Panikrocker küsst man nicht - Maria Bachmann - E-Book

Panikrocker küsst man nicht E-Book

Maria Bachmann

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Beschreibung

»Maria war damals schon ’ne Schlau-Frau, erst ’n bisschen schüchtern vom Kartoffelacker in die Großstadt, künstlerisch, immer neugierig auf die Wundertüte des Lebens. Heute gibt sie den Leuten viel Energy, Fraktion ›Durchblick und Unbescheidenheit‹. Coole Compagnera mit Seelen-Tieftaucher-Lizenz und Abenteuergeist. Das brauchen wir heute.« Udo Lindenberg

Mitte der Achtzigerjahre in der deutschen Provinz: Die junge Krankenschwester Maria sehnt sich nach einem Leben voller Freiheit und Erfüllung. Als sie auf einem Konzert Udo Lindenberg kennenlernt, landet sie erst im Tourbus der Band, dann in seinen Armen. Schnell erliegt sie dem rebellischen, wilden und kompromisslosen Charme des »Panikrockers«. Doch es knirscht zwischen ihnen, und während sie vom Ankommen träumt, will er radikale Unabhängigkeit. Maria braucht Jahre und viele schöne, aber auch schmerzliche Erfahrungen, bis sie sich von ihm löst und ihren eigenen Weg findet. In der aktualisierten Neuauflage dieses 1992 erstmalig erschienenen Buches erzählt die bekannte Schauspielerin und Autorin Maria Bachmann eindrucksvoll und inspirierend die leidenschaftliche Geschichte einer lebenshungrigen Frau, die ausbricht und erst Udo Lindenberg, dann die große weite Welt und schließlich ihr eigenes Leben erobert.

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Seitenzahl: 283

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Das Buch

Eindrucksvoll und inspirierend: die leidenschaftliche Geschichte einer lebenshungrigen Frau, die ausbricht und erst Udo Lindenberg, dann die große weite Welt und schließlich ihr eigenes Leben erobert.

Die Autorin

Die Schauspielerin und Autorin Maria Bachmann ist seit 1993 einem großen Publikum aus zahlreichen Kino- und TV-Produktionen bekannt. Neben ihrer Schauspielkarriere ist sie Trainerin für persönlichen Ausdruck und Präsenz und unterstützt Menschen dabei, ihre wahre Motivation zu finden. 2013 erschien Bin auf Selbstsuche – komme gleich wieder im Ludwig Verlag. Mit ihrem letzten Buch Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast stand sie auf der Spiegel-Bestsellerliste. Maria Bachmann lebt in München.

www.mariabachmann.de

Kontakt zur Autorin: [email protected]

Maria Bachmann

Panikrocker

küsst man nicht

Wie mich die wilde Liebe

zu Udo Lindenberg

ins Leben katapultierte

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Aktualisierte Neuauflage 2020

Copyright © 1992/1993 und 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung eines Motivs von FinePic®, München

Lektorat: Doreen Fröhlich

DF • Herstellung: KW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26656-1V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Udo Lindenberg und alle Rastlosen

»Blicken Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und die Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann überlassen Sie sich ihnen, und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer, dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich.«

Hermann Hesse, Demian

»Maria war damals schon ’ne Schlau-Frau, erst ’n bisschen schüchtern vom Kartoffelacker in die Großstadt, künstlerisch, immer neugierig auf die Wundertüte des Lebens. Heute gibt sie den Leuten viel Energy, Fraktion ›Durchblick und Unbescheidenheit‹. Coole Compagnera mit Seelen-Tieftaucher-Lizenz und Abenteuergeist. Das brauchen wir heute.«

Udo Lindenberg, Dezember 2019

Vorgedanken

2019. Hamburg. Hotel Atlantic. Ich bin mit meinem neuen Buch auf Lesetour durch Deutschland. Auf einem der dunklen Ledersessel im Foyer sitzend, bestelle ich grünen Tee. Das Telefon klingelt. Er ist dran. Wir treffen uns gleich.

Als ich jung war, war ich einsam und orientierungslos. Meine Füße steckten in einem Betonkübel von Angst vor meinem eigenen Leben. Ich wollte das ändern. Mir war damals nicht bewusst, dass ich Sehnsucht nach mir selbst hatte und jemanden brauchte, der mich sieht und erkennt, der an meinem Käfig rüttelt und mich so wach macht, dass ich ausbrechen und wachsen konnte. Dieser Jemand war Udo Lindenberg. Er schubste mich radikal zu mir selbst hin, zu meinem eigenen Willen und meinen wahren Wünschen. Heute kann ich unsere Liebesaffäre einordnen. Eigentlich war es eine Lebensaffäre.

Anmerkungen

Als ich das Manuskript schrieb, war ich sechsundzwanzig. Nach vielen Jahren habe ich jetzt einen neuen Blick zurück geworfen. Ich stelle fest, dass jede Lebensphase essenzieller Baustein für das Gelingen des eigenen Lebens sein kann. Manchen Sinn erkennt man erst Jahre später. Dann fügt sich das Bild des eigenen Lebens zu einem schlüssigen Ganzen. Erst mit diesem Abstand konnte ich sehen, wie wichtig der Einfluss von Udo Lindenberg tatsächlich auf mich war. Er hat mich all die Jahre bis heute begleitet, und ich ihn – ferner oder näher. Jetzt bin ich die, die ich bin. In dieser überarbeiteten Neuauflage habe ich Aspekte eingeflochten, die zwar immer Thema waren, aber im Text bislang fehlten. Es war mir ein Anliegen, die Zeit der radikalen Selbstsuche zu vervollständigen und sie nachvollziehbar zu machen.

