Du bist das Glück - Anny von Panhuys - E-Book

Du bist das Glück E-Book

Anny von Panhuys

0,0

Beschreibung

Niemand darf im Hause der Försters den Namen Susanne von Bergener erwähnen – sie soll eine Unperson bleiben, trotz ihrer vergeblich beteuerten Unschuld! Ihrer Tochter Marlene erzählen Försters etwas von einer langen Reise und so wächst sie zusammen mit Elinor, der einzigen Tochter der Försters, gemeinsam auf, ohne das Schicksal ihrer Mutter zu kennen. Die quirlige, oberflächliche Elinor und die nachdenklichere, ältere Marlene hängen wie Schwestern aneinander. Schon lange hat Marlene Aufgaben in der Fabrik ihres Onkels übernommen, ihre Reklamezeichnungen gehen über bloßes Talent hinaus. Als sich erste, zarte Bande zwischen dem Prokuristen Gert Wendemann und ihr entwickeln, ist ihr Glück vollkommen. Es ist eine kleine Ungezogenheit Elinors, die alles zerstört. Ein heimlicher Ausflug in ein Tanzlokal in Berlin lässt sich nicht mehr verheimlichen. Aus Angst vor dem Jähzorn ihres Vaters bittet Elinor Marlene, die Lüge auf sich zu nehmen. Erst weigert sich Marlene. Doch dann hört Ellinor zum ersten Mal per Zufall die Wahrheit über ihre Tante: Als Mörderin ihres Mannes hat sie schon vor Jahren ihre Strafe abgesessen und ist seitdem irgendwo im Ausland. Für Elinor eine gute Gelegenheit, die störrische Kusine zu erpressen. Muss Marlene nicht dankbar sein gegenüber den Försters? Und auch ihr gegenüber, die all die Jahre alles schwesterlich teilte? Die Strafe von Herrn Förster ist so grausam wie ungerecht. Als Elinor sich überraschend auch noch mit Gert verlobt, flieht Marlene heimlich nach Berlin. Doch aus dem Unglück wird ihr Lebensglück.Vielschichtig und klug zeigt Anny von Panhuys, wie das auf einer Lüge aufgebaute Glück eine Familie zerreißt, als die Wahrheit ans Licht kommt. Alle sind betroffen – aber ihr Schicksal wird die Chance, wieder zusammenzufinden.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 348

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anny von Panhuys

Du bist das Glück

Frauenroman

Du bist das Glück

© 1951 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570494

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Eine kleine Seitenpforte öffnete sich in der breiten und hohen Mauer, die das Zuchthaus umgab. Ein Auto wartete davor. Eine schlanke Dame, nach der Mode gekleidet, die man vor einigen Jahren getragen, trat zögernden Schrittes aus der kleinen Pforte, und der Beamte, der sie bisher geleitet, sagte im Dienstton, den die Jahre der Gewohnheit zu glatter Kühle poliert: „Das Auto dort wartet auf Sie.“

Er grüßte kurz, und hinter ihm schloß sich das Türlein mit leichtem Quietschen.

Der Führer des Autos stieg aus, kam auf sie zu, schüttelte den Kopf, als er die Frau willenlos mit geschlossenen Augen vor sich sah. Nicht einmal sein Näherkommen schien sie bemerkt zu haben.

Er blickte sich um; er hatte gar nicht aussteigen wollen und geglaubt, die Freigelassene würde ihm die Peinlichkeit der Situation durch schnelles Einsteigen in das Auto erleichtern.

Er rief ein wenig scharf: „Susanne, ich bitte dich, komm hier fort! Ich fühle mich hier wenig wohl. Steige ein!“

Die Augen der Frau öffneten sich, und ein müder, fremder Blick traf den vor ihr Stehenden, der groß und breit gewachsen war.

Sie atmete schwer. „Du bist selbst gekommen, mich abzuholen, Ewald! Ich danke dir.“

Sie schritt an seiner Seite auf das Auto zu, und es war, als ob sich ihr schmales Gesicht ein wenig erhellt hätte. Er zuckte die Achseln.

„Was blieb mir weiter übrig! Ich konnte doch den Schofför damit nicht betrauen, meine Schwägerin an der Zuchthaustür zu erwarten, nicht wahr? Wir kommen zum Glück erst bei vollkommener Dunkelheit daheim an.“

Susanne von Bergeners Gesicht war maskenstarr, als sie mechanisch sagte: „Du hast hoffentlich auch dafür gesorgt, daß mich niemand sieht, wenn ich dein Haus betrete.“

Er nickte. „Natürlich. Wir gehen durch den Gemüsegarten und das Treibhaus, wo uns Wanda erwartet. Wir werden dann in meinem Zimmer heute nacht Entschlüsse fassen, wie sich deine Zukunft gestalten soll.“

Ewald Förster drängte.

„Steig ein, Susanne, damit wir aus der zum mindesten unangenehmen Gegend kommen.“

Die schlanke, mittelgroße Frau antwortete nicht, aber sie folgte der Aufforderung wie einem Befehl. Kaum hatte sie im Innern des Autos Platz genommen, schoß der Wagen schon mit ihr davon. Sie bückte sich ein wenig und schaute durch die halb niedergelassene Scheibe hinaus. Sie sah nur einen Teil der Riesenmauer, aber nach einem Weilchen wurden die massigen Konturen der Zuchthausgebäude über der Mauer sichtbar.

Susanne von Bergener wandte den Blick und lehnte den verwirrten Kopf, von dem sie den Hut genommen, fest gegen die Polster. Sie war frei! Wie hatte sie seit sechs Jahren auf diesen Augenblick gewartet, wie hatte sie ihm entgegengebebt in ruheloser Ungeduld, und jetzt, wo es so weit war, empfand sie nichts als das Verlangen, wieder zurück zu dürfen in das große Haus.

Warum hatte Schwager Ewald ihr nicht die Hände entgegengestreckt, als sie so jämmerlich kaputt und müde am Pförtchen gestanden, warum hatte er nicht gesagt: „Gottlob, Susanne, daß wir dich wiederhaben! Nun wollen wir alles aufbieten, um deine Unschuld zu beweisen. Alles wollen wir daransetzen, um zu beweisen, was dir, du armes Weib, nicht gelungen ist!“

Statt dessen scheuchte er sie schnell in den Wagen, erzählte ihr, daß er sie bei vollkommener Dunkelheit in sein Heim bringen wollte.

Sie preßte die Lippen fest aufeinander. Auch ihr Kind, ihr Mädelchen, befand sich in dem Hause, das sie wie eine Diebin betreten sollte. Ein Beben ging durch ihren Körper. Sechs Jahre lang hatte sie ihr Kind nicht gesehen, drei Jahre war es damals gewesen, als man sie als Mörderin ihres Gatten zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilte und dazu noch behauptete, sie wäre nur so milde davongekommen, weil ihr Mann durch seinen leichtsinnigen Lebenswandel Grund zu höchster Erbitterung gegeben.

