Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast - Maria Bachmann - E-Book
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Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast E-Book

Maria Bachmann

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Beschreibung

Maria Bachmanns autobiografische Geschichte ist der bewegende Blick einer Kriegsenkelin, die in der süddeutschen Provinz aufwächst und dort, wie viele ihrer Generation – statt Zuversicht, Geborgenheit und Selbstvertrauen – hauptsächlich Begrenzung und Schweigen vorfindet. Die beliebte Schauspielerin schreibt ehrlich über ihre Kindheit, ihre Eltern, die in den Traumata des Zweiten Weltkriegs gefangen sind, und über ihren Befreiungsweg zur Selbstbestimmtheit. Die ergreifende und mutmachende Geschichte einer Reifung und Aussöhnung, sowie ein faszinierender Einblick in die Seele der Nachkriegskinder. »Maria Bachmann ist es gelungen, ihrer beklemmenden Kindheit zu entkommen und eine innere Heimat zu finden. In einem leidenschaftlichen und mutigen Selbstporträt voller Zuversicht schildert sie ihren Weg in ein befreites Leben.« Stefanie Stahl »Maria Bachmann schreibt das Schwere leicht und angenehm zu lesen. Man bleibt dran an dieser Frau. Stark.« Hartmut Engler »Maria Bachmanns Weckruf holt die Leute aus dem Dämmerschlaf und nimmt sie mit in ihr Rebellentum. Sehr geil!« Udo Lindenberg

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Maria Bachmann

Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast

Von einer, die ausbrach, das Leben zu lieben

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Maria Bachmann erlebt eine Kindheit umwoben von Beklemmung und Schweigen. Die Eltern, kriegstraumatisiert, selbst unter emotional kargen Umständen aufgewachsen, können ihrer Tochter nicht geben, was sie so sehr braucht: Geborgenheit, Zuversicht und Selbstvertrauen.

Eindringlich und authentisch erzählt Maria Bachmann von den Mühen ihrer Kindheit in der süddeutschen Provinz der Sechzigerjahre, aber auch davon, wie ihr der Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben gelingt: Von ihrem Auszug aus der dörflichen Enge, der Verwirklichung unerlaubter Träume, und davon, wie sie es schließlich schafft, ihre innere Heimat zu finden und sich mit ihren Eltern auszusöhnen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Teil I: Das Kind

Die Rute

Die Katze

Der Raub

Vaters Lachen

Die Fremden

Das Reh

Blutwurst

Nachbar Hugo

Das Mandelbäumchen

Tante Arthur

Mutters Furcht

Jesus

Weggesperrt

Das geteilte Mädchen

Die Freundin

Die Blutwurstbande

Teil II: Die Jugendliche

Der Saft

Jeansgirl

Die Zehn Gebote

Eroberungen

Vaters Schweigen

Das Guckloch

Fluchtorte

Der Beruf

Im kalten Wasser

Der große Traum

Teil III: Die junge Frau

Der Auszug

Der Rahmensprenger

Der Besuch

Schlussmachen

Ortsfremd

Die Mauer

Euphorie und Panik

Die Selbstverurteilungsmaschine

Der Absturz

Teil IV: Die Erwachsene

Die Rettung

Die Heimkehr

Die Freiheit

Schlussgedanken

Nachbemerkung

Dank

Vorsatz

Nachsatz

Für alle Seelenverwandten und die Nachkommen der Kriegskinder

»Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir herauswollte. Warum war das so sehr schwer?« Hermann Hesse

Das Kind

Foto: Privatarchiv Maria Bachmann

Die Rute

Mutter hatte nichts mit der Rute am Hut. Vielleicht auch, weil sie nicht so gut mit ihr umgehen konnte. Oder die Rute Vatersache war.

Die Rute war ein besonderes Zeichen. Ein Zeichen, dass es nicht nur in unserem Hof, der Scheune oder dem Keller, sondern auch in unserer Küche gefährlich für mich werden konnte. Die Rute stand aufrecht hinter der Eckbank. Wenn ich hinschaute, stellten sich unweigerlich meine Haare an den Oberschenkeln auf. »Ja nichts falsch machen«, dachte ich.

Wenn mein Bruder es wagte, Widerworte zu geben, oder wir nicht gehorchen wollten, griff Vater danach. Vaters Platz war gleich neben ihr. Die Rute und er – das gehörte zusammen. Warnend sagte er: »Ich leg die jetzt mal hierher.«

Dann platzierte er den Zweig aus dem Wald längs hinter uns auf die Bank, dass wir die Äste im Rücken spüren konnten, weil manche abstanden, obwohl er sie zusammengebunden hatte. Ich schlenkerte mit den Beinen an meinem Platz und lächelte, damit er nicht denken sollte, dass ich mich etwa fürchtete. Mit dem Lächeln konnte ich es mir sogar selbst weismachen.

Manchmal wollte ich nicht aufessen. Dann war Vaters Gesicht verschlossen wie das Wohnzimmer vor Heiligabend. Und Mutter sagte: »Der Teller wird leer gegessen, sonst gibt’s gleich den Arsch voll.« Das war der Moment, in dem ich alles aufaß. Ich musste mich nur überwinden, die Grenze zur Übelkeit mutig überschreiten. Dann war das Bohnengemüse drin im Bauch. Im Gegensatz zu mir kriegte mein Bruder den Ast öfter zu spüren. Er probierte immer wieder, Vater zu widersprechen, als wolle er ausprobieren, ob Vater noch etwas anderes konnte, als den Ast aus der Ecke zu ziehen. Zum Beispiel lachen oder reden. Einmal war es wie ein Tanz, den die beiden veranstalteten. Vater rannte meinem Bruder mit der Rute hinterher, mein Bruder versteckte sich unter dem Tisch und kroch unter die Eckbank, Vater bückte sich und stocherte mit dem Ast dahin, wo er meinen Bruder vermutete. Die Rute war biegsam, er traf ihn immer, selbst im hintersten Winkel. Mein Bruder raste wie ein fliehendes Huhn aus dem Unterschlupf, wollte aus der Küche raus, aber er schaffte es nur bis zur Tür. Unter dem Türgriff zusammengekauert, sah er aus wie ein Postpaket. Er verschränkte die Arme vor dem Gesicht, als Vater ihn erwischte und die Rute peitschend auf ihn niedersausen ließ. Meine Strumpfhose wurde warm, und auf dem Boden entstand eine kleine Pfütze. Mutter kriegte ein weißes Gesicht und stand steif am Küchentisch. »Vater, hör auf«, sagte sie, aber das nützte nichts.