Udo Lindenberg heißt im nachfolgenden Text »Gerhard Lotus«. Diesen »Decknamen« hat er sich 1991 – kurz vor Druck der Erstausausgabe – ausgedacht und für gut befunden. Gerhard ist sein zweiter Vorname, und der »Lotus« spricht für sich: Es ist die Pflanze, die in tiefem Schlamm wurzelt und an der Oberfläche in schönster Blüte erstrahlt.

Viele Namen sind zum Schutz der Beteiligten verändert. Ich beschreibe meine persönliche Wahrnehmung der Dinge.

Ich stehe fast während der ganzen Frühschicht im »Ausguss«. Das ist der Raum, den man nur betritt, wenn es unbedingt sein muss, um die vollgepissten Bettpfannen zu desinfizieren oder die vielen Blumen der Patienten auszusortieren. Was noch nicht verwelkt ist, kommt zurück in die Vase. Auch wenn’s ein bisschen mickrig aussieht: zwei einzelne Blütenstängel. Ich zähle die Stunden bis zur Übergabe. Wenn die gelben Lampen über den Türen aufleuchten, gehe ich in die Krankenzimmer, auch das ist mein Job. Zu manchen Patienten geh ich sehr gern. Die nennen mich »ihren Sonnenschein«. Ich muntere sie auf, hole ihnen Tee oder gehe mit ihnen auf dem sterilen, weißen Gang spazieren. Dafür ist aber wenig Zeit. Bei den Schwerkranken gebe ich mir jedes Mal vor der Tür einen Ruck. Vielleicht bin ich tatsächlich zu zart für diesen Beruf, was viele schon von mir behauptet haben. Ich kann zumindest nicht sachlich und nüchtern mit den Kranken umgehen. Da schwingt immer noch etwas anderes mit, eine Ahnung dessen, was sie vielleicht wirklich wollen: eine Umarmung, Ruhe, ein ehrlich gemeintes Lachen, sterben können, Verständnis. Ich habe Angst, diesem Sog, der aus einem einzigen unausgesprochenen »Hilfe« besteht und mich erfasst, sobald ich nur die Tür aufmache, überwältigt zu werden. Ich wünschte, ich wäre professioneller, robuster, und hätte meine Gefühle mehr im Griff. Der weiße Kittel ist zwar ein Schutz, aber er ist dünn.

Frau Schneider hat Dünndarmkrebs. Sie kann nicht mehr essen. Auch nicht, wenn ich sie füttere. Ich sitze an ihrem Bett und sehe ab und zu auf die Parkanlagen mit den Hagebuttensträuchern am Wegrand. Einige Patienten gehen in Bademantel und Schal spazieren. Ein warmer Aprilmorgen.

»Ich hab gar kein Appetit, Schwester …« – »Aber ein bisschen können Sie bestimmt noch …« Ich weiß, dass sie nicht mehr kann. Ihre knochige Hand krallt sich in meiner fest: »Ich möcht sterbe, des is kei Lebe!« Sie lässt mich nicht los, und ich sterbe von der Hand aufwärts bis zum Ellenbogen ein bisschen mit ihr. Am liebsten rauslaufen, sie ihrem Leiden überlassen, ihrem Kot, in dem sie oft liegt. Was weiß ich schon vom Sterben? Ich weiß ja noch nicht mal was vom Leben. Das alles denke ich in Sekundenschnelle, und dabei möchte ich sie um Entschuldigung bitten. Das passiert mir immer wieder. Ich mag sie doch, Frau Schneider, die liebe Frau Schneider, die mir immer ihren Nachtisch aufhob, als sie noch selbstständig essen konnte, ihn im Nachtschränkchen versteckte und ihn rausholte, wenn wir allein im Zimmer waren. Die Zeit ist lange vorbei. Jetzt ist Sterbenszeit. »Wissen Sie was, Schwester«, reißt sie mich aus meinen Gedanken, »… ich hätt gern was zu trinken.« Ich bringe ihr Kamillentee. Sie ist dankbar, und ich schäme mich. Weil es so wenig ist, was ich ihr gebe, und sie sich so sehr darüber freut. Ich kann doch in diesem Job nicht immer mit einem schlechten Gewissen rumlaufen? Tue ich nicht das, was alle anderen auch tun? Ich gehe zurück zum »Ausguss« und sortiere die Blumen weiter, umnebelt von Sagrotanspray und dem beißenden Uringeruch aus Zimmer 52.

