Du Miststück – Meine Depression und ich - Alexander Wendt - E-Book

Du Miststück – Meine Depression und ich E-Book

Alexander Wendt

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Beschreibung

Im Februar 2014 liefert sich Alexander Wendt selbst in die Psychiatrie der Universität München ein. Der Grund: eine seit Jahren bestehende Depression. Als er die Klinik verlässt, weiß er, wie er mit seiner Krankheit umgehen kann. Er hat in der Therapie gelernt, das »Miststück« als Herausforderung anzunehmen, sie als lebenslange Begleitung zu akzeptieren, und – das ist der schwierigste Teil – sie zu erziehen, also nicht in die Opferrolle zu verfallen. Davon handelt dieses Buch: Von der Kunst, seiner Depression Grenzen zu setzen und ihr beizubringen, nicht das ganze Leben eines Depressiven zu besetzen und umzuformen. Gerade weil sie keine Strafe darstellt, sondern eine Störung der Hirnchemie, lässt sie sich auch aus dem Inneren heraus bekämpfen. Am besten übrigens, indem man sich über sie lustig macht. Durch Humor wird das Leben eines Depressiven nicht automatisch besser. Aber unterhaltsamer. »Ich rufe in der Notfallambulanz an, verhandle ein bisschen: Nein, ich könnte jetzt keinen Arzt sprechen, mir könnte auch keiner so einfach sagen, ob ein Bett frei ist. Aber ich könnte jederzeit in die Ambulanz kommen: ›Wir haben vierundzwanzig Stunden geöffnet.‹ Dann darf ich doch mit einem Arzt reden, er hört mir zu. Das Chalet Nußbaumstraße hat ein Bett frei und erwartet mich. Zur Feier des Vorabends trinke ich die letzte Flasche Wein. Am nächsten Tag bekomme ich mein Bett. In der Station liegt eine Mischung aus Heizungsluft, Lüftungsluft, Reinigungsmitteln, ein Geruch von Menschen sehr unterschiedlichen Alters, medikamentöse Ausdünstungen, ein Atem, der alle ermüdet und alle beruhigt. Hier will ich so schnell nicht weg.«

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Seitenzahl: 218

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Alexander Wendt

Du Miststück - Meine Depression und ich

FISCHER E-Books

Inhalt

»Clap along if you [...]1 / Die Depression und ich, wir zwei2 / Den Stecker ziehen3 / Zuluprinzessin. Hans im Glück4 / Meine kurze Geschichte der Depression5 / Tricks6 / Theorien für Praktiker7 / Drinnen & draußen8 / Glückskeks9 / SaigonDankLiteratur

»Clap along if you feel like a room without a roof /

Because I’m happy.«

Pharell Williams

 

»Was bist du für ein Ritter, wenn du noch nicht einmal mit deinem nackten Hintern einen Igel töten kannst?«

Brief der Saporoscher Kosaken an Sultan Mehmed IV.

1/ Die Depression und ich, wir zwei

Vielleicht befindest du dich noch im Zustand A wie Abwehr, vielleicht bist du schon weiter, überlegst gerade selbst, in eine Klinik zu gehen, oder du sitzt schon drin, hast gerade deine Tasche neben das Bett gestellt und dir einen Tee geholt. Du möchtest jetzt in deinem Ratgeberbuch Tricks vermittelt bekommen, wie du die Depression von dir abtrennen und aus deinem Leben werfen kannst. Ein solcher Schnitt wäre tatsächlich eine Befreiung. Er funktioniert nur nicht. Die meisten Depressiven müssen lebenslänglich mit ihrer Krankheit zurechtkommen. Sie verschwindet ab und zu unter einer Oberfläche, manchmal von allein, meist mit medikamentöser Hilfe. Aber immer mit der Abschiedsformel des rosaroten Panthers: Ich komm wieder, keine Frage. Du musst also mit einem Zustand leben, den du dir nicht ausgesucht hast, an dem du nicht schuld bist und dem du höchstwahrscheinlich nie ganz entkommst. Das ist die erste Nachricht. Die andere: Du kannst mitbestimmen, wie du mit deiner lästigen Begleitung lebst. Du musst dich nicht unterwerfen. Du brauchst deine Autonomie nicht aufzugeben. Darum geht es in diesem Buch: um die Verteidigung der Autonomie trotz ungünstiger Bedingungen. Aber um ehrlich zu sein, welche zufriedene, gesunde Person hätte überhaupt einen Grund, über ihre Autonomie nachzudenken und einen Verteidigungsplan dafür auszuhecken? (Verzeih mir übrigens die Duzerei. Das ist sonst nicht meine Art. Aber in den Klinken mit den schrägen Türklinken herrscht unter den Patienten traditionell eine Art Gewerkschaftsdu.)

