dagmar, immer noch ohne den Blick von dem ihres Vaters abzuwenden, ihre Finger gehoben, kurz gepfiffen und eine Geste mit der Hand gemacht. Der Hund hatte seine schreiende, weinende und blutende Beute auf der Stelle losgelassen, war zurück an ihre Seite getrottet und hatte sich auf den Platz gesetzt, den er verlassen hatte. Mit hängender Zunge, Blut an der Schnauze, hatte er Dagmar angesehen und auf den nächsten Befehl gewartet.

Damals hatte ihr Vater nur gegrunzt und war weggegangen, den Arm seines Ausbilders mitsamt einer Blutspur hinter sich herziehend. Doch bis ihr sechzehnter Winter vergangen war, hatte Dagmar die volle Kontrolle über die Hundezwinger und sämtliche Hunde – Arbeitshunde und Haustiere – in sämtlichen Ländereien ihres Vaters innegehabt.

Als Knut abrupt stehen blieb, tat sie es ihm nach und wartete, bis ein Kelch an ihrem Kopf vorbeiflog und an die Wand neben ihr krachte. Mal wieder ein Streit zwischen einem ihrer Brüder und seiner Frau.

Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, stieg sie über den auf dem Boden rollenden zerbeulten Kelch und ging auf die Haupthalle zu. Ihr Vater saß an der Haupttafel; mehrere ihrer Brüder saßen mit ihren Frauen um ihn herum, doch der Stuhl neben ihm war frei, denn das war Dagmars Stuhl. Sie wusste, dass das ihre Schwägerin Kikka ärgerte, die sie über den Tisch hinweg böse anstarrte.

Während sie hereinkam und sich setzte, schaufelte ihr Vater sich Essen in den Mund, als fürchte er, der zähe Haferbrei könnte versuchen zu fliehen. Wie immer ignorierte sie den Anblick ihres Vaters beim Essen.

In ihrer Welt gab es schlimmere Dinge als schlechte Tischmanieren.

»Vater.«

Ihr Vater grunzte. Er war noch nie besonders gesprächig gewesen, aber seiner einzigen Tochter hatte er besonders wenig zu sagen. Nach zwölf strammen Söhnen von drei verschiedenen Ehefrauen – zwei waren davongelaufen, und Dagmars Mutter war nach der Geburt gestorben – hatte er nicht mit einer Tochter gerechnet. Vor allem hatte er nicht mit einer Tochter wie ihr gerechnet. Wenn er betrunken war, beklagte er oft die Tatsache, dass sie nicht als Junge geboren worden war. Er hätte mehr mit ihr anfangen können, wenn sie nützlich für ihn gewesen wäre, statt nur etwas, das er beschützen musste.

Es hätte sie verletzen sollen, dass ihr Vater nach all der Zeit immer noch nicht anerkannte, was sie für sein Lehen tat. Wie viel sie beitrug, unter anderem die Verteidigungsmaßnahmen, die sie entwarf, die Hunde, die sie ausbildete, um seinen Männern im Kampf das Leben zu retten, oder die wichtigen Waffenstillstände, die sie ihm auszuhandeln half. Doch warum Zeit damit verschwenden, verletzt zu sein? Es hätte nichts geändert und sie nur wertvolle Zeit gekostet.

Dagmar griff nach einem Brotlaib und riss ihn auseinander. »Der neue Wurf Welpen sieht sehr vielversprechend aus, Vater. Sehr stark. Kräftig.« Sie riss das halbe Brot in ihren Händen noch einmal auseinander und gab Knut einen Teil.

Ihr Vater grunzte noch einmal, doch statt auf eine Antwort zu warten, die sie gar nicht erwartete, machte sich Dagmar über den heißen Haferbrei her, den einer der Diener vor sie hinstellte. Das gemeinsame Frühstück, wenn er nicht fort war, um sein Land zu verteidigen, lief oft so ab. Um genau zu sein, hatte sie sich so sehr an das Schweigen oder gelegentliche Grunzen gewöhnt, dass sie sich fast an ihrem Essen verschluckte, als ihr Vater plötzlich doch mit ihr sprach.

»Wie bitte?«, fragte sie, nachdem sie geschluckt hatte.

»Ich wollte wissen, was für eine Botschaft du vor ein paar Tagen mit meinem Siegel drauf verschickt hast.«

Verdammt. »Du erlaubst mir, dein Siegel zu benutzen und fast alle Korrespondenz mit deinem Namen zu unterschreiben. Also musst du dich schon genauer ausdrücken, Va…«

»Mach’s kurz!«, knurrte er.

Na gut: »Ich habe eine Botschaft an Annwyl von den Dunklen Ebenen geschickt.«

Er starrte sie so lange an, dass ihr klar war, dass er keine Ahnung hatte, wen sie meinte. »Na gut.«

Ohne ein weiteres Wort stand er auf und nahm seine Lieblings-Streitaxt. Die Vormittage, wenn die zwei Sonnen am Himmel standen, aber die Luft noch am kältesten war, waren in den Nordländern dem Kampftraining vorbehalten. Als ihr Vater den Hauptsaal verließ, legte Kikka ihren Löffel nieder und fragte laut: »Nennt man Annwyl von den Dunklen Ebenen nicht auch die Verrückte Schlampe von Garbhán?«

Dagmar hatte nur einen Augenblick, um ihrer nutzlosen Schwägerin einen frostigen Blick zuzuwerfen, bevor Der Reinholdt wieder hereingestürmt kam, während Dagmars Brüder es angesichts der rasenden Wut ihres Vaters plötzlich eilig hatten zu verschwinden.

Die Axtklinge Des Reinholdts schlug in den Esstisch ein, und beim Geräusch des splitternden Holzes stieben die restlichen Diener, die noch im Raum waren, in alle Richtungen auseinander. Bevor Dagmar ein Wort sagen konnte, brüllte ihr Vater: »Du hast dieser Wahnsinnigen eine Botschaft geschickt?«

Gwenvael sah die Königin der Dunklen Ebenen an und machte sich Sorgen. Sie erschien ihm so schwach. Schwächer als er sie je erlebt hatte. Und bleich, was einer Kriegerkönigin, die den Großteil ihrer Zeit mit ihren Soldaten im Freien verbrachte und alles tötete, was sich ihr in den Weg stellte, gar nicht gut zu Gesicht stand. Ihre Haut war von der Sonne immer goldbraun getönt gewesen, wenn auch nicht so braun wie die von Talaith und Izzy, aber die kamen auch aus den Wüsten von Alsandair, wo alle in verschiedenen Braunschattierungen geboren wurden. Das war Annwyl nicht.

Doch in den letzten Monaten, während ihr Bauch wuchs und ihre Zwillinge in ihr aktiver wurden, hatte Annwyl irgendwie nichts von dem inneren Glühen anderer erstgebärender menschlicher Mütter, die er auf seinen Reisen gesehen hatte. Sie sah abgespannt und müde aus.

»Was ist los, Annwyl?«

Zumindest hatte sie endlich aufgehört zu weinen, aber jetzt stand sie am Fenster und starrte schweigend hinab in den Hof.