Mein Bruder blutete an der Wange, weil die Rute noch so neu war. Da fitzte sie besonders gut. Mutter dagegen benutzte bei meinem Bruder lieber den Kochlöffel. Einmal schlug sie so auf seinen Rücken, dass der Stiel in der Mitte auseinanderbrach und sie nicht mehr damit kochen konnte. Sie verbrannte ihn im Ofen und musste einen neuen kaufen. Aber Bestrafung musste sein. Das war nicht nur bei uns daheim so. Das war überall so.

Der Onkel wiederum nahm den Gürtel. Mein Bruder und ich waren einmal ein paar Tage bei ihm und seiner Familie, als Mutter mit den Nerven fertig war und zur Erholung in eine Klinik geschickt wurde. Mein Bruder weigerte sich, beim Mittagstisch die Pilze vom Onkel zu essen.

»Pilze sind giftig«, sagte er. Man könne daran sterben.

Das hatte er von unserem Vater gelernt. Er ließ die Pilze in der weißen Soße liegen, ohne auch nur einmal die Gabel hineinzutunken. Mein Bruder wollte einfach nicht sterben. Er aß nur die Kartoffeln, was dem Onkel überhaupt nicht gefiel. Er zerrte seinen Gürtel aus den Hosenschlaufen und meinen Bruder von der Eckbank. Mitten in der Küche schlug mein Onkel auf meinen Bruder ein, und ich konnte nichts tun, als danebenzusitzen und zuzusehen. Etwas nicht zu essen, das kam einfach nicht infrage. Vielleicht dachte der Onkel, dass Pilze besser schmecken als die dünne Brühe, die er damals als Soldat im eisigen Sibirien essen musste und die aus einem Sud aus Fischabfällen gekocht war. Und vielleicht wollte er das meinem Bruder klarmachen. Doch wie alle Erwachsenen, die ich kannte, beherrschte er nur eine Sprache – die von Autorität, was oft gleichbedeutend war mit Gewalt.

 

Die Erwachsenen, aber vor allem Vater und Mutter waren undurchschaubar. Man wusste nie genau, wann sie böse werden würden und warum. Ich malte im Kopf eine Landkarte von ihnen, um mich zu orientieren. Mit der Zeit lernte ich, sie besser zu lesen. So hatte ich eine grobe Richtung, wie ich mich geben musste, um das Schlimmste zu verhindern. Ich fuhr meine Spürantennen aus und ertastete damit, wie ich am besten für sie sein sollte. Ich musste schnell sein, schneller als die Erwachsenen. Ich musste vor ihnen wissen, was sie von mir wollten. Das war das Einzige, was mir einfiel, um nicht unangenehm aufzufallen.

 

An Nikolaus gab es jedes Jahr eine neue Rute. Ich trug schon seit dem Morgen mein unauffälliges Gesicht, das notfalls schnell lächeln konnte. Meine erste Nikolaus-Begegnung des Tages fand im Kindergarten statt. Er kam in unseren Gruppenraum hineingewallt, und wir Kinder, wir freuten uns und hatten Angst, weil wir wussten, dass er alles über uns wusste. Als er »Und nun zu Maria« sagte, musste ich aufstehen und zu ihm hingehen. Alle guckten mich erwartungsvoll an. Ich war mir sicher, irgendetwas hatte ich ganz bestimmt verkehrt gemacht. Ich wühlte wie verrückt in meinem Gedächtnis, fand aber nichts, was es gewesen sein könnte.

Er sagte: »Maria, du musst ein bisschen braver werden, ja?«

Ich antwortete ganz schnell: »Ja.«

Dann musste ich ihm die Hand reichen, um mein Versprechen zu besiegeln. Ich konnte seine dicken Finger unter dem weißen Stoffhandschuh fühlen: Der Mann war echt. Mein grundsätzliches Problem war, dass ich nicht genau wusste, wie ich braver werden sollte, außer, noch viel mehr das zu machen, was die Großen von mir wollten, noch früher herauszufinden, wie ich sein sollte. Er drückte mir einen gezuckerten Lebkuchen in die Hand, ich sagte »Danke« und rannte zurück zu meinem Stuhl. Schwester Theodoris schüttelte warnend den Kopf, ich stoppte abrupt und ging die letzten Meter langsam. Es war besser, ihr zu folgen, denn sonst wäre vielleicht Knecht Ruprecht mit der rasselnden Kette reingekommen. Ich stopfte den Lebkuchen in mein Pausenbrottäschchen neben das Mettwurstbrot und den halben Apfel. Aber mir war der Appetit vergangen, ich bekam den ganzen Vormittag keinen Bissen hinunter.

»War der Nikolaus da?«, fragte Mutter, als sie mich am Gartentor abholte.

»Ja«, sagte ich und hüpfte neben ihr her, als Signal, dass ich ein braves Kind war, egal, was kommen sollte.

Als es dunkel wurde, machte ein anderer Nikolaus die Runde. Ich erspähte ihn am Wohnzimmerfenster. Sein Knecht Ruprecht trat gegen Hoftore, dass sie schepperten, rannte quer über die Straße, ohne zu gucken, und zog seine Kette hinter sich her, dass sie nur so klirrte. Ich floh vom Wohnzimmer in die Küche. Kurz darauf polterte es an der Küchentür, etwas peitschte gegen das Türglas. Auf der Kücheneckbank, mit der größtmöglichen Entfernung zur Tür, kauerte ich mich zusammen. Die beiden Gestalten draußen warfen bedrohliche Schatten an die Wand, ich hoffte inständig, dass sie nicht reinkämen.