„Ich bin unschuldig!“ hatte sie bis zuletzt beteuert, aber niemand glaubte ihr. Sechs Jahre unschuldig im Zuchthaus! Hätte Ewald Förster eine Ahnung, was das bedeutete; vielleicht hätte er doch vorhin ein wenn auch noch so kleines, warmes Wort für sie gefunden.

Susanne Bergener blinzelte hinaus in die Landschaft, die Augen taten ihr weh. Sie hatte in den letzten Tagen und Nächten zuviel geweint. Sie sann, was nun werden sollte.

Als sich der Abend senkte, war man am Ziel. Weit draußen auf der Chaussee, abseits der kleinen Stadt, lag die Förstersche Tuchfabrik, ziemlich nahe davon das Wohnhaus im modernen Villenstil.

Das Auto hielt. Ewald Förster öffnete die Gartentür vor der schlanken Frau, flüsterte: „Geradeaus, du erinnerst dich natürlich noch des Weges.“

Es war nicht so vollkommen dunkel, daß man nichts hätte unterscheiden können. Susanne Bergener sah deutlich die Treppe, die hinauf in das Treibhaus führte. Man durchschritt es, dann öffnete sich eine Tür vor ihr, Lichtschein strömte ihr entgegen. Man war jetzt in einem kleinen Wintergarten. Susanne begrüßte die Helle wie etwas Angenehmes, Wohltuendes.

Eine kleine, üppige Frau von vielleicht dreißig Jahren stand inmitten der Helle und blickte ihr mit befangenem Gesicht entgegen. Es war, als wollte sie auf sie zustürzen, und ließ es dann doch. Vielleicht zwangen sie die warnenden Augen ihres Mannes, auf dem Platz zu verharren, wo sie stand.

Susanne aber bemerkte das Zögern der anderen gar nicht, mit leichten Schritten näherte sie sich ihr. Sie dachte jetzt an nichts weiter als an das Glück, die Schwester vor sich zu sehen.

„Wanda!“ Wie ein Schrei löste es sich von ihren Lippen, und sie breitete die Arme aus und zog die um einen halben Kopf kleinere an ihr Herz.

Wanda Förster schluchzte laut auf.

„O, Susanne, liebe, liebe Susanne, daß es so kommen mußte! Du tust mir schrecklich leid! Aber wir alle sind bemitleidenswert, denn, wie, um des lieben Himmels willen, soll jetzt deine Zukunft werden?“

Susanne konnte sogar lächeln. Ihr war ein wenig wohler und leichter geworden, seit sie die um ein Jahr jüngere Schwester im Arme hielt.

„Ach, Wandachen, das wird sich alles finden, vorerst bin ich froh, hier gelandet zu sein, und jetzt wollen wir keine Zeit verlieren, bitte, führe mich zu meinem Kinde! Jede Minute ist kostbar.“

Wanda Förster sah ihren Mann stumm fragend an, und Ewald Förster sagte ausweichend: „Du mußt dich noch etwas gedulden, Susanne. Das Mädel schläft jetzt, und es ist nicht gut für Kinder, wenn man sie aus dem Schlaf reißt.“

Susanne Bergener sah ihn groß an.

„Nicht einmal, wenn die Mutter heimkehrt ins Leben nach sechs langen Jahren? Wenn Marlene wüßte, ihre Mutter ist hier, um sie zu küssen, würde sie gerne ein bißchen Müdigkeit dafür in Kauf nehmen.“ Sie faßte den Arm der Schwester. „Hast du es ihr denn nicht mitgeteilt? Weiß sie denn nicht, daß ich heute komme?“

Die kleine, mollige Frau antwortete nicht, und langes Schweigen senkte sich auf die drei Menschen herab.

Ewald Förster unterbrach es: „Wir wollen nebenan in mein Zimmer gehen, da legst du erst einmal ab, und dann essen wir eine Kleinigkeit und reden über alles.“

Susanne Bergener folgte den beiden stumm.

Sie blickte sich in Ewalds Zimmer um. Es sah hier noch genau so aus wie vor sechs Jahren, nichts hatte sich verändert. Der Tisch in der Mitte des Zimmers war gedeckt. Aber es stand nur kalter Aufschnitt darauf, Brot und Butter, dazu eine Flasche Rotwein. Susanne Bergener dachte bitter, es war alles so arrangiert, damit niemand von den Dienstboten ins Zimmer zu treten brauchte. Warme Speisen hätten erst aufgetragen werden müssen.

Ewald Förster rückte an einem Stuhle.

„Setze dich, Susanne, du wirst hungrig sein.“ Diese wehrte fast heftig ab.

„Ich habe gar keinen Hunger. Mir liegt jetzt nur daran, sobald wie möglich mein Kind zu sehen. Das ist für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt. Und das müßt ihr doch begreifen. Meinetwegen mag Marlene weiterschlafen; aber sehen möchte ich sie wenigstens — und gleich sehen!“

„Könnte man nicht …“ begann Wanda Förster und warf ihren Mann einen bittenden Blick zu.

Er fiel ihr schroff ins Wort: „Wir dürfen keine Experimente machen, es wäre ein zu gewagtes Spiel.“ Er hüstelte.

„Setze dich, Susanne, beim Herumstehen kann man sich nicht richtig unterhalten.“

Die schlanke Frau mit dem schmalen, scharfzügigen Gesicht und den großen, braunen Augen ließ sich auf den für sie zurechtgerückten Stuhl nieder, fragte mit erregter Stimme: „Warum nennst du es ein Experiment, wenn ich mein Kind sehen möchte?“

Ewald Förster strich fast verlegen über das kurze, dunkle Bärtchen.

„Ich habe kein Talent zum Versteckspielen und zum Diplomaten, also kurz heraus, ich und auch Wanda halten es für das beste, wenn du Marlene weder heute noch in nächster Zeit wiedersiehst. Das Kind weiß gar nichts mehr von dir. Oder nur wenig. Ich hielt es für besser, Marlene zu erklären, du seiest weit fort gereist; denn die Wahrheit wäre doch fürchterlich für das kleine Ding gewesen. Bis jetzt hat noch niemand gewagt, ihr von dir zu reden, und ich dachte daran, sie jetzt für ein paar Jahre in ein Pensionat zu tun, damit die Gefahr, sie könnte etwas von dem Schrecklichen erfahren, wenigstens zunächst beseitigt wird, bis sie erwachsen ist. Deine Vergangenheit bedeutet eine Gefahr für Marlene. Darüber wollte ich mit dir sprechen. Du tätest Marlene den größten Gefallen, bewiesest ihr deine Mutterliebe am besten, wenn du vielleicht ins Ausland übersiedeln würdest.“

Susanne würgte ein furchtbarer Schrei in der Kehle.