Für ungefähr vier Millionen Menschen in Deutschland gelten die international standardisierten Diagnoseschlüssel F 30 bis F 39, die alle Ausprägungen der Depression von leicht bis tödlich abdecken. Etwa 7000 Depressive begehen pro Jahr in Deutschland Suizid. Sogenannte schwere depressive Episoden zählen zu den potentiell tödlichen Krankheiten. Von denjenigen, die unter einer Major Depression leiden, töten sich etwa fünfzehn Prozent. Unter allen Erziehungsratgebern ist dieser Text deshalb vielleicht der einzige, dem wirklich eine gewisse Notwendigkeit innewohnt, weil er Leben retten kann.

Es kann zur Verzweiflung führen, wenn ein Autor versucht, über seine Depression zu schreiben. Beim Autor, versteht sich. Um sich verständlich zu machen, muss er zur Metapher greifen, dem schwächsten aller Stilmittel. Metaphern zur Depressionsbeschreibung fallen von Natur aus über die eigenen Füße, hinken oder stehen im Text wie Falschgeld. Die Depression, so heißt es in vielen einschlägigen Texten, schiebt sich wie ein Milchglas zwischen dich und die Welt. Leider verschwindet nicht nur die Welt hinter einer Wand, sondern auf eine komplizierte Weise auch die eigene Person. Depression bedeutet immer den Abschied vom Selbstverständlichen. Depressive verlieren als Erstes ihr Bild von sich. Nichtdepressiven kommt das unmöglich vor. Und auch demjenigen, der seine erste oder zweite Episode erlebt. Das eigene Bild gehört scheinbar organisch zu jeder Existenz, es kommt jedem, selbst demjenigen, der schon die gegenteilige Erfahrung hinter sich hat, so unverlierbar vor wie der Reisepass, den du im Flughafen schon in der Hand hältst.

»So hohl im Kopf macht mich die Traurigkeit / dass ich mit Mühe kaum mich selbst erkenne«, sagt Antonio, der schwermütige Händler in Shakespeares »Kaufmann von Venedig«. Wenn die Wand zwischen Ich und Welt als Erklärungsmodell nicht taugt, dann vielleicht der Fehler im biographischen Gewebe? Auch dieses Bild kommt in Beschreibungen regelmäßig vor, vor allem, wenn sich jemand die Frage stellt: Bekomme ich die Depression als Quittung für meine schlechte Kindheit? War ich bei der Auswahl meiner Eltern unvorsichtig? Habe ich eine falsche Abfahrt genommen? Zwar können manche Psychologen problemlos jede Depression auf die Kindheit zurückführen, notfalls mit viel Überzeugungskraft. Da aber umgekehrt nicht jeder Liebesmangel in der Kindheit zur Depression führt, taugt auch dieses Modell wenig bis nichts. Dazu kommt, dass die Depression sich über das Leben eines Depressiven auszubreiten pflegt wie eine systemische Vergiftung. Das heißt: Ab einem bestimmten Punkt bildet sie nicht mehr den Fehler im Gesunden. Sie etabliert sich als Normalität.

Leere, schwarzes Loch, Teilzeittod – kein Begriff und kein Vergleich trifft wirklich die Gestalt der Depression. Es braucht dafür schon ein Modell, am besten eines, das so schön und erschütternd ist wie das Bild in Andrew Solomons »The Noonday Demon. An Atlas of Depression«, auf Deutsch erschienen unter dem Titel »Der Schatten des Saturn. Die dunklen Welten der Depression«. Darin erzählt Andrew Solomon von einer Eiche, die ihm auf seinem Spaziergang dicht belaubt und kraftvoll erscheint. Erst aus der Nähe sieht er, dass eine wilde Weinranke sie bis zur Krone überwuchert: »Es war schwer zu sagen, wo der Baum endete und wo der Wein begann.« Was er von weitem für das saftige Grün der Eiche hielt, war in Wirklichkeit ein zweites Wesen, eng verbunden mit dem Baum, der langsam unter seinem Okkupanten erstickte. Das entspricht genau der Dialektik einer tiefgehenden Depression. Sie gehört zu ihrem Träger, dem depressiven Menschen, sie schmiegt sich ihm an, umklammert ihn und verdrängt ihn durch ihr organisches Wachstum Stück für Stück aus dem Leben. Aus diesem Grund fällt es Nichtdepressiven so schwer, sich die Wirkung dieser Krankheit vorzustellen. Natürlich kann auch ein Diabetiker oder Allergiker zu dem Schluss kommen, dass ihn sein eigener Körper angreift. Aber diese Probleme lassen sich lokalisieren, von der Person trennen. Medikamente unterdrücken die Symptome meist effizient. Ein Diabetiker wacht nicht nachts um vier auf, ohne wieder einschlafen zu können. Er weint nicht grundlos. Ihm kommen Freunde nicht plötzlich wie unangenehme fremde Leute vor. Er fühlt sich nicht so, als würde er in einem engen Schacht stecken.