Ich sollte diese Arbeit lieben! Aber jeden Tag gehe ich unzufrieden von Station. Ich schäme mich vor mir selbst. Ich vermisse die Leidenschaft in fast allem, was ich tue. Dafür sind die Momente, in denen sie aufflammt, geradezu heilig. Wenn ich tanze. Wenn ich »Forever young« höre. Wenn ich Tagebuch schreibe. Wieder leuchtet das Licht über dem Zimmer von Frau Schneider. »Gehn Sie, Schwester Maria? Nehmen Sie Waschzeug mit.« Die Kollegin klingt tonlos. Als habe sie schon viele Leichen gesehen. »Ja«, sage ich und öffne die Tür. Es stinkt erbärmlich nach Kot. Im selben Moment, da der Gestank in meine Nase dringt, sehe ich die Glasscherben auf dem Boden. »Ich hab’s nur nehmen wolle, i kann net …« Ihre Augen werden nass und suchen einen Fixpunkt an der Zimmerdecke. »Ist ja gut, Frau Schneider, ich mach das schon.« Der Geruch bringt mich fast um. Ich drehe Frau Schneider vorsichtig von einer Seite auf die andere, wasche sie, wechsele das Bettlaken und lagere sie neu, damit sie nicht wundliegt. Wie lange muss sie noch so daliegen? Ohne Besuch von Verwandten? Ich stehe da und denke: Stirb doch endlich! Hoffentlich hält sie nicht wieder meine Hand fest – und greife doch selbst nach ihrer, um sie zu drücken, nicht zu stark, ganz leicht. Um sie zu streicheln. »Sie sind so lieb, Schwester«, flüstert sie, und Tränen rinnen über ihr faltiges Gesicht. »Sie haben alles noch vor sich. Sie sind jung!« Ja.

Jung und mutig, oder nicht? Ich habe mein bayrisches Heimatdorf verlassen, um die Welt kennenzulernen, und bin in der Nähe von Freiburg im Schwarzwald als Krankenschwester gelandet. Vorher war ich Arzthelferin beim Urologen und beim Internisten. Den Arzthelferinnenjob wollte ich unbedingt machen, weil er mich herausforderte. Er war eine Mutprobe. Ich weiß es noch genau, wie es dazu kam: Ich saß fünfzehnjährig in der Küche meiner Eltern an der Schreibmaschine und tippte meine Bewerbung an die Gemeindeverwaltung in unserem Ort. Ich hoffte schon während des Tippens, dass sie mich nicht nehmen würden. Aber ich hatte immer gute Noten. Wahrscheinlich würden sie ganz wild auf mich sein. Bei uns gab es keine große Auswahl an Berufen. Das Außergewöhnlichste war »Drogistin«. Eine aus meiner Klasse hatte den Platz schon ergattert. Mit den Drogen hatte sie allerdings nichts zu tun. Aber mit »4711, echt Kölnisch Wasser.« In der Gemeinde müsste ich »aufs Büro« gehen. Das würde bedeuten: ein Weg von drei Minuten zur Arbeit, denn das Rathaus war gleich um die Ecke; pünktlich zum Mittagessen zu Hause sein; dann wieder Büroarbeit; nachmittags um drei Kaffeetrinken mit den langweiligen Kolleginnen; und um vier Uhr zurück nach Hause zu Mutter und Vater. Ich bekam Atemnot bei dem Gedanken, bis zum Rentenalter in dieser Öde so langsam zu verrecken. Genau so sollte mein Leben nicht aussehen, auch wenn meine Eltern mir die – nach ihrer Meinung – wohl schönste Seite davon schilderten: »Im Büro hast du früh Feierabend.« Was hatte ich davon, wenn nach dem Feierabend nichts los war? Wenn der Punk immer genau da abging, wo ich nicht war? Vorzugsweise in großen Städten. Die kannte ich nur vom Schulatlas. Aber mit fünfzehn unseren Ort zu verlassen war unmöglich. Wo hätte ich hingehen sollen? Deshalb begann ich das Wagnis in einer urologischen Arztpraxis in der Nachbarstadt. Ich wollte was tun, was andere vielleicht nicht so leicht hinkriegten. Ich musste für die große Welt üben. Und ich wollte, dass man auch mal mich fragt, und wenn es nur nach dem Blutergebnis der letzten Woche ist.

Die Ausbildung zur Arzthelferin dauerte nur zwei Jahre. Danach konnte ich gleich Geld verdienen. Zu Hause gab es nicht so viel davon. Früh eigenes Geld haben war das Allerwichtigste für meine Eltern. Studieren war ohnehin nur was für die Kinder reicher Leute, zu denen wir niemals gehören würden. Für unsereins war »Zeit verplempern mit unnötigem Zeug« keine Option. Das war nur was für Faule und Nichtsnutze. Ich staunte ungläubig, wenn ich in unserem Fernseher Leute sah, die keine festen Arbeitszeiten hatten, sondern sie sich selbst einteilten. Sie arbeiteten nachts oder sogar am Sonntag, wo ich zwei Mal in die Kirche ging. Einmal in die Heilige Messe und einmal in die Nachtmittagsandacht. Das waren Künstler. Maler oder Musiker. Sie unterschieden auch nicht zwischen Alltags- und Sonntagskleidung.

Schnell merkte ich, dass mir die Arbeit im weißen Kittel nicht das große Lebensgefühl brachte, das ich gern gehabt hätte. Und es kam mir so vor, als sei ich in der Arztpraxis auch die Einzige, die es suchte. Freitags nachmittags putzte ich stundenlang das Labor und sortierte Röntgenbilder ins Archiv. Abends holte mich die Enge meines Dorfes wieder ein; sie legte sich wie ein Nebel über mich und machte mich ganz schwach und willenlos, so dass ich nur noch träumen konnte … von der Flucht, von der Flucht … Manchmal war ich mir sicher, dass in mir eine ganz andere steckte, die nur nicht rauskonnte. Wie gern hätte ich sie losgelassen, die freie Maria, die schöne, die tut, was sie will, weil sie weiß, was sie will, die aufrecht im Leben steht, die geliebt wird, und die vor nichts und niemandem Angst hat.