»Was ist los, meine Königin? Du bist anders als sonst.«

Sie lächelte. »Ich bin nicht deine Königin.«

»Du bist es, wenn ich hier bin. Und als dein treuer und dich am meisten liebender Untertan will ich nur helfen.«

»Das weiß ich.«

»Also, was ist los, Annwyl? Was macht dir solche Sorgen, dass ich fünf Goldstücke verwetten würde, dass du es nicht einmal Fearghus gesagt hast?« Als sie sich weiter von ihm abwandte, setzte er sich auf einen der robusten Stühle mit den geraden Lehnen und hielt Annwyl seine Hand hin – er war nicht so dumm, sich ihr noch einmal zu nähern, wenn sie schlecht gelaunt war. Nicht, wenn diese verdammten Schwerter gerade mal eine Armeslänge von ihr entfernt waren. »Komm, erzähl Gwenvael, was du meinem lieben – aber nicht annähernd so gut aussehenden und charmanten – Bruder nicht sagen kannst.«

Nach einem langen Moment nahm Annwyl Gwenvaels Hand und ließ sich von ihm auf seinen Schoß ziehen. Er streichelte ihr den Rücken, während sie in der Tasche ihres Kleids grub. Sie reichte ihm ein Stück Pergament, und Gwenvael sah sofort auf das Wachssiegel, das immer noch an einem Teil davon klebte. Er hielt sich nicht damit auf, den Brief selbst sofort zu lesen, denn er hatte festgestellt, dass es fast so wichtig, wenn nicht sogar wichtiger war, von wem Briefe kamen als was tatsächlich darin gesagt wurde.

»Wessen Siegel ist das? Ich kenne es nicht.«

Annwyl seufzte laut auf. »Der Reinholdt.«

»Der Reinholdt?« Er runzelte nachdenklich die Stirn; dann ging ein Ruck durch seinen Körper. »Gute Götter! Dieser Verrückte aus dem Norden?«

»Genau der.«

»Ehrlich …« Er warf noch einen Blick auf den Brief. »Ich wusste gar nicht, dass irgendwer aus dem Reinholdt-Clan schreiben kann.«

Dagmar wartete geduldig, während ihr Vater wetterte. Er hatte wohl wieder eine schlaflose Nacht hinter sich, denn er brauchte länger als gewöhnlich. Zwei Dinge beeindruckten sie immer, wenn ihr Vater so zu ihr war: Er hatte sie in seiner Wut nicht ein Mal angerührt oder war gewalttätig geworden, und er wurde bei seinen Schreikrämpfen niemals persönlich. Während mehr als eine ihrer Schwägerinnen sie schon »dumme Schlampe« oder »hässliche Kuh« genannt hatte, wenn ihr nichts Geistreicheres mehr eingefallen war, blieb ihr Vater immer bei seinem Streitpunkt. Und sein Streitpunkt war normalerweise, dass Dagmar wieder einmal ihre Grenzen überschritten hatte.

Normalerweise hatte sie das dann auch.

Als ihr Vater endlich lange genug schwieg, dass sie antworten konnte, sagte sie: »Ich glaube, du unterschätzt, was Königin Annwyl für uns tun kann.«

»Außer ihren Blutdurst in unser Zuhause mitzubringen?«

»Vater«, sagte sie besänftigend, »du solltest nicht auf Gerüchte hören.« Sie lächelte. »Das ist mein Job.«

»Oooh, du hast jetzt einen Job?«, fragte Kikka zuckersüß und strahlte übers ganze Gesicht dabei.

Und Dagmar gab, ebenfalls strahlend, zurück: »Ich wusste gar nicht, dass Eymund dir ein neues Kleid gekauft hat. Es ist schön!«

Ihr Bruder Eymund, der durch Abwesenheit geglänzt hatte, seit ihr Vater zurück war, kam wieder in den Saal. »Was? Was für ein neues Kleid?« Er warf seiner jungen Frau einen wütenden Blick zu. »Ein neues Kleid?«

Kikkas Blick war fast jeden Augenblick wert, in dem Dagmar sich mit Dem Reinholdt auseinandersetzen musste.

Sie wandte sich wieder ihrem Vater zu und hob die Stimme, damit er sie über das Gebrüll ihres Bruders hinweg hören konnte. »Vater, ich verstehe deine Sorge. Aber wir können nicht ignorieren, was für eine Verbündete Königin Annwyl für uns wäre. Man sagt, sie habe fast hundert Legionen zur Verfügung. Alle gut ausgebildet und kampfbereit.«

Ihr Vater legte seine großen Fäuste auf den Tisch, und Dagmar wusste, dass sie jetzt nicht mehr mit dem beängstigenden Warlord sprach, der in den gesamten Nordländern gefürchtet wurde, sondern mit Sigmar Reinholdt. Dem Mann, dem sein Volk und seine Familie sehr viel bedeuteten. »Du machst dir Sorgen wegen Jökull, nicht wahr?«, fragte er, ohne sie anzusehen.

»Aus gutem Grund. Wir können deinen Bruder nicht länger ignorieren.«

»Ich ignoriere ihn nicht!«

»Er verstärkt seine Truppen, kaufte sie anscheinend ein. Deine Männer bereiten sich eindeutig auf eine Belagerung vor. Ich will helfen, und Königin Annwyl macht mir das möglich.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht, kleine Miss.«

»Nein. Du brauchst ihre. Und ich sehe keine Schande darin.«

Ihr Vater räusperte sich, sah sich um und murmelte: »Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist.«

Leider wusste sie das nicht. Aber als sie nicht antwortete, holte ihr Vater tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Was geben wir ihr?«

»Informationen.« Sie konnten ihr wenig mehr bieten.

»Du und deine verdammten Informationen.«

»Damit handle ich.« Sie beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen – sie war eine der wenigen, die das wagten. »Du musst mir in dieser Sache vertrauen.«

Er schnaubte und starrte auf den Tisch hinab, während Dagmar geduldig wartete.

Als er endlich seine Axt am Griff packte und die Waffe aus dem Tisch riss, wusste sie, dass sie gewonnen hatte – oder zumindest eine kurze Galgenfrist erlangt hatte.

»Treib es nicht zu weit mit mir, kleine Miss«, grummelte er.

Natürlich würde sie das. Sie war so gut darin.

Als ihr Vater den Raum verließ, kam ein Diener hereingeeilt. »Mylady, Bruder Ragnar ist auf dem Weg hierher.«

Sie nickte und stand auf; den Appetit hatte sie schon längst verloren.

»Schau an« – Kikka lächelte höhnisch, während ihr Ehemann immer noch über »das ganze verfluchte Geld, das du aus dem Fenster wirfst!« schimpfte – »noch ein männliches Wesen, das es nicht mit unserer kleinen Dagmar treiben wird.«

»Ganz im Gegensatz zu dir, Schwester.« Dagmar beugte sich nieder und beendete den Satz flüsternd: »Die offenbar alles vögeln würde.«

Während sie auf die Tür und ihre Ruhepause von dieser Idiotie zuging, hörte Dagmar ihren Bruder schnauzen: »Was hat sie gesagt? Was machst du?«

Gwenvael überflog die Nachricht flüchtig. »Der Reinholdt will, dass du – und sie betonen dieses ›Du‹ sehr deutlich – in sein Herrschaftsgebiet kommst, um das Leben deiner ungeborenen Kinder zu retten. Du weißt, ich persönlich schätze es gar nicht, dass er versucht, meine liebliche Königin herumzukommandieren, aber was mir wirklich Sorgen macht …«

»… ist, dass die Barbaren schon wissen, dass ich Zwillinge bekomme?« Auf Gwenvaels Nicken hin fügte sie hinzu: »Und wenn sie das wissen, könnten sie auch schon wissen, dass ich nicht mehr so hart bin, wie ich einmal war.«