 

Meine erste depressive Phase erlebte ich 1999. Wie die meisten Depressiven vermied ich den Begriff Depression, ging nicht zum Arzt, nahm keine Medikamente, sondern wartete einfach ab. Es handelte sich um eine leichte Episode. Ich kam mit dieser Methode zurecht. Danach folgten zwei mittlere Episoden mit ärztlicher Behandlung und Medikamenten. Leider den falschen. Anfang 2014 kehrte die Depression auf eine Weise zurück, dass ich froh darüber war, einen Platz in einer psychiatrischen Klinik zu bekommen. Auf meine Medikamente freute ich mich. Jedenfalls erlebte ich ein dem Zustand angemessenes Freudesurrogat. Die Zwanzig-Milligramm-Pillen halfen tatsächlich. Sie helfen mir noch immer.

Auch wenn es paradox klingt, neben der Pharmazie führt in einer Klinik auch das vorübergehende Leben unter anderen Depressiven zu neuen Erkenntnissen. Wenn sich ein mittelschwerer Neuzugang die Geschichte eines chronisch Kranken mit Dutzenden Psychiatrieaufenthalten oder die einer Patientin mit dreißig Zentimeter langer Narbe am Unterarm erzählen lässt, dann erscheint ihm sein eigener Fall schlagartig leichter. Und selbst wer ähnliche Erfahrungen hinter sich hat, der interessiert sich für Techniken des Durch- und Davonkommens. Ohne die Hoffnung, irgendwie durchzukommen, lässt sich ein Buch über psychische Krankheiten weder schreiben noch lesen.

Merkwürdigerweise dauerte es sehr lange, bis sich die Vorstellung der Depression als Störung der Hirnchemie in der Gesellschaft durchsetzte, merkwürdig deshalb, weil der deutsche Nervenarzt Wilhelm Griesinger schon 1845 eine rationale Beschreibung der Krankheit veröffentlichte. Aber auch ohne das Studium psychiatrischer Schriften erkannten erstaunlich viele Betroffene, dass es sich bei dieser Krankheit um etwas anderes und zugleich Eigenes handeln muss. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard nannte seine Depression die treueste Freundin, die ich habe, Winston Churchill, in seiner manisch-depressiven Konstitution, schrieb von dem schwarzen Hund, der ihm regelmäßig zulief, um ihm dann wieder im Abstand hinterherzutrotten; der Autor Simon Borowiak, um eine Stimme aus der ganz und gar aufgeklärten Gegenwart zu nennen, spricht von seiner Lebensbegleitung als garstige Vettel. Schon wenn das Bedrohliche einen Namen bekommt, büßt es Macht ein. Ein imaginiertes Schattenwesen – Freundin, Hund, Vettel – besitzt gegenüber Solomons erstickender Ranke als Metapher sogar den Vorteil, einen Wechsel von Zuständen zwischen akuter Umklammerung und vorläufiger Lockerung zu beschreiben.

Das Miststück lässt sich nicht abschütteln. Aber erziehen. Es lässt sich durchschauen, beeindrucken, austricksen. Nie bis zu seiner Wirkungslosigkeit, aber eben auch nicht ohne Teilerfolg. Wie bei jeder Erziehung geht es erstens um Dominanz. Selbst jemand, der gerade seine Tasche in einer psychiatrischen Klinik auspackt, trägt immer noch die Krone eines autonomen Menschen. Er besitzt auch in der schlimmsten Störung immer noch Verstand und Willen und sollte sich das notfalls als Mantra aufsagen: Verstand und Willen, und sich die Krone der Autonomie bildlich vorstellen, mit Strass und blendender Aura. Zweitens gehören rote Linien zum Konzept jeder Erziehung. Ein Depressiver kann mit einiger Mühe so etwas wie einen Panikraum einrichten, in der er seine wichtigsten Erinnerungen, seine Vorstellungen von sich selbst und seine Beziehungen zu den wichtigsten Menschen verstaut, und er kann der Depression befehlen, diesen Raum niemals zu betreten. Notfalls muss er diese Schätze mit dem Flammenwerfer verteidigen.