Der Ausweg – so schien es – eröffnete sich mit einem Besuch beim Arbeitsamt. Man bot mir eine Umschulung zur Krankenschwester in Freiburg an. Wieder ein weißer Kittel. Wieder ein Kompromiss. Aber ich hörte nur noch »Freiburg« und dachte daran, dass Freiburg eine viel größere Stadt als unser Kaff und ganze dreihundert Kilometer weg war; das hieß, ich musste dort hinziehen, eigene Bude; das hieß, ich würde den Absprung wagen; das hieß, die Ausbildung so nebenbei und hauptberuflich das große Lebensziel finden. Also packte ich meinen Koffer. »Mädle, mach des net, du kannst des net, des is doch so weit weg …« Ich hörte meine Mutter gar nicht mehr. Und meinen Vater auch nicht. Ich musste die Chance ergreifen.

In einer Stunde ist die Frühschicht zu Ende.

»Hast du Lust, morgen Abend auf ein Konzert zu gehen?« Barbara hat Nachtdienst und kann nicht hinfahren. »Ich schenk dir die Karte!« Sie hat sie gleich dabei und fängt an, in ihrer Handtasche danach zu kramen.

»Ich war noch nie auf einem Konzert.« – »Du, Zimmer 51 blinkt, gehst du?« – »Mhm.« Doch, ich war schon auf Konzerten. Ich denke an die Open-Air-Veranstaltungen in meinem Heimatort. Laute Musik von lauten Bands und immer den Blick in die Menge schweifen lassen. Irgendein Schwarm war immer dabei, in den man sich für einen Tag möglichst hoffnungslos verlieben konnte. Je mehr ich verliebt war, umso lebendiger fühlte ich mich. Musik konnte das Gleiche bewirken, aber sie musste entweder brutal dröhnen oder mich zum Heulen bringen. Die Frau in Zimmer 51 war nur versehentlich an die Klingel gekommen. »Ich brauch nix, Schwester.« Manchmal gab es einen schüchternen Zug von einem Joint im VW-Bus. Manchmal auch größere Ladungen. Die wurden von der Zewa-Rolle inhaliert. Oder von einer Bong. Heimlich auf dem Parkplatz. Die Musik von der Bühne hörte man dann nur ganz leise im Hintergrund: »Morgenrot, bleib noch eine Weile da«, sangen sie. Joints waren nichts für mich. Mir wurde meistens schlecht, kriegte eine Fressattacke, oder ich war gelähmt und gepeinigt von der Angst, nie mehr laufen zu können. Aber ich wollte einfach dabei sein, da, wenn schon mal was abging. »Was ist es denn für ein Konzert?« Ich ordne die Tabletten-Tagesrationen der Patienten in kleine, hellblaue Plastiktöpfchen. »Gerhard Lotus. Kennst du den?« Sie hat endlich die Karte gefunden und hält sie mir hin, funkelnagelneu und unzerknittert.

»Ja, ein bisschen.« Gerhard Lotus. Ich kenne nur eine einzige LP von ihm: »Udopia«. Das war meine erste und lang einzige Platte. Ich habe sie im »Disco-For-You-Shop« gekauft. Das war unser Plattenladen gleich gegenüber der Urologenpraxis. Ich setzte mich regelmäßig auf den Barhocker, ließ mir LPs auflegen und beamte mich per Kopfhörer weg. »Udopia« kaufte ich auf Risiko, ohne Reinhören. Nur, weil ich das Cover so brutal anziehend fand. Der Sänger mit diesem verklärten Scheißegal-Blick in einem Kettenhemd auf nackter Haut. Das Ganze mit Blaustich. Dem hatte bestimmt keiner gesagt: »Das kannst du doch nicht anziehen, Bub!« Und wenn’s ihm gesagt worden war, dann hatte er müde drüber gelächelt und es doch gemacht. In seinen Augen lag etwas Provozierendes. Fast hörte ich ihn sprechen, so was wie »Tu’s doch«. Je länger ich mir das Cover ansah, desto deutlicher erkannte ich, dass dieser Sänger über viele Dinge Bescheid wissen musste, von denen ich keine Ahnung hatte. Mir war klar, es würde meine Mutter schockieren, wenn sie die Platte sehen würde. Allein, dass es diesen Typ gab, war eine Gefahr für ihr geradliniges Erziehungsmodell. So ein langhaariger »Gammler« könnte einen für immer verderben. Ich musste die Sauberkeit meines Familienalltags etwas ankratzen, etwas mehr Lebendigkeit ins starre System bringen. Ich verließ den Plattenladen um 19,80 DM ärmer und mit dem satten Gefühl, das Sheriffs im Western haben mussten, wenn sie nach einer Schießerei gemächlich den Colt zurück in den Gürtel steckten.