„Du bist wahnsinnig, Ewald, du verlangst Unmögliches von mir! Wenn ich aber ins Ausland ginge, würde ich Marlene mit mir nehmen. Das Kind gehört an die Seite seiner Mutter.“

Der Mann sagte hart: „An die Seite einer Mutter, die aus dem Zuchthaus entlassen worden ist!“

Susanne Bergener warf trotzig den Kopf zurück, das kurze, rotbraune Haar glänzte wie poliertes Kupfer.

„Du weißt doch genau, ich bin unschuldig!“

Niemand antwortete ihr.

Sie preßte die Handflächen fest gegeneinander.

„Warum glaubt ihr mir denn nicht? Und wie kann ich Glauben von Fremden verlangen, wenn ihr meine Beteuerung anzweifelt?“ Sie preßte mit heißem Atem hervor: „Ich bin wahrhaftig unschuldig! Als ich vor meinem Manne stand, als ich ihm erklärte, auf diese Weise wie bisher könnten wir nicht weiterleben, drängte sich ein unbekannter Herr an mir vorbei, stieß mich mit harter Faust zurück und schoß. Den Revolver warf er an die Erde, dorthin, wo ihn die Polizei fand. Er schoß, der Fremde, nicht ich.“

Frau Wanda begann leise zu weinen. Ewald Förster aber zog die Brauen hoch.

„Es klingt zu gesucht, Susanne, an das Märchen hat niemand geglaubt. Weder die Richter noch sonstwer. Deshalb hat man deine Berufung verworfen.“

Susanne Bergeners Augen wurden dunkler.

„Auch ihr glaubt mir nicht, noch immer nicht?“

Wanda Förster antwortete nicht, sie wich dem angstvoll fragenden Blick der Schwester aus, ihr Mann aber antwortete ohne Zögern: „Nein, Susanne, wir glauben dir nicht und können dir nicht gauben. Das einzige, was wir dir glauben, ist, daß du, als du die Waffe gegen Urban erhoben, vollständig unzurechnungsfähig warst und eigentlich, statt ins Zuchthaus, ins Irrenhaus hättest gebracht werden müssen.“ Er seufzte. „Tausendmal besser wäre das gewesen. Für dich und für uns alle! Auch besser für Marlene! Eine Mutter, die ihr im Wahnsinn den Vater tötet, für die könnte und müßte sie später Verzeihung haben. Wärest du heute aus der Irrenanstalt als geheilt entlassen worden, würde ich Marlene auf deinen Wunsch vorhin sofort geweckt haben. Ich hätte dich auch offen vor aller Welt ins Haus gebraucht. Allgemeines Bedauern wäre das einzige gewesen, was man für dich gehabt hätte. Du wärest bemitleidet worden von allen, die dich kennen, und hättest in unserer Stadt mit Marlene ruhig und friedlich leben können. Jeder Mensch würde fernerhin nur „Mitleid und Wohlwoen für dich haben, aber“, seine Stimme wurde nicht lauter, doch schärfer sprang jedes Wort in das gemarterte Ohr der blassen Frau, „aber leider bot dir nicht die Irrenanstalt sechs Jahre lang Asyl. Der Aufenthalt dort würde dich zur Märtyrerin mit einem kleinen, interessanten Stich ins Mondäne gestempelt haben; doch die sechs Jahre im Zuchthaus machen dich zur ….“

Er brach ab, und über sein ein wenig eckiges Gesicht zuckte es, die Muskeln um seinen Mund waren voll Unruhe.

Susannes Augen blitzten ihn an.

„Habe nun auch noch den Mut, das Wort auszusprechen, das ich noch brauche, um meine Lage klar und nüchtern von deinem Standpunkt und dem der großen Menge aus zu betrachten. Mir fängt schon an aufzudämmern, ich habe bisher alles zu einseitig angesehen.“

Er straffte sich unwillkürlich ein wenig höher, öffnete die Lippen; doch seine Frau sprang auf ihn zu, legte ihre Rechte auf seinen Mund.

„Schweige, Ewald! Sie hat schon zuviel durchgemacht, und man muß ihr Zeit lassen, sich zu erholen, zu besinnen. Bedenke, sie ist meine Schwester.“

Er schob die Hand fort.

„Wenn ich das nicht bedächte, ginge uns die ganze Geschichte ja überhaupt nichts an. Misch dich nicht ein. Susanne ist kein Püppchen, die nichts vertragen kann.“

Susanne von Bergener rief fast schroff: „Du hältst uns nur auf, Wanda. Ich bitte dich, laß Ewald den Satz von vorhin aussprechen. Ich brauche das Wort, das er hinunterschluckte. Ich will, nein, ich verlange es zu hören.“

Wanda Förster trat beiseite und drückte ihr Taschentuch vor die Augen.

Ihr Mann richtete seinen Blick auf die blasse Frau, deren Hände sich ineinander verkrampften wie in gehässigem Kampf, und er vollendete langsam, jede Silbe leicht unterstreichend, den Satz von vorhin: „Doch die sechs Jahre im Zuchthause machen dich zur Verfemten!“

Wanda Förster schluchzte jetzt laut, Susannes schlanker Körper aber war emporgeschnellt, und zitternd vor Erregung, stand sie vor dem großen, breitschulterigen Manne.

„Ich habe dich zwar um das Wort gebeten, aber du hättest es mir doch vorenthalten müssen, wenn du noch einen Funken von Gefühl im Leibe hast“, fuhr sie ihn an. „Du bist hart und nüchtern, Wanda hast du geknebelt mit deiner Härte und Nüchternheit, deine ganze Umgebung hast du nach deinem Bilde umgeformt. Du bist ein Selbstsüchtling, ein Streber, aber Empfinden und Mitempfinden kennst du nicht.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin nicht empfindungslos, Susanne, und am wenigstens ungerechtem Urteil gegenüber. Hart bin ich nicht, vielleicht nüchtern und objektiv. Ich wiederhole dir, du bist in den Augen deiner alten Umgebung jetzt eine Verfemte. Versuche es lieber nicht, hier zu wohnen! Kein Mensch unserer Stadt wird noch mit dir verkehren, deine Freundinnen von früher würden, wenn du an ihnen vorüber gehst, den Kopf abwenden, die Herren, die der hübschen, interessanten Frau des ein wenig willkürlich und leichtsinnig lebenden Bildhauers Bergener wie toll den Hof gemacht, würden nicht einmal mehr an die Hutkrempe fassen bei deinem Anblick. Selbst die, denen du noch gefällst, die ein heimlicher Flirt noch reizen könnte, die das ‚Zuchthaus‘ nicht stört, werden dir ausweichen, weil ihnen vor dir grauen müßte. Was Urban von Bergener geschah, könnte auch ihnen geschehen. Die leidenschaftliche Hand, die einmal den Revolver erhoben, könnte ihn zum zweiten Male erheben.“ Seine Stimme ward ein wenig weicher. „Marlene würde an deiner Seite als Tochter einer Verfemten heranwachsen. Sie würde bald merken, daß du in der Stadt eine Ausnahmestellung einnimmst. Nicht nur du, sondern auch sie. Denn du könntest sie nicht davor bewahren, daß sie allzu früh die volle Wahrheit auf vielleicht grausame und rücksichtslose Weise erfährt. Sie hat Mitschülerinnen, auch die Dientsboten bedeuten eine Gefahr. Marlene wird von den Mitschülerinnen gemieden werden, sie wird darunter leiden und, was das Gefährlichste ist, wird vielleicht anfangen, ihre Mutter zu hassen. Sie wird vor der Hand zurückscheuen, an der das Blut des Vaters klebt.“