Wie behält man am besten die Kontrolle gegenüber einem notorisch herrschsüchtigen Gegner? Durch Distanz. So, wie sich die Depression hauptsächlich von Selbstmitleid ernährt, reagiert sie außerordentlich empfindlich auf Humor. Die Schauspielerin Parker Posey schrieb: »Tiefe, tiefe Depression ist die Kehrseite der Comedy.« Zum Glück gilt das auch umgekehrt; jemand, der seine Depression als banales hirnchemisches Schicksal betrachtet, kann darin auch eine Grundkomik entdecken. Viele Betroffene beschreiben ihren Zustand mit dem Bild, dass ihnen plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Dieser Slapstick-Effekt lässt einen depressiven Menschen manchmal, mit Glück und vorläufig, eine kleine Strecke frei schweben.

2/ Den Stecker ziehen

Tag sechs.

Sieben.

Ich versuche es sportlich zu sehen.

Acht.

Die Tage plane ich durch, bestücke sie mit möglichst viel Arbeit und lasse sie mit einer Mischung aus Wein und Johanniskrautkapseln ausklingen, worauf ein etwas poröser Schlaf folgt, der meist gegen vier endet.

Tag neun und zehn.

Von David Foster Wallace stammt ein Modell für das Verhältnis einer depressiven Person zur Unerträglichkeit der Krankheit, das alle Depressiven sofort instinktiv als richtig erkennen, auch die leichten, nichtsuizidalen Fälle. Der psychotisch-depressiven Person, so schreibt er, gehe es wie einem Menschen, der im Obergeschoss eines brennenden Hochhauses festsitzt. Ihre Angst davor, mit vollem Bewusstsein in die Tiefe zu springen, unterscheidet sich in nichts von dem Schreckensgefühl, das jemand in einem intakten Hochhaus bei dem bloßen Gedanken entwickelt, er könnte abstürzen. Die Furcht bleibt in DFWs Modell also konstant, während der Schmerz der näherkommenden Flammen eine Variable darstellt: »Wenn die Flammen nah genug kommen, wird der tödliche Sturz die geringfügig kleinere von zwei Schreckensvorstellungen. Es geht nicht um eine Sehnsucht, sich herunterzustürzen, es geht um den Schrecken der Flammen. Und keiner unten auf dem Fußweg, der hochschaut und schreit ›nicht‹ und ›halt durch‹, kann verstehen, warum jemand springt.«[1]

Auf einer Skala von eins bis zehn – eins leichte Eintrübung, zehn ein Zustand, in dem jemand aus dem brennenden Hochhaus springt – liegt mein Problem ungefähr bei drei. Dreieinhalb, nicht mehr. Gut, vielleicht ab und zu direkt morgens nach dem Aufwachen und vorher in den Serienträumen von schweren Entstellungen meines Gesichts: bei vier. Ohne Medikamente kaum zu ertragen, mit Chemie aber gut.

Meine vorletzte Phase vor drei Jahren kommt mir im Rückblick schlimmer vor. Aber egal ob zwei, dreieinhalb oder vier, es geht immer darum, die Variable auszutesten: Wie weit muss die Unerträglichkeit vorrücken, bis die depressive Person tatsächlich Tabletten akzeptiert, die das Hirn umrühren? Bis sie den Tipp des letzten behandelnden Psychiaters befolgt und einfach mal in einer Klinik unverbindlich nachfragt, ob ein Bett frei ist? Vielleicht lässt sich der jetzige Zustand noch einen elften bis fünfzehnten Tag aushalten. Dann entschließt sich die depressive Person, vorläufig den Stecker zu ziehen. Für die Selbstmedikation, den Arztbesuch und den Anruf in der Klinik gilt im Prinzip das Gleiche wie für den Sprung aus der brennenden 20. Etage. Man will sich nicht zu früh entscheiden. Hätte ich jemand, den ich in diesen Schlamassel hineinziehen könnte, dann würde ich schreiben: »Liebling, ich spüre mit Bestimmtheit, dass ich wieder verrückt werde.«

Die Welt besteht aus einer grob verpixelten Umgebung und einem kleinen Ausschnitt, in dem allerdings eine scharfkantige Klarheit herrscht. Sie besteht im Wesentlichen aus der Erkenntnis, dass nichts darin – das Siebzehnuhrlicht des Cafés, Passanten, Dämmerung, Krähen im Formationsflug – etwas mit mir zu tun hat. Eine Stimme – definitiv nicht meine – sagt: Aber das weiß man doch. Die Widerwärtigkeit außen und die Hässlichkeit innen bilden ein feines Gleichgewicht aus Druck und Gegendruck. Straßen, Passagen, U-Bahnhöfe und auch die Leute dort bestehen aus fadenscheinigem Stoff.