Zu Hause spielte ich die Scheibe auf dem Plattenspieler mit dem Deckel, der gleichzeitig Lautsprecherbox war. Die Songs verursachten Herzrasen. Das war der Inbegriff der Anarchie: »Bumsen oder Onanie ist verboten, und zwar wie! Halleluja!« Mensch, war der mutig. Er stachelte meine Lust zum Ausbrechen geradezu an. Aber wohin? Die anderen Mädels aus meiner Klasse gehörten wenigstens den »Sharks« an, der Motorradgang bei uns. Treffpunkt war der Platz an der Raiffeisenbank, wo eingeteilt wurde, wer mit wem den »Bock reitet«. Ich ging manchmal an ihnen vorbei, wenn ich vom Einkaufen kam. Dann brachte ich ein scheues »Hallo« heraus. Die »Sharks« ließen gerne ihre Maschinen aufheulen oder griffen sich ein Mädchen und knutschten es ab, wobei das Mädchen ein möglichst leidenschaftliches Gesicht machte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Spaß machen sollte. Dennoch wäre ich gern dabei gewesen. Ersatzweise sah ich mir sonntags abends im Fernsehen »Die Straße« an, eine Serie über eine Rockergang in einem Jugendzentrum. Jedes Mal, wenn der Titelsong »Hotel California« losging, träumte ich, ich könnte auf der Maschine des Schauspielers sitzen und dürfte seine »Braut« sein. Er würde ein paar Fensterscheiben einschlagen oder ein Auto knacken, und ich dürfte mir viele Sorgen um ihn machen und bei der Polizei aussagen. Dann würde er reumütig nach Hause kommen und sagen, dass er mich sehr liebt; wir würden uns lange küssen, und das würde sich ganz toll anfühlen. Dazu schaute ich mir das Poster von ihm aus der »Bravo« an, die ich mir heimlich gekauft und unter dem Bett versteckt hatte. Er hatte es geschafft. Und alles, was er tat, wurde anerkannt.

Für mich hingegen war es schon eine Leistung, sonntags nicht, wie meine Eltern vermuteten, in den Gottesdienst, sondern in den »Löwen« zum Frühschoppen zu gehen. Und das auf die Gefahr hin, dass ich von Theo, der als Küster die Kommunion austeilte und früher die Kirche verließ, gesehen wurde. Theo würde es seiner Frau erzählen und die meiner Mutter. Und dann wäre die nächste Trübseligkeit fällig: drei Tage lang Luft zum Schneiden zu Hause, wie es immer war, wenn etwas passierte, was nicht ins Raster passte. Es war unerwünscht und brachte unsere Familie völlig durcheinander. Deshalb wurde darüber geschwiegen. Wir glaubten, dass alles Unliebsame durch Schweigen sang- und klanglos wieder verschwinden würde. Manchmal dachte ich, ich könnte doch gleich mit verschwinden mit dem Unerwünschten. Aber ich liebte meine Eltern zu sehr, und sie liebten mich, und ich wollte ihnen nicht mehr Kummer bereiten, als unbedingt nötig war. Wenn mein Frühschoppengang also schon so gefährlich war, wie sollte dann der absolute Ausbruch aussehen?

Und so hielten mich Gerhard Lotus’ Songs über Wasser – als Brücke zur Freiheit.

März 1984, Schwarzwaldhalle Freiburg. Daniela und ich drängeln uns weiter vor. Ich muss aufpassen, nicht von einem Plastikkanister mit Rotwein getroffen zu werden. Die Plastikbecher zersplittern bei jedem Schritt unter meinen Füßen, und von rechts weht mich der heuartige Geruch von einem Joint an. Ich kann nicht sehen, wer ihn raucht. Ich stehe nur da, und meine Hand tastet ab und zu wie programmiert an die Geldbörse in meiner Tasche. »Pass auf deinen Geldbeutel auf«, höre ich die Stimme meines Vaters, als stünde er direkt neben mir. Aber das kann nicht sein. Er würde sich das hier nie antun. Ich starre auf das Gewimmel auf der Bühne. Rotes Licht, Federboas, schwarzes Leder, das ist tatsächlich ein Transvestit, laut, Gebrüll, Schlagzeug, die Boxen dröhnen. Nonnen tanzen, ein kleiner Teufel wedelt im Rhythmus mit seinem Schwanz und streckt die Zunge raus, kriegt eine Mistgabel in den Hintern, ein Bischof segnet uns alle. Der reinste Skandal.

Und dieser Mann, der das Mikro schwingt. Er ist der Aufrührer vor dem Herrn und macht einfach, was er will. Er singt vom Straßenfieber, von Sehnsucht und Einsamkeit, prickelfitten Quickies, redet von kaputten Lügendetektoren im Bundestag, von Hallöchen und Aufruhr. Ich finde ihn so hässlich, dass ich ihn schon wieder wunderschön finde. Er redet von uns als seinen Freunden. Die Halle stinkt nach Alkohol und Dope. Das ist kein Trip. Das ist der blanke Wahnsinn.

