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Alles ist möglich, wenn du dafür kämpfst! „Jeder braucht Träume, die größer sind als man selbst.“ – Zeina Nassar wollte schon als Dreizehnjährige unbedingt boxen. Doch lange durfte die Deutsche Meisterin nicht an Wettkämpfen teilnehmen, weil Zeina ihr Kopftuch auch im Ring nicht ablegen will. 2019 wurden die internationalen Wettkampfregeln auf ihren Druck hin endlich geändert. Wohin der unbändige Willen einer Frau sie führen kann, von Kämpfen, Rückschlägen und davon, das Ziel nie aus den Augen zu verlieren, erzählt Zeina erstmals in diesem kraftvollen und inspirierenden Buch.
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Seitenzahl: 249
Veröffentlichungsjahr: 2020
»Ich möchte das Kopftuch aus religiösen Gründen tragen, und ich möchte boxen, weil ich Sport liebe. Zwei Dinge aus unterschiedlichen Welten, die in mir zusammenwachsen. Das ist eben meine Identität.«
Bereits als Kind liebte Zeina Nassar Sport. Als sie mit dem Boxen beginnt, ist sie der glücklichste Mensch der Welt. Doch Vorurteile bekommen immer größere Macht über ihr Leben. Nie wird sie einfach als Sportlerin gesehen, für ihre Rechte muss sie sich unermüdlich einsetzen. Jeden Tag wird sie auf das Frausein reduziert, auf den Hijab. Erst 2019 darf die Deutsche Meisterin international mit Kopftuch boxen. Auch außerhalb des Rings kämpft sie ohne Unterlass. Für die Erlaubnis, für ihren Wunschstudiengang zugelassen zu werden. Für Offenheit und Gleichberechtigung. Und dafür, sie selbst sein zu dürfen. Eine junge Frau, diszipliniert, entschlossen, voller Lebensfreude – und ein Vorbild für Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt.
Zeina Nassar
Dream Big
Wie ich mich als Boxerin gegen alle Regeln durchsetzte
hanserblau
INHALT
PROLOG
K. O.
EINS
Herkommen
Ankommen
ZWEI
Glauben
Wissen
DREI
Etwas ändern
Sich zeigen
EPILOG
O. K.
DANK
Dieses Buch widme ich allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die ähnliche Situationen, wie ich sie erlebte, überwunden haben. Aber auch allen, die weniger erfolgreich waren oder die ans Aufhören denken. Glaubt weiter an eure Ziele und sucht euch euren Weg. Folgt euren Träumen und verändert euer Leben.
PROLOG
K. O.
Die gerösteten Sonnenblumenkerne, die in Kreuzberg an jeder Ecke verkauft werden, und Sommerregen, noch bevor der erste Tropfen zu spüren ist und sich der Beton dunkelgrau färbt – es gibt fast nichts, was besser riecht. Nur eines: Sporthallen. Mit ihrem typischen Geruch aus Leder, Schweiß, Gummi und auch ein bisschen Moder. Noch lieber mag ich es, wenn dieser Duft von einer Hand aufgewirbelt wird, der ich gerade ausgewichen bin, sodass ich nur noch den Luftzug auf meiner Wange spüre. Denn dann steigt mir nicht nur die Sporthallenluft in die Nase, sondern auch der Sieg.
Ich muss einfach gewinnen. Wenn ich beim Mensch ärgere Dich nicht keine Sechs würfle, ärgere ich mich sehr. Die Option zu verlieren gibt es nicht. Nicht heute, nicht irgendwann. Ob es UNO oder ein Wettkampf ist, und heute steht Letzteres an. Seitdem mich vorhin mein Wecker aus einem Schlaf mit intensiven, aber diffusen Träumen gerissen hat, gilt mein einziger Gedanke dem Gewinnen. Die banalen Aufgaben wie Zähneputzen und Anziehen erledige ich wie in Trance. Nur auf das Beten konzentriere ich mich. Anschließend bin ich wieder ganz beim Wettkampf.
Meine Trainerin und ich machen uns auf den Weg in die Bruno-Gehrke-Halle in Berlin-Spandau. Im westlichsten Westberlin. Die Fahrt dauert eine Ewigkeit, wie kann das noch Berlin sein? Aber vielleicht liegt es auch an meiner Nervosität. Mein Atem geht schnell, ich bin aufgekratzt und aufgeputscht, verbissen und vorfreudig. Es ist, als würde mein Körper unter Elektrizität stehen. Oder sind diese kleinen Signale, Stromstöße und Herzschläge vielleicht außer Takt? Kaum angekommen, checkt mich die Ärztin durch.