Mutter, deren Gesicht ich fast nie ganz entziffern konnte und die scheinbar keine Angst gehabt hatte, schien zufrieden und sagte: »Guck mal, der Nikolaus war da.«

Ich traute mich nur in ihrer Begleitung an die Tür. Es war nicht nur schlecht, dass es gerade so fürchterlich gepoltert hatte. Die Lebkuchen in der Tonschüssel und die Mandarinen und Nüsse ließen mich die neue Rute fast übersehen, die aufrecht und ungebraucht neben dem Flurspiegel lehnte. Allerdings nur fast, und so lachte mein Gesicht vor Freude über die süßen Gaben, doch der ganze Rest von mir, der lachte nicht. Die neue Rute wurde ganz selbstverständlich aufrecht hinter die Eckbank geklemmt. Dahin, wo vorher die alte, abgedroschene auf ihren Einsatz gewartet hatte, die nun in den Flammen unseres Herdes ihr Ende fand.

Später fand ich heraus, dass das Poltern und Stampfen von meiner Oma kam, die jährlich ihren »Nikolaus’schen« Besuch bei uns absolvierte. Nur sie war es. Und doch war es sie, die das frische Bestrafungsinstrument ins Haus brachte.

So entlarvte ich den doppelten Nikolaus-Betrug der Erwachsenen (erstens die Lüge: es gibt keinen Nikolaus; zweitens den Betrug an meinem Bruder und mir: unsere Großmutter sorgte für das neue Strafutensil) und begann meine große Forschungsreise. Die Erwachsenen hatten keine Zeit, um mich in ihre Tagesabläufe, in ihre Gedanken und Pläne einzuweihen. Sie erklärten nichts und besprachen nichts mit mir. Uns Kindern wurde das Leben einfach vorgesetzt. »So ist das. So muss das gemacht werden. So war das schon immer.« Weil das so war und in mir die leise Ahnung wach wurde, dass mir dadurch wichtige Dinge vorenthalten blieben, wollte ich selbst rausfinden, was eigentlich los war.

Zu dem »Was eigentlich los war« meiner Kindheit kam später ein »Was ist eigentlich los mit mir« dazu. Ich hatte vieles erreicht, wovon ich als Kind gar nicht hätte träumen können. Ich war der Provinz entkommen, unserem Haus, meinen Eltern. Und doch war ich nicht frei. Ich hatte vieles geschafft, war Schauspielerin und hatte Erfolg. Zufriedenheit oder gar Glück wollten sich aber nicht einstellen. Erst eine tiefe Krise zwang mich zum Innehalten und dazu, therapeutische Hilfe anzunehmen. Ich lernte, mich zu hinterfragen und besser »hinter« mich sehen zu können, zu sehen, was eigentlich los mit mir war. Dieses neue Selbst-Verständnis jedoch war unauflösbar mit etwas Weiterem verbunden: mit meinen Eltern. Meine Geschichte erzähle ich also sozusagen auf dreifache Weise: mit den Augen eines Kindes, der kleinen Maria; gefiltert durch meine heutige Perspektive und in Bezug auf meine Eltern.

Mutter und Vater wurden in die Weimarer Republik hineingeboren, in eine Zeit großer Unsicherheit und extremer Arbeitslosigkeit. In eine Zeit, in der das Gedankengut der Nationalsozialisten aufkeimte. Sie wurden in einer Gesellschaft groß, die sich auf den Krieg vorbereitete, in der menschliche Verrohung, Gewalt und Angst zur Normalität wurden. Sie wurden von Eltern erzogen, deren Leben von kleinbäuerlicher Kargheit bestimmt war: vom Schuften und vom Beten. Von meinen Eltern weiß ich nur wenig wirklich. Sie wollten nur das Beste für mich und konnten mir doch nicht geben, was ich gebraucht hätte.

So fängt meine Geschichte an, in unserem Hof zwischen Scheune und Haustür in einer fränkischen Kleinstadt in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Die Katze

Der Bachmann’sche Kosmos war rechteckig und grau und ganz und gar unspektakulär. Vater, Mutter, mein Bruder und ich, wir hielten uns ständig in unserem Hof auf. Die Erwachsenen hatten immer etwas zu tun, wir Kinder waren uns selbst überlassen, und wir spielten hier an der frischen Luft. Der Hof war nichts Besonderes, aber für mich war er die ganze Welt. Es gab das Scheunendach, unter dem man selbst bei Regen spielen konnte, und es gab einen Sandkasten. Er war in der Nische zwischen dem Vorgärtchen und der Remise. An der Stelle war der Boden betoniert, gerade so groß, dass man bequem eine Sandburg hätte bauen können, in der ein Stallhase und seine Familie Platz gefunden hätten. Drum herum war alles voller unebener Pflastersteine bis zur Grenze von Hugo, dem Nachbarn. Dort war wieder betoniert, und wenn es Glatteis hatte, konnte ich auf seiner Seite über die Ebene schleifen. Es war schon fast Sommer, aber nicht so warm, dass Mutter mir Kniestrümpfe erlaubt hätte. Ich kauerte in der Hocke und siebte Sand.

Ich wollte aus dem Sand Mehl herstellen, indem ich ihn so lange siebte, bis er fein war, sich in weißes Mehl verwandelte und Mutter damit echten Kuchen backen konnte. Ich würde das Mehl an sie verkaufen. Im Hintergrund hörte ich leise den Autolärm der Straße, die Sonne wärmte meinen Rücken. Ich klopfte die Sandschaufel unaufhörlich an das Sieb, der Sand darin wurde immer weniger, der im Eimer dafür mehr.

Dann.