Daniela und ich stehen auch dann noch zwischen den zertretenen Pappbechern, als die Halle leer ist – bis auf die Roadies und Techniker, die die Bühne abbauen. Ich sage zu Daniela, dass ich diesen chaotischen Rockstar unbedingt aus der Nähe sehen will, und bin so angekickt, so aufgeregt, so fasziniert, dass nichts, aber auch gar nichts in der Welt mich davon abbringen könnte. Ich muss gucken, ob er echt ist. Wir haben von einem Ordner erfahren, wo der Bandbus steht, und da sind wir nun, Daniela und ich. Ich stehe unter einem Baum, es regnet, ich bin verschreckt von so viel Tumult. Vor mir viele Mädchen, die in Sprechchören nach ihm rufen: »Gerhard, Gerhard, Gerhard …!« Ich verstehe das alles gar nicht. Was ist das für eine Welt? Wieso lerne ich das alles erst jetzt kennen? Der Sprechchor verzerrt, wird konfus und endet in einem einzigen Gegröle, dazwischen spitze Schreie einzelner Mädchen. Er kommt. Er sieht aus wie ein ganz normaler Mensch. Ein bisschen kleiner vielleicht, als ich dachte. Die Band steigt in den Bus. Auch lauter Ausgeflippte, Punkfrisuren und -klamotten. Darunter eine Frau mit wasserstoffblondem Wildhaar, Netzstrumpfhose und schwarzem Lippenstift. Sie sieht aus wie ein Raubtier und flößt mir schon von Weitem Ehrfurcht ein. Jetzt Gerhard Lotus. Er setzt sich vorn neben den Fahrer und guckt apathisch in die Menge. Ganz ruhig. Ich studiere ihn, denke, dass es ein tolles Gefühl sein muss, wenn so viele deinen Namen rufen: »Maria, Maria, Maria …« Wie schafft man das? Ich bilde mir das nicht ein, was ich jetzt wahrnehme: Gerhard Lotus schaut mich an. Mich. Hinter mir … nein, hinter mir steht niemand mehr. Er winkt mir, gibt mir ein Zeichen, dass ich zu ihm kommen soll. Ich? Ich reagiere gar nicht. Ich habe nasse Füße. Mir ist kalt. Ich trage nur den dünnen Trenchcoat aus dem Secondhandladen. Und habe vergessen, mir die Lippen nachzuziehen. Sein Bodyguard kommt auf mich zu. »Du sollst mal zum Meister.« Der Typ heißt Shadow. Shadow hebt mich hoch und trägt mich über die Menge hinweg. Ich sehe auf Kopfscheitel, Mützen und Schirme. Ein Raunen geht durch die Menschenmasse, als sie begreifen, dass wir uns dem Bus nähern. Schreien, als Shadow mich auf den Stufen absetzt. Und dann bin ich drin. Direkt vor ihm. So sieht also ein Star aus der Nähe aus. Bislang kannte ich nur seine Stimme und danach immer die meines Vaters: »Mach das Gejammer aus, der kann doch nicht singen.« Nun hing an dieser Stimme ein ganzer Kerl. Ich fühle Anziehung und Abgestoßensein zugleich. Er soll bloß nicht denken, dass ich ein Fan bin. Hier geht es um mehr. Er fragt mich, wie mir die Show gefallen habe. Ich kämpfe um Worte, auch um hochdeutsche Worte, und behaupte, dass er die ganzen Lieder doch nur wegen der Kohle schreibe und nicht, weil es seine Meinung sei. Ich will niemand sein, der alles ungefragt hinnimmt. Und ich will nicht sein wie die anderen, die ihn anhimmeln. Er legt sofort den Arm um mich: »Was machst du denn jetzt noch? Wir sollten das mal ausdiskutieren.« Ich schlucke, fühle mich seltsam beschützt. Das Abenteuer geht los. Ich sehe ständig auf diesen schon hundertmal gewaschenen Pelzchenbesatz am Halsausschnitt seines Shirts. Leopardenmuster. Sieht irgendwie albern aus. Er riecht nach einer Mischung aus Parfüm, Schweiß und Zigaretten. Er ist mir zu nahe. Ich stehe vor ihm in dem fahrenden Bus wie bestellt und nicht abgeholt, bis er mich auf seinen Schoß zieht. Ich habe noch nie auf dem Schoß eines Mannes gesessen, der eine Lederhose trug. Frage mich, ob ich überhaupt schon mal auf dem Schoß eines Mannes gesessen habe, so fremd ist das Gefühl. Ich kann seinen Blick nicht aushalten. Alles in seinem Gesicht ist groß und lüstern. Seine Nasenlöcher blähen sich auf wie die Nüstern eines rebellischen Pferdes. Aber in seinen Augen ist etwas, das mich beruhigt; es ist, als wollten sie sagen: »Hey, Mädchen, ich bin auch schon durch das Tal des Todes gegangen!«

»Was machst du so?« – »Ich bin Krankenschwesternschülerin.« – »Echt, Krankenschwester?« Er staunt, sieht mir ins Gesicht, denkt nach, fragt mich, was ich so lese. Ich sage: »Hermann Hesse«. Das ist überhaupt das Einzige, was ich lese. Er sagt, er auch, redet vom Steppenwolf, von Narziss und von der Einsamkeit. Auch Siddharta kennt er. Meine Güte, ich bilde mir ein, er könnte etwas von mir begreifen. Auf meiner jahrelangen Suche nach jemandem, der mich versteht, meine Fragen nicht als Irrsinn abtut, gerate ich ausgerechnet an Gerhard Lotus. Warum? Ich sehe jung aus für mein Alter, bin aber schon satte zwanzig.