»Du wirst nicht ewig schwanger sein, Annwyl. Und wenn die Zwillinge erst da sind, wirst du wieder genauso wild, grausam und irre blutrünstig sein wie immer.«

»Du versuchst doch nur, mich zu trösten.«

»Funktioniert es?«

»Ein bisschen.« Sie schloss die Augen, und er wusste, dass sie Schmerzen hatte, wieder die »Stiche«, wie sie sie nannte, was in letzter Zeit immer öfter vorkam. Sie holte tief Luft und sprach weiter. »Aber selbst wenn ich persönlich in die Nordländer aufbrechen wollte, würde Fearghus das niemals zulassen. Und Morfyd! Götter, was das für ein Gequengel gäbe!« Gwenvaels ältere Schwester, eine mächtige Drachenhexe und Heilerin, konnte sogar einen Stein zermürben, wenn ihr danach war. »Abgesehen davon hat mir jemand, von dem ich eigentlich dachte, er wäre verrückt nach mir, gesagt, ich sei zu fett um zu reisen.«

»Das habe ich nicht gesagt, auch wenn ich es großartig finde, wie ihr alle mich absichtlich falsch versteht. Und wie schnell wir vergessen, dass ich auch bemerkt habe, dass deine Brüste noch voller und sogar noch hübscher als vorher geworden sind. Wenn das überhaupt möglich ist.«

Annwyl schüttelte lachend den Kopf. »Nicht einmal ein Mindestmaß an Schamgefühl.«

»Nicht einmal einen Teelöffel voll. Also, wir wissen beide, dass du nicht reisen kannst. Was soll ich also tun? Willst du, dass ich ihnen zurückschreibe? Ich denke, wir müssen beide zugeben, dass ich besser mit dem geschriebenen Wort umgehen kann als du mein Liebling.«

»Das ist wohl wahr.« Sie drehte sich ein wenig auf seinem Schoß, damit sie ihn direkt ansehen konnte. »Aber ich dachte, vielleicht könntest du an meiner Stelle hingehen.«

»Ich? Zurück in die Nordländer?« Er verzog das Gesicht. »Da würde ich noch lieber Baumrinde essen.«

»Glaubst du, ich bitte dich gerne darum, so ein Risiko einzugehen? Vor allem bei dem Eindruck, den du dort hinterlassen hast?« Sie hob eine Augenbraue.

»Weißt du, sie waren gar keine Jungfrauen«, argumentierte er, wie er schon seit Jahrzehnten argumentierte. »Sie sind an diesem See zufällig auf mich gestoßen. Sie haben mich benutzt! Sie haben ihre Schwänze auf eine Art benutzt, die ich verführerisch fand, und ich habe getan, was ich tun musste, um die Schrecken des Krieges zu überleben.«

»Stimmt es, dass du, und zwar nur du allein, ausdrücklich in der Waffenstillstandsvereinbarung erwähnt wirst?«

»Solange ich mich von Blitzdrachinnen fernhalte – du kennst die Blitzdrachen vielleicht auch als die Hordendrachen, meine schöne Majestät« – er schenkte ihr sein reizendstes Lächeln, aber sie starrte ihn nur an, also fuhr er fort – »darf ich für kurze Aufenthalte in die Nordländer reisen.«

»Dann musst du gehen. Aber um ganz ehrlich zu sein, bist du der Einzige, den ich schicken kann.«

Das Eingeständnis überraschte ihn. »Bin ich das?«

»Morfyd kann ich nicht schicken. Sie ist eine Frau, und die Blitzdrachen würden sie schneller schnappen als du ein Mädchen aus dem Dorf in dein Bett locken kannst.«

»Was für eine hübsche Analogie! Danke!«

»Abgesehen davon wird deine Schwester hier gebraucht, weil sie die Einzige ist, die Fearghus davon abhalten kann, seine eigenen Eltern umzubringen.«

Gwenvael hielt sein zorniges Stirnrunzeln gerade noch zurück; er wollte den Ton ihres Gesprächs so leicht wie möglich halten. »Dann weigert sich Mutter also immer noch zu glauben, dass deine Babys von Fearghus sind?«

»Ich weiß nicht, was sie glaubt, und es ist mir auch egal. Sie war schon seit sechs Monaten, seit sie es erfahren hat, nicht mehr hier, und das ist mir auch ganz recht so.« Gwenvael wusste, dass das gelogen war. Dieser Streit war der hässlichste gewesen, den er in seiner Sippe je erlebt hatte, und obwohl alle von Fearghus’ Geschwistern an diesem Tag hinter ihm und Annwyl gestanden hatten, hatte es Annwyl mehr verletzt, als einer von ihnen zugeben wollte.

»Keita kann ich auch nicht schicken«, fuhr sie fort, »weil sie dafür sorgen würde, dass sämtliche Männer aufeinander losgehen und darüber völlig vergessen würde, warum ich sie geschickt habe. Abgesehen davon: Wann ist sie schon einmal hier, dass ich sie fragen könnte?«

Das konnte Gwenvael nicht bestreiten. Seine kleine Schwester war ihm ähnlicher als jeder andere in der Familie. Sie lagen im Alter nur ein paar Dekaden auseinander, hatten sich immer nahegestanden und verstanden sich sehr gut. Doch er hatte bemerkt, dass Keita in den letzten Jahren fast ihre gesamte Zeit so weit wie möglich vom Berg Devenallt und den Dunklen Ebenen entfernt verbracht hatte. Sie hatte eine eigene Höhle, war aber fast nie da, und wenn sie einmal nach Hause kam, wurde es oft ungemütlich zwischen ihr und ihrer Mutter. Gwenvael konnte sich an keine Zeit erinnern, zu der Mutter und Tochter miteinander ausgekommen waren, was Familienzusammenkünfte immer ziemlich anstrengend gemacht hatte. Andererseits liebte Gwenvael diese Art von Spannung und fand oft ein perverses Vergnügen daran, die Situation zu verschlimmern.

»Natürlich ist da noch Briec, aber …« Annwyl suchte nach Worten, schien aber nichts zu finden, was sie über den arroganten, silberhaarigen Drachen sagen konnte, und endete mit: »Muss ich das mit Briec wirklich erklären?«

»Mir nicht.«

»Und Éibhear ist noch zu klein. Abgesehen davon bist du offen gesagt der politisch Erfahrenste aus eurem ganzen Haufen.«

Gwenvael lächelte, schockiert und ehrlich geschmeichelt von ihrer Feststellung. »Meinst du das ernst?«

»Natürlich. Ich bin nicht blind. Und man sollte immer die Stärken und Schwächen der Verbündeten kennen, die man um sich hat. Mein Vater hat das immer gesagt … du weißt schon, bevor er loszog und etwas oder jemanden vernichtete.«

Sie kaute auf ihrem Daumennagel, eine Angewohnheit, die sie über die letzten Monate entwickelt hatte, während ihr Stresspegel stieg. »Im Endeffekt bin ich mir sicher, dass du der Einzige bist, der das wirklich kann.«

»Und ich bin mir sicher, dass du damit durchaus recht hast, aber was springt für mich dabei heraus?«

Annwyl ließ ihre Hand in den Schoß fallen. »Was für dich dabei herausspringt?«

»Aye. Was ist meine Belohnung dafür, dass ich diese Aufgabe ausführe, die du mir aufgetragen hast?«

»Was willst du?«

Grinsend neigte Gwenvael ein wenig den Kopf vor und zupfte mit seinem Daumen und Zeigefinger behutsam am oberen Saum ihres Mieders.