Ein Greifen, ein Packen, ein Klumpen in meinem Nacken. Etwas klammerte sich an mich, jaulte. Ein Gewicht, etwas kratziges Lebendiges hing an mir. Etwas Scharfes bohrte sich in meinen Hinterkopf. Ich schüttelte mich, schlug mit den Händen um mich, wollte danach greifen, mich davon befreien. Etwas Nasses, Spitzes, ein Maul, das in meine Haare biss. Ich schleuderte das Sieb in den Sand, aber der Klumpen – er war aus Fell – fiel nicht von mir ab. Ich schrie, der Klumpen fauchte. Es war eine schwarz-weiße, dicke Katze.

Vielleicht gehörte sie jemandem aus der Nachbarschaft, uns jedenfalls nicht.

Vater kam aus der Scheune gerannt. Er stampfte auf, dass ich mich erneut erschrak: »Weg! Drecksvieh, räudiges!«

Die Katze sprang von meinem Rücken. Da hatte Vater schon die Peitsche aus der Remise geholt. Er knallte sie auf das Pflaster im Hof und auch auf die Katze. Die jaulte und krümmte sich. Sie saß noch da und war gleichzeitig doch schon fast weg. Das war wie bei mir.

Ich schrie noch mehr, wegen der Katze, weil sie was von der Peitsche abbekam und nicht wusste, wohin. Und weil Vater wütend war, so wütend.

Sie flüchtete nach hinten in den Garten von Hugo. Nun hätte ich weitersieben können und Sand in Mehl verwandeln, aber ich konnte nicht. Ich weinte. Mein Rücken brannte, meine Hände suchten den Vater, den ich mit meinem Schrei so wütend gemacht hatte, dass er die Peitsche auf die Katze knallen ließ. Nun war sie weg, und ich war schuld daran.

Mein Bruder stand am Scheunentor und bedauerte die Katze. Er konnte nichts tun, außer bedauern und zusehen. So ging es uns beiden oft. Ich bedauerte ihn, wenn er die Rute abbekam, er bedauerte jetzt die Katze, die vom Hof gepeitscht worden war. Dabei setzten wir Gesichter auf, die anders waren als das, was wir fühlten. Leere Gesichter – ich bin nicht da, ich weiß von nichts. Oder lächelnde Gesichter – ich bin lieb, ich bin so, wie ihr es euch wünscht. Dabei konnten wir häufig gar nicht wissen, was gewünscht war.

Mir flitzte, nachdem die Katze weg war, vor allem ein Gedanke durch den Kopf: Wenn ich nicht geschrien hätte, wäre die Katze nicht vertrieben worden, und Vater und Bruder wären zufrieden gewesen. Aber so war alles durcheinandergeraten, und ich war schuld daran.

Heute tut mir – natürlich neben der Katze – auch mein Vater leid. Er musste wütend werden, um mich zu beschützen. Wenn er nur auf eine andere Idee gekommen wäre. Hätte er mich doch in den Arm genommen und mir über die Haare gestreichelt. Dann hätte ich an seiner Brust gemerkt, wie er mich mag. Aber für so eine Idee muss man erst einmal wissen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt.

So ähnlich ist das auch beim Träumen. Man kann nur so groß träumen, wie der eigene Horizont weit ist. Und auch beim Sandspielen ist das so. Man braucht Einfälle, um etwas Neues zu machen. Ich wusste oft nicht, was ich mit dem Sand machen sollte, der vor mir auf dem Beton ausgebreitet war. Immer wieder backte ich Kuchen, füllte Muscheln und Fische mit Sandteig.

Ich fragte meine Mutter: »Was soll ich noch mit dem Sand machen?«

Sie sagte: »Back doch Kuchen.«

Wenn es niemanden gibt, dem etwas Besseres einfällt als Kuchen backen, bleibt es dabei, und du backst wieder Kuchen. Du baust kein Mäuseschloss, keinen unterirdischen Gang zur Schatzkammer. Wieder und wieder, obwohl dir dabei sterbenslangweilig ist, backst du Kuchen. Du backst das ganze Jahr Kuchen, bis es Winter wird und du drinnen spielst oder auf dem Beton von Hugo auf dem Glatteis rutschen kannst, und im Frühjahr, wenn es warm genug ist, backst du wieder Kuchen. So ist das, wenn du keinen neuen Einfall hast. Es gibt mehr Sandkuchen, als je gegessen werden könnte. Es fühlt sich nicht richtig gut an.

Die Katze war von nun an ein böses Tier. Wenn sie auf unseren Hof kam, bewegte ich mich ganz vorsichtig weg von ihr. Ich ließ mein Sandspielzeug liegen, ging hinein, in die Küche, und sagte: »Ich mag nicht spielen.«

 

Einige Wochen später hatte ich die Katze fast vergessen. Aber an einem Sonntag, ich trug den grauen Faltenrock, wir kamen gerade von der Kirche, entdeckte ich sie wieder. Sie lauerte geduckt in unserem Hof. Vater stampfte mit dem Fuß auf, dass die Pflastersteine bebten. Lautlos huschte sie in den Hinterhof unseres Nachbarn. Vater war immer noch wütend auf die Katze und hatte diesen Gesichtsausdruck, obwohl er eben noch in der Kirche »O du Lamm Gottes« gesungen und das Vaterunser gebetet hatte: »Drecksvieh!«

Ich heftete mich an Mutters Fersen, schlüpfte in die Küche. Dort war es still und aufgeräumt. Der Spülstein roch nach Ata, nach Geborgenheit. Ich aber dachte nur noch an die Katze.

Was, wenn sie nun für immer hierblieb und mir wieder auf den Rücken sprang? Wenn alles so weiterging? Dann könnte ich nie mehr draußen spielen. Und dann dachte ich an Vater, der noch draußen war, ganz in ihrer Nähe. Denn, was ich auch nicht wollte, war, dass die Katze geschlagen wurde. So sprang ich in der Küche auf und ab vor Sorge und sang: »O du Lamm Gottes, das du wegnimmst die Sünden der Welt«, um mein Herzklopfen zu übertönen.