„Höre auf, um des Himmels willen, höre auf! Du weißt ja nicht, was du tust. Du bist ja schlimmer als der ungerechteste Richter.“

Die schlanke Gestalt der Frau schien zu schwanken, war in Gefahr zu fallen. Die kräftigen Hände Ewald Försters packten sie bei den Schultern.

„Reiß dich zusammen, Susanne, mit Wehleidigkeiten und Ohnmachten kannst du nichts ausrichten. Eine Frau, die das getan hat, was du tatest, muß nun auch die Folgen ihrer Tat zu tragen wissen.“

Susanne von Bergener schrie auf: „Ich bin unschuldig, glaube mir doch, Ewald!“ Sie hielt ihm die Hände mit flehender Gebärde entgegen. „Ich habe Urban nicht erschossen, der andere war es, der Fremde. Er war plötzlich da. Ich glaube, er war schon im Zimmer bei meinem Mann; aber ich, mit Vorwürfen bis obenhin vollgepackt, stürmte in das Zimmer, ohne nach rechts oder nach links zu blicken. Das Zimmer war sehr groß. Der Fremde mag am Fenster gestanden oder auf einem der seitlichen Stühle gesessen haben. Ich schrie Urban an, er wäre ein Erbärmlicher, der schlechteste Gatte auf der Welt. Ich liebte ihn doch und hatte, wie schon öfter, einen Brief von einer anderen bei ihm gefunden. Ich stand vor ihm mit geballten Fäusten, meiner selbst nicht mehr mächtig, weil er mir in seiner überlegenen Art ins Gesicht lachte. Meine Rechte schob sich vor, um ihm ins Gesicht zu schlagen, da wurde ich zurückgestoßen, sah einen fremden Herrn, ein Revolver blitzte auf, und ehe ich auch nur einen Schrei ausstoßen konnte, krachte der Schuß. Urban stürzte zusammen, ich sank in die Knie. Der rauchende Revolver lag neben ihm, neben mir, was weiß ich, der Fremde aber war verschwunden. Das nur wenig über dem Erdboden befindliche Fenster nach dem Garten zu stand offen.“ Sie stöhnte laut. „Es verhält sich alles so, wie ich wieder und wieder beteuerte, der Fremde erschoß Urban, nicht ich.“

Ewald Förster hob die Schultern.

„Niemand glaubte dir, niemand wird dir glauben.“

Sie bebte am ganzen Leibe.

„Marlene ist meines Blutes, sie wird mich verstehen, sie wird mir glauben.“

Er hob wieder die Schultern.

„Ich bezweifle es. Die sechs Jahre Zuchthaus sprechen eine zu harte, böse Sprache. Das Kind wird todunglücklich werden bei dir. Im Augenblick, wo du das Kind an deine Seite nimmst, um mit ihm zusammen zu leben, wird erst dein wahres Unglück beginnen, dein Unglück und das Marlenes. Sie ist klug, sie wird deshalb viel nachdenken und leiden bei dir.“

Er drängte Susanne wieder zu ihrem Stuhl zurück. „Ich sagte dir, als ich dich hierherbrachte, wir wollen in dieser Nacht über deine Zukunft reden, ich meinte ganz selbstverständlich auch über Marlenes Zukunft.“

Susanne rief hastig: „Ich will alle Kräfte anspannen, die Zukunft Marlenes so sorglos wie nur möglich zu gestalten, und mich bis aufs äußerste dafür einsetzen, meine Unschuld zu beweisen.“

„Man hat deine Schuld bewiesen, deine Unschuld zu beweisen, dürfte dir schwer werden. Selbst wenn du, was dir niemand glaubt, unschuldig wärst, selbst wenn das wahr wäre, was so märchenhaft nud erlogen klingt. Und dann, willst du das junge Ding in eine Atmosphäre von ständigen Aufregungen hineinreißen, die Jugend Marlenes vergiften? Sie glaubt dich auf einer weiten, langen Reise, sie war noch zu klein und töricht, als du aus ihrem Leben gegangen bist. Ich bitte dich und rate dir, bleibe auf der Reise für sie. Es ist die einzige Möglichkeit, das Kind nicht unglücklich zu machen. Geh ins Ausland, du hast ja Geld und kannst dir damit irgendwo, weit von hier, eine Zukunft zimmern, laß nie mehr von dir hören! Später wird Marlene vielleicht die Wahrheit erfahren müssen, sie wird dann weinen über ihre Mutter, sie aber nicht anklagen. Ich habe viel darüber nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen: Marlene wächst als unsere Tochter auf, sie bleibt, wenn sie auch ihren Namen behält, eine Art ältere Schwester unserer kleinen Elinor, und du verschwindest für immer aus ihrem Gesichtskreis. Ich verspreche dir, sie zu halten wie mein eigenes Töchterchen. Wenn sie erwachsen ist, wird sie sich verheiraten und glücklich werden, während, wenn sie bei dir bleibt, wahrscheinlich jeder Mann davor zurückbebt, die Tochter der Mörderin heimzuführen. Ich will dir nicht immer wieder weh tun, aber ich muß so scharf und deutlich reden, damit du dir voll und ganz bewußt wirst, um was es geht. Um nichts mehr und nichts weniger als um das Glück deines einzigen Kindes. Beweise jetzt deine Mutterliebe! Wenn du fort bist, darfst du nichts mehr von dir hören lassen, und ich werde dich von Zeit zu Zeit durch Aufrufe suchen. Melde dich dann nicht, melde dich dann nie! Wenn zehn Jahre um sind, wirst du, als Verschollene, für tot erklärt.“

Susanne hatte wie betäubt dagesessen, die Rede Ewald Försters war auf sie niedergefallen wie ein scharfer Hagel. Weh hatte sie ihr getan, so weh, daß es gar nicht auszudrücken war. Sie rang die Hände.