»Hör auf damit!« Sie schlug lachend nach seiner Hand.

»Komm schon. Ich bitte doch nur darum, einen Augenblick in den üppigen Garten deiner Brust eintauchen zu dürfen.«

»Der üppige Garten meiner …« Annwyl schüttelte den Kopf. »Du wirst in keinen meiner Körperteile eintauchen, Lord Gwenvael.«

»Na, na. Ich bitte doch nur darum, ein bisschen mit ihnen zu spielen.« Er steckte seine Nase in ihren Ausschnitt, und Annwyl lachte und stemmte sich gegen seinen Kopf.

»Gwenvael! Hör auf!«

Die Tür ging krachend auf und Fearghus stolzierte herein. »Was zum Teufel geht hier …« Schwarzer Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern. »Nimm deine Nase da raus!«

In aller Seelenruhe hob Gwenvael den Blick und sah in Fearghus’ wütendes Gesicht. »Oh. Hallo, Bruder. Was machst du denn hier?«

Dagmar lächelte herzlich, als die Tore aufgingen und einige Mönche hereinkamen; zwei von ihnen zogen einen großen Wagen voller Bücher. Bücher für sie.

»Bruder Ragnar.« Sie neigte respektvoll den Kopf.

»Lady Dagmar. Es ist so schön, dich zu sehen, Liebes.«

Bruder Ragnar, schon seit vielen Jahren Mönch in dem rätselhaften und selten in die Öffentlichkeit tretenden Orden des Kriegshammers, brachte Dagmar schon Bücher, seit sie zehn war. Es war das Einzige in der Festung ihres Vaters und den umgebenden Dörfern, das dafür sorgte, dass sie nicht den Verstand verlor: friedliche Reisende, die immer nützliche Informationen für sie hatten. Bruder Ragnar war ihr definitiv der liebste unter allen regelmäßigen Besuchern, aber sie hatte im Lauf der Jahre viele kennengelernt und gesprochen – die meisten von ihnen Mönche und Gelehrte – und viel über eine Welt gelernt, die sie nie gesehen hatte. Sie brachten ihr Bücher, Klatsch und Neuigkeiten, die sie oft benutzte, um ihrem Vater und ihrem Volk zu helfen, aber es war Bruder Ragnar, der ihr Unterricht im Lesen, Schreiben und Verhandeln gegeben hatte.

Er hatte ihr von Anfang an viel beigebracht und ihr gezeigt, wie sie von ihren Verwandten bekommen konnte, was sie wollte, ohne dass es jemand merkte. »Warum ein Rammbock sein, mein Liebes, wenn du einfach an die Tür klopfen und eingelassen werden kannst?«

Er hatte natürlich recht gehabt. Wie immer.

Dagmar nahm seinen rechten Arm, denn in seiner linken Hand hielt er seinen Wanderstab. Sie konnte wegen der Kapuze seiner Kutte, die er immer trug, nie viel von seinem Gesicht sehen, doch dem Klang und der Kraft seiner Stimme nach bezweifelte sie, dass er sehr alt war. Und obwohl er schwer verwundet worden, sein Körper gebrochen und schwach war, hatte er nichts von seinem Wesen verloren. Die Augen, die sie aus der Dunkelheit seiner Kapuze ansahen, waren von einem strahlenden Blau mit seltsamen silbernen Flecken auf der Iris und immer fröhlich und aufgeweckt.

Sein Ordensgelübde zwang Bruder Ragnar, selbst mit seinem kaputten Körper alle Wege zu Fuß zu machen, obwohl sie ihm mehr als einmal angeboten hatte, ihm ein Pferd zu kaufen. Doch es gehörte zu den Opfern, die Mönche aller Orden bringen mussten, was Dagmar nie verstehen würde – war das Leben nicht schwierig und schmerzhaft genug, auch ohne zusätzliches Elend?

»Ich bin so froh, dich zu sehen, Bruder.« Sie drückte seine behandschuhte Hand. »Du siehst gut aus.«

»Es ist immer noch schön, unterwegs zu sein. Auch wenn ich mich nicht gerade auf den Winter freue.« Der Winter in den Nordländern war für sie alle eine schwere Zeit, und nur die Wackersten – oder Dümmsten – zogen durch die Winterstürme ins Land der Reinholdts.

»Aber jetzt bist du ja hier. Und wir haben viel zu besprechen.«

»Ja, das haben wir.« Er machte eine Geste zu dem Wagen hin. »Und ich habe dir ein paar wunderbare neue Bücher mitgebracht, die du sicher mögen wirst.«

Sie warf einen Blick auf den Wagen und lächelte. »Du bringst mir die besten Geschenke.«

Indem sie Bruder Ragnars Hand auf ihren Arm legte, führte sie ihn und seine Gefährten in die Haupthalle, um ihnen warmen Wein und etwas zu essen anzubieten. »Also, Bruder … gibt es Neues von meinem Onkel?«

»Viel, leider. Es gefällt mir nicht, Dagmar. Es gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Das wird mir genauso gehen, da bin ich sicher.«

»Hast du der Königin der Südländer eine Nachricht geschickt, wie ich dir geraten habe?«

»Ja, aber mein Vater war nicht sonderlich begeistert.«

»Sie ist eine Frau«, stichelte er. »Ihre Schwäche ist offensichtlich.«

»Aber ihr Ruf, Bruder …«

»Ich weiß. Sie ist vollkommen verrückt, aber sie hat fast hundert Legionen zur Verfügung, Mylady. Stell dir vor, was auch nur eine Legion tun könnte, um deinem Vater zu helfen.«

»Aber wenn sie so völlig wahnsinnig ist, wie jeder sagt, wird sie dann überhaupt verstehen, in welcher Gefahr sie schwebt?«

»Mylady, die meisten Monarchen der Südländer sind ziemlich irre. Aber sie sind immer von den verlässlichsten und schlauesten Köpfen unserer Zeit umgeben. Königin Annwyl wird da keine Ausnahme sein.« Er drückte leicht ihre Hand. »Keine Sorge, Mylady. Falls die Königin nicht selbst kommt, habe ich keine Zweifel, dass sie an ihrer statt nur ihren angesehensten Stellvertreter schicken wird.«

2Wie lange soll ein Drache meines Formats noch ohne ein warmes weibliches Wesen überleben?

Seit Tagen reiste er nun schon durch die kalten und unerbittlichen Nordländer, über Ozeane der Verzweiflung, Wälder des Todes und Flüsse des Zorns hinweg. Er nannte sie nicht aus Spaß so. Er nannte sie so, weil die meisten davon wirklich so oder so ähnlich hießen.

Und nach so vielen Tagen unausgesetzten Reisens durch – davon war er inzwischen überzeugt – eine besondere Form der Hölle, hatte er immer noch keine Frau. Er war die Männer leid; er wollte Frauen sehen. Er wollte ihre Haare riechen, ihre Haut schmecken und sich in ihren Körpern verlieren. Und er wollte ganz sicher nicht noch einen wütenden, knurrigen, unattraktiven männlichen Nordländer sehen.

Das waren die Gedanken, die Gwenvael durch den Kopf schossen, als er in Sichtweite der Reinholdt-Festung kam. Noch mehr nutzlose, wertlose Nordland-Männer mit ihren nichtsnutzigen Kodexen und Regeln. Er dachte kurz darüber nach, seine menschliche Gestalt anzunehmen, entschied sich aber dagegen. Er brauchte den Vorteil gegenüber Dem Reinholdt und seinem Kriegersohn, Der Bestie.

Mit diesem Entschluss landete Gwenvael in all seiner Drachenpracht vor den Toren der Reinholdt-Festung.

Krallenbesetzte Füße gruben sich in den Boden und ließen die Festungsmauern erzittern; goldene Flügel streckten sich weit von seinem Körper, die langsamen, gleichmäßigen Bewegungen wirbelten Staub und Luft auf. Dann neigte Gwenvael den Kopf zurück und blies eine Flammenzunge in den Himmel hinauf.

Als er genug davon hatte, sah er hinab auf die Menschen, die zu ihm hinaufstarrten. »Nur zu«, bot er großzügig an. »Habt keine Hemmungen, euch in die Hosen zu machen und euch verängstigt und hilflos zusammenzukauern.«

Götter, manchmal überwältigte ihn sein Großmut geradezu selbst.

Dagmar hob ein Buch vom Boden auf und blätterte rasch die Seiten durch. Sie war so konzentriert auf ihre Arbeit, dass ihr nicht auffiel, dass etwas fehlte, bis Knut aufsprang und die Tür anknurrte. Sie sah bereits in diese Richtung, als einer ihrer Brüder ohne zu klopfen eintrat. Es war das typische unhöfliche Benehmen der Reinholdt-Männer, aber Knut wollte ihn trotzdem angreifen. Dagmar hielt ihn mit einem einfachen »Nein« zurück.

Der Hund hatte die Zähne gefletscht und befand sich schon im Flug, doch er riss sich automatisch zurück, traf auf dem Boden auf und rollte sich hastig herum. Er knurrte und schnappte ein wenig zum Schein, bevor er zurück an Dagmars Seite kam.

»Was ist los?«

Ihr Bruder Fridmar, dritter Nachkomme Des Reinholdts, lehnte lässig im Türrahmen und aß einen Apfel. Zwischen zwei Bissen nuschelte er: »Drache draußen.«

»Ja, schon gut, ich bin gleich … warte.« Sie sah von ihrer Arbeit auf. »Wie bitte?«

»Drache«, sagte er gelassen. »Vor den Toren. Eymund hat zum Angriff gerufen, aber Pa meinte, ich soll erst dich holen.«

Dagmar legte sorgsam die Schreibfeder auf den Schreibtisch, drehte sich langsam auf ihrem Stuhl herum und legte den Arm auf die Lehne. »Ein Drache? Bist du sicher?«

»Er ist groß, schuppig und hat Flügel. Was zum Teufel könnte es sonst sein?« Sie wäre vielleicht weniger genervt gewesen, wenn er bei dieser Antwort nicht Apfelstückchen gespuckt hätte.

»Und was für eine Art?«

Ihr Bruder runzelte die Stirn. »Art? Es ist ein Drache, hab ich doch gesagt.«

Es erstaunte sie, dass sie immer noch die Geduld für so etwas aufbrachte, aber was sie früh gelernt hatte und was ihre Schwägerinnen wohl nie begreifen würden – ihre Brüder und ihr Vater dachten und bewegten sich nicht schneller als absolut notwendig. Sie anschreien, kreischen … totale Zeitverschwendung. Also mühte sich Dagmar ab, bis sie hatte, was sie brauchte. Sie nannte es die »Steter Tropfen höhlt den Stein«-Methode. »Es gibt verschiedene Arten von Drachen, Bruder. Violette. Blaue. Tannengrüne.«

»Tannen …« Er schüttelte den Kopf. »Klar. Egal. Er ist gelb.«

»Gelb?« Dagmar tippte mit dem Finger auf den Schreibtisch und benahm sich genauso schwer von Begriff wie ihre Verwandtschaft. Und sie liebte es, dass sie die Stirn hatten, sich darüber aufzuregen, wenn sie das tat. »Es gibt keine gelben Drachen, Bruder. Meinst du golden?«

»Ja. Na gut. Dann golden.«

Dagmar blinzelte. »Ein Goldener? So weit im Norden?« Sie durchforstete ihr Gedächtnis nach allem, was sie im Lauf der Jahre über Drachen gelernt hatte – viel war es nicht. Es war nicht so, dass sie nicht geglaubt hatte, dass sie existierten, aber sie hatte bezweifelt, dass sie viel mit Menschen zu tun hatten. Warum sollten sie auch?

Die Hordendrachen des Nordens lebten weit in den höchsten Gebirgen und blieben meistens für sich. Ihre Farben waren ausgeprägt, aber einfach, und reichten von tiefen dunklen Lilatönen bis hin zu fast weiß, und sie trugen die Macht der Blitze in sich. Wie die Menschen der Nordländer waren sie überwiegend Krieger und Kämpfer.

Die Drachen der Südländer besaßen ein größeres Farbenspektrum und hatten ihre eigene Königin. Feuer war ihre innere Kraft, und sie waren oft Gelehrte und Lehrer.

»Wen interessiert, wie weit er gereist ist?«

»Dich sollte es interessieren. Und Vater. Warum sonst sollte ein Goldener von so weit her kommen und das Risiko eingehen, mit den Hordendrachen aneinanderzugeraten? Soweit ich weiß, sind sie Todfeinde.« Sie betrachtete ihren Bruder. »Und warum will Vater, dass ich da rausgehe? Du weißt, dass es ein Mythos ist, was man über Jungfrauenopfer und Drachen sagt, oder?«

»Natürlich weiß ich das«, blaffte er auf eine Art, dass Dagmar sofort wusste, dass er an den Mythos glaubte. »Und nach den drei Hochzeiten bist du ja wohl auch nicht mehr wirklich Jungfrau, oder?«

»Die letzten beiden haben ja wohl kaum gezählt.«

»Hör zu, Weib« – Fridmar warf das Kerngehäuse seines Apfels auf ihren Fußboden, und Dagmar schnappte empört nach Luft – »dieser Drache da draußen hat nach Pa verlangt, und Pa hat nach dir verlangt.«

»Er hat verlangt?« Sie machte große Augen und blinzelte ihren Bruder an. Ihren »überraschten Blick« nannte sie das. »Du lässt zu, dass ein Drache etwas von Dem Reinholdt verlangt? Wo ist dein Heldenmut? Deine Ehre?«

»Hältst du vielleicht den Mund?« Der Kiefermuskel ihres Bruders begann ganz leicht nervös zu zucken. »Du wirst sauer, wenn wir anfangen zu töten ohne … ohne …« Sein Gesicht verzog sich ein wenig, während er sehr scharf nachdachte. Es schmerzte sie, ihre Brüder und ihren Vater zu beobachten, wenn sie versuchten nachzudenken. Es tat wirklich körperlich weh. »Wie war das Wort noch mal?«, fragte er schließlich.

»Provokation?«

»Ja, genau. Du wirst sauer, wenn wir anfangen zu töten ohne dieses ›Provo‹-Wort, und jetzt bist du sauer, weil wir ihn noch nicht umgebracht haben.«

»Ich bin nicht sauer, dass ihr nicht … es gibt einen Unterschied zwischen …« Sie schüttelte den Kopf. »Vergiss es.«

»Wo zum Teufel ist sie?« Valdís – zweitgeborener Sohn Des Reinholdt und ein sehr nervöser Einfaltspinsel – stürmte in Dagmars Zimmer. »Was ist los? Warum bist du immer noch hier? Vater hat dich gerufen!«

»Und ich springe nicht bei jeder Aufforderung. Geh und finde erst einmal heraus, was er will.«

»Was wer will?«

»Der Drache.« Sie wedelte beide mit der Hand davon. »Geht und findet es heraus.«

Ohne einen weiteren Gedanken an ihre Brüder zu verschwenden machte sich Dagmar wieder an ihre Arbeit.

Sigmar Reinholdt, Beschützer der Reinholdt-Ländereien und ihres Volkes, Warlord der Liegenschaften des Nordwestens, achtzehnter Nachkomme von Dechard Reinholdt, Mörder von Dechard Reinholdt und Erzeuger Der Bestie, wandte sich seiner männlichen Nachkommenschaft zu.

»Was hat sie gesagt?«

Einer seiner Söhne – er hatte keine Ahnung, wie er hieß, denn er konnte sich wirklich nicht erinnern und es war ihm auch nicht wichtig genug, um es zu versuchen – zuckte die Achseln. »Sie sagte, wir sollen den Drachen fragen, was er will.«

»Und ihr habt ihr das durchgehen lassen?«

»Du weißt, wie sie ist, Pa. Abgesehen davon sah sie echt beschäftigt aus.«

»Beschäftigt mit was?«

Der Sohn warf einem anderen Sohn, dessen Name Sigmar entfallen war, einen Blick zu.

»Also?«, drängte er, als sie nicht schnell genug antworteten.

»Lesen … glaub’ ich.«

»Lesen? Du konntest sie nicht von irgendeinem verflixten Buch losreißen?«

»Du weißt doch, wie sie ist«, antwortete er.

Das stimmte. Sie alle wussten, wie sie war. Nach so vielen verfluchten Söhnen hatte Sigmar Hoffnung auf eine Tochter gehegt. Ein süßes, folgsames Ding, das den Reinholdts eine solide Verbindung durch Heirat bescheren würde und dann vielleicht ein paar Enkeltöchter. Aber er hatte Dagmar bekommen. Die Bestie. Sein schon lange toter Neffe hatte sie grausamerweise so benannt, aber sie hatte diesem Spitznamen seither alle Ehre gemacht. Obwohl sie immer wie die Harmloseste unter ihnen allen wirkte.

Sigmar schnappte seinen Zweitältesten am Kragen und riss ihn dicht zu sich heran. »Du bewegst jetzt deinen mageren Hintern zurück in ihr Zimmer und sagst ihr, sie soll sich herablassen, hier runterzukommen … sofort!«

»Ich bin hier.« Dagmar warf einen Blick auf ihren Bruder. »Ich wusste irgendwie, dass Valdís es nicht richtig hinbekommen würde.«

Kurz davor zu fragen, wer zum Teufel Valdís sei – bevor ihm klar wurde, dass es der Sohn war, dessen Kragen er immer noch in den Händen hielt –, knurrte Sigmar und blaffte seine Tochter an: »Drache. Draußen.«

»Ja. Ich habe es gehört.« Ruhig wie immer, diese Dagmar. Immer beherrscht und gelassen. Wie eine Krähe, die vom Dach eines Gebäudes blickte und wusste, dass es zu hoch war, um sie mit Pfeil und Bogen zu erreichen. »Er ist ein bisschen weit nördlich, wenn es ein Goldener ist. Aber wenn er noch nicht angegriffen hat, würde ich sagen, dass er aus einem bestimmten Grund hier ist.«

»Diese Blutkönigin, an der du so interessiert bist – sie hat ihn geschickt.«

Die Augen seiner Tochter weiteten sich, und sie schaute zur Tür, dann zurück zu ihm. Es war seit vielen Jahren die erste wirklich verblüffte Reaktion, die er aus der kleinen Miss herauslocken konnte.

»Die Blutkönigin hat ihn geschickt? Bist du sicher?«

»Ich bin sicher. Er hat ganz deutlich gesagt: ›Königin Annwyl aus den Südländern schickt mich. Ich bin hier, um Den Reinholdt oder Die Bestie zu sprechen.‹ Dann hat er noch was gesagt, das klang wie ›Ihr könnt euch ruhig in die Hose pissen.‹ Ich dachte, es wäre das Beste, ihn nicht zu fragen, was er damit meint.«

Sie kicherte. »Er ist an die Drachenfurcht der Bewohner der Südländer gewöhnt.«

»Es ist mir egal, wie du es nennst. Kein Mann aus den Nordländern würde …«

»Ich weiß, ich weiß. Kein Nordland-Mann würde je Angst zeigen.« Sie tat den Kodex, nach dem alle Männer der Nordländer lebten, mit einer Handbewegung ab. »Wichtiger ist jetzt, ob er in ihrem Namen verhandeln darf.«

»Du willst, dass wir mit einer Echse verhandeln?«

»Sie sind keine Echsen, Vater. Sie sind außergewöhnliche Kreaturen, die schon hier waren, lange, bevor irgendein Mensch auf dieser Erde herumgekrochen ist. Sie sind Krieger und Gelehrte und …«

»Er hat lange Haare wie eine Frau«, plapperte einer von Sigmars Söhnen daher – welcher Sohn allerdings, das sei dahingestellt.

Das Mädchen schloss die Augen und seufzte. Tief. Das tat sie manchmal, wenn sie von den Männern ihrer Familie umgeben war. »Um dem Ganzen hier zu entgehen, werde ich einfach hinausgehen und ihn fragen, warum er hier ist und was er will.« Aus ihrem Mund klang es ganz einfach, während sie an ihren Brüdern vorbei auf die Tür zuging, doch Sigmar fing sie am Oberarm ab und riss sie zurück.

»Du gehst nicht da raus.«

»Warum hast du mich dann hergerufen?«

»Damit du mir sagst, was du vorhast, damit ich mich um diesen Goldenen kümmern kann.«

Sie presste die Lippen zusammen und starrte ihn an. Diesen Ausdruck kannte er besser als jeden anderen. Sie würde ihm jetzt überhaupt nichts sagen, denn sie wollte selbst mit dieser riesigen Echse sprechen, die vor ihren Toren stand. Die Bestie hielt sich für eine Politikerin. Sie verstand nicht, dass das Männerarbeit war. Sie konnte gut mit Korrespondenz und solchen Dingen umgehen – vor allem da sie eine der wenigen von ihnen war, die richtig gut lesen und schreiben konnte –, aber es war Männersache, sich um die Dinge zu kümmern, die man von Angesicht zu Angesicht klärte, über einem Fässchen Ale und mit ein oder zwei Huren zur Unterhaltung. Dagmar wollte das einfach nicht lernen, und Sigmar sorgte sich, was passieren würde, wenn sie einen würdigen Ehemann fand, der ihr den Unsinn nicht mehr erlauben würde, den er ihr durchgehen ließ.

Wohl wissend, dass es nichts nützte, mit ihr zu streiten, wenn sie diesen speziellen Ausdruck im Gesicht trug, lenkte Sigmar ein winziges bisschen ein: »Du wirst hinter den Wachen warten, bis ich es dir sage. Verstanden?«

»Wenn wir unbedingt Zeit verschwenden wollen …«

»Wollen wir.« Er sah hinab auf den Hund, der ihr nie von der Seite wich. Knut hatte sie ihn getauft. Seltsam, dass er sich den Namen des Hundes merken konnte … »Und für ihn suchst du am besten einen sicheren Platz. Sonst hält ihn das Ding da draußen noch für einen Leckerbissen.«

»Ja, Vater.«

»Und ärgere mich heute nicht noch mal.«

»Nein, Vater.«

Und sie wussten beide, dass sie log.

3 Dagmar schaute noch einmal an ihrem Kleid hinab und vergewisserte sich, dass ihr Kopftuch richtig saß, bevor sie die Augengläser, die auf ihrer Nase balancierten, zurechtrückte.

Ein Drache. Ein echter Drache hier, vor der Festung ihres Vaters, und sie würde ihn gleich kennenlernen. Noch nicht einmal ein Nordländer, sondern ein Drache aus den Südländern. Ein Wissenschaftler, ein Lehrer, ein Intellektueller.

Die Vernunft möge ihr helfen, aber Dagmar merkte, dass sie so aufgeregt deswegen war, dass ihr fast … wagte sie, es auszusprechen … schwindlig war?

Sie fragte sich, wie alt der Drache wohl war. Er konnte sechs- oder siebenhundert Jahre alt sein! Denn natürlich würde die mächtigste Königin der Dunklen Ebenen nur den fachkundigsten ihrer Gelehrten schicken, den erfahrensten Gesandten, um sie in den Hallen Des Reinholdts zu vertreten.

Dagmar zuckte zusammen, als sie ihren Vater den Drachen ansprechen hörte.

»Ich bin Sigmar«, erklärte er dem Drachen, und Dagmar konnte sich kaum zurückhalten, eine angemessenere und würdigere Begrüßung über das Tor zu schreien.

»Du hast nach mir gefragt, Reinholdt?«

Was für eine Stimme! Tief und satt, und allein das Timbre ließ ein wenig die Fenster klirren, denn er schrie nicht. Er klang ruhig und ziemlich … seriös.

»Nein. Ich habe nach eurer Annwyl gefragt«, schnauzte ihr Vater geradezu zurück.

Dagmar begann, mit der Faust gegen ihren Oberschenkel zu klopfen.

»Tja«, antwortete der Drache ruhig, »sie ist im Moment indisponiert, deshalb hat sie mich als ihren Gesandten geschickt.«

»Ein Drachengesandter für einen Menschen?«

Dagmar knirschte frustriert mit den Zähnen. Was hatte der alte Mistkerl bloß vor? Warum stellte er unhöfliche Fragen? Fragen, die man über einem Essen stellen und beantworten konnte, wenn der Drache entspannter war. Sie wusste mit Sicherheit, dass einer der Hirten der Umgebung Kühe auf den östlichen Feldern grasen ließ – genug, um einen Drachen satt zu bekommen, da war sie sich sicher.

Mal ehrlich, war das die Vorstellung ihres Vaters von Diplomatie? Kein Wunder, dass sie so hart darum kämpfen musste, einen Krieg zwischen den Reinholdts und den benachbarten Lehen zu verhindern. Weil ihre Familie aus Idioten bestand!

»Noch einmal, Reinholdt, du wolltest mich oder jemanden aus den Dunklen Ebenen sprechen?«, drängte der Drache. Es war offensichtlich, dass seine Geduld zur Neige ging. Na ja, offensichtlich für jeden, der etwas Verstand besaß.

»Nay. Nicht ich, Drache. Die Bestie hat darum gebeten.«

Die Bestie? Ihr Vater sprach von ihr als Die Bestie?

Hätte sie geglaubt, damit durchkommen zu können, wenn sie sie alle umbrachte und das Land, auf dem sie standen, dem Erdboden gleichmachte –, sie hätte es ohne zu zögern getan.

»Und könnte ich Die Bestie dann vielleicht sprechen?«, erwiderte der Drache.

Dagmar trat vor, aber Valdís hielt sie hinten am Kleid fest.

»Weg!«, befahl sie.

»Du wartest!«, knurrte er.

»Bist du dir da sicher, Drache?«, fragte ihr Vater, und jetzt wusste sie, dass er mit der Kreatur spielte. Und er hatte die Stirn, sich zu fragen, woher sie ihre negative Einstellung hatte!

»Ja«, grollte der Drache. »Bin ich.«

Ihr Vater musste ein Zeichen gegeben haben, denn ihr Bruder ließ ihr Kleid los, und die Soldaten, die die Vorderseite der Festung schützten, gingen aus dem Weg. Dagmar ging hinaus, überquerte den Hof und trat durch das Tor. Die Wachen ihres Vaters bildeten zwei Reihen, um sie passieren zu lassen. Dagmar schritt zu dem herrlichen Geschöpf hinüber. Es glitzerte golden im trüben Licht der zwei Sonnen, jede einzelne Schuppe glänzte und schimmerte. Der Drache war selbst fast wie eine Sonne, er brachte ein klein wenig Licht in ihre Welt. Seine Schwingen streckten sich weit von seinem Körper weg. Die Flügel waren ebenfalls mit Schuppen bedeckt, aber sie wirkten irgendwie schwerelos und zart, wie das erlesenste Metall, das je geschaffen worden war. Jede Flügelspitze besaß eine scharfe, goldene Kralle, genau wie die Klauen. Zwei leuchtend weiße Hörner saßen auf seinem Kopf, und langes, glänzend goldenes Haar fiel ihm über Rücken und Körper und schleifte sanft über den Boden. Seine schönen goldenen Augen richteten sich auf sie, sobald sie näher trat.

Sie hatte eine Begrüßung für ihn vorbereitet. Die Worte – eine angemessene Begrüßung für so einen wichtigen Diplomaten – lagen ihr auf der Zunge, aber sie brachte keinen Ton heraus. Nicht jetzt, wo sie ihn sah.

In den dreißig Jahren ihres Lebens war ihr nie etwas so Schönes begegnet.

Als Dagmar fürchtete, sie könne sich mit ihrem Schweigen lächerlich machen, fand sie endlich ihre Stimme wieder und machte den Mund auf, um zu sprechen. Aber die Worte blieben ihr wieder im Hals stecken.

Nur diesmal blieben sie stecken, weil er lachte! Über sie!

Und es war auch nicht nur ein Lachen. Kein gedämpfter Laut hinter seiner Klaue. Auch kein ungläubiges Schnauben. Das erlebte sie täglich und war einigermaßen daran gewöhnt. Nein. Dieses übergroße … Kind rollte auf dem Boden herum, als hätte es nie etwas Amüsanteres gesehen als sie. Die riesigen Drachenbeine und -arme schlugen wild um sich, während sein schallendes Lachen im Hof und der ganzen Umgebung widerhallte.

Eine schuppige Echse lachte sie aus! Die Einzige Tochter Des Reinholdts! Und das auch noch auf Reinholdt-Gebiet!

Alle Ehrfurcht und Bewunderung, die Dagmar empfunden hatte, war im selben Augenblick weggewischt, und sie spürte diese gewisse Kälte, die sie so gut vor Außenstehenden verbarg. Sie floss durch sie hindurch wie eine Lawine. Die Männer hinter ihr begannen untereinander zu murmeln, Füße scharrten und ihr Vater räusperte sich. Ein paar Mal. Es war nicht der Drache, der ihnen Unbehagen verursachte. Jedenfalls nicht direkt.

Dagmar wartete, bis sein Lachen zu einem Kichern abgeebbt war. »Bist du fertig?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.

»Tut mir leid, äh … Bestie.« Schon wieder prustete er vor Lachen.

»Dagmar genügt. Dagmar Reinholdt. Dreizehntes Kind von Dem Reinholdt und seine Einzige Tochter. Ich habe deine Königin hergebeten«, fuhr sie fort, »weil ich etwas erfahren habe, das ihr und ihren ungeborenen Welpen vielleicht das Leben retten wird.«

Der belustigte Gesichtsausdruck des Drachen verwandelte sich augenblicklich in einen finsteren Blick. Anscheinend schätzte er den Ausdruck, den sie benutzt hatte, nicht sehr, aber das war ihr egal. All ihre Träume davon, ein Bündnis mit der Blutkönigin einzugehen, waren verschwunden, sobald diese Frau diesen Idioten als ihren Vertreter hergeschickt hatte. Nein, Dagmar würde andere Verbündete für ihren Vater finden müssen. Die Blutkönigin der Dunklen Ebenen genügte ganz einfach nicht.

»Sag es mir, süße Dagmar«, höhnte der Drache, drehte sich zurück auf den Bauch und hob den Kopf ein wenig. »Und ich werde es ihr sagen.«

Dagmar schwieg sehr lange, dann antwortete sie schlicht: »Nein.«

Der Drache blinzelte überrascht und schob sich abrupt ein bisschen hoch, sodass seine Schnauze nur noch Zentimeter von ihrer Nase entfernt war. Die goldenen Augen waren fest auf ihre gerichtet, und sie fragte sich, wie sie sie je hatte hübsch finden können. Sie waren so hässlich wie der Rest des Drachen. Hässlich und höhnisch und absolut nutzlos.

»Was meinst du mit Nein?«, wollte er wissen.

»Ich meine, du hast mich beleidigt. Du hast meine Sippe beleidigt. Und du hast Den Reinholdt beleidigt. Also kannst du zu deiner Schlampe von Königin zurückkehren und zusehen, wie sie stirbt.«

Überzeugt, ihren Standpunkt dargelegt zu haben, drehte sich Dagmar Reinholdt auf dem Absatz um und ging. Ein paar Schritte weiter hielt sie allerdings inne und warf einen Blick über die Schulter zurück.

»Das, Drache«, höhnte sie, indem sie seinen Tonfall nachahmte, »das ist witzig.«

Ohne ein weiteres Wort kehrte sie in die mächtige Festung ihres Vaters zurück. Doch bevor sie in ihrem Schutz verschwand, hörte sie ihren Vater fragen: »Du bist ein ziemlich dämlicher Bastard, was, Drache?«

In Momenten wie diesem wusste sie die Grobheit ihres Vaters ehrlich zu schätzen.

Eine Frau! Die Bestie war eine Frau! Warum hatte ihm das keiner gesagt? Warum taten alle so, als wäre sie ein Mann? Hätte Gwenvael das gewusst, dann wäre er die ganze Sache völlig anders angegangen.

Aber er hatte es nicht gewusst, und seine erste Reaktion bei ihrem Anblick … nun ja, es war nicht gerade einer seiner brillantesten Momente gewesen. Selbst er musste das zugeben. Dennoch: Warum war es seine Schuld, wenn alle ihm ständig sagten, dass Die Bestie eine Art mächtiger Riesenkrieger war, der direkt aus einer der vielen Gruben der Hölle zu kommen schien?

Während er ruhelos in der verlassenen Höhle auf und ab ging, die er hoch in den Bergen des Leids entdeckt hatte – ein recht passender Name im Moment –, zerbrach sich Gwenvael den Kopf darüber, wie er die Lage wieder in Ordnung bringen konnte.

Sein erster Gedanke war natürlich, die Frau zu verführen. Sie sah schließlich aus wie eine alte Jungfer, oder nicht? Eine verbitterte, unglückliche Jungfrau, die Männern nicht genug vertraute, um sie in ihr Bett zu lassen. In der Vergangenheit hatte er bei solchen Frauen großen Erfolg gehabt. Und dennoch …

Er seufzte und rieb sich die Augen.

Und dennoch war diese hier wiederum irgendwie überhaupt nicht so, oder?

Sie war eine graue Maus, das stimmte. Aber hässlich war sie nicht. Er hatte bei ihrem Anblick nicht das Bedürfnis, schreiend davonzulaufen. Und sie hatte diese Augen – stahlgrau und kalt wie ein Berggipfel. Augen wie ihre konnten es weit bringen, wenn sie richtig eingesetzt wurden, aber sie trug ein tristes, graues Kleid, das sie mehr verhüllte als kleidete. Es hatte keine Verzierungen, kein ausgeschnittenes Mieder, das ihren Busen betonte. Es besaß auch keinen hoch geschnittenen und prüden Kragen bis zum Kinn, sodass man unbedingt wissen wollte, was es verbarg. Der Gürtel bestand aus langweiligem braunem Leder, wo ein Silbergeflecht so viel hübscher gewesen wäre. Der Dolch, den sie hineingesteckt hatte, war durchaus hübsch, aber so …? Die Stiefel an ihren kleinen Füßen waren ebenfalls aus grauem Fell. Und sie trug dieses Kopftuch, als wollte sie gerade losziehen und eine Küche schrubben.

Nein, es war nicht ihr Aussehen, das ihr einen Namen wie Die Bestie bescherte. Sie war nicht hässlich, aber sie war auch keines dieser prachtvollen Tiere, die Männer in ihrem Bett verschlangen.

Genauso wenig war sie eine rasende Wahnsinnige, wie man es von einer Frau erwarten würde, die von Nordmännern Die Bestie genannt wurde.

Die Kälte in diesen Augen ging einem durch und durch. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was ein mächtiger Drache tun konnte, wenn man ihn verärgerte, hatte sie die Information über Annwyl für sich behalten. Um ehrlich zu sein, war sich Gwenvael nicht einmal sicher, dass die Reinholdt-Männer wussten, was sie an ihr hatten.

Der Reinholdt selbst schien vollkommen unbeholfen zu sein, wenn er keine Axt in den Händen hatte. Seine überraschend geringe Größe für einen Nordländer glich er durch Breite aus – seine Schultern und die Brust waren beunruhigend breit, seine Muskeln platzten beinahe aus seinen Kleidern heraus. Doch abgesehen von den Äußerlichkeiten erinnerte der stämmige Nordländer Gwenvael ein wenig an seinen eigenen Vater, Bercelak den Großen. Der war erst glücklich, wenn er jemanden oder etwas im Kampf töten konnte – Politik und Diplomatie langweilten den älteren schwarzen Drachen zu Tode.

Gwenvael kratzte sich am Kopf. Ja, ja, er durchschaute den alten Reinholdt zur Genüge. Aber dieses Mädchen … verdammt! Sie war der Schlüssel. Er wusste es. Es war auch nicht nur das Wissen, das sie über Annwyl besaß. Da war noch etwas anderes an diesem Mädchen … dieser Frau … wie auch immer. Wirklich, wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er geschworen, dass sie ein Drache war, mit diesen verfluchten kalten Augen und Eigenschaften. Sie hatte ein junges Gesicht, aber diese Augen waren voll von zeitlosem Wissen, das sie zu ihrem eigenen Vorteil einsetzte.

Das bewunderte er durchaus ein bisschen, denn er selbst machte es ja genauso.