»Räum die Kirchenbücher in den Schrank«, sagte Mutter.

Nun hatte ich etwas zu tun. Die Gesangsbücher waren in schwarze Hüllen eingebunden und glänzten an den Seiten golden. Wenn man aber nur eine Seite umblätterte, war sie so dünn, dass man das Gold nicht sehen konnte. Ich brachte die Gesangsbücher in die Stube und steckte sie in die Schublade. Das war die beste Gelegenheit, um mich unbemerkt hinter der Haustüre zu verschanzen. Ich schielte durch das Schlüsselloch, konnte aber nichts erkennen, das wie eine Katze aussah.

Da kam Mutter mit einer Schale Milch aus der Küche. Ich zuckte zusammen und tat so, als käme ich gerade vom Schubladenschließen aus dem Wohnzimmer: »Lamm Gottes, Lamm Gottes«, sang ich. Ich war mir fast sicher, dass »Verschanzen hinter der Haustüre« verboten war. Deshalb wollte ich Mutters Satz mit diesem bestimmten Tonfall – »Was hast du hier verloren?« – verhindern. Sie öffnete die Tür und stellte die Milchschale auf den Boden.

»Die hat bloß Hunger«, sagte sie.

Und dann sah ich die Katze. Sie schlich sich an, kam näher, schaute misstrauisch. Sie hielt nach der Peitsche Ausschau, ganz sicher. Sie hatte ein dickes, trauriges Gesicht. Sie schnüffelte und machte sich über die Milch her. Beim Schlabbern ließ sie ihre rosa Zunge aus dem Maul blitzen. Mutter lachte. Wie ich Mutter so ansah, dachte ich, Mutter könnte auch die Mutter der Katze sein.

»Setz dich mal schön hin«, sagte Vater, der plötzlich mit seinem Fotoapparat parat stand, als wäre alles in bester Ordnung. »Wir machen ein Bild fürs Album.«

Ich setzte mich neben die Katze und machte mich dünn, so dünn, dass ich ein paar Zentimeter Abstand gewann. Sie sollte gar nicht merken, dass ich neben ihr saß. Sie sollte nur die Milch aufschlecken. Ich versuchte nicht, sie zu streicheln, und wurde glücklicherweise auch nicht dazu ermuntert. Niemand streichelte sie.

 

Ein paar Wochen später wurde sie überfahren. Vater nahm die große Schippe – ihr Vorderbein mit den Krallen hing schlapp über den Rand, und das Maul, mit dem sie mir auf dem Kopf gewühlt hatte, stand offen – und warf sie in die Mülltonne. Mein Bruder ließ den Kopf hängen, und ich spielte wieder im Sand. Ich siebte mit dem Sand die Katze fein. Sie zerbröselte zu Puder. Auch die Frage an den Vater siebte ich mit hinein, ob er die Katze wohl auch ein wenig gerngehabt hatte. Die Muttermilch siebte ich hinein, wie sie im Schälchen auf dem Pflaster gestanden hatte und weggeschleckt worden war. Den Bruder siebte ich hinein mit seinem bestürzten Blick auf die Katze, auf den Vater und auf mich. Und mich selbst siebte ich hinein, bis nichts mehr von mir übrig blieb, nur noch das fleißige Mädchen am Sandkasten, das alle lieb hatten.

Der Raub

Auch wenn unser Hof der Mittelpunkt meiner frühen Kindheit war, beschränkte sich mein Leben keineswegs nur auf ihn. Ebenso wenig beschränkte sich mein kindlicher Forscherdrang darauf, herauszufinden, was die Erwachsenen Wichtiges vor mir verheimlichten. Es gab noch viel mehr zu entdecken. Beispielsweise andere Kinder. Und wie weit ich gehen konnte.

Angelika hatte das gleiche rote Gebetbuch wie ich. Angelika war ein braves Kind. Sie drehte sich in der Kirche nie um und fragte nie, wie lang es noch dauert. Ich dagegen musste immer gucken, was die Leute sonntags oder an Werktagen anhatten, und wandte den Kopf in alle Richtungen. Mutter gab mir dann einen unauffälligen Stoß und guckte mich strafend an. Ich konnte es kaum abwarten, bis der Pfarrer mit dem glitzernden Kleid und seine Buben in den weißen, gebügelten Tischdecken wieder in der Steinwand verschwanden, wo sie rausgekommen waren. Ja, unsere Kirche hatte eine Geheimtür in der Steinwand. Am Anfang und am Ende des Gottesdienstes öffnete sie sich und spuckte die Leute aus, und am Ende verschluckte sie sie. Angelika sagte, es sei die Sakristei. Sie kannte den Pfarrer sogar persönlich. Das brachte ihr Pluspunkte bei Kindergärtnerin Schwester Theodoris.

 

In meinem Gebetbuch hatte Jesus auf allen Bildern einen gelben Heiligenschein um seinen Kopf. Er gefiel mir so gut, dass ich zu Hause Gemälde von mir, der Mutter und meinem Vater anfertigte – jeder von uns trug einen Heiligenschein. Damit Mutters Heiligenschein herausstach, malte ich ihn extra groß und dazu noch gelbe Flammen drum herum. Jetzt hatte sie einen noch größeren Heiligenschein als Jesus im Gebetbuch.

»Das macht man nicht«, sagte Mutter. »Nur Jesus ist heilig!«

Sie zerriss das Bild. Als mein Vater nach Hause kam, zeigte sie ihm die Bilderschnipsel, die sie auf dem Küchentisch in einem kleinen Stapel für ihn aufgehoben hatte und auf denen man die Heiligenscheine gar nicht mehr richtig erkennen konnte. Er riss die Ofentür auf und warf sie hinein.

»Das gehört sich nicht«, sagte er.

»Wer hat dir gesagt, dass du das machen sollst«, schimpfte Mutter.