„Ewald! du bist grausamer als ein mittelalterlicher Folterknecht, und dabei sprichst du wie ein Advokat, der einen wichtigen Fall behandelt.“

Er gab, obwohl auch er große Erregung verspürte, äußerlich ruhig zurück: „Es handelt sich auch um einen wichtigen Fall, um den wichtigsten für dich und dein Kind. Ich stehe hier und spreche für die unmündige Kleine, ich fordere für sie von dir ihre zukünftige Ruhe, ihr Lebensglück. Du hältst ihr Schicksal in der Hand! Verläßt du sie für immer, dann bist du eine gute Mutter, doch reißt du sie in Schande und Schmach hinein, bist du die schlechteste Mutter der Welt. Wanda denkt genau so wie ich.“

Susanne preßte die Hände auf das Herz, das sich mit einem Male ganz wild und toll gebärdete, das rasend rasch klopfte und sich nach oben zu schieben schien, als wollte es verzweifelt die körperliche Hülle durchstoßen, in die es gebannt war.

Heiser und abgerissen stieß Susanne hervor: „Laß mir Zeit, mich zu entscheiden, ich brauche Tage, brauche Wochen dazu.“

Ihre Schwester näherte sich ihr, auf ihrem vollen, hübschen Gesicht lag Mitleid.

„Ja, natürlich, Susanne, so schnell darf Ewald keinen Entschluß von dir fordern. Wenn ich nur wüßte, wo du so lange bleiben könntest!“

Susannes Augen blitzten auf.

„Ah, jetzt verstehe ich noch mehr; ich kann nicht vorerst, wie ich annahm, bei euch bleiben.“

Frau Wandas Mund bebte weinerlich.

„Nein, Susanne, liebe Susanne, das geht nicht. Denke nur an das Geklatsch, und Ewald gehört zu den angesehensten Männern der Stadt, er ist Stadtverordneter, man muß tausend Rücksichten nehmen. Außerdem soll dich doch Marlene gar nicht sehen, falls du Ewalds Vorschlag einsiehst.“

„Also so verfemt bin ich“, nickte die blasse Frau bitter, „so jämmerlich verfemt, daß ihr nicht einmal den Mut habt, nur ganz kurze Zeit mit meiner Nähe fertig zu werden. Ich fange an zu begreifen, Ewalds Vorschlag ist wahrscheinlich wirklich das einzig Richtige in meiner Lage.“ Sie holte tief Atem. „Wie wäre es, wenn ich mich in ein Hotel einquartierte?“

„Wenn dir daran liegt, Sensation zu erregen“, gab Ewald Förster zurück, „kann ich dir nur dazu raten; aber du darfst dich auch nicht wundern, wenn dich die Hotelbesitzer, mit Rücksicht auf ihre anderen Gäste, bitten, dich anderswo einzumieten. Wir leben in einer Kleinstadt.“

Susanne lachte böse und hart.

„Erbarmungsloses Gesindel seid ihr alle miteinander, die ganze Stadt, und ihr beide besonders. Geh weg mit deinen Händen, Wanda, berühre mich nicht, es sind Bazillen an mir, die ansteckend wirken, wasch dir lieber die Umarmung vorhin mit Lysoform oder einem anderen desinfizierenden Mittel ab! Ich verstehe immer besser, ich bin vogelfrei, bin Gelichter, das sich nur während der Dunkelheit bei euch einschleichen darf, und da will ich auch nicht lange überlegen.“ Das Blut schoß ihr ins Gesicht und färbte es. „Ich nehme deinen Vorschlag an, Ewald; ich lasse euch Marlene und verschwinde für immer aus ihrem Leben. Ich reise so weit wie möglich fort und lasse nie mehr von mir hören. Nach zehn Jahren des Verschollenseins besorge dir meine Todeserklärung, dann bin ich endgültig ausgelöscht aus Marlenes Leben und auch aus dem euren. Ich werde mit dem Nachtzug nach Berlin fahren, dorthin überweise das Geld, das ich noch besitze.“

Ewald Förster war die Kehle rauh. Es war doch ein verteufeltes Handwerk, so einem armen Weib das Letzte und Beste wegzunehmen, ihr Kind; aber wie er gehandelt, war es seine Pflicht gewesen. Er war der Vormund Marlenes und mußte an ihre Zukunft denken. Daß er zugleich daran gedacht, die Schwägerin mit der Zuchthausvergangenheit ein für allemal abzuschütteln, nahm ihm wohl niemand übel, der wußte, wie sehr er darauf hielt, von jedermann geachtet zu werden.

In seiner Familie und in seinem Leben gab es nicht den kleinsten dunklen Punkt. Die Körper der Familie Förster hätten seit Urvätertagen aus Glas sein können, durchsichtig durch und durch; und nun mußte er gerade das Pech haben, so ein schwarzes Schaf in die Familie zu bekommen.

Seine Frau hatte sich angestellt und geweint, als wollte man sie zerstückeln, als er ihr zuerst davon gesprochen, wie man sich von Susannes Familienzusammengehörigkeit befreien könnte; aber allmählich hatte sie eingesehen, so wie er es sich zurechtgelegt, war es am besten für Marlene und für sie alle. Auch sie glaubte nicht an die Unschuld der Schwester.

„Iß doch nun aber endlich eine Kleinigkeit, Susanne“, forderte er die Schwägerin auf, „vor allem trinke ein Gläschen Wein, es wird dir gut tun!“

Susanne schüttelte sich. „Im Zuchthaus habe ich keinen Wein getrunken, man zieht dort Wasser vor, und ich fürchte, wenn ich Wein trinke, könnte mein armer, jetzt so bescheiden geduckter Verstand rebellisch werden und alles, was ich eben zugesagt habe, wieder umstoßen. Und Hunger habe ich nicht, gar keinen. Ich schlage vor, du bringst mich mit dem Auto bis zur nächsten Station, von dort fahre ich nach Berlin. Morgen depeschiere ich dir, wo ich dort wohne, und du überweist mir dann mein Geld. Es müssen noch fünfzehntausend Mark sein.“

Er nickte. „Und was soll aus deinen Möbeln werden? Sie stehen hier bei uns in einem Schuppen unter.“

Sie machte eine nachlässige Gebärde. „Verkaufe sie oder hebe sie für Marlene auf! Mach damit, was du willst! Auch mit meinen Kleidern. Ich kaufe mir das Nötigste in Berlin zusammen.“

Er erwiderte: „Es ist gut. Schreibe mir ein paar Zeilen für deine hiesige Bank, daß ich berechtigt bin, dein Geld abzulösen.“

Sie neigte nur den Kopf, und er schob ihr ein Tischchen mit Papier und Tinte vor ihren Stuhl.