Einem Experiment zufolge löscht oder verschiebt das Gedächtnis Informationen wesentlich besser, wenn die Versuchsperson den Raum verlässt. Je mehr Türen sie passiert, desto schwächer die Erinnerung beispielsweise an eine Zahlenreihe. Die Technik, Räume zu verlassen, um die ständigen Gedankenkreisläufe auf diese Weise zu durchbrechen, funktioniert bei mir so lala. Am besten dann, wenn der Raum sich selbst bewegt, also U-Bahn oder Straßenbahn. Es erweist sich generell als hilfreich, in Bewegung zu bleiben und die Zeit in kleine Abschnitte einzuteilen. Fünf Minuten zur U-Bahn. Vier Minuten mit der U-Bahn. Eine Viertelstunde Supermarkt.

Trotzdem gehen die Gedankenkreisläufe weiter und trampeln ihre Spur ins Gehirn. Es handelt sich dabei naturgemäß durchweg um öde, leere Signifikanten, die immer nur auf sich selbst verweisen. Ein Kreis beschäftigt sich mit der Idiotie meiner Erwerbsarbeit, ein zweiter mit der Krebshäufigkeit in meiner väterlichen Familienlinie. Drittens schieben sich Zufalls-Songzeilen wie nach dem Drücken der Shuffle-Taste dazwischen, immer nur zwei Zeilen pro Titel, da scheint es eine eiserne neurologische Regel zu geben. Was die Musikbegleitung angeht, habe ich in dieser Phase noch Glück: »Ground control to Major Tom / take your protein pills and put your helmet on.« Wenn David Bowie allerdings das zweihundertste Mal anspringt, dann ist das schlimm. Gegen den Erwerbsarbeitsthemenkreis sage ich mir immer wieder einen Vierzeiler aus dem »Kowalski« auf: »Es will mir nicht in den Kopf hinein / wie kann man nur so dämlich sein / wär’n Sie nicht grad mein Vorgesetzter / wär dieser Arbeitstag Ihr letzter.« Das hilft nur sehr bedingt. Wie man sich denken kann.

Merkwürdigerweise entspricht das gesamte Depressionsprogramm – Ablösung von der Welt, im Kreis laufen, Mantras aufsagen, als höchstes Ziel aus dem Kreislauf aussteigen – exakt dem Konzept des Buddhismus. Vielleicht existiert ja tatsächlich so etwas wie eine dunkle Zwillingsreligion mit 108 Büchern der verdrehten Synapsen und Mandalas aus Taubenscheiße.

Mein zerdetschtes und zwischen den Stufen zwei und dreieinhalb oszillierendes Gehirn beginnt mich als Person umzuformen. Auch das merke ich mit Bestimmtheit. Natürlich wehre ich damit nur die widerwärtige Welt ab. Die Widerwärtigkeit entsteht irgendwo in meinen Schläfenlappen, ich weiß, es handelt sich also nur um eine Rückspiegelung. Aber sag mal einem Menschen mit Nagetierphobie, dass er das lustige Fellknäuel mit Überbiss einfach streicheln soll.

Ich vermeide es, meinem Kollegen M. über den Weg zu laufen, und erst recht, mit ihm zu sprechen, obwohl ich ihn gut kenne, auch durch gemeinsame Kneipenbesuche, weil er mich (nachweislich) auf der Weihnachtsfeier mitten im Satz unterbrochen hatte. Ein Teil meines immerwachen Verarbeitungssystems sagt mir, dass er damit ein Programm speziell zu meiner Missachtung verwirklicht.

Unter diesen Umständen kann ich auch unmöglich D., den Gestalter meines nächsten Buches, zurückrufen oder seine Mails beantworten, weil er mich am Telefon angeschrien hatte wegen eines Internetkrams, den ich nicht verstehe, weil derartige Attacken meine Aufmerksamkeit für hakelige Dinge leider zerschießen. Das klingt so, als hätte ich die Kausalität verdreht. Aber wem die Gitterstruktur der Welt deutlich verrutscht, für den fädelt sich auch eine Kausalkette anders auf.