»Niemand«, erwiderte ich.

Ich interessierte mich einfach nur für das Geheimnisvolle. Vielleicht wollte ich auch zeigen, dass ich mitdachte in der Kirche, wo der Pfarrer sagte, dass wir alle Kinder Gottes seien. Meine Interpretation davon kam allerdings nicht gut an.

Die Bilder meiner Heiligen Familie loderten im Ofen auf, als würden sie um Hilfe rufen. Ich hoffte, dass Jesus mitbekommen hatte, dass er jetzt wieder der alleinige Heilige war. Den gelben Malstift versteckte ich auf dem Grund des hölzernen Spielkastens. Ich machte die Klappe zu, setzte mich darauf und machte mich schwer.

Beim nächsten Kirchgang ließ ich mein Gebetbuch geschlossen liegen, auch, als Angelika ihres aufschlug. Beim Rausgehen drückte ich es fest an mich. Ich wollte sein wie Angelika, die sicher nie auf die Idee gekommen wäre, ihre Mutter mit einem Heiligenschein zu krönen. Aber gleichzeitig mochte ich Angelika nicht. Aus dem gleichen Grund.

 

Der Kindergarten lag hinter einem hohen Tor versteckt, hinter dem ich die Kinder schon von Weitem hörte. Ich sah sofort, dass die guten Sandkastensiebe schon weg waren. Sie waren rosa und neu. Es gab auch gelbe, aber die gelben waren alt. Wenn ich jetzt ein rosa Sieb hätte, dachte ich, dann wäre es die Wiedergutmachung für meine verbrannte heilige Familie. Dann entdeckte ich Angelika – mit einem rosa Sieb in der Hand. Ihre Schnittlauchhaare fielen ihr ins Gesicht. Wenn sie spielte, lächelte sie, ganz so, als wäre sie sicher, dass niemand auf der Welt ihr je etwas Böses wolle. Nie weinte sie. Nie war ihre Strumpfhose schmutzig. Angelika hatte schon einen mittelgroßen Haufen Sand gesiebt. Ich setzte mich in ihre Nähe unter die Äste des Kastanienbaumes und grub unauffällig in der Erde. Hier hatte ich die beste Aussicht auf Angelika. Niemand würde ihr so viel gesiebten Sand abkaufen, dachte ich. Sie würde ohnehin darauf sitzen bleiben. Ich ging langsam in ihre Richtung. Sie klopfte unaufhörlich mit der Schippe an das rosa Sieb, die Haare wackelten im Takt. Als ich hinter ihr stand, konnte ich hören, wie sie atmete. Blitzschnell riss ich ihr das Sieb aus der Hand und rannte los. Mein Herz machte einen Satz vorwärts.

»Ich hab dich gesehen«, rief Angelika, sprang auf und fegte hinter mir her.

Ich raste quer über den Spielplatz, meine Beute an die Brust gepresst wie das rote Gebetbuch. Angelika verfolgte mich. Ihre Schritte waren kurz, staksig, aber schnell. Ich lief im Kreis. Niemand stand mir im Weg. Tante Martha unterhielt sich über den Gartenzaun mit jemandem. Schwester Theodoris war nicht zu sehen.

»Stehen bleiben«, schrie Angelika.

Ich hatte sie noch nie schreien hören. Ihre Stimme überschlug sich. Ich musste schneller rennen. Ich hetzte um das Klettergerüst herum und zwängte mich durch die Warteschlange vor der Rutschbahn. Das kostete Zeit. Da rannte sie mich auch schon um und warf sich längs auf mich. Ich fiel in den Sand, atmete ihren süßlichen Bonbonatem ein, sah ihre weißen Zähne, die alle in Reih und Glied in ihrem Mund standen, und dachte nur noch eins: »Ich muss das Sieb loswerden, sonst beißt sie mich.« Ich schleuderte es weit von mir. Aus meiner Rückenlage sah ich es durch die Luft trudeln wie eine fliegende Untertasse. Angelika ließ von mir ab, rappelte sich auf und schmiss sich auf das Sieb. Durch meinen Kopf schoss: »Warum hat Angelika ein Bonbon? Wofür wurde sie damit belohnt? Warum hat sie so weiße Zähne, wo meine doch braun sind?« Ich klopfte mir den Sand von Strumpfhose und Rock. Meine Hand war aufgeschürft, an zwei Stellen guckte ein winziger Tropfen Blut heraus. Ich leckte ihn ab und schmeckte Sand und Eisen.

Tante Martha rief: »Jetzt räumen alle Kinder auf, es ist Pause.«

Von Angelikas Bonbonatem benommen, ging ich zu meiner Umhängetasche, biss von meiner Mohnstange und trank von Mutters Pfefferminztee, spülte damit das Blut und den Sand hinunter. Ich hatte etwas getan, was Angelika nie getan hätte. Sie legte das Sieb in den Drahtkorb, als wäre nichts gewesen. Ich suchte Bettina, die ich noch gar nicht begrüßt hatte. Aber da sah ich, wie ausgerechnet Bettina, meine Freundin, Angelikas Hand ergriff und mit ihr zu Tante Martha ging. Die saß auf einem dunkelgrünen Holzschemel vor der Kindergartentür, aß ein belegtes Brot und fischte gerade eine Essiggurke aus einem großen Einmachglas. Tante Martha hörte gleich auf zu kauen und warf einen Blick zu mir. Ich kaute den Brei, in den sich der Bissen von meiner Mohnstange verwandelt hatte, und traute mich nicht, zu schlucken. Immer mehr Spucke sammelte sich in meinem Mund, und ich wusste nicht mehr, wohin mit dem Mund voller Brei. Ich hätte am liebsten alles ausgespuckt, aber Essen darf man nicht ausspucken oder wegwerfen.