Sie schrieb hastig, und ihre Züge lagen wie in Schattenrücher eingehüllt. Als sie den Federhalter fortlegte, sagte sie: „Nun will ich Marlene sehen, wenn auch nur von weitem. Ich verspreche euch, sie nicht zu wecken. Aber einmal muß ich mein Kind noch sehen.“

Ewald Förster hatte ein Nein auf den Lippen; aber er antwortete doch: „Ja, du sollst sie sehen!“

Er schloß sich den beiden Frauen an, die durch eine Reihe von Zimmern vor der Schlafstube der beiden Kinder haltmachten. In einer Ecke des mit weißen Möbeln ausgestatteten Raumes verbreitete ein Wandleuchter gedämpftes Licht.

Susanne sah die Tochter der Schwester zum erstenmal. Schon zwei Jahre hatte sie hinter Zuchthausmauern verbracht, als Elinor zur Welt gekommen. Sie bemerkte Wandas stolzes Mutterlächeln, und es gab ihr einen Stich durch das Herz.

Sie schlich auf den Zehenspitzen hinüber an das andere Bett, das auf der rechten Seite des Zimmers stand. Die Knie drohten ihr zu versagen. Das also war ihre Marlene, das war aus dem schmalen, dünnen Püppchen geworden, das sie vor sechs Jahren hatte verlassen müssen.

Ein kräftig, hübsches Mädel lag vor ihr in den weißen Kissen mit leicht geöffneten roten Lippen, durch die das blendende Weiß zwei ebenmäßiger Zahnreihen blitzte. Die Schlafende hatte die eine Hand unter den Kopf geschoben, um den das kupferfarbene Haar wie eine lose Welle von dunklem Gold spielte. Bildhübsch und gesund sah Marlene aus, sorglos war der Ausdruck des reinen Gesichtchens.

Susanne war zumute, als müsse sie den straffen, kleinen Körper, dessen Konturen sich deutlich unter der Decke abzeichneten, aus dem Bett reißen und ihn an sich drücken. Schon erhob sie sich von ihrem Stuhl, schon streckten sich ihre Arme aus, als ihr plötzlich einfiel, was ihr Ewald Förster vorhin klargemacht. Nein, sie durfte das Kind nicht berühren, sie durfte es nicht mütterlich zärtlich an sich pressen, den kleinen, roten Mund voll Innigkeit küssen. Sie war ja eine Verfemte, sie war in den Augen der Mitmenschen eine Mörderin, und würde an ihrer Seite das Kind in Qual und Sorge reißen. Das durfte sie aber nicht, das wollte sie auch nicht. Sie mußte für immer aus Marlenes Dasein gehen, wie sie es vorhin Ewald Förster versprochen.

Es blieb ihr keine Wahl.

Sie neigte sich über das Bett und betrachtete die kleine Schläferin mit einer Rührung, die aus grenzenlosem Schmerz geboren war. Sie wollte nicht weinen, aber sie vermochte es doch nicht zu hindern, daß ein paar heiße Tränen niederfielen auf das Gesichtchen, auf das sie niederblickte.

Das Kind fühlte die Tränen im Schlaf, instinktiv hob es die Hand und fuhr sich über die Wangen, als jage es eine Fliege fort.

Schon hatte sich Susanne gewandt. Sie floh förmlich aus dem Zimmer und befand sich schon im nächsten Raum, als ihr die beiden anderen erst nachkamen.

Nur noch ein knappes Viertelstündchen blieb man in Ewald Försters Stube zusammen, dann verließ Susanne das Haus auf demselben Wege, auf dem sie es betreten.

Sie hatte der Schwester keine Hand mehr gereicht und die Weinende von sich geschoben.

„Ich müßte es euch danken, weil ihr euch meines Kindes erbarmt, aber ich kann es nicht“, hatte sie gesagt, „eure Wohlanständigikeit, die so weit von mir fortrückt, frißt mir das Herz entzwei. Ich bin keine Schuldige sondern nur eine Unglückliche.“

Sie war in das Auto gestiegen und von Ewald Förster bis zur nächsten Station gebracht worden.

Nach Berlin hatte er ihr ein paar Tage später ihr kleines Vermögen überweisen lassen, und dann war die blasse, schlanke Frau abgereist. Niemand wußte, wohin, niemand hatte Interesse, danach zu fragen.

Susanne von Bergener hatte nichts weiter von ihrem einzigen Kinde mit hinausgenommen in die weite Welt als die Erinnerung an ein hübsches, schlafendes Mädchen mit dunkelgoldener Haarwelle über der reinen, fest gezeichneten Stirn und blitzenden Zähnen unter leicht geöffneten Lippen. Dazu ein Bildchen, das Marlene im dritten Jahr zeigte. Das Bild hatte sie auch im Zuchthause immer bei sich getragen.

Die Jahre vergingen. In der ersten Zeit sprach Wanda Förster manchmal zu ihrem Manne: „Wo mag Susanne gelandet sein? Mich drückt unsere Härte oft wie eine große, große Schuld.“

Er schüttelte den Kopf.

„Weiß der Himmel! Wäre sie wirklich unschuldig, dann wäre etwas daran an der großen Schuld, so aber taten wir nur, was unsere Pflicht gegen Marlene von uns forderte. Und du siehst, sie erwähnt die Mutter wenig. Sie hat sich an den Gedanken gewöhnt, daß sie weithin verreist ist. Sieh du in ihr eine Verschollene!“

Frau Wanda war eine willensschwache Frau, gemessen an der Energie ihres Mannes. Sie fügte sich ihm und sah in der Schwester eine Verschollene.

Die zehn Jahre des Verschollenseins gingen vorüber, und da sich auf keinen Anruf Ewald Försters Susanne von Bergener gemeldet, spielte sich alles glatt ab, so wie es vorgesehen war; Susanne Maria Leonore von Bergener, geborene Kirchner, die Witwe des Bildhauers Urban von Bergener, wurde für tot erklärt.

II

Es war ein herrlicher Frühherbsttag. Marlene von Bergener stand am Fenster ihres Zimmers, das sie allein bewohnte, und blickte hinaus. Marlene war vor kurzem einundzwanzig Jahre alt geworden.

Eben schlug es sieben Uhr. In einer halben Stunde wurde gefrühstückt. Sie wollte Elinor wecken, die schlief immer gern lange, und der Onkel ärgerte sich darüber. Sie öffnete leise die Tür zum Nebenzimmer und betrat auf den Zehenspitzen das hübsche Nest aus Hellblau und Weiß, das Elinor ihr Zimmer nannte. Im Bett lag das entzückendste Mädel der Welt und blinzelte verschlafen, als ihr Marlene über das dunkellockige Haar strich.