»Zunge raus!«, befiehlt sie, und ich strecke die Zunge raus. Sie schaut streng, und ich wundere mich, wie man bei meiner Einstein-Grimasse so humorlos bleiben kann. Kein auffälliger Belag. Sie nimmt meine Handgelenke, leuchtet in meine Pupillen, klopft mir auf die Knie, legt ein Stethoskop auf mein Herz und meine Lunge und wiegt mich. Die Waage zeigt: Ich bin ein Fliegengewicht in Topform für den Kampf. Nachdem die Ärztin genickt und alle Werte notiert hat, kann ich endlich in die Halle. Ab jetzt darf ich wieder alles essen, was ich will. Und vor allem habe ich Zeit, mich in Ruhe aufzuwärmen.
Ruhe. Zum ersten Mal heute spüre ich sie. Während ich in einer Ecke seilhüpfe, sehe ich, wie Sonnenstrahlen durch die meterhohen Fenster fallen und alles milchig weiß erscheinen lassen. Die Staubpartikel zirkulieren in der Luft und glitzern im Licht, irgendwie magisch. Ich mache einen Moment Pause und merke gar nicht, wie sich die Halle nach und nach füllt. Doch dann vernehme ich Tuscheln und Menschen, die mich ansehen, als wäre ich ein entlaufener Leopard. Ältere Herren in Anzügen zeigen auf mich. Das ist doch wohl keiner meiner wirren Träume, das ist zu real. Ich sehe an mir herunter. Ist etwas verrutscht? Meine neuen blauen Satinshorts passen wie angegossen, der bauchnabelhohe Bund ist nicht zu eng und nicht zu weit, die Schuhe sind geschnürt. Jetzt schauen sie mir direkt ins Gesicht. Ich schaue weg, dehne mein linkes Bein, dann das rechte, hebe meinen linken Ellbogen und führe die Faust am Hinterkopf zwischen den Schultern nach unten. Das Gleiche möchte ich auch mit dem anderen Arm tun, aber ein Mann baut sich vor mir auf. Bevor ich fragen kann, was er will, schießt es aus ihm wie aus einem Revolver:
»So willst du doch nicht boxen, oder?«
»Häh?«, sage oder denke ich, so genau kann ich das nicht mehr sagen, aber ich weiß, dass ich nicht länger begriffsstutzig bin. Ich verstehe. Willst du so boxen? Als Frau? Willst du so boxen? Mit Kopftuch? Ich könnte entgegnen: Willst du so nerven? Mit Gehirn?
Andere Menschen dürfen einfach Sport machen. Ich muss mich immer doppelt beweisen. Ich kämpfe nicht nur im Ring, ich kämpfe um mein Recht. Aus den Lautsprechern höre ich meinen Namen. Zeina Nassar. Ich zupfe an meinem Kopftuch, an den Ärmeln und gehe zum Ring. Ich springe durch die blau-weiß-roten Seile und schaue mich im Raum um. Ich achte mehr darauf, was geredet wird, als dass ich mich auf das fokussiere, was ich schon so lange will.
»Bist du bereit?«, fragt mich meine Trainerin.
Seit etwa einem Jahr trainiere ich für diesen Kampf, und manche sagen, ich sei unschlagbar. Es gibt niemanden mehr in meinem Verein, mit dem ich mich messen kann. Niemand möchte mehr mit mir kämpfen. Ich bin stärker als jede einzelne meiner Sparringpartnerinnen. Natürlich bin ich bereit, ich muss bereit sein. Auch wenn ich weiß, dass meine heutige Gegnerin fünf Kämpfe mehr hat als ich und Berliner Meisterin ist. Ich bin bereit, erst recht, als ich in die Augen meiner Eltern und meiner Onkel sehe. Sie sind gekommen. Ein kleines Lächeln, und da ist er wieder, der Siegeswille. Es gibt keine andere Option. Ich will sie nicht enttäuschen.
Der Gong ertönt. Ich gehe in Deckung, pirsche mich an die Gegnerin heran, tänzele, tauche ab und auf, aber was geht hier vor sich? Ich brauche dreißig Sekunden, um zu verstehen, dass ich vor gefühlt zweihundert Menschen boxe, und weitere dreißig Sekunden, um zu durchschauen, was meine Gegnerin vorhat, wie ihr Boxstil ist. Und während ich noch überlege, bekomme ich einen Jab, eine Gerade mit ihrer Führerhand. Erst auf meine Handschuhe, dann streift ihre Hand meinen Kiefer, ich komme nicht zum Zug, ich habe das Gefühl, dass ich es nicht einmal versuchen kann. Ich werde wütend, weil hier etwas gewaltig schiefläuft. Wieder der Gong. Zwei Minuten sind vorbei. In der Ecke redet die Trainerin auf mich ein, ich höre gar nichts, nur ein Pfeifen in meinem Ohr und wie der Gong nochmals ertönt.