Um einmal eine Metapher zu vermeiden: Depression ist Wut ohne Objekt.

 

Tag sechzehn, dreieinhalb bis dreiacht, der Arabellapark sieht aus wie mit Blei übergossen. Von meiner vorletzten Behandlung liegen noch ein paar Mirtazapin in der Schublade, ein gelbes rhombenförmiges Zeug, das so subtil wirkt wie ein Hammer auf den Kopf, weshalb ich es 2010 nach ein paar Wochen abgesetzt hatte. Ich kann mich nicht entschließen, den Rest aufzubrauchen, und rufe meinen Doktor von der letzten Behandlung an. Der betreut allerdings nur noch Patienten in Langzeittherapie. Seine Empfehlung lautete schon damals und lautet jetzt immer noch: Bei der nächsten Depriphase ab in die Klinik. Die psychiatrische Klinik der Universität in der Nußbaumstraße leiste sehr gute Arbeit, direkt in der Innenstadt gelegen. Ganz nah an der Isar. Okay, das mit der Isar sauge ich mir aus meinen nervösen Fingern. Ich rufe in der Notfallambulanz an, verhandle ein bisschen: Nein, ich könne jetzt keinen Arzt sprechen, mir könne auch keiner so einfach sagen, ob ein Bett frei ist. Aber ich könne jederzeit in die Ambulanz kommen: »Wir haben vierundzwanzig Stunden geöffnet.« Dann darf ich doch mit einem Arzt reden. Er hört mir zu und verspricht zurückzurufen. Das tut er auch.

Das Chalet Nußbaumstraße hat ein Bett frei und erwartet mich. Zur Feier des Vorabends trinke ich die letzte Flasche Wein.

 

Alles, was unmittelbar vor mir liegt, erscheint mir klar. Mehr Klarheit brauche ich im Moment auch gar nicht. Für den Termin in der Notfallambulanz möchte ich gute Schuhe tragen, eine Nichtjeans, ein angstblütenweißes Hemd und ein blaues Jackett. Ich weiß nicht, was man für die Aufnahme in eine psychiatrische Klinik normalerweise anzieht.

Hätten Sie’s gewusst?

Ich stecke mein Skizzenbuch in die Tasche, ein Foto von mir, auf dem ich mir gefalle, außerdem eine Zeichnung, entstanden zwischen dem ersten Gespräch mit dem Klinikarzt und seinem Rückruf. Außerdem meine ich, dass ich ein Zwischenzeugnis meines Arbeitgebers dabeihaben sollte. Es umfasst immerhin achtzehn Jahre. Im Schrank für die wichtigen Unterlagen finde ich nur ein älteres Zeugnis; ich räume die Schubladen aus, staple alles zu Türmen, lege die Papiere einzeln wieder zurück: Die neue Beurteilung fehlt. Sicherheitshalber sehe ich unter dem Schrank und hinter den Bücherregalen nach. Es geht mir nicht so sehr um den Inhalt dieses Wischs, sondern um den Nachweis, einen Beruf auszuüben. Ich möchte nicht als Idiot dastehen. Obwohl: Vielleicht wäre es jetzt der passende Moment, um meine Vorbehalte gegenüber Idioten abzulegen.

Ein letztes Mal wühle ich in den Papieren, ohne das richtige zu finden. Also werde ich zeugnislos in die Psychiatrie aufbrechen. Aber mit Pass. Etwas sagt mir, dass ich dort ein Amtspapier brauche.

Vorher noch einmal auf Arbeit, um eine Erklärung für den Chef zu schreiben; das Papier kommt in eine so richtig nach Gestörtheit aussehende Klarsichthülle, beides platziere ich in seinem Eingangskörbchen.

Und ab.

 

Auf dem Weg zur Klinik schwankt mir in der Nußbaumstraße ein junger Mann mit Stoffbeutel entgegen, verschwitzt, leicht sabbernd, der aussieht wie ein unter Drogen gesetztes Entführungsopfer.

Das Foyer der Klinik macht einen hellen und freundlichen Eindruck. Jeder kann von hier aus die Richtung einschlagen, die ihm beliebt. Eine Abteilung ganz unten hört auf das Kommando einer Frau Doktor Meisenzahl. Namenswitze finde ich nicht generell schlecht. Man darf sie nur nicht selbst machen.