„Ach, du!“ kam es verstimmt aus dem hübschen Munde, und der schmale Körper drehte sich mit einem energischen Ruck auf die andere Seite. „Laß mich weiterschlafen, Marlene, ich bin noch so schrecklich müde.“ Verhaltenes Lachen folgte plötzlich, und mit einem neuen Ruck saß Elinor im Bette aufrecht. „Es war gestern abend großartig bei Käthe Klein. Die Kleins sind viel modernere Menschen als Vater und Mutter. Käthe hat getanzt, ach, du, hat die Talent! Vielleicht könnte man es auch wie sie, aber unsereins darf so was ja gar nicht riskieren. Ich glaube, Vater würde mich in eine Kaltwasserheilanstalt stecken, wenn ich mich vor unseren Gästen so zeigte, wie sich Käthe Klein gestern vor ihren Gästen gezeigt hat. Erst als Spanierin, na, das ging ja noch, da hatte sie einen weiten Rock an und einen andalusischen Hut auf, danach kam sie als Jockey in hohen Lackstiefeln, mit gelb und weiß gestreifter Jockeymütze, die hintenweg auf dem weißblonden Haar saß.“ Sie kicherte vergnügt. „Ich sage dir, entzückend sah sie aus, und getanzt hat sie — getanzt!“ Sie nickte Marlene zu. „Du bist ja für so was nicht und hockst lieber zu Hause, wenn du auch gerade kein Spielverderber bist. Übrigens, Gert Wendemann war auch da. Aber ich glaube, der ist ’n bißchen so wie du. Nach Käthes Tanzen hat er einen Flunsch gezogen und mich gefragt, ob mir so was gefalle. Ich habe auch einen Flunsch gezogen und versichert, so was gefiele mir gar nicht.“ Sie machte ein spitzbübisches Gesicht. „Ich mußte das doch tun, weil es möglich ist, er redet zum Vater vom gestrigen Abend.“ Sie seufzte. „Hoffentlich hält er den Schnabel, sonst verbietet mir Vater vielleicht gar, mit Käthe so viel zu verkehren, und sie ist doch die amüsanteste und schickste von all meinen Freundinnen.“

Marlene hatte still zugehört. Ihre braunen Augen blickten zärtlich auf die Jüngere.

„Steh jetzt vor allem gleich auf, Liebling, sonst kommst du unpünktlich an den Frühstückstisch, und du weißt, das kann dein Vater nicht ausstehen, das verstimmt ihn. Du bist doch sein Sonnenschein.“

„Na, denn man los!“ seufzte Elinor etwas burschikos und schob sich aus dem Bett. „Wie lange habe ich noch Zeit?“ Sie warf einen Blick auf die schmale, weiße Kastenuhr, die zu der Möbeleinrichtung des Zimmers paßte. „Uijeh, bloß zwanzig Minuten. Komm, Marlene, hilf mir rasch, sonst schaffe ich es doch nicht mehr.“

Sie ließ sich dann von Marlene in die Kleider helfen und das Haar bürsten.

Sie nahm alles hin ohne besonderen Dank. Elinor war es seit frühester Kindheit eine Selbstverständlichkeit, von der Älteren verwöhnt zu werden. Wie eine gute Kammerzofe bediente Marlene die junge Kusine.

Sie waren wie Schwestern zusammen aufgewachsen, aber Marlene neigte ein wenig dazu, die Jüngere zu bemuttern. Sie war fünf Jahre älter und um zehn Jahre reifer als der Irrwisch Elinor.

Ewald Förster betrat gleich nach den beiden jungen Mädchen das Eßzimmer. Frau Wanda waltete am Tisch schon ihres Amtes als Hausfrau.

Ewald Förster begrüßte die Mädchen mit einem Wangenkuß, Elinor gab er noch einen zärtlichen Schulterklaps. „Na, Elinor, wie ist es, hast du dich gestern bei Kleins gut unterhalten?“

Sie nickte. „Ach ja, es war ganz nett, Vati.“

Es klang so obenhin, als hätte sie sich beinahe gelangweilt. Marlene mußte daran denken, wie begeistert Elinor noch vorhin von dem Fest bei ihrer Freundin geschwärmt. Sie wunderte sich immer wieder darüber, wie es Elinor verstand, jedem das zu sagen, was ihr für die betreffende Person am richtigsten schien.

„Am schönsten ist es bei uns, Vati“, schwärmte die kleine Komödiantin, „so hübsch wie bei uns finde ich es nirgends. Die anderen verstehen keine Feste zu feiern.“

Ewald Förster strich über seinen graugesprenkelten Scheitel.

„Hast Beobachtungsgabe, Mäuschen; aber ich meine auch bei uns geht es, wenn wir Gäste haben, am lustigsten und nettesten zu.“

Die beiden Mädchen begleiteten Ewald Förster nach dem Frühstück bis hinüber zur Fabrik. Auf halbem Wege begegnete den drei Gert Wendemann, der Prokurist der Fabrik. Er grüßte respektvoll, und man ging gemeinsam weiter. Gert war dreißig Jahre und Ewald Försters rechte Hand. Er war so groß wie sein Chef, aber schmaler. Sein Gesicht war dunkelgetönt und ziemlich scharf, die hochgesattelte Nase sprang ein wenig vor.

Elinor schritt mit dem Vater voran, Marlene folgte an der Seite Gerts.

Gert Wendemann war als Neuzehnjähriger, nach bestandenem Abiturium und dem Besuch einer Handelsschule, als Lehrling in die Fabrik Försters eingetreten und hatte sich hier bis zum Posten eines Prokuristen emporgearbeitet. Er kannte die beiden Mädel seit elf Jahren. Er hatte sie beide noch als Kinderchen draußen auf dem Fabrikgelände herumspielen sehen mit Reifen und Ball und hatte ihnen geholfen, im Herbst große Drachen steigen zu lassen, obwohl das eigentlich mehr ein Jungenspiel war. Jetzt aber tanzte er mit ihnen, wenn er sie zuweilen in Gesellschaft traf, oder wenn er von seinem Chef eingeladen wurde. Offiziell sollte Elinor noch keine Bälle mitmachen, aber bei kleinen Hausfestlichkeiten, bei Geburtstags- und Hochzeitsfeiern nahm man es nicht so genau mit dem wunderhübschen, lebhaften Geschöpf. Jedermann war in das Püppchen mit dem glänzenden, dunklen Haar und den reinen, tiefblauen Augen vernarrt. Sie hatte so eine eigene Art, die langen, dunklen Wimpern aufzuschlagen und zu lächeln, daß man sofort in ihrem Bann war.