Jetzt, in der zweiten Runde, werde ich angreifen, das Spiel zu meinem machen. Aber es geht alles noch schneller als in der ersten Runde, und gleichzeitig fühlen sich die zwei Minuten wie eine Stunde an. Ich spüre die Faust meiner Gegnerin in meinem Gesicht, in meinen Rippen und die Tränen in meinen Augen. Und noch während des Kampfes wird mir etwas bewusst. Manche sagen dazu »schmerzlich bewusst«, ja so ist es, schmerzlich, und ich weiß nicht, ob das an den Schlägen liegt, die ich einstecke. Aber mir wird klar, dass ich mich gerade nicht nur wie ein Kind fühle, sondern dass ich fast noch eines bin. Ich bin doch erst fünfzehn Jahre alt. Dies ist mein erster Wettkampf. Mein erster offizieller Wettkampf, die Berliner Meisterschaften. Ich kassiere einen Haken. Wir haben doch gerade eben erst aufgehört, die bunten Papierblätter mit den Diddl-Mäusen zu sammeln, zu tauschen und sie fein säuberlich in Plastikhüllen abzuheften. Ich jedenfalls. Mir kommt mein Ordner in den Sinn, die Diddl-Maus mit den eng zusammenstehenden Augen und dem Lächeln, das dümmlich naiv wirkt, aber auch so freundlich. Ich sehe den Boden des Boxringes, spüre die schnellen Schläge, so schnell, dass ich sie nicht zählen kann, der Boden ist blau, und ich sehe die Farbkleckse auf den Diddl-Blättern vor mir, in Rot, Orange, Gelb. Dann die Maus unter Wasser, umgeben von Herzchen, als Pilot, ob es eine boxende Diddl-Maus gibt? Oder eine boxende Diddlina mit Kopftuch?
Und woran ich heute nicht denke, aber woran ich hätte denken sollen: Ich bin erst fünfzehn Jahre alt und schon Wegbereiterin. Ich bin das erste Mädchen, die erste Frau, die offiziell mit dem Kopftuch in den Ring steigt.
Doch gerade fühle ich mich wie eine Versagerin, suche nach meinen Eltern, um zu sehen, ob sie es bereuen. Ein weiterer Haken, ich schmecke Eisen, ist das Blut? Meine Beine zittern. Der Ring wird immer kleiner, ich nehme alles in Zeitlupe wahr, ich suche den Schiedsrichter mit der schwarzen Fliege. Ich sehe nur noch gleißendes Licht, kurz darauf die Dunkelheit, und aus dieser heraus höre ich: Eins. Zwei. Drei.
EINS
HERKOMMEN
Woher kommst du?« Diese Frage höre ich oft. Manchmal ist es beinahe kindliche Neugier, manchmal offensichtliche Arroganz. Woher soll ich denn kommen? Welche Antwort ist denn zufriedenstellend? Die Antwort »Berlin« ist es nicht, denn auf diese folgt die zweite oft gehörte Frage:
»Woher kommst du wirklich?«
Als würde ich lügen. Vielleicht sollte ich einfach lügen, denn ich sollte mich nicht rechtfertigen müssen. Ich komme wirklich von nirgendwo anders her. Ich war immer schon hier. In Kreuzberg.
Friedrichshain-Kreuzberg ist von der Fläche her mit 20,4 Quadratkilometern der kleinste Bezirk in Berlin und gleichzeitig der Bezirk, der am dichtesten besiedelt ist. Pro Quadratkilometer leben hier 14 172 Menschen. Insgesamt sind es 289 120 Menschen, etwas weniger als die Hälfte davon Menschen mit Migrationshintergrund. Man müsste also meinen, dass sich die Leute an den Anblick, meinen Anblick, gewöhnt haben. Ich bin eine Kreuzbergerin und keine Exotin. Wir alle leben hier auf engstem Raum. Deutsche und Menschen aus etwa 180 anderen Nationen, also aus aller Welt, manche davon sind weniger und manche mehr deutsch. Was auch immer das heißen soll. Bin ich deutsch, weil ich den deutschen Pass besitze? Wahrscheinlich schon. Bin ich libanesisch, weil meine Eltern aus dem Libanon kommen? Wahrscheinlich schon. Aber bin ich deutsch, weil ich Termine perfekt organisiert und in mehrere farbige Kategorien unterteilt in meinen Kalender eintrage? Bin ich libanesisch, weil ich meine Freunde gerne zum Essen einlade und wir danach eine Schlägerei beim Bezahlen der Rechnung in Kauf nehmen? Das ist doch bescheuert. Stereotypen sind bescheuert. Fragt mich jemand mit diesem speziellen Unterton, woher ich komme, hat sich in seinem Kopf schon eine Palette an Vorurteilen gebildet, und er sagt eigentlich: »Du gehörst nicht dazu.« Ich werde ausgegrenzt.