Vater hatte einmal gesagt, er habe im Krieg auf einem Stück Brot so lange gekaut, bis es süß wurde. Das faszinierte mich. »Süß wie ein Bonbon?«, hatte ich gefragt, aber das wusste er nicht. Ich schluckte, noch bevor der Brei zuckrig werden konnte. Ich setzte mich zu meiner Flasche Pfefferminztee, die die letzte Verbindung war zu dem Leben vor meinem Überfall auf Angelika. Ich wollte, dass die Mutter mir noch einmal wie am Morgen die lauwarme Flasche am Band um den Hals legte und mich losschickte, damit ich alles anders machen konnte. Aber dieser Moment war Vergangenheit, und jetzt würde die Strafe kommen, vollkommen unausweichlich.

Mit diesem Gedanken im Kopf wartete ich auf Mutter. Ich bewegte mich nicht vom Fleck, bis ihr Kopf neben anderen Mutterköpfen hinter dem hohen Tor zu sehen war. Ich rannte zu ihr, fiel ihr um den Bauch und drückte das Weiche fest an mich. Das Weiche an der Mutter war wie Bonbons und rosa Siebe in einem. Weil ich meine Tasche und die Teeflasche vergessen hatte, schickte sie mich noch einmal zurück. Der Boden wollte mich kaum tragen, Tasche und Flasche baumelten zwischen meinen Beinen, und ich fiel fast hin, als ich Angelikas Mutter erkannte. Und dann kam Angelika und machte einen Knicks, der ähnlich aussah wie die Kniebeuge beim Turnen. Sie guckte andächtig, wie in der Kirche, wenn der Pfarrer sagte: »Gehet hin in Frieden.«

Mutter redete nichts, als wir nach Hause gingen. Der Weg war länger als sonst, unsere Schritte ungleich. Ich konnte nicht entscheiden, was mir lieber war: Mutter, wenn sie schwieg, oder Mutter, wenn sie schimpfte. Im Hof war dieselbe Luft wie am Morgen. Hier hatte sich nichts verändert. Sogar der Eimer mit den Gemüseabfällen stand noch da.

»Der Vater kommt gleich, hol ihn ab«, sagte Mutter. Ihr Gesicht war undurchsichtig. Wusste sie etwa schon Bescheid?

Ich rannte los, bis zum Roseneck und wieder zurück, und wieder zum Roseneck, bis Vater tatsächlich um die Ecke kam. Ich half ihm, seine Tasche zu tragen.

»Hast du mir was mitgebracht?«, fragte ich.

Er war frisch und neu und wusste noch nichts von meiner Untat. Wir gingen zusammen die wenigen Schritte zum Hoftor.

»Hast du was mitgebracht?«, wollte ich wissen.

»Nein«, sagte er. »Was soll ich denn mitgebracht haben?«

In unserem Haus gab es nur wenige Gegenstände, an denen man sich einfach hätte erfreuen können. Wir hatten nur das Notwendige, kaum Zierde. Deshalb trug ich immer die Hoffnung, irgendetwas müsste doch in Vaters Aktentasche sein, das unser Haus ein wenig schöner machen würde.

Er ging die Stufen zum Haus hoch und stellte die Tasche in die Ecke hinter die Tür.

»Spielst du was mit mir?«, fragte ich.

Ich nahm Vater an die Hand, damit er wusste, dass ich es ernst meinte. Mit ihm sollte alles so sein wie immer. In Vaters Welt gab es keine gestohlenen Siebe.

»Ich hab keine Zeit, Mädle«, sagte er, verschwand im Schlafzimmer, kam in alter Arbeitskleidung wieder, nahm den Eimer und ging in die Scheune.

Ich rannte ihm hinterher. Meine Augen suchten das kleine Fenster mit den Spinnweben am hinteren Ende der Scheune. Dort führte die Tür zum Hühnerhof.

»Du kannst die Hasen füttern«, sagte er knapp.

Das war ein Befehl, den ich liebend gern ausführte. So war ich nicht überflüssig, sondern wichtig. Ich verteilte die Gemüseblätter und stopfte eine Handvoll Heu in jeden der Käfige. Mein Magen fing an zu knurren, ich verspürte Hunger und Durst, und als ich die Käfige verriegelt hatte und Vater sagte: »Jetzt kannst du noch die Eier holen«, da hatte ich das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung war. Manchmal waren die Eier noch warm oder hatten unterschiedliche Farben und Größen. Manchmal musste man warten, bis das Huhn mit Legen fertig war. Das konnte dauern.

Ich legte die Eier in einen Weidenkorb und lief durch das Dunkel zum Scheunentor. Es war weit geöffnet, und der Hof dahinter leuchtete hell in der Sonne.

Mutter kam mir entgegen.

Ich rief: »Wir haben drei Eier!«

Da stach mir etwas ins Auge. Sie hatte ihre Schürze ausgezogen. Ohne Schürze sah Mutter glatt aus. Und dann sah ich, warum: Angelikas Mutter stand hinter ihr. Sie hatte unseren Hof zuvor noch nie betreten. Das Gesicht von Angelikas Mutter war noch viel ernster als das von meiner Mutter. Es war so ernst, als hätte Gott ihr gesagt: »Wehe du lachst auch nur einmal, dann kommst du in die Hölle.«

»Was hast du angestellt?« Mutters Stimme schepperte.

Wenn fremde Leute bei uns waren, klang sie völlig verändert. Sie passte ihre Stimme der Person an, die bei uns war. Wenn sie mit meiner Tante Martha sprach, redete sie anders als mit dem Herrn Pfarrer. Und im Gespräch mit unserem Hausarzt Doktor Mahling erkannte ich Mutter noch weniger. Sie redete dann ein bisschen wie die Leute, mit denen wir sonst nichts zu tun hatten: wie die, die mit Autos fuhren und in Urlaub. Manche Worte betonte sie hart. Wenn sie in einem Wort »a« statt »o« sagte oder »t« statt »d«, dann war es die Sprache dieser anderen. Wenn sie einen Satz fast sang, ebenso. Ich suchte nach dem Band, das uns zusammenhielt, nach dem Schürzenband, das sie mir hätte zuwerfen können. Aber Mutter redete, als ob von vornherein klar war, dass Angelikas Mutter recht hatte, egal, was sie sagte.