Sie lachte eben laut. Eine Reihe klingender Töne, die einem Musikinstrument entlockt zu sein schienen, ließ das zweite Paar aufhorchen, und unwillkürlich sahen sich Marlene von Bergener und Gert Wendemann mit einem Lächeln an.

Gert sagte leise: „Elinors Lachen ist so harmonisch, wie ich noch nie ein Lachen gehört habe.“

Marlene erwiderte mit Zärtlichkeit: „Elinor versteht es, mit so einem Lachen ihrem Vater die böseste Stimmung zu verscheuchen. Worüber der klügste Mann mit meinem Onkel nicht fertig würde, das regelt meine kleine Elinor mit einer Reihe von melodischen Tönen, die sie sieghaft hinauslacht.“

Gert Wendemann nickte. Sein Gesicht war sehr ernst, als er sagte: „Verzeihen Sie, Marlene, wenn ich die Gelegenheit ergreife, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Elinor, die mit Fräulein Klein sehr befreundet ist, an der jungen Dame keine Freundin besitzt, deren Umgang vorteilhaft für sie ist. Ich war gestern von Herrn Klein eingeladen worden zu seinem Geburtstag, und ich muß bekennen, der Ton im Hause ist reichlich frei. Wie man dort Feste feiert, das mag modern sein, höchstwahrscheinlich ist es sogar sehr modern; aber schön ist es nicht. Ich verstehe die Eltern nicht, die ihrer Tochter erlauben, den Gästen solche Art Tanz vorzuführen, und die junge Dame, die Vergnügen daran findet, sich vielen jüngeren und älteren Herren unseres lieben Städtchens so zu präsentieren, verstehe ich noch viel weniger.“

Marlene dachte genau so wie Gert Wendemann; aber sie machte doch einen Versuch zur Ehrenrettung der von ihm verurteilten Freundin Elinors.

Er sah sie an. „Aber, Marlene, das ist doch etwas anderes. Ich bin kein Tanzkunstverständiger und kann Ihnen nicht richtig klarmachen, wie ich es meine, aber ich habe schon mehrmals berühmte Tänzerinnen in Berlin auftreten sehen, und war begeistert. Aber mir scheint es etwas ganz anderes, wenn eine junge Dame unseres Städtchens da vor allen ihren guten Freunden auf ein Podium hüpft und die unmöglichsten Gliederverrenkungen zu machen beginnt. Ich kann es nicht so erklären, aber auf mich wirkte es abstoßend. Ich hatte das Gefühl, das junge Ding von dem Podium herunterreißen zu müssen und aus dem Saal zu jagen.“ Er zuckte die Achseln. „Vielleicht denke ich altmodisch, aber ich möchte kein Mädchen heiraten wie diese Käthe Klein. Und ich habe die Idee, sie ist kein guter Verkehr. Sie sollten Elinor etwas von der Freundin abzubringen suchen.“

In Marlenes Ohr saß der Satz fest: Ich möchte kein Mädchen heiraten wie diese Käthe Klein! Und daran fügte Gert Wendemann noch einmal seinen Rat. Ihm schien viel daran gelegen, Elinor vor einer Freundin zu bewahren, die einen schlechten Einfluß auf sie haben konnte. Er lag im Bann des reizenden Geschöpfes wie alle, die Elinor kannten. Vielleicht liebte er sie? Warum tat ihr der Gedanke nur so bitter weh? Noch niemals hatte sie bisher daran gedacht, und jetzt plötzlich drängte er sich ihr gebieterisch auf.

Sie erwiderte leise: „Ich danke Ihnen für Ihren Rat, Gert, und werde versuchen, Elinor zu beeinflussen.“

Ewald Förster war stehengeblieben, rief: „Nun mal ein bißchen schneller, die Herrschaften da hinten!“

Marlene ging rascher und ward, als sie die Vorangehenden erreicht hatte, ein wenig rot, sie wußte selbst nicht, warum, sie spürte nur, daß ihre Wangen heiß wurden.

Auf dem Rückweg fragte Elinor lachend: „Nun, hat Gert Wendemann etwas über den gestrigen Abend geredet?“

Marlene wiederholte ihr, was er gesagt hatte.

Elinor lachte vergnügt: „Na, ich erzählte dir ja schon, er hat gestern abend ’n Flunsch gezogen, als Käthe tanzte. Weißt du, Marlene, Gert Wendemann ist nicht mehr richtig jung, darum hat er so altmodische Begriffe. Aber er stellt was vor. Ich finde ihn, wie soll ich mich ausdrücken, feudal aussehend. Wenn ich zum Beispiel nicht ganz genau wüßte, er heißt Gert Wendemann und ist Prokurist in Vaters Tuchfabrik, würde ich ihn für einen unwahrscheinlich hochgeborenen Aristokraten halten. Wirklich! So einen von der Sorte, die Waldemar, Justinian, Erdmann, Kraft Prinz von Moorburg — Kuckuckbaum — Haidedorf — Löwenhals heißen. Schade, wenn er so ’ne Titulatur mit sich ’rumschleifte, würde ich mich mordmäßig in ihn verlieben und ihn heiraten. Vielleicht täte ich es auch so. Aber Elinor Wendemann, geborene Förster, ist mir zu spießig.“ Sie faßte die Ältere unter. „Marlene, Gert Wendemann wäre was für dich! Manchmal meine ich, er hat was für dich übrig. Als er neulich bei uns abends gegessen hatte, schielte er immer so komisch nach dir rüber, und Verliebte schielen so, weißt du.“

Marlene war sich mit einem Male darüber klar, warum ihr vorhin der Gedanke so weh getan. Gert Wendemann könnte Elinor lieben. Sie liebte ihn selbst. Sie empfand eine starke Erschütterung, und ihre Gedanken verwirrten sich. Seligkeit und Angst erfüllten sie, kein Wörtlein brachte sie über die Lippen.

Elinor drängte sich dichter an sie heran. „Du, Marlene, vorhin hast du ganz rot ausgesehen, und jetzt sieht dein Gesicht aus wie das vom Geist im Hamlet. Liebst du Gert Wendemann? Mir kannst du’s ruhig anvertrauen, ich kann Geheimnisse bewahren.“

Marlene wußte ja erst seit Minuten, sie liebte den Mann; aber sie hätte es Elinor nicht anvertrauen können. Elinor war imstande, eine ihrer Bemerkungen, die ihr immer auf der Zunge lagen, zu machen, und das hätte sie nicht ertragen.

Sie zwang ein Lächeln um ihren Mund. „Kleine, du redest viel Blech zusammen, wenn der Tag lang ist. Gert Wendemann ist unser guter Freund, anders habe ich noch nicht an ihn gedacht.“