Ob ich das nicht schon selbst mit meinem Hijab tue? Nein, ich grenze mich nicht selbst aus. Ich möchte das Kopftuch tragen, und ich möchte boxen, weil ich Sport liebe. Zwei Dinge aus unterschiedlichen Welten, die in mir zusammenwachsen. Das ist eben meine Identität. Das war nicht immer so selbstverständlich für mich. Aber beginnen wir von vorn.
Ich wurde am 14. Januar 1998 in Kreuzberg geboren und lebe immer noch hier. Baba ist Bauarbeiter und kommt abends manchmal mit weißen Haaren und einer Hand im Rücken nach Hause, aber er beklagt sich nicht. Er ist Mitte fünfzig und hat noch über zehn Jahre bis zur Rente. Meine Mama ist Mama von ganzem Herzen. Sie wird nie in Rente gehen, wird immer ein Auge auf uns vier haben. Wir vier, das sind meine große Schwester, ein jüngerer und ein älterer Bruder und ich. Wir alle verbringen gerne Zeit miteinander, besonders lieben wir unser gemeinsames Frühstück.
Jeden Sonntag gibt es Manakish, eine Art libanesische Minipizza. Im Libanon werden sie traditionell freitags gegessen, aber wir haben nun einmal sonntags frei. Während der Teig in einer Schüssel Blasen wirft, wird ein kleiner tragbarer Ofen aus gebürstetem Stahl rausgeholt. Mama streicht den Teig in kreisenden Bewegungen aus, bis er rund und flach ist. Baba sitzt nicht bei uns Kindern und schaut zu, sondern macht das Gleiche wie Mama oder belegt gleichzeitig schon die Fladen. Einen mit Käse, einen mit Tomaten und einen mit Za’atar, das ist eine Gewürzmischung aus Thymian, Sesam und Sumach. Dann schieben sie die Fladen in den Ofen, und wir können sehen, wie der Teig langsam braun wird.
Fast mehr als das Frühstück an sich liebe ich diesen Anblick: Mama und Baba, wie sie das Essen vorbereiten. Wie Mama neckisch die Arme in die Hüften stemmt und Baba lacht, wie uns Geschwistern schon das Wasser im Mund zusammenläuft, wie die Küche immer wärmer wird und die Manakish schließlich in der Mitte des Tisches landen, dazu Minze und Hummus.
An Weihnachten gibt es eine Gans. Kein Witz. Eine duftende gebratene Gans. Einmal hatten wir sogar eine Tanne. Wir feiern nicht die Bedeutung von Weihnachten, jedenfalls nicht die religiöse, aber in dieser Zeit kommen wir als Familie zusammen und genießen die Feiertage. Mama und Baba haben den Großteil ihrer Familien im Libanon zurückgelassen, und das sind wirklich große Familien. Mama hat sieben und Baba zwölf Geschwister. Mama kommt aus einem eher unspektakulären, aber schönen Dorf aus dem Libanon und Baba aus Tyr, einer Großstadt mit Wolkenkratzern, lebendigem Treiben und einem lauten Markt. Tyr war einmal das antike Tyros, eine der bedeutendsten Städte der Phönizier, der Römer, aber nicht der Griechen – Alexander der Große hat vergeblich versucht, es zu erobern. Wenn ich dort zu Besuch bin, so etwa einmal im Jahr, kann ich nur staunen. Über das Hippodrom, in dem 30 000 Menschen Platz finden konnten, um die Pferde und Wagen bei den Rennen anzufeuern. Über die Ruinen, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören. Dort säumen die Säulen einen hundertfünfundsiebzig Meter langen Weg, der ans Meer führt, wo sich das Salz weiterer Säulen annimmt. Das Meer ist sauber und spiegelt den türkisfarbenen Himmel wider. Am Strand spielen Touristen Volleyball, und Libanesinnen sonnen sich in Bikinis oder gehen in ihren Burkinis schwimmen. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung ist muslimisch, der Rest besteht zum großen Teil aus Christen. Es kann so schön sein, wenn alle miteinander leben und sich akzeptieren. Aber so harmonisch ist es im Libanon nicht immer und war es auch nicht immer. Das Land wird schon lange von Krisen gebeutelt und hat auch heute seine Herausforderungen zu meistern.