Wir gehen in eine Kneipe, wo Gerhard Spinat, Spiegelei und Kartoffeln isst. Müsste ein Popstar nicht etwas anderes essen? Kaviar mit Löffeln? Mein Hirn dreht durch. Ich trinke Campari-Orange, er Tee. Als er an meinem Campari nippt und das Gesicht verzieht, möchte ich den Drink am liebsten sofort zurückgehen lassen. Ich will nichts trinken, was er nicht trinken würde. Ich will überhaupt am liebsten sofort so sein wie er. Undurchsichtig. Geheimnisvoll. Strotzen vor Sexappeal und Selbstbewusstsein. Doch wo soll ich das so schnell hernehmen? Ich kaue ständig an den Fingernägeln. Das hätte ich nicht tun sollen, denn er nimmt meine Hand in seine und studiert jeden einzelnen Finger. Er sieht die Stellen, die aufgerissen sind, der Nagel abgebrochen und das Nagelbett rot entzündet. Das ist das Peinlichste, was mir passieren konnte! Jahrelang verstecke ich meine Hände, und Gerhard Lotus guckt sie sich so genau an, dass ich im Erdboden versinken möchte. »Ich hab das früher auch immer gemacht«, beruhigt er mich. »Echt?« – »Ja,« sagt er. Er hat schöne Hände. »Ich bin so kaputt, was soll ich nur machen? Du hast doch gesagt, du bist Krankenschwester. Ich brauch ’ne Intensivbehandlung.«

Blut schießt mir ins Gesicht. Ich schlage ihm vor, sich einfach hinzulegen und klassische Musik zu hören. Ich komme mir so dumm vor. Was Originelleres ist mir nicht eingefallen. Er steht auf und legt sich mitten in der Kneipe, wo alle sowieso nur wegen ihm sind, auf den Boden. Ich möchte schon wieder sterben. Es soll nicht das letzte Mal sein.

»Was machst du da?«

»Du hast doch gesagt, ich soll mich hinlegen!« Seine Augen sind glasig, als hätte er Fieber. Die Leute glotzen uns an, beobachten jede Regung von ihm. Er ist das gewohnt. Ich nicht. Unterm Tisch singt er eine willkürliche Tonabfolge »Düdüdüdüdüüü-d-dm-dm-dm …«. Nach einer Weile rappelt er sich wieder auf und setzt sich neben mich: »Weißt du überhaupt, dass du den absoluten Wahnsinn in den Augen hast?« Er sieht mich durchdringend an. Ist schwer auszuhalten, aber ich schaffe es. Denke, er kennt mich besser als ich mich selbst. Das gibt es nicht. Seine Stimme ist brüchig, fast heiser. Mir ist alles egal. Vielleicht hat meine Mutter recht, die mir immer vorgehalten hat, ich wolle hoch hinaus. Mütter wissen viel.

Das Panorama-Hotel ist das beste Hotel Freiburgs. Wenn man auf der Terrasse steht, sieht man über die ganze Stadt und noch weit darüber hinaus. Nachts um drei wird wegen uns noch mal das ganze Heiz- und Lichtsystem im Schwimmbad angeworfen. Wir gehen durch die kahlen Duschräume direkt zum Pool. Da dreht er mich um, streicht mir mit seiner schönen Hand über die Wange und küsst mich. Ohne zu fragen! Es passiert wie von selbst. Und er sagt nicht einmal was dazu. Ich richte mich dabei auf. Nun sind wir fast gleich groß. Er küsst unglaublich gut. Hätte ich nicht gedacht. Dann liegt er nackt im Liegestuhl, und ich soll mich zu ihm zwängen. Es ist ziemlich eng. Aber er ist der Ansicht, wir passen da gut zusammen rein. Er erzählt wie auf Knopfdruck seine Geschichte, wie alles anfing, damals, als Trommler in Gronau, als Kellner. Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus, und ich weigere mich, ihm alles zu glauben. Aus lauter Angst, ich könnte ihm, wenn ich ihm einmal glauben würde, immer glauben. Ich muss ihn anzweifeln, ihm widersprechen, aus reinem Selbstschutz. Und sofort die Frage in meinem Kopf: Warum erzählt er mir das? Erzählt er das jeder Frau?

Er nimmt mich an die Hand, und wir gehen in Richtung Sauna. Er sagt nichts. Ich auch nicht. Ich weiß, was gleich passieren wird. Und die toupierte Blondine weiß es auch. Sie liegt, in blau-lila Licht getaucht, kaugummikauend auf der Sonnenbank und hat ihren Walkman so laut gestellt, dass ich im Takt der Bassdrum tanzen könnte. Dabei ist mir ganz und gar nicht zum Tanzen zumute. Ich bin lampenfiebrig, mein Mund ist trocken. Was ich jetzt tue, soll nichts zum Leidtun sein. Es soll aufregender sein als alles, was ich bisher erlebt habe. Es kann nichts Schlimmes passieren; Gerhard hält ja die ganze Zeit meine Hand. Wir betreten die hölzerne Räumlichkeit, und er schließt mit einer kraftvollen Bewegung die Tür. Ein dumpfes Geräusch. Plötzlich frage ich mich: Was mach ich hier? Ich bin mit einem fremden Mann zusammen, den ich vor einer Stunde kennengelernt habe … Aber, das ist doch Gerhard Lotus, der mit dem Straßenfieber. Das glaubt mir kein Mensch. Ich kann nicht darüber nachdenken, ob das jetzt ein großer Fehler ist.

Ich könnte noch gehen, aber ich will nicht. Wozu? Wohin?