»Was hat dir die Angelika getan, dass du so was machst?«

»Nichts«, sagte ich und hielt den Korb mit den Eiern fest.

»Was fällt dir ein, dummes Gesteck«, schimpfte Mutter.

Ich fürchtete, Mutter verloren zu haben. An Angelika. Dann hätte Angelika zwei Mütter. Vater kam dazu wie ein Riese, mit seinen Arbeitsschuhen und der grünen Arbeitsschürze.

Nun öffnete Angelikas Mutter ihren Mund und erzählte die ganze Geschichte von meiner Verfolgung und dem Sieb von vorn. Meine Handflächen brannten wieder.

»Du entschuldigst dich morgen bei der Angelika«, sagte Mutter.

Ich wünschte mir, sie hätte so gesprochen, wie sie sonst auch sprach, einfach wie meine Mutter und nicht wie die glatt gebügelte Frau ohne Mutterschürze. Ich nickte.

»Geh rein. Marsch!«, herrschte mich mein Vater an.

Auf dem Weg in die Küche stolperte ich die Stufen hoch, stieß mit dem Korb an die Haustür, und eins der Eier zerbrach. Es war das, das noch warm gewesen war. Es hatte eine sehr dünne Schale. Es musste von einem Huhn gewesen sein, das zu wenig Legemehl gefressen hatte.

 

Der Hunger war weg. Ich konnte es kaum abwarten, ins Bett zu gehen. Ich wollte einfach nur fort sein. Aber sie ließen mich nicht, ich musste mit ihnen am Abendbrottisch sitzen. Sie redeten miteinander, aber nicht mit mir. Sie unterhielten sich über das Schloss am Gartentor, das Vater erneuern wollte, weil in unserer Gegend neuerdings öfter eingebrochen wurde. Vater schenkte sich ein Bier ein. Er schaffte es jedes Mal, dass sich der Schaum genau bis zum Rand des Glases auftürmte und nicht überlief. Vater stieß Bier auf, und es roch bis zu mir herüber. Er schaute auf die Uhr. Jetzt erst merkte ich, wie laut sie tickte.

Endlich sagte Mutter die erlösenden Worte: »Du gehst jetzt ins Bett.«

Sie war noch immer nicht ganz die alte, aber zumindest hatte sie wieder ihre Schürze an. Im Kinderzimmer beteten wir: »… wasch mir alle Flecken ab, die ich auf dem Herzen hab, weil es dann nur wohl mir ist, wenn du wieder gut mir bist.«

Am nächsten Tag begleitete mich Mutter zum Kindergarten, wo Angelika in Begleitung ihrer Mutter schon auf mich wartete.

»Und jetzt entschuldigst du dich«, sagte Mutter und ließ ausgerechnet in dem Augenblick meine Hand los.

»Entschuldigung«, sagte ich und schaute dabei meine Mutter an, ob es so in Ordnung gewesen war. Für Angelika und für Angelikas Mutter war jetzt alles wieder gut. Und für mich? Für mich war nichts gut. Meine Eltern hatten mich verraten, mich Angelika und ihrer Mutter ausgeliefert. Doch schlimmer noch: Ich hatte Mutter und Vater Schande bereitet, bedeutende Regeln missachtet und ihren Ruf beschmutzt. Es war jetzt klarer als je zuvor, dass ich kein liebes Mädchen war. Die Scham darüber war schlimmer als jedes erzwungene »Entschuldigung« und wirksamer als jede Strafe. Aber ich wusste nun, wie weit ich gehen konnte. Nicht sehr weit. Überhaupt, weit zu gehen stellte eine Gefahr dar in meinem Leben. »Weit gehen« in dem Sinn, was man sich an Abenteuern erlauben konnte, aber auch im wörtlichen Sinn. Denn schon ein Gang in unseren Keller, der für mich sehr weit entfernt schien, konnte bewirken, dass alles plötzlich anders war.

Vaters Lachen

Es war um die Mittagszeit an einem Samstag. Er stand mitten in der Küche, auf einem Bein, wie ein Storch. Das andere hatte er nach hinten ausgestreckt. Er ruderte mit den Armen, als würde er schwimmen.

Er lachte sein meckerndes »Hehehe«.

Seine Augen blitzten, er zog das Genick ein, in dem sein Schalk saß.

Er wollte sie alle ausschmieren, die Brustschwimmer, Rückenschwimmer und Krauler, die Gelegenheitsschwimmer, die Kampfschwimmer.

Vater schwamm, mit einem Bein fest auf dem Grund verankert.

»Aber was machst du, wenn es tief ist?«, fragte ich.

»Ins Tiefe gehe ich nicht.«

»Aber wenn alle im Tiefen sind und du stehst als Einziger im Nichtschwimmer, dann wissen es alle.«

Ich wollte nicht, dass mein Vater sich bei seinem ersten Kuraufenthalt blamierte. Herr Doktor Mahling schickte ihn wegen allem Möglichen hin. Wegen seinem Knie, das im Krieg einen Granatsplitter abbekommen hatte, weil er ständig hustete, ohne es an der Lunge zu haben, und weil er einfach Erholung brauchte.

Alle sollten ihn auf Kur mögen, niemand sollte über ihn lachen.

Er machte wieder »hehehe«, und ich lachte mit. Mutter und ich liebten es, wenn Vater lachte. Es kam nicht oft vor, deshalb lachten wir besonders viel, wenn er Blödsinn machte. Heute war so ein Tag. Nach seiner Schwimmvorführung nahm er eine Unterhose von der Wäscheleine über dem Ofen, legte sie sich auf den Kopf und spazierte durch die Küche, als wäre das das Normalste der Welt. Irgendwann fiel es meiner Mutter auf, und sie schimpfte ihn: »Du Hornochs!«



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