Aktuell heißt das, den wirtschaftlichen und politischen Kollaps abzuwenden. Bis zu 300 000 Menschen haben im letzten Jahr ihre Arbeit verloren, das Wasser ist verschmutzt, Strom ist nur bis zu fünf Stunden am Tag verfügbar, Treibstoff und Heizöl werden knapp, aber leisten können sich das sowieso nicht mehr viele. Trotzdem wollte die Regierung weitere Steuern erheben und erhöhen. Seit Oktober 2019 gehen deshalb Menschen auf die Straße, sie demonstrieren gegen Korruption in der Regierung und den Behörden und gegen die schlechte Infrastruktur. Während ich die Proteste im Fernsehen verfolge und das erste Mal bei den Nachrichten Tränen in den Augen habe, weil es mich so wütend macht, kennen meine Eltern das Grauen aus der Realität.
Seit Mama denken kann, ist das Land in einer Krise. Frieden? Ein theoretisches Wort, ohne Bedeutung. Doch wenn sie nicht länger darüber nachdachte, was sie sah, was sie hörte, worüber die Nachbarn sprachen, dann konnte sie so etwas wie Frieden finden. In Momenten, in denen sie auf der Schaukel saß, wenn sie sich so stark vom Boden abstieß, dass die Seile hoch oben in der Luft einknickten. In denen sie mit ihren Freundinnen in den Wald rannte und wilden Thymian und Salbei pflückte, um sie voller Stolz nach Hause zu tragen. Sie will es nicht hören, das Propellergeräusch, nicht sehen, was da aus dem Flugzeug geworfen wird. Beim ersten Mal dachte sie, es wären Fallschirmspringer oder Essen. Aber die Explosion, etwa zwanzig Kilometer weit weg von ihrem Heimatdorf, ließ keinen Raum für Spekulationen. Einige Städte waren nur noch Vergangenheit, überall Schutt, überall Schmerz. Überall die Erinnerung an das, was nicht mehr da ist und auch nie wieder zurückkommen wird.
Wenn es kein Zurück mehr gibt, dann muss man vorwärtsgehen. Mama musste gehen. Sie war erst zwanzig Jahre alt, eine bildhübsche Frau mit hohen Wangenknochen und dieser sanften und trotzdem tatkräftigen Ausstrahlung. Jetzt würde sie ein neues Leben beginnen. Mit einem Mann, der wusste, dass es das gibt – ein besseres Leben, auch für die Kinder, die sie einmal haben würden. Er lebte bereits in Deutschland und mochte es sehr. Er hatte sogar Arbeit gefunden. Mama stellte also einen Antrag, das macht man schließlich so in Deutschland. Er wurde abgelehnt. Familiennachzug gab es nicht für Verlobte.
Doch wenn Mama sich etwas in den Kopf setzt, dann bekommt sie es auch. Meinen starken Willen habe ich von ihr. Sie hätte gerne den Flieger genommen. Es gefiel ihr nicht, illegal einzureisen. Es gefiel ihr nicht, unwillkommen zu sein, aber anders ging es eben nicht.
Die Schlepper verlangten viel Geld und brachten sie zusammen mit etwa fünfunddreißig anderen Menschen bis nach Prag. Oder war das hier schon Deutschland? Das erste Mal in ihrem Leben sah Mama den Schnee. An diesen Tagen begrub er alles unter einer friedlichen Decke, und die perfekt gebauten Häuser waren eingehüllt in dieses strahlende Weiß, das auch in der Dunkelheit strahlte. Es war nachts, vielleicht auch schon frühmorgens. Mama sah nicht nur das erste Mal den Schnee, sie spürte ihn auch. Er reichte ihr bis zu den Knien.
Die Schlepper sprachen kein Arabisch, sie scheuchten die Geflüchteten einfach an der Endstation aus dem Bus und bedeuteten ihnen, zu Fuß weiterzugehen. Befehle brauchen keine Sprache. Mama schaute die anderen an, sie liefen zu zweit, zu dritt in Reihen, und Mama tat sich mit den einzigen zwei Frauen zusammen. Was konnte sie schon tun? Sie stapften den Schleppern hinterher. Wie ein Storch hob Mama die Beine und senkte sie wieder, und da passierte es: Einer ihrer Schuhe blieb stecken. Sie wühlte in dem festen Schnee, versuchte den Schuh zu ertasten, während ihre Gruppe sich immer weiter von ihr entfernte.