Schnelles Gehen ist nichts für Gerhard. Wir schlendern den Hotelgang entlang. Unser Weg scheint nie enden zu wollen. Doch dann bleibt er vor einer Tür stehen und steckt den Schlüssel ins Schloss. Ich betrete das Zimmer, das fast nur aus Bett besteht – aus einem französischen – mit weißer, gestärkter Bettwäsche. Er lässt sich mit einem tarzanähnlichen Schrei darauf fallen. Das ganze Kunstwerk aus korrekt übereinandergelegten Decken ist mit einem Mal zerstört. Ich gehe ans Fenster, um frische Luft reinzulassen, aber es lässt sich nicht öffnen. »Hier ist Aircondition«, sagt Gerhard und zeigt auf den Drehknopf neben der Eingangstür. »Ah!« Ich schalte sie nicht ein. Er fragt mich, ob ich mich nicht zu ihm legen wolle. Ja, sehr gern. Im Laufe der Nacht wird mir klar, dass Gerhard eine goldfarbene Zahnbürste besitzt, nicht zwischen Sonntags- und Werktagsklamotten unterscheidet und Musik keine Arbeit für ihn ist. Dass Herumstreunen wichtig ist für die Inspiration. Dass Ideen nie ausgehen und seine Lebensregeln das Gegenteil von meinen bisherigen sind.

Ich bin früh wach, und das Zimmer ist dunkel. Kein Licht fällt herein, weil die wasserstoffblonde Frau, Gabi Blitz heißt sie, die Vorhänge mit Sicherheitsnadeln zusammengeheftet hat. Neben mir liegt Gerhard Lotus. Das ist die Odyssee, und keiner weiß, wohin die Reise geht.

Ich fahre mit nach Ravensburg. Ich sehe die Straßen und Häuser an mir vorbeiflitzen und mache blau von meinem Krankenschwesterkittel, bleibe unentschuldigt vom Krankenpflegeunterricht weg. Gerhard ist sensibel. Die Musiker dürfen nicht mit mir reden, so sehr beansprucht er mich für sich. Er will also was von mir. Das heißt: Er mag mich wirklich. Einmal querschlagen, endlich! Einmal so sein, wie ich noch nie war. Ich will mit keinem Menschen der Welt tauschen. Ich bin so voll von Star-Sein und Sex und Rock’n’Roll, dass ich ein Stück Papier verlange und während der Fahrt meine Eindrücke darauf kritzele. Irgendwas will aus mir raus. Wahrscheinlich bin ich’s selber.

Wenn Gerhard mich einmal nicht beachtet, denke ich sofort: Jetzt hat er die Nase voll von mir. Irgendwann muss er ja rausfinden, dass ich nichts Besonderes bin. Ich rede mir ein: Ich bin nicht verliebt. Er auch nicht. Es ist nur ein gigantisches Abenteuer, und ich fühle jetzt schon den Anfang vom Ende.

Die Konzerthalle in Ravensburg ist brechend voll. Während der Pause beordert mich Shadow in die Garderobe. Vor der Tür stehen mindestens sieben Mädchen. Sie lungern einfach so rum und starren mich an. Die meisten tragen schwarze Minis und Pumps. So was besitze ich gar nicht. Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, mir Pumps zu kaufen, geschweige denn, damit auf ein Rock-Konzert zu gehen. Es ist für mich schon sensationell, endlich mal Markenturnschuhe zu tragen. Ich hatte, was Klamotten betrifft, nie das Original. Ich hatte es so satt, immer die billigen Wrangler-Kopien tragen zu müssen, mit den weiten Beinen, als schon längst die hautengen Levi’s angesagt waren. Unser Kleidungsvertreter, Herr Petermann, besuchte uns alle paar Monate stets ohne Voranmeldung, klappte in der Küche seinen Warenkoffer auf, pries Schiesser-Unterwäsche und Kittelschürzen an, setzte sich an den Küchentisch und qualmte so lange Zigarre, bis wir völlig eingenebelt waren und Mutter sich genötigt fühlte, etwas zu kaufen. Neuerdings hatte er auch die Wrangler-Jeans im Angebot. Er sprach »Wrangler« immer deutsch aus, wie man’s schreibt: »Das ist eine echte amerikanische Wrrrangler Jeanshose«. Allein seine falsche Aussprache zeigte mir, dass es sich nicht um das Original, sondern um eine nachgemachte Jeans handelte. Und die war bestimmt nicht aus Amerika. Aber die bekam ich dann. Weil sie billiger war als die aus der Boutique. Immer waren mir meine Freundinnen einen Schritt voraus. Ich hatte nur eine Kopie. Und so fühlte ich mich auch. Aber jetzt habe ich den Echten: Gerhard Lotus.

Ich lasse die Pumps-Mädchen stehen, als Shadow mir die Garderobentür öffnet. Gerhard hängt wie ein abgekämpfter Boxer im Lehnstuhl, und Fritz Rau, der Konzertveranstalter, redet auf ihn ein. Gerhard macht nur »mh, mh …« und greift nach meiner Hand, sagt den anderen, wie ich heiße. Ich finde es ungewohnt, dass jemand mich jemandem vorstellt und ich anschließend respektvoll angeschaut werde. Die Tour-Ärztin spritzt ihm ein Grippemittel. Er ist ziemlich erkältet. Gabi Blitz lächelt mich an. Ich entspanne mich. Ich darf zu ihm, die anderen nicht.

Nach der Pause stehe ich zwischen Bühne und Publikumsabsperrung. »Denn sie brauchen keinen Führer … nein, sie können’s jetzt auch alleine …«. Die Roadies nennen diesen Ort den »Graben«. »… nein, sie brauchen ihn nicht mehr, diese neuen Nazischweine …«. In den Graben