Die Stimme, die mir zur Passmitnahme geraten hatte, ist die gleiche, die mich auch sonst mit lauter unnützem Zeug vollquatscht. Niemand hier fragt, wohin man überhaupt will. Also folge ich erst einmal dem Durchgang zum Neubauteil der Klinik, um mir die Leute dort anzusehen. In einer Art Raucherforum steht ein halbes Dutzend an kleinen Tischchen; im grünen Innenhof, den man durch eine große saubere Glasfront sieht, hocken robuste Patienten im Februarsonnenschein.

Zwischen den Tischchen geht ein Mann mit minimalem Aufwand durch den Raum, die Arme fest an der Seite, die Schritte klein. Sein Mund steht ein paar Millimeter offen. In seinem Gesicht gibt es kein Leuchten, das normalerweise selbst das müdeste oder gleichgültigste Gesicht morgens in der U-Bahn wärmt. Keine Kontaktaufnahme mit anderen. Er raucht nicht, sondern schiebt sich selbst vorwärts, den Rücken durchgedrückt, die Augen geradeaus. Eine Runde um die Tischchen, dann bewegt er sich zum Fahrstuhl.

Zurück zur Notfallambulanz, die sich nur ein paar Schritte von der Raucherzone hinter einer drei Meter hohen Tür befindet. Dafür, dass es sich um eine Vierundzwanzig-Stunden-Sammelstelle für dysfunktionale Leute einer Millionenstadt handelt, geht es dahinter sehr untertourig zu. Zwei, drei Leute sitzen ohne sichtbare Ausfallerscheinungen auf der Wartebank. Ein Pfleger lässt mich ins Büro, notiert meinen Namen und schickt mich zu Doktor L., der nur ein Büro weiter sitzt. Ich kann sofort zu ihm. Hauptsächlich fürchte ich, mich nicht verständlich machen zu können. Und zweitens, ich könnte die Zustände in meinem Kopf gewissermaßen hinter meinem Rücken simulieren.

Doktor L. besitzt ein knitterfreies, flächiges Gesicht, praktisch von gleicher Beschaffenheit wie sein Arztkittel. Schätzungsweise ist er halb so alt wie ich. Er bittet mich, die Symptome meiner Depression zu schildern. Offenbar bestehe ich den Eingangstest. Er nimmt ein Formblatt und fängt an, Fragen zu stellen.

»Medikamente, Drogen?«

Praktisch nichts. »Ibuprofen. Keine illegalen Substanzen.«

»Trinken Sie Alkohol?«

»Etwa eine halbe Flasche Wein pro Tag.« Stimmt nicht en détail, aber in der groben Richtung.

»Eine halbe Flasche?«

»Wein, nicht Grappa.«

Kritzelkritzel.

»Nicht übertrieben viel für unseren Kulturkreis«, sage ich gleisnerisch.

Kritzel.

Der Doktor sieht mich mit professioneller Freundlichkeit an: »Wenn Sie gesagt hätten: nichts, dann hätte ich das sowieso nicht geglaubt.«

Kritz, kritz.

Wer nicht zu knapp und regelmäßig trinkt, bringt wenigstens Struktur in sein schlechtes Karma. Das meine ich in diesem Moment jedenfalls, unterdrücke den Gedanken aber, um mich nicht gleich als Klugscheißer einzuführen.

Miene und Handhaltung des Arztes signalisieren, dass es wieder etwas Ernstes zu besprechen gibt: »Ich muss Sie das jetzt fragen«, sagt er. »Haben Sie jemals überlegt, sich das Leben zu nehmen?«

»Nein«, sage ich.

Das stimmt nicht ganz, aber zu neunzig Prozent.

 

Es gibt eine Installation von Maurizio Cattelan, die ein präpariertes Eichhörnchen zeigt, das auf einem Stuhl sitzt, den durchlöcherten Kopf auf einem Resopaltisch, hinter ihm ein Spülbecken und ein Boiler, alles so klein, dass es zu dem Eichhörnchenkörper passt. Auf dem Boden liegt ein winziges Pistolenmodell. Die ganze Installation misst 45 mal 60 mal 58 Zentimeter. Der Titel des Ganzen lautet: »Bidibidobidiboo«. In der Szenerie kommt fast alles vor, was zu dem Gedanken des Suizids gehört: das Dramatische, der Affekt. Der Vorwurf an diejenigen, die damit zurechtkommen müssen. Die Regression. Nur die absolute Notwendigkeit, die für einen solchen Akt nötig ist, bleibt wie eine Negativform ausgespart.

Darüber hinaus meine ich, dass jeder das Recht besitzt, über sein Leben zu entscheiden, auch über das Ende. Nur sehe ich keinen Grund, diese Gedankenschleifen im Sprechzimmer eines Psychiaters zu erörtern, zumal sie an meiner Antwort nichts ändern würden. Bei dem Nein handelt es sich gewissermaßen um einen ordentlich zusammengekürzten Bruch.

Erst wenn ich irgendwann den Zustand des Rundenläufers mit dem toten Gesicht erreichen sollte, müsste ich mir diese Frage noch einmal neu stellen. Bidibidobidiboo.

»Gut«, sagt der Arzt. Er empfehle eine Aufnahme.

Wann?

Wie wär’s mit sofort? Station III.

 

Vorbei am Alois-Alzheimer-Saal und hoch in die zweite Etage zur Station III. Gleich hinter der Tür sitzt der Mann mit dem toten Gesicht auf einem Stuhl. Über den Stationskorridor verteilt hängen Bilder von August Macke. Kleine Repros seiner Aquarelle, eine ganze Serie. Ich fühle mich wie in einem wohlgeordneten Themenpark, was mir sehr entgegenkommt. Am liebsten würde ich gleich die Umgebung erkunden und beispielsweise die Augenklinik inspizieren. Hängt dort alles voll mit Egon Schiele? Und in der geschlossenen Psychiatrieabteilung lauter Otto Greiners? Wenn ja, dann würde mein Respekt vor dem Grand Design ins Unendliche wachsen.

In der Küche, die an den Speiseraum und den Korridor grenzt, liegt ein anheimelnder Plätzchengeruch, der sich auf der Station verteilt. Es gibt wenig Hin- und Hergelaufe, ein paar Leute sitzen allein an einem Tisch, die meisten zusammen in der Fernsehecke oder auf den Stühlen vor dem Sprechzimmer. Der Pfleger meint, ich sollte in der Fernsehecke Platz nehmen. Das mache ich sofort. Soweit der Begriff der Begeisterung für mich angemessen ist, bin ich begeistert davon, hier so wenig wie möglich selbst entscheiden zu müssen. Neben mir steht ein Regal mit Spielen, die »Sortivity« heißen, »Activity«, »My Rummy«, »Star Wars Labyrinth« und »Fantasy Flight Games«. Dann gibt es noch ein Extrafach für Spiele ohne Ypsilon. In mein Notizbuch schreibe ich Sortivity Activity My Rummy, weil es mir wie ein Abwehrzauber vorkommt. Auf dieser Couch kann ich bequem warten, solange der Fernseher kaltbleibt. Von hier aus führe ich den anderen als Little Lord Fauntleroy mit geputzten Schuhen und im Samtjackett vor, wie man gut und bescheiden in seiner Ecke sitzt. Notfalls den ganzen Tag.

Unter den Patienten hier gehöre ich nicht mal zum Durchschnitt. Wirklich schlecht scheint es nur zwei Leuten zu gehen, dem Mann mit dem toten Gesicht und einem eleganten Araber um die fünfzig, der am Fenster steht und, wenn ich mich nach zehn Minuten nach ihm umsehe, noch immer in der gleichen Haltung auf den Macke an der Wand starrt.

Besser noch einen kleinen Gang von Fenster zu Fenster, bevor mich ein Arzt ins Sprechzimmer ruft. Wie man das aus Filmen kennt, lassen sich die Fenster nur zehn Zentimeter weit öffnen, dann stoßen sie auf eine solide Sperre aus Stahl. Auch ein Selbstzerstörer könnte sich hier nur die Hand quetschen, mehr nicht. Aber er dürfte sofort durch die Tür treppab auf die Straße, so wie auch jeder von unten aus dem Drogenpark hinter der evangelischen Kirche hochkommen könnte, um sich ein Mineralwasser zu holen und ein Brettspiel anzufangen.

»Sie sind Alkoholiker«, informiert mich ein junger Typ in hellen Hosen und Blazer mit Brustwappen, der sich gerade ein Mineralwasser am Spender zapft.

»Tragen die Ärzte hier keine Kittel?«

Er sieht an mir vorbei, nippt am Wasser und zieht sein Programm durch. »Ich komme übrigens aus einer Familie, die mit den Zaren verwandt war. Guck mal.« Aus seiner Hosentasche angelt er ein buntes Plastikei. »Fabergé.«

Aus Höflichkeit strecke ich die Hand aus.

»Nicht anfassen!«

Das Ei verschwindet wieder.

»Wie hieß denn die Familie?«

»Weiß ich nicht.«

»Korsakow?«

»Ich sag doch, weiß ich nicht.«

Korsakow dackelt mit seinem Wasserglas davon, und ich muss rein.