»Wartet, wartet!« Hätte sie gewusst, dass sie wie Müll in der Kälte ausgesetzt würde, hätte sie keine Schuhe mit Absatz eingepackt und dickere Klamotten. Sie rannte den anderen hinterher, hinkte hinterher und zog schließlich auch den anderen Schuh aus. Als sie die Gruppe einholte, spürte sie ihre Füße schon nicht mehr. Sie ging weiter und fragte sich, ob sie dickere Klamotten eingepackt hätte, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartete, oder ob sie gleich zu Hause geblieben wäre. Bei ihrer Schwester und ihren Brüdern, bei ihrem Vater und ihrer Mutter. Die Tränen liefen ihr immer schneller über die Wangen, egal wie schnell sie sie wegwischte. Die eisige Luft, die auf die Tränen traf, ließ Mama am ganzen Körper zittern. Nach einiger Zeit drehte sich ein Mann zufällig um und sah Mama, wie sie nur in Socken durch den Schnee lief. Er holte seine Stiefel aus seinem Rucksack und gab sie ihr. In den klobigen Männerschuhen konnte sie kaum laufen, sie musste aufpassen, nicht herauszurutschen, doch sie war dankbar.
Wie lange sie wohl schon liefen? Zwei Stunden? Drei Stunden? Mama verlor jegliches Zeitgefühl, durch die Bäume über ihr drang kein Licht. Einige Zeit später wurden ihre Beine immer schwerer, ihre Lippen rissen auf. Sie fiel, doch von rechts und links griffen ihr Menschen unter die Achseln. Ihre Sachen hatte sie schon längst zurückgelassen, sie waren zu schwer. Gestützt von den anderen schleppte sie sich weiter, Schritt für Schritt, Meter um Meter. Wohin gingen sie? Wie lange noch? Die Schlepper an der Spitze des Trupps sprachen nicht, und alle anderen konnten nur mutmaßen. Waren sie schon über der Grenze? Hatten sie sich verlaufen?
»Ich werde hier sterben«, war das Einzige, was Mama denken konnte. Sie hatte den Bürgerkrieg im Libanon überlebt, aber sie würde hier sterben. Wieder Tränen, auch andere hörte sie weinen. Längst hatte sich die große Gruppe, die in Prag aus dem Bus gestiegen war, in viele kleine Grüppchen aufgeteilt, die den Spuren der Schlepper im Schnee folgten.
Nach langer Zeit entdeckte Mama endlich ein Haus. Sie lief schneller, aktivierte die letzten Kräfte.
»Ich werde klingeln und um Hilfe bitten«, sagte sie, doch die anderen hielten sie zurück. Wegen ihr würden sie alle wieder zurückgeschickt werden, sie solle jetzt einfach still sein. An jedem Haus blieb ihr Blick hängen, sie brauchte Hilfe, sie sei doch ein Mensch, bitte, sagte sie leise. Ein Mensch mit Träumen, mit großen Träumen.
Die Morgendämmerung setzte ein, noch spürte sie die Sonnenstrahlen nicht, doch es wurde heller. Sie kamen an eine Straße. Ein weißes Schild mit einem grünen Kreis und einem dicken gelben H in der Mitte. Das sei eine Bushaltestelle, erklärte jemand. Der Bus kam auf die Minute genau, sechs Uhr. Der Busfahrer öffnete die Türen und schaute sie von Kopf bis Fuß an. Mama schaute den Busfahrer an. Den ersten Deutschen, den sie sah. Er kniff die Augenbrauen zusammen und ließ sie durch. Hatte jemand gezahlt? War das eine gute Idee, einfach einzusteigen? Aber niemand konnte mehr weiter. An der nächsten Haltestelle stiegen mehr von Mamas Gruppe ein und an der übernächsten die, die am weitesten und schnellsten gelaufen waren, doch jetzt auch aufgaben. Große Wasserlachen bildeten sich auf dem grauen Boden im Bus, jetzt bekam Mama wieder Schüttelfrost, obwohl es hier wärmer war. Eine Frau sah zu Mama herüber, fing wie der Busfahrer an, sie zu scannen, doch sie lächelte. Sie streifte sich einen Handschuh ab, dann den anderen und hielt sie Mama hin. Leuchtend rote Handschuhe. Mama tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust, Für mich?, die Frau streckte den Arm ganz aus, und Mama konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie nahm die Handschuhe entgegen und bedankte sich mehrmals. Noch heute muss sie weinen, wenn sie daran denkt. Die Handschuhe hat sie sehr lange aufbewahrt.
An ihrem Zielort irgendwo in Sachsen angekommen, ließ sich die Tür des Busses nicht öffnen. Panik. Jemand redete auf Arabisch auf den Busfahrer ein. Der schüttelte den Kopf und sagte: »Nein.« Das erste deutsche Wort. Schließlich kamen mehrere Fahrzeuge angerast, Blaulicht rotierte. Der Busfahrer hatte die Polizei gerufen. Es war vorbei.
Mama wurde in ein Asylantenheim gebracht. Sie war müde und musste viele Fragen beantworten. Einen Pass habe sie. Sie käme aus dem Libanon. Ihr Verlobter warte auf sie. Dürfe sie anrufen? Nein. Drei Tage lang hörten Mama und Baba nicht voneinander. Sie weinte sich in den Schlaf, fünfzehn Personen aus ihrer Gruppe wurden direkt wieder abgeschoben. Doch sie ist keine davon. Sie darf zu Baba, in ein anderes Asylantenheim. Das Gemeinschaftsbad ist furchtbar, aber Hauptsache, sie kann bleiben.
Mama fand eine Freundin, und sie hatte viel zu entdecken. Berlin war ungefähr eine Million Mal so groß wie ihr Dorf. Es gab viele Menschen, viele Autos, viele Märkte, viele Restaurants. Und in einem davon arbeitete Baba. Mama hatte nicht nur Berlin zu entdecken, sondern auch die Liebe. Sie heirateten in einer kleinen Zeremonie, und dass es die richtige Entscheidung war, merkte sie, als sie zum ersten Mal Babas Pizza probierte. Die erste Pizza in ihrem Leben. Sie wünschte sich immer Tunfischpizza von Baba, und Kinder. Und die kommen bald darauf auch.
All das nahm Mama für uns auf sich, das alles tat Baba für uns. Für meine Geschwister und mich. Ich denke, es hat sich gelohnt. Mein großer Bruder studiert jetzt im Master Verkehrswesen und interessiert sich auch sehr für Kampfsportarten, für Mixed Martial Arts zum Beispiel. Er ist keiner, der mir etwas vorschreibt, er lebt es nur vor. Er ist ein Vorbild für mich, und ich bin anscheinend Vorbild für meinen kleineren Bruder, der sich kürzlich in einem Boxverein angemeldet hat. Ich sage ihm, wenn er gut werden will, soll er sich das Fahrstuhlfahren abgewöhnen. Wir wohnen im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses, eigentlich wohne ich nicht mehr dort, aber manchmal eben schon, und wenn er in den Aufzug steigt, mache ich es mir zum Spaß, schneller zu sein als er. Ich renne die Treppen hoch, und das ultimative Glücksgefühl ist es, schon die Schuhe ausgezogen zu haben, während er gerade erst hinterherdröppelt. Doch ich freue mich schon auf den Tag, an dem er schneller sein wird als ich. Denn ich glaube an ihn.
Und dann ist da noch meine Schwester. Sie schloss eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten ab und arbeitet nun in einer Arztpraxis. Sie ist sehr zuverlässig und fleißig, außerdem intelligent und lustig. Ach, wenn sie noch nicht existieren würde, müsste man sie erfinden, so sehr freue ich mich über sie in meinem Leben. Sie ist vier Jahre älter als ich. Wegen dieser paar Jahre Altersunterschied denkt meine Schwester wohl, dass sie mich miterziehen muss. Sie erteilt mir gerne Lektionen, und eine davon kann für Außenstehende zugegebenermaßen ziemlich dämlich aussehen. Die Lektion heißt: Latsche. Wenn ich keine Lust habe, zur Uni zu gehen, und meiner Schwester davon erzähle, schließt sie die Tür und sagt:
»Was, du hast also keine Lust?« Sie nimmt die Badelatsche aus Gummi in die Hand und droht mir damit. Zu diesem Zeitpunkt bin ich schon in heilloses Gelächter ausgebrochen, was ihre stille Drohung wahr werden lässt. Sie schlägt mit der Latsche auf meine Arme, meinen Kopf, aber es ist nur ein weiches Federn. Ich muss noch lauter lachen, was sie dazu bewegt, ihre vollen Lippen zusammenzupressen, doch diese beginnen zu zittern. Sie kann es auch nicht länger zurückhalten und kichert.
»Wehr dich doch!«, sagt sie und schlägt weiter. Aber sie weiß, dass sie keine Chance hätte, wenn ich mich wirklich wehren würde. Sie nimmt jetzt trotzdem die Fäuste hoch und fordert mich heraus. Weil ich nicht darauf eingehe, macht sie mich nach. Geräusche, die sich nicht nach mir anhören, aber sich nach mir anhören sollen. Wenn ich boxe, gebe ich Laute von mir. Es ist eine Methode, meine Kraft besser einzusetzen und sie rauszulassen, so wie ein Tennisspieler, der Schwung nimmt und »Ah« und »Uh« schreit. Bei mir ist es eher ein »Tststs« oder »Hahaha«. Fans lieben es, Fotografen knipsen dabei schneller, Kameraleute sagen »Noch mal!«, aber meine Schwester macht sich darüber lustig. Sie schlägt mit ihren Fäusten in die Luft und macht danach »Tststs«, was sinnlos ist. Erst zu schlagen und es dann zu sagen. Das muss mit dem Ausatmen passieren. Immerhin bringt sie mich so dazu, vernünftig zu sein und, in diesem Fall, in die Uni zu fahren.
Ich denke, diese Lektionen haben ihren Ursprung in unserer Kindheit. Wir teilen uns ein Zimmer, seitdem ich denken kann. Während andere Geschwister Krieg und Frieden nachspielen, sich die Haare büschelweise ausrupfen und »Mama, Mama« rufen, merken wir früh, dass wir zusammenhalten müssen. Wir schwärzen die andere nicht an, wenn sie etwas Dummes tut, sondern versuchen, sie auf die richtige Spur zu bringen. Da meine Schwester aber schon eine ziemlich perfekte kleine Erwachsene ist, erteilt sie mir mehr Lektionen als ich ihr. Dafür erschrecke ich sie gerne, besonders dann, wenn sie gerade auf dem Balkon auf ihren Kaffee trinkt und ich sie so lange durch die Glastür beobachte, bis sie mich sieht und sich richtig doll erschreckt. Manchmal fährt sie zusammen, aber sie petzt trotzdem nicht. Auch nicht, als sie in der Grundschule meinen roten Lippenstift entdeckt. Diesen kleinen Schatz habe ich mir heimlich von meinem Taschengeld gekauft, und ich kann es nicht erwarten, ihn zu benutzen. Meine Schwester macht mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Einen roten. Sie nimmt den Lippenstift und bricht ihn in zwei Teile. Ich bin wütend, aber ich trage es ihr nicht nach, ich interessiere mich ohnehin mehr für Sport als für Schminke, der Lippenstift ist nur ein Versuch, mich auszuprobieren. Meine Schwester ist die Elegante, ich die Sportliche. Beinahe alle meine Kindheitserinnerungen sind mit dem Sport verbunden.
Ich kann mich erinnern, dass die anderen Kinder mich für mutig halten. Denn wenn es etwas gibt, das einen aus der kuschligen Komfortzone herausholt, will ich es tun. So wie die besonders gefürchtete Mutprobe.
Die Rede ist von der »Todesrolle«. Auf dem Spielplatz gibt es ein Turnreck, ein paar waagrechte Eisenstangen, auf denen die meisten simple Vorwärtsrollen machen. Doch die Todesrolle ist eine Art Salto, den sich nur wenige trauen und auch schaffen. Deshalb haben meine Freunde vor diesem Ding nicht nur Respekt, sondern blanke Angst. Sie sagen: »Das ist voll gefährlich«, oder »Wenn du nur eine falsche Bewegung machst, zack, bist du tot«. Als ich also zur Stange gehe und sage: »Ich schaffe das!«, reißen einige die Augen auf, andere lachen. Ein bisschen habe ich zwar noch im Ohr, wie meine Freundin sagt, dass ich mir das Genick brechen könnte, aber ich habe die Rolle schon einige Male geübt, na gut, sehr viele Male geübt, so oft, dass meine Kniekehlen wundgescheuert sind. Und es hat trotzdem nicht geklappt, oft bin ich wie ein nasser Sack auf dem Boden gelandet, und nie konnte ich es so durchziehen, dass ich korrekt auf den Füßen gelandet bin. Aber heute kann ich es schaffen, ich muss es zumindest versuchen, denn wenn ich auf morgen warte, wird es erst übermorgen und dann nie.
Ich ziehe mich auf die Stange, setze mich hin, denke daran, wie sehr ich mein Genick liebe, und lasse mich nach hinten fallen. Aber dann hänge ich da, die Stange in den Kniekehlen, kopfüber, und schaue meine Freunde und die Schaulustigen an. Der Schwung hat nicht gereicht, und ich sage: