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Der erste Fall für Detective Hess und Merci Rayborn Seine Opfer sind schöne, kultivierte Frauen. Er lauert ihnen in der Mall auf – und schlachtet sie dann ab wie Tiere. Was am Tatort hinterbleibt, ist seine grausige Signatur: eine Handtasche voller Eingeweide. Wer steckt hinter diesen bestialischen Morden? Was ist sein Motiv? Und wie können die Frauen so spurlos verschwinden? Der in die Jahre gekommene Detective Tim Hess und die hoch ambitionierte Ermittlerin Merci Rayborn werden auf den Fall angesetzt. Unterschiedlich wie Tag und Nacht sind sie sich zunächst nur in einer Sache einig: Sie müssen den grausamen Mörder fassen. Doch mit jedem weiteren Opfer wächst ihre Verzweiflung – und ihre Besessenheit, den Fall zu lösen. Koste es, was es wolle. »Ein zugleich erschreckender, spannender und poetischer Roman, der die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele auslotet.« Washington Post Der packende Auftaktband um das ikonische Ermittlerduo – für Fans von Michael Connelly und Lee Child! Alle Bände der Reihe: Band 1: Dunkelstunde Band 2: Rote Schatten Band 3: Nachtspur Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.
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Seitenzahl: 613
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Seine Opfer sind schöne, kultivierte Frauen. Er lauert ihnen in der Mall auf – und schlachtet sie dann ab wie Tiere. Was am Tatort hinterbleibt, ist seine grausige Signatur: eine Handtasche voller Eingeweide. Wer steckt hinter diesen bestialischen Morden? Was ist sein Motiv? Und wie können die Frauen so spurlos verschwinden? Der in die Jahre gekommene Detective Tim Hess und die hoch ambitionierte Ermittlerin Merci Rayborn werden auf den Fall angesetzt. Unterschiedlich wie Tag und Nacht sind sie sich zunächst nur in einer Sache einig: Sie müssen den grausamen Mörder fassen. Doch mit jedem weiteren Opfer wächst ihre Verzweiflung – und ihre Besessenheit, den Fall zu lösen. Koste es, was es wolle.
Über den Autor:
Der amerikanische Bestsellerautor T. Jefferson Parker ist mit dem kalifornischen Setting seiner gefeierten Kriminalromane bestens vertraut: Er wurde in Los Angeles geboren und wohnt heute in San Diego. Seinen Abschluss machte er an der renommierten UC Irvine und anschließend arbeitete er fünf Jahre lang als Zeitungsreporter. In dieser Zeit entstand sein erster Roman, »Feuerkiller«, der 1987 von HBO verfilmt wurde und den Start seiner erfolgreichen Schriftstellerkarriere markiert. Es folgten über 28 Kriminalromane, zahlreiche Platzierungen auf Bestsellerlisten und mehrfache Auszeichnungen, u.a. mit dem Edgar Prize und dem Los Angeles Book Prize.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine »Orange County Morde«-Reihe sowie seine Standalones »Feuerkiller«, »Der stille Mann«, »Der Fall Rebecca«, »Hidden Enemy«, »Sister Case«, »Summer of Fear« und »Family Business«.
Die Website des Autors: www.tjeffersonparker.com
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eBook-Neuausgabe Juli 2025
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Blue Hour« bei Hyperion Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Blaue Stunde« bei Ullstein
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1999 T. Jefferson Parker
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/sharafmaksumov und eines Bildmotivs von Midjourney
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-833-8
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T. Jefferson Parker
Dunkelstunde
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Tatjana Kruse
dotbooks.
Widmung
Motto
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Danksagungen
Lesetipps
Für Robert und Claudia Parker,
die mir immer noch den Weg zeigen.
Richtig jagen, das heißt, so lange wie man lebt,
so lange wie es dieses oder jenes Tier gibt, zu jagen.
Ernest Hemingway, Die grünen Hügel Afrikas
An diesem Sonntagabend schlenderte Tim Hess die 15th Street entlang zum Imbissstand. Die Skater wichen ihm zwar aus, beachteten ihn jedoch nicht weiter. Für August war es recht kalt und die rote Flagge auf dem Rettungsschwimmerwachturm wies steif nach Osten. Die Luft roch nach Pazifik und Ketchup.
Hess kaufte einen Kaffee und schlenderte über den Strand. Er setzte sich auf eine Picknickbank und sah auf den Ozean hinaus. Es herrschte hoher Seegang und das Meer wirkte träge und gefährlich zugleich.
Eine Minute später trat Chuck Brighton zu ihm an den Tisch. Seine Krawatte flatterte im Wind, und seine weißen Haare stellten sich auf, nur um gleich darauf wieder flach anzuliegen. Er legte seinen Aktenkoffer auf der Bank ab und setzte sich neben Hess. Dann riss er ein Tütchen Zucker auf.
»Hallo, Boss«, sagte Hess.
»Tim, wie geht es dir heute?«
»Verdammt gut, alles in allem. Sieh mich nur an.«
Brighton betrachtete ihn und schwieg. Dann lehnte er sich auf den Ellbogen nach vorn. Er war ein schwerer Mann, und als er sein Gewicht auf der Bank verlagerte, spürte Hess, wie sich der Tisch bewegte, denn die Bänke und der Tisch waren durch Stahlrohre miteinander verbunden. Hess schaute wieder auf die aufgewühlte See hinaus. Vor über einem halben Jahrhundert hatte er hier, in Newport Beach, seine Kindheit verbracht.
»Du musst dich verdammt gut fühlen. So etwas habe ich seit den Morden von Randy Kraft nicht mehr gesehen. Das musste natürlich ausgerechnet jetzt passieren, sechs Monate nachdem sich mein bester Detective pensionieren ließ.«
Hess ging auf das Kompliment nicht weiter ein, Brighton war schon immer groß im Loben, aber auch im Tadeln gewesen. Sie hatten vierzig Jahre zusammengearbeitet und waren Freunde geworden.
»Wir könnten dich als Berater wieder auf die Gehaltsliste setzen. Vollzeit – und du wärst gleichzeitig krankenversichert. Vergiss diesen ganzen Aufwand mit Medicare.«
»Danach sehne ich mich.«
Brighton lächelte verhalten. »Ich glaube, du sehnst dich nach mehr als nur nach dem, Tim. Ich glaube, du brauchst eine Beschäftigung, willst wieder mitmischen.«
»Wäre möglich.«
»Der Typ muss ein Psychopath sein. Wir haben noch nicht viele Anhaltspunkte. Solche Kerle machen mich krank.«
Hess hatte es bereits vermutet, nun wusste er Bescheid. »Nationalpark als Leichengrube.«
»Leichengrube trifft es nicht ganz. Aber du hast ja offenbar die Nachrichten gesehen. Beide verschwanden abends aus einem Einkaufszentrum. Die Cops haben die üblichen 48 Stunden abgewartet, bis sie als vermisst gelten konnten. Der erste Fall ereignete sich vor einem halben Jahr, die Frau aus Newport. Wir fanden ihre Handtasche und Blut. Einen Monat nachdem sie Nylonstrümpfe bei Neiman-Marcus kaufte und danach für immer verschwand.«
Brighton hantierte an den Verschlüssen seines Aktenkoffers, dann seufzte er und faltete die Hände auf dem Deckel.
»Und gestern am späten Abend fanden wir etwas von der Frau aus Laguna. Vor einer Woche ging sie ins Einkaufszentrum Laguna Hills und verschwand. Radfahrer haben ihre Handtasche gefunden. Der Boden neben der Tasche war blutgetränkt – wie im ersten Fall. Es wird morgen in den Zeitungen stehen: Wiederholungstat hier, Serienmord da. Neuerliche Zerstückelung auf dem Ortega Highway. Beide Opfer – beide mutmaßlichen Opfer – waren anständige Bürgerinnen, Tim. Junge, attraktive, kluge Frauen. Alle Menschen mochten sie. Eine war verheiratet, die andere nicht.«
Hess erinnerte sich an das Foto in der Zeitung. Eine von diesen Frauen, die alles zu haben schienen und dann gar nichts mehr hatten.
Hess blickte zu dem übervölkerten Gehweg vor seinem Apartment und nahm noch einen Schluck Kaffee. Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Zähne, aber die taten in letzter Zeit ohnehin ständig weh.
»Wir haben also zwei Fundorte neben dem Ortega Highway im Cleveland Nationalpark, ungefähr einhundert Meter auseinander. Sie liegen acht Meilen von der Countygrenze entfernt. Zwei blutgetränkte Fundorte. Sogar die Spurensicherungsteams sprachen von blutgetränkt. Auch im zweiten Fall winzige Reste menschlicher Eingeweide. Das Labor beschäftigt sich gerade mit den Fundstücken. Keine Leichen. Keine Kleider. Keine Knochen. Nichts. Nur die Handtaschen, in denen immer noch die Kreditkarten lagen. Bargeld und Führerscheine fehlten allerdings. Vermutlich eine Art Fetisch oder eine Signatur des Täters. Die Fälle liegen ein halbes Jahr auseinander, aber es muss einfach derselbe Kerl sein.«
»Ganz alltägliche Damenhandtaschen?«
»Wenn ›blutverschmiert‹ und ›von Tieren angenagt‹ alltäglich ist.«
»Was für Tiere?«
»Verdammt, Tim, keine Ahnung!«
Hess hatte nicht mit einer Antwort gerechnet. Es war nicht die Art von Antwort, die der Sheriff-Coroner eines Countys mit 2,7 Millionen Einwohnern benötigte. Aber Hess hatte die Frage dennoch gestellt, weil Aasfresser unterschiedliche Geschmäcker und Gewohnheiten hatten, und wenn man herausfand, welcher Aasfresser an den Handtaschen genagt hatte, konnte man schätzen, wie alt das Blut war. Man konnte einen Zeitrahmen festsetzen, ihn bestätigen oder verwerfen. Das war die Art von Wissen, die man nach 42-jähriger Tätigkeit als Deputy erlangte, dreißig davon in der Mordkommission.
Wir sind alte Männer, dachte Hess. Die Jahre sind zu Stunden geworden und das hier fangen wir mit unserem Leben an.
Er betrachtete den Sheriff. Brighton trug einen braunen Sportmantel, Wollgemisch und von der Stange, in dem Cops immer wie Cops aussehen. Hess trug ebenfalls einen, obwohl er seit fast einem halben Jahr nicht mehr bei der Truppe war.
»Wer arbeitet daran?«, wollte Hess wissen.
»Tja, Phil Kemp und Merci Rayborn haben die Vermisstenanzeige von der Frau aus Newport Beach aufgenommen. Sie hieß Lael Jillson. Das war im Februar. Also sollte ihnen auch dieser Fall zugewiesen werden, aber es gibt da ein Problem.«
Hess ahnte schon, welches Problem. »Kemp und Rayborn. Dachte mir gleich, dass diese Kombination nicht funktioniert.«
»Ich weiß. Wir waren der Ansicht, Gegensätze würden einander anziehen, aber wir haben uns geirrt. Vor zwei Monaten habe ich sie dann getrennt. Phil kommt damit zurecht. Ich war mir nicht ganz sicher, wen ich Merci zur Seite stellen sollte, um ehrlich zu sein. Bis heute.«
Hess kannte Merci Rayborn entfernt. Ihr Vater hatte lange Jahre als Ermittler im Büro des Sheriffs gearbeitet – zuerst Einbruch/Diebstahl, dann Betrug, zuletzt in der Verwaltung. Hess hatte ihn nie richtig kennen gelernt. Rayborn hatte die Zigarre mit der rosafarbenen Schleife entgegengenommen, als Merci auf die Welt gekommen war, und Hess hatte ihr Leben in kurzen Unterhaltungen mit ihrem Vater verfolgt. Für Hess war sie eher ein Gesprächsthema als ein Mensch, wie es die Kinder von Kollegen oft an sich haben.
Anfangs war sie der Liebling der Abteilung gewesen, doch der Reiz eines Deputys in der zweiten Generation hatte sich rasch abgenutzt. Mittlerweile gab es ein halbes Dutzend von ihnen. Hess hielt Merci für aggressiv, klug und ein wenig arrogant. Sie hatte ihm einmal gesagt, dass sie mit 40 die Mordkommission leiten würde, mit 50 die Abteilung Personendelikte und mit 58 würde sie zum Sheriff-Coroner gewählt werden. Damals war sie 24 gewesen und hatte in den Haftzellen Dienst geschoben, wie es alle Frischlinge im Büro des Sheriffs tun mussten. In den zehn Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sie sich nicht viele Freunde gemacht. Sie schien das genaue Gegenteil ihres sanften, bescheidenen Vaters zu sein.
Hess fand es amüsant, wie bestimmte Charakterzüge sich bei der darauffolgenden Generation ins Gegenteil verkehrten – er hatte es bei seinen eigenen Nichten und Neffen beobachtet.
»Tim, sie hat Freitagnachmittag Klage eingereicht. Beschuldigte Kemp der sexuellen Belästigung, nach fast zehn Jahren. Er habe sie angefasst, sagt sie. Tja, bis zum Ende des Arbeitstages hatten zwei weitere weibliche Deputys den Zeitungen erklärt, dass sie ebenfalls Klage einreichen würden. Der Anwalt spricht von einer Gruppenklage. Also haben wir jetzt jede Menge Deputys, die sich auf eine von beiden Seiten schlagen – die übliche Frontlinie. Ich bedauere Rayborns Schritt, weil sie für ihr Alter im Grunde eine gute Ermittlerin ist. Ich weiß nicht, was ich mit diesen Anschuldigungen anfangen soll. Niemand hat sich je zuvor über Phil beklagt, außer natürlich darüber, dass er Phil ist. Möglicherweise reicht das heutzutage schon aus. Ich weiß es nicht.«
Hess sah die Enttäuschung, die in Brightons Blick lag. Trotz seiner öffentlichen Stellung war Brighton ein sehr zu rückhaltender Mann. Er litt unter den Problemen seiner Dienststelle, als ob es seine eigenen wären. Er hatte Konflikte immer vermieden und wollte von allen gemocht werden.
»Ich werde versuchen, mich da nicht hineinziehen zu lassen«, sagte Hess.
»Viel Glück.«
»Was haben denn die Hunde gefunden?«
»Sie sind zwei Wege in der Nähe der Fundorte abgegangen, außerdem einen Brandschutzweg ungefähr hundert Meter südlich des Highways. Die beiden Wege lagen sehr dicht beieinander – ungefähr einhundert Meter. Er muss geparkt und die Frauen dann durch das Unterholz getragen haben. Anschließend tat er, was immer er da getan hat. Schleppte sie offenbar auch wieder zurück. Weiter lässt sich nichts sagen.«
»Wie viel Blut?«
»Wir lassen vom Boden des neuen Fundorts gerade Sättigungsanalysen erstellen. Sie hieß Janet Kane. Bei der ersten Frau war ein Großteil des Blutes eingetrocknet und verwest. Aber diesmal könnte das Labor nützliche DNS-Spuren finden. Sie versuchen es zumindest.«
»Ich hätte gedacht, dass du sie irgendwo da draußen begraben findest.«
»Ich auch. Die Hunde, die Methanprobe, der Hubschrauber – nichts. Ein erbsengroßer Teil meines Gehirns flüstert mir zu, dass sie vielleicht immer noch am Leben sind.«
Hess schwieg einen Moment und überlegte, was er von dieser Hoffnung hielt. Dann sagte er: »Wir sollten es in einem größeren Umkreis versuchen.«
»Das liegt an dir und Merci. An Merci und dir, um genau zu sein. Sie wird die Show leiten, verstehst du.«
Hess drehte sich um und starrte auf die Wellen, die über den blassgrünen Ozean rollten. Er spürte, wie Brightons Blick auf ihm ruhte.
»Du siehst wirklich gut aus«, meinte der Sheriff. Die Brise trug seine Worte zu Hess.
»Ich fühle mich auch gut.«
»Du bist zäher als gekochtes Schuhleder, Tim.«
Hess hörte das Mitgefühl aus Brightons Stimme heraus. Er wusste, wie sehr Brighton ihn mochte, aber der Tonfall nagte an seinem Stolz und weckte auch seinen Zorn.
Die beiden Männer standen auf und schüttelten sich die Hand.
»Danke, Bright.«
Der Sheriff öffnete seinen Aktenkoffer und reichte Hess zwei grüne Pappakten, die von dicken Gummibändern zusammengehalten wurden. Auf der obersten war in Rot KOPIE aufgestempelt.
»Da drin sind ein paar wirklich hässliche Sachen, Tim.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Schau schnellstmöglich bei der Personalabteilung vorbei. Marge wird alle Papiere vorbereiten.«
Die Sonne war eben über die Hügel am Ortega Highway gestiegen und unsichtbare Vögel zwitscherten in den Büschen.
Hess stand unter einer gewaltigen Eiche, in der Nähe der Stelle, an der man die Handtasche von Janet Kane gefunden hatte. Er sah sich den blutgetränkten Boden an. Die Spurensicherung hatte einen Teilbereich ausgehoben, den Hess jetzt mit seinem Maßband ausmaß – fünfzig mal fünfzig Zentimeter im Quadrat, zehn Zentimeter tief. Er fischte die verrotteten Eichenblätter aus der Grube und presste seine Handflächen auf die Erde, gegen den Boden und den Unrat. Dann hielt er die Hände in die Sonne und versuchte zu erkennen, ob Blut an ihnen klebte, das schon so tief eingesunken war. Nein. Seine Finger rochen nach Eiche und Erde.
Der Baum selbst markierte das westliche Ende der Blutspuren. Hess war gar nicht klar gewesen, welche Ausmaße der Bereich hatte. Er war in etwa dreieckig, die Spitze ungefähr fünfzehn Zentimeter vom Baumstamm entfernt und die Seiten verliefen entlang der sanften Erhebung, die die unter der Erde liegenden Wurzeln aufgeworfen hatten. Das Dreieck war ungefähr eineinhalb Meter lang und die Basis maß an der breitesten Stelle exakt 188 Zentimeter – Hess’ Körpergröße. Die Kriminaltechniker hatten die kuchengroße Probe ganz unten an der Basis entnommen, wo die Erde lockerer war und es weniger Wurzeln gab.
Hess ging die Akten langsam von hinten durch und studierte den Erstbericht des Deputys sowie dessen Skizzen. Er verglich sie mit den Fotos der Spurensicherung, dann markierte er mit Hilfe faustgroßer Steine den Verlauf der Blutspuren und die Stellen, an denen die »nicht identifizierten Körperreste« und die Handtasche gefunden worden waren. Auf Überreste menschlicher Eingeweide war man in einem Umkreis von knapp einhundert Metern in allen Richtungen rund um den Baum gestoßen. Coyoten, dachte er. Waschbären, Stinktiere, zwanzig verschiedene Vogelarten und Tausende von Insekten. Das stetige Summen von Fliegen erfüllte den Morgen. Hess konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass noch vor einer Woche ein voll ausgewachsener Mensch hier gelegen haben sollte, es jetzt aber keinen einzigen Knochen mehr gab, keinen Zahn, kein einziges Stück Fleisch oder Kleidungsstück. Der Inhalt der Handtasche des Opfers war verstreut aufgefunden worden, gemäß einer nummerierten Auflistung auf der Tatortskizze der Spurensicherung.
Die Szene erinnerte ihn an etwas. Er wusste, woran, aber er verdrängte es.
Hess folgte dem Weg, den die Bluthunde erschnüffelt hatten, eine Mulde hinauf, die von kleineren Eichen und gelbem Fuchsschwanzgras gesäumt wurde, anschließend über eine unbefestigte Straße – alte Reifenspuren, schwach ausgeprägt. Jenseits der Straße erstreckte sich ein sanfter Abhang, wo der Boden weicher und mit Schilf und Pampasgras übersät war, das hoch und dicht wuchs. Hess senkte den Kopf, drückte die Halme auseinander und quetschte sich hindurch. Einen Augenblick später sah er die Lagune vor sich, ein dunkles Oval, umringt von Blätterwerk und gesprenkelt mit den Ringen von Wasserwanzen. Die Luft roch süß. Er blieb einen Augenblick stehen, atmete tief ein und spürte, wie ihm der Schweiß über das Gesicht lief. Die Taucher hatten es nicht leicht gehabt, dachte er: drei Meter Schlamm, durch die sie waten mussten, bevor sie überhaupt ins Wasser kamen, dann gerade mal einen halben Meter Sicht, wenn man Glück hatte. Hess war vor dreißig Jahren zum letzten Mal getaucht. Es hatte ihm immer Spaß gemacht.
Nachdem er zum Baum zurückgekehrt war, ging er schwer atmend in die Knie. Es war kein Scherz gewesen, als sie ihn vor körperlicher Erschöpfung und Schwächezuständen gewarnt hatten. Zwei Drittel des linken Lungenflügels waren ihm vor zwei Monaten entfernt worden.
Hess stand auf. Die alte Eiche hatte sich früh in ihrem Dasein gegabelt und breitete sich nun weit aus, wie so viele Eichen. Die untersten Äste endeten nur gut einen Meter über dem Boden. Er legte die Akten unter den Stein, der den Fundort der Handtasche markierte.
Hess kletterte auf den Baum und ruhte sich kurz aus, einen Fuß gegen den Stamm gestützt, mit dem anderen stand er auf einem abzweigenden Ast. Langsam spazierte er darauf entlang bis zum Ende des Astes, krallte sich dabei in die scharfkantigen Blätter über sich, um das Gleichgewicht zu halten. Als er sich über der Stelle befand, an der Janet Kane offenbar verblutet war, blieb er stehen und tastete nach einem Ast über seinem Kopf. Seine Finger fanden eine glatte Kerbe im Holz, aber sie war nur schwer auszumachen. In besseren Tagen hätte ein einfacher Klimmzug sein Kinn über den Ast gebracht und er hätte sehen können, was er sehen wollte.
Ein einziger, lausiger Klimmzug, dachte Hess. Er erinnerte sich, wie er als Kadett hundert davon während seiner Ausbildung in der Polizeiakademie geschafft hatte. Und hinterher war er noch ein sechs Meter langes Seil hinaufgeklettert. In letzter Zeit fragte sich Hess immer öfter, ob das Erinnerungsvermögen als Trost oder als Folter gedacht war.
Er zog sich hoch. Angestrengt betrachtete er die Kerbe im Holz, und ihm gefiel, was er da sah. Genau das hatte er vermutet. Das Holz war ungefähr zweieinhalb Zentimeter eingeschnitten, bis hinein in das blasse, lebende Mark des Baumes. Die Schultern von Hess schmerzten und seine Arme zitterten.
Dann schoss der Ast plötzlich an seinen Augen vorbei und eine Sekunde lang hatte er keinen festen Halt unter den Füßen. Gleich darauf lag er mitten in der blutgetränkten Erde auf dem Rücken.
Zehn Minuten später stand er vor dem zweiten Baum, unter dem vor sechs Monaten Lael Jillsons Handtasche gefunden worden war. Die große Eiche war Teil eines Hains, der das Tageslicht ausblendete und den Boden in immerwährenden Schatten tauchte. Der Stamm wuchs aus der Erde heraus und seine knorrigen Arme streckten sich in den Himmel.
Hess ließ sich Zeit mit der Kletterei. Mit dem Blätterdach als Halt spazierte er auf einem kräftigen Ast entlang und fand, was er zu finden hoffte: die etwa zweieinhalb Zentimeter breite Rille, wo die Rinde eingekerbt war. In den letzten sechs Monaten hatte sich Narbengewebe gebildet, und eine dünne Schicht aus grauen Fasern bedeckte nun die Wunde.
Hess konnte sie vor sich sehen: die Knöchel zusammengebunden, der Kopf nach unten hängend, das Seil über den Ast geworfen. Die Haare hingen hinunter, die Fingerspitzen waren nur wenige Zentimeter vom Schmutz entfernt.
Hess schlenderte zu seinem Wagen zurück und holte eine Klappschaufel und zwei Eimer aus dem Kofferraum. Er brauchte zehn Minuten und zwei Ruhepausen, um einen der Eimer mit blutfreier Erde neben dem Kane-Baum zu füllen. Es war wichtig, eine Kontrollprobe zu haben, wenn man eine gute Sättigungsanalyse durchführen wollte. Nachdem er fertig war, atmete er schwer. Seine Handflächen brannten wie glühende Kohlen, aber als er sie ansah, waren sie nur leicht gerötet.
Dann machte er im Sitzen ein kurzes Nickerchen, bei dem er fast hintenübergekippt wäre. Schließlich füllte er den anderen Eimer mit sauberer Erde von der sauberen Seite von Lael Jillsons Baum.
Als er zu seinem Wagen zurückkam, die Klappschaufel auf einem der schweren Eimer balancierend, fragte er sich, ob seine Finger womöglich einfach abbrechen könnten. Dr. Cho hatte nichts über den Verlust von Fingergliedern gesagt, aber genauso fühlte es sich an. Als er sie genauer ansah, waren sie von den Henkeln der Eimer tief eingekerbt, aber ansonsten völlig in Ordnung.
Die Sonne brannte in seinen Augen, und seine Kniescheiben fühlten sich an wie eingerostet. Er legte ein weiteres kurzes Nickerchen ein – ungefähr zwei Minuten –, bevor er zurück zum Ortega Highway fuhr.
Es war schön, wieder arbeiten zu können.
Hess nahm die Akten mit ins Krankenhaus zu seinem Termin um drei Uhr. Das Programm des letzten Monats war gar nicht so schlimm gewesen, obwohl die kumulative Wirkung von Monat Nummer vier, je nach Patient, sehr drastisch ausfallen konnte. Hatte Dr. Cho gesagt.
Hess setzte sich in den Behandlungsstuhl, legte die Akten auf seinen Schoß und hörte Liz, der Krankenschwester, zu, die über ihr neues Auto plauderte. Sie ließ die große Nadel in seinen Handrücken gleiten und Hess spürte die harte Präsenz von Stahl in seiner Vene. Liz befestigte die Nadel mit einem Klebestreifen und setzte den intravenösen Tropf an.
»Wie fühlt sich das an, Tim?«
»Fremd.«
»Haben Sie etwas zu lesen dabei? Gut. Ich stelle Ihnen das hierher, falls Sie es brauchen.«
Sie schob den Rolltisch etwas näher heran und hob den Deckel des kleinen blauen Spucknapfs an. Er war abgerundet, hatte Hess bemerkt, damit er sich an das Kinn des Patienten anlegen ließ, aber er sah weder breit noch tief genug aus, um den Inhalt eines verdorbenen Magens aufnehmen zu können. Möglicherweise ging man davon aus, dass die Patienten zu geschwächt waren, um ordentlich zu kotzen.
»Letztes Mal haben Sie ihn gar nicht gebraucht, nicht wahr?«
»Mir ging es ganz gut.«
»Braver Mann.«
»Bekomme ich eine Decke?«
»Hier, bitte.«
Sie breitete die Decke über seine Beine aus.
»Versuchen Sie jetzt, sich zu entspannen, und denken Sie an etwas Schönes. Ich bin nebenan.«
Hess machte es sich bequem. Er betrachtete die Decke. Sie sah so ähnlich aus wie die, unter der er in der Hütte seines Onkels oben am Spirit Lake in Idaho gelegen hatte, als Kind, nach der Jagd. Man war müde und satt, und das Einzige, was man in der langen, finsteren Nacht tun konnte, war lesen und schlafen. Neben dem Kamin war es so heiß, dass man den Schlafsack auf eine Pritsche an der anderen Seite des Raumes legen musste. Eigentlich war es hier überhaupt nicht wie in der Hütte.
Heute, über fünfzig Jahre später, konnte er spüren, wie das Cisplatin in seine Vene lief, während er mit der freien Hand den Schließgummi hochschob und die erste Akte auf seinem Schoß aufschlug.
Fall Nr. 990633 75
Jillson, Lael
Die Detectives Kemp und Rayborn hatten zwei Fotos von Lael Jillson aufgetrieben: einen Schnappschuss im Freien und die Fotokopie ihres Hochzeitsfotos. Der Schnappschuss zeigte sie auf einem Felsen stehend, mit verschränkten Armen, in Shorts und Wanderstiefeln und einer ärmellosen Jeansbluse. Sie lächelte. Ihr blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, der in der Sonne glänzte. An ihrem Hochzeitstag war dasselbe blonde Haar hochgesteckt und mit winzigen, weißen Blüten geschmückt, die wie Sterne aussahen. Hess blinzelte und konzentrierte sich dann erneut auf das Bild. Ein schmales Gesicht, ein fester Kiefer, ebenmäßige, weiße Zähne und dunkelbraune Augen. Sie strahlte etwas aus. Das Foto war schwarz-weiß, in einem Sepia-Ton. Es erinnerte ihn an das Hochzeitsfoto seiner eigenen Mutter, das 1928 aufgenommen worden war.
Über Lael Genevieve Jillson: Alter: 31, 173 Zentimeter, 59 kg, blond/braun, weiß, verheiratet, geboren in Orange (Kalifornien), Mädchenname: Lawrence, besondere Kennzeichen: keine.
Keine, dachte Hess. Als ob es kein besonderes Kennzeichen wäre, wenn man zauberhaft ist. Einfach nur eine Frau, die durchgekaut und in den Dreck gespuckt worden war wie ein Stück Knorpel.
Höchstwahrscheinlich, dachte er. Fast sicher, trotz der erbsengroßen Hoffnung in Chuck Brightons Hirn.
Hess blickte zu dem Spiegel hinter der Theke hoch, vor der er saß. Der Chemotherapieraum sah aus wie ein Schönheitssalon, mit vier Behandlungsstühlen, die in Richtung auf den Spiegel angeordnet waren, und einer Theke voller Tiegel und Flaschen. Fernsehgeräte hingen in zwei Ecken. Die Transfusionswagen standen vor der Wand. Es gab Plastikvorhänge, die über Schienen an der Decke zugezogen werden konnten, aber keiner war in Gebrauch. An diesem Tag war Hess der einzige »Kunde«.
Aus dem Spiegel schaute ihm ein blasser Mann entgegen, mit entschlossenen blauen Augen und einem Gesicht, dem im Laufe der Jahre nichts geschenkt worden war. Es war scharf geschnitten und ernst. Das dunkelgraue Haar war zu- rückgekämmt wie das eines Generals aus dem Zweiten Weltkrieg, mit einer kleinen Tolle über der Stirn. Die Tolle war schon vor Jahren weiß geworden. Jetzt war das ganze Gesicht rot. Hess fühlte sich schwindelig und sah, dass sein Kopf schwankte. Er seufzte und schloss die Augen. Er sagte sich, dass er zu alt für so etwas sei, etwas, was Männer nur zugaben, wenn sie es im Grunde nicht glaubten.
Du hast zu tun.
Die Frau aus Laguna Beach war vor sechs Tagen, an einem Dienstag, als vermisst gemeldet worden. Sie war aus einem Einkaufszentrum in Laguna Hills verschwunden.
Fall Nr. 9 9 075 5 4 5
Kane, Janet
Alter: 32, 167 Zentimeter, 54 kg, braun/braun, weiß, alleinstehend, geboren in Syracuse (New York), orthoskopische Operationsnarbe am rechten Knie.
Hess hielt die Fotokopie ihres Fotos hoch. Es war ein Porträt, das in einem Fotostudio angefertigt worden war, die Art von Foto, die man für seinen Schatz machen ließ oder für seine Familie. »Sanderville Studios«, konnte man in der unteren rechten Ecke lesen. Auch Janet Kane war eine echte Schönheit: ein gutmütiges Lächeln, lange dunkle Haare, mit einem Pony über einer hohen Stirn, Augen, die verträumt und selbstsicher blickten. Ihre Bluse war schwarz und hatte keine Ärmel, entblößte anmutige Arme.
Beide waren der Inbegriff von Schönheit, dachte Hess.
Lael Jillson war zuletzt um 20 Uhr 10 bei Neiman-Marcus gesehen worden, wo sie, laut Kassenbon, eine Strumpfhose gekauft hatte.
Janet Kane war zuletzt in einem Vororteinkaufszentrum gesehen worden, gegen 20 Uhr 45, gemäß einem Schuhverkäufer bei Macy’s, der beobachtet hatte, wie sie den Laden verließ.
Und ihre Handtaschen waren an abgelegenen Stellen im Cleveland Nationalpark gefunden worden, der nur über den Ortega Highway zu erreichen war oder, was seltener vorkam, über zahllose unbefestigte Straßen, die sich durch das ausgedehnte und unzugängliche Gelände zogen. Lael Jillsons Pfefferminzpastillen und Antibabypillen waren teilweise von Tieren gefressen worden. Scheckkarte, Kredit- und Versicherungskarten waren noch intakt. Kein Führerschein, der vom Staat Kalifornien ausgestellt worden ist. Kein Bargeld.
Wer will immer den Führerschein sehen?
Ein Bankangestellter. Ein Cop.
Und was würde ein präzises und informatives Souvenir von jemandem abgeben, an den man sich deutlich erinnern will?
Ein kalifornischer Führerschein. Alle wichtigen Daten – samt Foto – auf einen Schlag.
Hess ging die Akten eine Seite nach der anderen durch. Die Detectives hatten auch eine Landkarte der Fundorte beigelegt, vom amerikanischen Bundesvermessungsamt ausgestellt. Kemp und Rayborn hatten die Stellen mit roten Sternen gekennzeichnet. Hess sah sich die verschlungenen Konturen der Karte an. Da war die Lagune – Laguna Mosquitoes – nur eine Viertelmeile weiter westlich. Vor 22 Jahren war er schon einmal dort gewesen, im Zuge der Ermittlungen im Mord an einem zweitklassigen Drogendealer namens Eddie Fowler, dem eine tödliche Dosis Mexikanischer Schwarzer injiziert worden war und den man neben dem Highway aus dem Auto geworfen hatte. In den fünf Jahrzehnten, in denen Hess als Deputy gearbeitet hatte, war der Ortega Highway – die Bundesstraße 74 – stets ein beliebter Ort gewesen, um Leichen zu entsorgen. Sechzehn Leichen zählte Hess in seiner Erinnerung. Ja, sechzehn, Fowler miteingerechnet. Kraft hatte den Highway genutzt. Suff hatte den Highway genutzt. Die meisten Morde waren unaufgeklärt geblieben.
Hess hatte ein unfehlbares Gedächtnis für solche Fakten, obwohl er sich in letzter Zeit fragte, ob er seine Hirnzellen auf diese Weise auch wirklich optimal nutzte. Je älter er wurde, desto mehr verstand er die endliche Natur der Dinge, die endliche Natur von allem.
Hess spürte eine Welle der Übelkeit und atmete tief durch. Er schloss einen Augenblick die Augen und stellte sich vor, wie das Gift die Zellen vernichtete. Nur die schlechten Zellen. Obwohl ihm klar war, dass das Gift die guten und die schlechten Zellen vernichtete – ohne Unterschied, wie ein Amokläufer, der in einem Fastfood-Restaurant um sich ballerte. Liz hatte vor der ersten Runde eine »positive mentale Visualisierung« vorgeschlagen, während Dr. Cho schweigend danebengestanden und geheimnisvoll gelächelt hatte.
Hess öffnete die Augen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Akten.
Er sah sich die Landkarte an. Der Ortega Highway war eine lang gestreckte, kurvenreiche Straße, die über zwei County-Gerichtsbarkeiten hinweg durch die Santa Ana Mountains führte, von San Juan Capistrano bis nach Lake Elsinore. Die Kurven waren unübersichtlich und die Leute fuhren meistens viel zu schnell. Tödliche Verkehrsunfälle waren an der Tagesordnung. Am einen Ende lag Capistrano, eine malerische, verschlafene Kleinstadt mit einer Franziskanermission und teuren Villen auf ausgedehnten Grundstücken. Pferdeland: Frauen in Reithosen und Chevy Kombis, 25 Meilen entfernt endete der Ortega Highway in der finanzschwachen Stadt Lake Elsinore, am gleichnamigen See gelegen. Der Wasserspiegel stieg und fiel mit dem Regen, und häufig blieb nur wenig mehr als ein verschmutzter kleiner Tümpel übrig, die Häuser gestrandet auf vertrocknetem Schlamm. An Dornengestrüpp und Raben musste Hess als Erstes denken, wenn ihm Lake Elsinore einfiel. Dann an die Nutten auf der Main Street, an Motorradbanden und Kokain-Mittelsmänner.
Der Highway verband diese beiden Städte miteinander, paarte das Sonnenlicht mit dem Schatten, den Wohlstand mit der Plackerei, paarte sie auf eine Weise, wie diese Dinge immer verbunden waren. Er schlängelte sich an dunklen Eichenhainen entlang, führte kurvenreich an meilenweiten Abschnitten mit dicht wachsendem Salbei und Kreosotesträuchern vorbei, schnitt durch tiefe Canyons und verlief an gemächlich plätschernden Bächen, die von der Frühjahrsschmelze gespeist wurden und die Wildnis nährten und die Täler jeden April mit Wildblumen sprenkelten. Hess war hier als Junge gewandert, hatte hier gejagt. Er hatte immer ein wenig geglaubt, dass es am Ortega spukte, und deswegen fühlte er sich von ihm auch so angezogen.
Hess legte die Landkarte zur Seite und blätterte die Akten weiter durch. Es war frustrierend, wie wenig Informationen es gab. Er hatte noch nie dünnere Akten über zwei mutmaßliche Entführungen/Morde gesehen, bei denen die Opfer so schnell identifiziert worden waren. Natürlich brauchte die vollständige Laboruntersuchung zu Janet Kane ihre Zeit. Und würde noch ein paar Seiten hinzufügen. Allerdings war das Talent der Natur, einen Tatort zu kontaminieren, beträchtlich.
Die Autos waren der eigentliche Schlüssel. Wenn sie überhaupt etwas Nützliches entdecken würden – oder schon entdeckt hatten –, dann mit Sicherheit in den Fahrzeugen. Beide Wagen waren geparkt und unverschlossen aufgefunden worden, Meilen von den Läden entfernt, in denen die Frauen eingekauft hatten, und auf völlig entgegengesetzten Wegen zu ihren Wohnungen. Die Schlüssel hatten noch im Zündschloss gesteckt.
Dann waren die Frauen also in ein anderes Fahrzeug umgestiegen oder verladen worden.
Kemp und Rayborn hatten das auch vermutet. Hess las Kemps Notizen durch. Dann wandte er sich der Checkliste der Spurensicherungsabteilung zu Lael Jillsons Infiniti Q45 zu und fuhr mit dem Finger die Seite entlang. Die Kriminaltechniker hatten Haare und Fasern gefunden, und zwar ziemlich viele. Menschliche Haare von wahrscheinlich vier oder gar fünf verschiedenen Personen. Dank weiterer Proben, die Laels Ehemann zur Verfügung gestellt hatte, konnten die Labortechniker drei davon Lael und zwei weiteren Familienmitgliedern zuordnen – ihrem Mann und ihrem Sohn. Die vierte Person war weiß und hatte dunkelbraune Haare, die leicht gelockt waren. Bei der fünften Probe handelte es sich um Schamhaare, die von einer weiteren Person stammten. Interessant, dachte Hess.
Aber Hess wusste um die Unsicherheit bei Haaridentifikationen. Als einzige forensische Methode wurde sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch unverändert durchgeführt. Im Grunde hielt man sich an den Augenschein, und die Identifizierung war häufig ohne Beweiskraft. Die Sache war die, dass selbst die Haare von nur einer Person eine Vielzahl von Farben und Strukturen aufwiesen. Und ein Haar konnte auch von fast überall hereingeweht werden. Manchmal hatte man Glück mit der Haaranalyse oder den pharmakologischen Rückständen, die die Zahl der in Frage kommenden Personen einschränkte. Aber nicht oft.
Merci Rayborn hatte notiert, dass Robbie Jillson »den Wagen absichtlich nicht gewaschen hatte«, nachdem seine Frau verschwunden war, weil er sofort »gewusst hatte«, dass da etwas nicht stimmen konnte, »ob ihr Cops nun eine Vermisstenanzeige aufnehmt oder nicht«. Guter Mann, dachte Hess. Dann hatte das Labor den Wagen also in einigermaßen gutem Zustand bekommen, zumindest den Innenraum.
An beiden Autos wurden sowohl innen als auch außen Fingerabdrücke abgenommen. Das Labor konnte sie mühelos den Opfern und ihren Familienangehörigen zuordnen, aber ein Daumenabdruck in Jillsons Infiniti blieb unidentifiziert. Der Abdruck fand sich weder im kalifornischen Fingerabdruckverzeichnis, dem CAL-ID, noch beim FBI oder im örtlichen Verzeichnis in Tucson. Der endgültige Bericht über die Abdrücke aus Janet Kanes BMW lag noch nicht vor.
Erde war ebenfalls in beiden Innenräumen gefunden worden. Gut.
Von außen hatte man jedoch keine abgekratzt. Schlecht.
Hess hatte einmal einen Schurken aufgrund von Gartenkieseln überführt, die in einem Reifenprofil gefunden worden waren. Das war vor dreißig Jahren gewesen. Seit damals hatte Hess alle Reifenprofile stets gewissenhaft überprüft, weil er davon überzeugt war, dass man etwas, was einmal funktioniert hatte, beibehalten sollte. Außerdem mussten Lael und Janet zwischen dem Zeitpunkt, als sie die Einkaufszentren verlassen hatten, und dem Zeitpunkt, als sie ihren Wagen zum letzten Mal an den Straßenrand gefahren hatten – oder jemand anders das getan hatte –, eindeutig irgendwo gewesen sein. Und manchmal hatten Reifenprofile ein sehr gutes Gedächtnis.
Hess war enttäuscht, dass weder Kemp noch Rayborn die Wagen auf grundlegende mechanische Probleme untersucht hatten. Es war ein uralter Trick von Vergewaltigern, so alt wie die Reifen selbst, etwas Luft herauszulassen, dem Wagen zu folgen und darauf zu warten, dass das Opfer an den Straßenrand fuhr.
Ganz zu schweigen von der Alarmanlage der Autos. Funktionsuntüchtig gemacht, ausgeschaltet oder in einwandfreiem Zustand? Die Fragen lagen auf der Hand, aber Hess hatte schon Tausende Male gesehen, dass sie unbeantwortet blieben.
Immer die Alarmanlage überprüfen!
In den Berichten über den Zustand der Autos fand sich nirgends ein Hinweis auf einen Kampf.
Auf die Rückseite von Kanes Abschleppanordnung schrieb Hess: Fundorte prüfen; mit dem Macy’s-Angestellten reden, der Janet gesehen hat; Autos auf Spuren an den Fenstern überprüfen – Alarmanlage/Probleme; baldmöglichst Labor wegen Kane-Auto und Abschlussbericht der Spurensicherung kontaktieren; Scheckkarte wegen Bargeldabhebung nach Entführung überprüfen, Kane Einkauf/wie bezahlt?; wo war Erstkontakt – im Laden, auf Parkplatz, an Fundstelle der Autos? Möglichkeiten, das Vertrauen des Opfers/dessen Mitarbeit zu erlangen: Dienstmarke, Gewalt, Androhung von Repressalien, Wachmann/Polizisten verkörpern, Ausbildung als Gesetzeshüter oder von der Polizeiakademie irgendwann abgelehnt worden? Einfach gute Gelegenheit oder Opfer aus bestimmten Gründen gewählt? Blut auf Drogen untersucht oder war Probe ungeeignet? – Wie viel Blut an jedem Fundort? Sättigungsanalysen mit selber Erde oder mit Laborerde durchgeführt? Was für Eingeweide genau? Täter organisiert ... Welche Erkenntnisse, was zwischen Entführung und Fundort geschah? Was ist am Fundort passiert, was danach? Bluthunde in größerem Umkreis, Schleifspuren, im See tauchen ...
An diesem Abend beobachtete Hess von seinem Balkon aus den Sonnenuntergang. Einen Teil davon verschlief er. Er lauschte auf den Lärm der Fifth Street und auf die Stimmen der Kinder und der Touristen auf dem Gehweg unter ihm. Er erinnerte sich, wie es war, ein Kind zu sein, und dass er hier meistens glücklich gewesen war, wenn er auf seinem Fahrrad durch die Straßen der Newport-Halbinsel hatte streifen können oder mit einem Paar übergroßer Schwimmflossen, die ihn wie einen Delfin durch das Wasser katapultiert hatten, auf den Wellen geritten war.
Seine Wohnung lag direkt über der Garage. Sie war groß und wie eine Ferienwohnung möbliert: türkisfarbene Plastiksofas auf schwarz-weiß karierten Böden, eine Küchenecke mit einem gelben Tisch, auf dem ein halbes Jahrhundert lang Kaffeetassen abgestellt worden waren. Hess mochte die schreiende Billigkeit der Wohnung. Wenn er nachts nach Hause kam und das Licht einschaltete, schien sie ihn förmlich anzuspringen. Man hatte einen Blick aufs Meer, und das beinahe umsonst, weil das Haus einem reichen Mann gehörte, dem Hess einmal geholfen hatte.
Ein Teller mit kalten Spaghetti stand auf dem Tisch neben seiner Balkonliege, ein unberührtes Glas mit Scotch und geschmolzenem Eis daneben. Man hatte ihn gewarnt, dass er während der Behandlung seinen Appetit verlieren würde, und so war es auch gekommen. Man hatte auch gesagt, dass ihm wahrscheinlich die Haare ausfallen würden, aber das war nicht passiert. Hess war darauf insgeheim stolz. Die Sitzungen erfolgten jeweils drei Tage in Folge, eine Behandlungseinheit pro Monat, vier Monate lang, wenn man es durchhielt. Wenn dabei zu viele rote Blutkörperchen vernichtet wurden, musste man aufhören. Mit dem heutigen Tag hatte er zwei Behandlungseinheiten abgeschlossen, zwei standen ihm noch bevor.
Er hinterließ eine Nachricht auf Merci Rayborns Anrufbeantworter im Büro. Er sagte, er habe an diesem Morgen mit dem Kane-Fundort angefangen und sich einige Gedanken dazu gemacht und er hoffe, er könne ihr bei ihren Ermittlungen helfen. Hess wollte es gleich richtig machen, je weniger Überraschungen, desto besser. Er fragte sich, ob es Merci immer noch mit vierzig bis zur Chefin der Mordkommission geschafft haben wollte.
Dann rief er Robbie Jillson an, der sich einverstanden erklärte, den Wagen seiner Frau am nächsten Morgen um acht zum County-Depot für sichergestellte Wagen zu bringen. Er klang betrunken. Laut der Akte befand sich Janet Kanes Wagen immer noch bei der Spurensicherung.
Um 21 Uhr lag Hess im Bett. Es fühlte sich gut an, den Wecker auf fünf Uhr früh zu stellen und zu wissen, dass man einen Grund zum Aufstehen hatte. Hess verlangte nicht mehr vom Leben, als dass er gebraucht wurde. Er schaltete das Licht aus.
Er dachte an seine Ehefrauen, wie er es oft tat, und ihm wurde klar, dass er ihnen noch ein paar Dinge mitteilen wollte, Dinge, die gesagt werden mussten. Er hörte das Meer, das aufs Land zurollte, und fragte sich, warum Wellen wie Autos klingen konnten, Autos aber niemals wie Wellen.
Zuletzt überlegte er, was wohl der Angestellte von Macy’s gedacht hatte, als er Janet Kane beim Verlassen des Ladens beobachtete.
»Wir sollten ein paar Dinge von vornherein klarstellen«, sagte Merci Rayborn. Sie lief einen halben Schritt vor Hess, die Hände in die Hüften gestemmt, mit einer Fliegersonnenbrille auf der Nase. Sie waren zum ersten Mal außerhalb des Gebäudes und somit außerhalb der Hörweite anderer Deputys.
Sie gingen über das Depot mit den abgeschleppten Kraftfahrzeugen zur Sicherstellungshalle, vorbei an Autos, die zuletzt von Betrunkenen, Dieben, brutalen Ehemännern, Mördern oder auch harmloseren Bürgern, die es einfach versäumt hatten, ihre Strafzettel zu bezahlen, gefahren worden waren. Die Sonne brannte heiß an diesem späten Vormittag und der Himmel war dunstig vor Smog. Die schmutzigen Windschutzscheiben verschluckten einen Großteil des Sonnenlichts.
»Zuallererst einmal ist das mein Fall«, fuhr Merci fort.
Ihre Stimme klang fest und sicher, aber nicht laut. Merci war groß, mit schweren Knochen, trug Chinos, eine lässige Bluse und eine von diesen allgegenwärtigen schwarzen Windjacken der Gesetzeshüter, auf deren Rückseite in orangefarbener Blockschrift OCSD, die Abkürzung für Orange County Sheriff Department, stand. Dazu schwarze Uniformstiefel. Ihre Haare waren schwarz und zurückgebunden.
Sie lief etwas langsamer und sah Hess direkt in die Augen. »Ich führe die Gespräche. Wenn Sie damit ein Problem haben, sollten Sie sich möglicherweise aus diesem Fall zurückziehen.«
»Ich brauche die Sozialleistungen.«
»Davon habe ich gehört.«
Sie gingen weiter, Merci wieder einen Schritt vor ihm. Merci Rayborns Kopf drehte sich zu ihm um und sie durchbohrte ihren neuen Partner mit Blicken. Hess fragte sich, ob er zu langsam lief oder ob Merci einfach sehr schnell ging. Sein Genick war nach seinem Sturz von der Eiche ganz steif.
»Hier meine Wunschliste«, sagte sie. »Erstens, rauchen Sie nicht in meinem Wagen. Ich habe vor zwei Monaten wieder mal damit aufgehört und ich neige zu Rückfällen. Zweitens, machen Sie sich nicht die Mühe, mich zum Mittagessen einzuladen, weil ich mittags nämlich keine Pause mache. Ich esse im Auto oder nehme mir etwas aus der Cafeteria mit an meinen Schreibtisch. Sprechen Sie nicht mit den Medien über Jillson oder Kane. Ich kümmere mich um die Medien oder überlasse diese Aufgabe Wally dem Wiesel aus der Pressestelle. Wir bewegen uns hier auf dünnem Eis. Sie haben heute Morgen das Journal gelesen, also wissen Sie, wie es laufen wird. Der ›Handtaschendieb‹ – ist das nicht süß? Sie haben sich festgebissen, und sie werden erst loslassen, wenn etwas Besseres des Weges kommt. Das hier bereitet der Mittelschicht schlaflose Nächte, denn es handelt sich nicht um Schüsse aus fahrenden Autos im mexikanischen Viertel, um arme Weiße oder Junkies. Wenn die Frauen in diesem County aufhören, Einkaufszentren aufzusuchen, wird das die örtliche Wirtschaft ruinieren. Also überlassen Sie die heißen Eisen mir, ist das klar?«
»Klar.«
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann raus mit der Sprache. Ich bin ein großes Mädchen. Aber ich schulde Ihnen keinen Gefallen, gleichgültig wie viele Mastodonten Sie mit meinem Vater geschlachtet haben. Ich kann auch keine Action hinter meinem Rücken gebrauchen, so wie die Dinge hier laufen.«
»Das war sehr deutlich. Ich hab schon kapiert.«
Sie blieb stehen und brachte Hess zum Anhalten, indem sie eine Hand auf seine Schulter legte. »Und zu guter Letzt: Sollten Sie mir an den Hintern fassen oder meine Brüste befummeln, landet Ihr Pimmel umgehend zu Präsentationszwecken auf einem Silbertablett. So, das war meine Wunschliste. Also, werden wir miteinander auskommen?«
Hess sah, wie sich kleine Fältchen in den Mundwinkeln der Frau bildeten, aber da ihre Augen hinter der Sonnenbrille versteckt waren, wusste er nicht, ob die Fältchen auf ihren Sinn für Humor zurückzuführen waren oder auf etwas anderes. Das »etwas anderes« machte ihm Sorgen.
Hess begriff nun, warum Brighton ihr den Fall nicht weggenommen hatte – ein Fall, der mit Sicherheit ziemlich heiß werden würde. Er wollte ihren Triumph oder ihre Niederlage erzwingen. Und Hess’ eigene Rolle wäre die des Zeugen des einen oder des anderen, je nachdem, wie es lief.
Das musste ihr auch klar sein. Hess nickte und schüttelte die Hand, die sie ihm anbot: trocken, stark, glatt.
»Eigentlich kann man gut mit mir Zusammenarbeiten«, ergänzte sie. Es klang so, als ob sie es selbst gern glauben wollte.
Sie kamen zu der Halle, in der die abgeschleppten Autos untersucht wurden. Ein alter Toyota wurde von einem der Kriminaltechniker überprüft. Der Wagen hatte einen Blutfleck in Form eines Kopfes auf dem Dach und zwei kleinere auf der Motorhaube. Hess vermutete, dass Kniescheiben für die Abdrücke auf der Motorhaube verantwortlich waren, und schätzte eine Aufprallgeschwindigkeit von über fünfzig Kilometern pro Stunde. Ein weiterer Techniker wandte sich den Flecken mit ausdruckslosem Gesicht und einer Pinzette, mit der er einen menschlichen Zahn umklammert hielt, zu.
Janet Kanes BMW stand am anderen Ende der Halle. Er war immer noch teilweise zerlegt – die Wagentüren ausgehängt, die Seitenfenster entfernt. Auch die Sitze waren herausgenommen worden und lehnten nun an der Wand der Halle. Eine durchsichtige Plastikplane war über die Autositze geklebt worden.
Daneben stand Lael Jillsons Infiniti, wie Robbie Jillson es versprochen hatte. Er funkelte schwarz in dem gleißenden Licht. Die Fahrertür war offen und einer der Techniker hebelte gerade ein Seitenfenster aus der Verankerung.
»Was macht der Wagen wieder hier?«, wollte Merci wissen. »Wir haben ihn schon vor Monaten untersucht.«
»Ich habe gestern Abend mit ihrem Ehemann gesprochen.«
Merci stellte sich zwischen Hess und den Wagen, dann drehte sie sich zu ihm um. Sie nahm die Brille ab. Hess konnte absolut nichts Geduldiges oder Verzeihendes in ihrem Blick erkennen.
»Nein, Hess, nein. Führen Sie keine Befragungen durch, ohne sie vorher mit mir abgesprochen zu haben. Ordnen Sie keine Fahrzeuguntersuchungen, keine Laboruntersuchungen und auch sonst nichts an, ohne es vorher mit mir abzuklären. Untersuchen Sie keine Tatorte erneut, ohne vorher mit mir zu sprechen. Ich leite die Ermittlung. Sie sind der pensionierte Teilzeitberater. Sie gehen keinen Vermutungen nach und Sie treffen auch keine privaten Absprachen. Wir arbeiten hier als Team. Haben Sie verstanden?«
»Ich glaube, Sie haben etwas vergessen.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Was die Autos betrifft. Wir müssen uns die Unterseite der Seitenfenster anschauen. Bei allen vier Scheiben. An beiden Autos.«
Merci stand immer noch vor ihm, den Kopf leicht nach rechts geneigt. Sie war überraschend groß. Hess sah den Zorn in ihren Augen – und das Misstrauen.
»Kemp war für die Arbeit an den Autos verantwortlich«, sagte Hess. Er wollte nicht zu ihren Gunsten die Schuld auf Kemp abwälzen, aber es klang so.
Er beobachtete, wie sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.
»Warum sollten wir die Ränder der Fensterscheiben nach Fingerabdrücken absuchen?«, wollte sie wissen. »Niemand kann sie dort unten berühren. Es sei denn, sie wären herausgenommen worden.«
»Wir suchen nicht nach Fingerabdrücken. Wir suchen nach Spuren.«
»Von was?«
»Von einem ›Slim Jim‹ – einem Drahtbügel, der zum Autoknacken verwendet wird.«
»Autoknacker benutzen seit zwei Jahrzehnten keine Slim Jims mehr.«
»Er ist kein simpler Autoknacker.«
Merci drehte sich um und ging zu dem BMW. Sie schob die Plastikplane hoch. Hess half ihr, die schweren Scheiben anzuheben und einzeln gegen das Licht zu halten. Er blickte auf die Glasränder hinunter. Die ersten beiden Scheiben waren sauber.
Auf der dritten Scheibe fand Hess, wonach er suchte – hinten, Fahrerseite. Das Einbruchswerkzeug hatte knapp zehn Zentimeter dumpfen Abrieb auf der Außenseite des Glases, in der Nähe des unteren Endes, hinterlassen. Es war die Art von flacher Abschabung, die ein Stahlwerkzeug verursachte, wenn man es auf und ab bewegte und dabei versuchte, die Türverriegelung zu öffnen. Man konnte den Abrieb nicht erkennen, solange die Scheibe noch in der Tür steckte. Für Hess sah es so aus, als ob es hier etwas länger gedauert hätte. Er kannte altgediente Autodiebe, die einen Riegel in weniger als fünf Sekunden öffnen konnten, je nach Bauart und Modell. Die Schwierigkeit war die Alarmanlage.
Ein paar Minuten später hatte Ike, einer der Kriminaltechniker, die Scheibe hinter der Fahrerseite aus Lael Jillsons schwarzem Infiniti gehoben. Schwarze Unendlichkeit, dachte Hess und ging in die Knie, um die Spuren des Slim Jim am unteren Ende der Scheibe zu betrachten.
Merci Rayborn fuhr mit den Fingerspitzen über die Kratzer und stand auf. »Wenn er sich mit einem Slim Jim Zugang verschafft, dann muss er vorher die Diebstahlsicherung ausschalten.«
»Das muss er. Falls sie eingeschaltet war.«
»Ich sage Ike, er soll die Autos bis auf den letzten Draht auseinandernehmen und herausfinden, wie er es angestellt hat.«
Hess fragte sich, wie lange Ike den Auftrag hinauszögern würde, wenn man ihm derart Befehle erteilte. In einer Bürokratie funktionierte Zusammenarbeit niemals ohne Gegenleistung. Eigentlich ging es Hess ja nichts an, aber wenn etwas der Effizienz der Arbeit im Weg stand, dann ging es ihn doch etwas an. Merci Rayborn war seine unmittelbare Vorgesetzte, aber der Handtaschendieb war ihrer beider Sache. Hess schob diesen Gedanken beiseite, etwas, was er nach 67 Jahren auf diesem Planeten gelernt hatte.
»Heutzutage ist alles elektronisch«, erklärte er. »Bei den heutigen Modellen.«
Dann sagte Merci etwas, was Hess überraschte. Seine eigenen Gedanken hatten sich in dieselbe Richtung bewegt, aber sie war zuerst ans Ziel gelangt.
»Wenn er sich nicht gewaltsam Zutritt verschafft«, meinte sie, »dann wartet er vielleicht schon auf sie, wenn sie einsteigen. Auf dem Rücksitz, hinter dem Fahrersitz. Aus diesem
Grund bevorzugt er Parkplätze im Freien, bei Nacht.«
Hess sah sich das zerkratzte Fenster an, dann blickte er zu Merci Rayborn auf und nickte.
»Ich hasse diesen Mistkerl«, verkündete sie mit ruhiger Stimme. Dann rief sie über ihre Schulter: »Ike!«
Merci nahm Ike zur Seite und bat ihn, herauszufinden, wie die Diebstahlsicherung umgangen worden war – die Klärung dieser Frage hatte Priorität. Sie mochte Ike, weil er ungefähr in ihrem Alter war – Anfang dreißig –, und das bedeutete, er verkörperte die Zukunft der Abteilung. Ebenso wie sie. Es war gut, zu den unter Vierzigjährigen zu gehören und zu wissen, dass man diesen Laden eines Tages schmeißen würde. Wenigstens einige von ihnen würden das. Ike schien bereit, schwer für Merci zu arbeiten, damit sie ihn, sobald sie das Sagen hatte, beförderte.
Ike lächelte, als Merci ging. Sie salutierte informell vor ihm. Als sie an Lael Jillsons Wagen vorbeikam, stellte sie sich einen Mann vor, der in dem geräumigen Fußraum des Fonds kauerte, verborgen im Schutz der Dunkelheit. Sie stellte sich vor, wie sie nachts in ihren Wagen stieg und sich sicher fühlte, vielleicht ein wenig müde nach einem langen Tag war, wie sie es sich auf dem schönen Ledersitz bequem machte, wie sie mit eingeschalteter Innenbeleuchtung den Schlüssel in das Zündschloss steckte. Und dann? Sie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten.
Vor der Halle lief sie langsamer, um sich dem Tempo von Tim Hess anzupassen. Merci hatte einen schnellen und entschlossenen Schritt, und es nervte sie, sich nach dem Tempo von anderen richten zu müssen. Die Tatsache, dass er gegen den Krebs kämpfte, machte alles schwerer als nötig. Die Ermittlung in einem Mordfall war nicht der richtige Zeitpunkt für unbeholfenes Mitgefühl. Sie warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu und fragte sich, wie sie mit ihrem neuen Partner eine Art professioneller Verbundenheit erreichen könnte. Merci betrachtete seine blassblauen Augen, den markanten Kiefer, das kurze, dicke Haar mit der kleinen Tolle, die sich über der Stirn wellte. Zu seiner Zeit muss er ganz ordentlich ausgesehen haben, dachte sie.
»Ich esse in meinem Wagen zu Mittag«, verkündete sie, selbst überrascht, wie schroff es klang. Sie war nicht versiert im gesellschaftlichen Umgang und das wusste sie auch. Eigentlich wollte sie ihm mitteilen: Ich habe gestern auf dem Revier fünf Anrufe von Reportern bekommen, die alle über die Klage wegen sexueller Belästigung reden wollten, und fünf weitere gestern Abend zu Hause. Sie fragte sich, ob sie das nicht einfach hätte sagen sollen.
Merci sah wieder zu Hess. Er wirkte entschlossen. Er schien zweimal so groß und energiegeladen wie ihr Vater zu sein, aber sie nahm die Müdigkeit in seinen Augen wahr.
»Sie werden die nächsten vier Stunden wie folgt verbringen«, fing sie an. »Die Scheckkartenauswertung sollte mittlerweile von den Banken eingegangen sein. Wenn er mit ihren Karten Geld abgehoben hat, will ich wissen, wo. Ich möchte, dass Sie sich etwas intensiver mit ihrem Leben beschäftigen. Sollte er seine Opfer bewusst ausgewählt haben, dann ist Ihnen vielleicht das Glück hold und Sie stoßen auf einen Zusammenhang. Ich habe die Marketing- und Verkaufsförderungsabteilungen der beiden Einkaufszentren angerufen, wollte herausfinden, ob dieser Kerl durch irgendeine Veranstaltung angelockt worden sein könnte, irgendein Event oder so – Sie wissen schon: die ganze Scheiße, die sie zelebrieren, um mehr zu verkaufen. Sobald das Labor die Arbeit am BMW abgeschlossen hat, werden wir die Ergebnisse mit denen des Infiniti vergleichen und nach Übereinstimmungen suchen. Gilliam hat angekündigt, um zwölf Uhr fertig zu sein, also in einer halben Stunde, und wenn er sein Versprechen hält, fangen Sie ohne mich an. Er meinte, er würde bis zum frühen Nachmittag auch wissen, wie viel Blut an jedem der Fundorte verloren wurde – mit Hilfe Ihrer Proben. Dann haben wir einen ersten Anhaltspunkt. Zu guter Letzt sollte einer von uns die Bluthunde in einem größeren Umkreis suchen lassen. Wenn nichts dabei herauskommt, müssen wir in die Lagune tauchen oder Schleppnetze einsetzen. Ich weiß, Sie sind früher für uns getaucht, darum überlasse ich Ihnen die Wahl – tauchen oder Netze. Ich möchte außerdem, dass Sie sich die Fundorte der Autos ansehen. Das kann zwar warten, aber nicht für immer. Wie finden Sie meinen Vorschlag?«
»Gut.«
Merci dachte im Gehen nach, ohne auf den Boden vor sich zu achten. »Sie sind sicher, dass er sie umgebracht hat, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wo wir das Blut gefunden haben?«
»Ich denke, ja.«
»Warum?«
»Es war so viel Blut da. Ich bin erst zu dem Schluss gelangt, als ich es mit eigenen Augen gesehen habe.«
»Aber keine Kleider. Kein Fleisch, keine Fasern, keine Knochen. Nichts als Blut und Handtaschen. Die Handtaschen für uns und die Führerscheine für ihn.«
»Und die Eingeweide.«
»Haben Sie nicht gelesen, wie wenig Organspuren gefunden wurden? Alle zusammen wiegen weniger als ein Drittel Gramm. Gilliam ist sich nicht einmal sicher, ob sie von einem Menschen stammen.«
»Von wem sonst?«
»Von Tieren.«
Hess schwieg und schaute sie nicht an.
»Was macht er Ihrer Ansicht mit ihnen da draußen?«
»Er weidet sie aus.«
Merci fragte ihn, was er damit meine, und er sagte es ihr.
Sie spürte, wie sich ihr erneut die Nackenhaare aufstellten, und sie stellte sich vor, wie der ausblutende Körper einer jungen Frau am Ast einer Eiche draußen am Ortega baumelte. Sie dachte an die Kadaver von Schlachtvieh, wie deren Gliedmaßen abgetrennt wurden, alles wurde herausgeschnitten und verwendet.
»Wenn er sie ausgeweidet hat, warum gab es dann nicht mehr Organspuren, Hess?«
»Tiere fressen alles bis auf den letzten Rest. Und in einem heißen Sommer wie diesem sind sie besonders hungrig.«
»Dann werden wir auch nichts in der Lagune oder den umliegenden Wäldern finden«, sinnierte sie. »Wenn er sich so viel Mühe macht, dann wird er nicht einfach liegen lassen, was von ihnen übrig blieb.«
»Nein. Aber Sie haben Recht – wir müssen die Hunde in einem größeren Umkreis suchen lassen und dann in die Lagune tauchen.«
Etwas anzunehmen, was sich dann als falsch herausstellte, war das Schlimmste, was ein Ermittler tun konnte, das war Merci klar. Man verbrachte viel Zeit damit, das Offensichtliche zu beweisen, weil man es sich nicht leisten konnte, im Irrtum zu sein. »Stehen Sie mit McNally auf gutem Fuß?«
Hess erwiderte, dass sie schon zusammengearbeitet hätten.
»Dann regeln Sie das«, sagte sie, erleichtert, dass sie nicht selbst mit Mike reden musste.
»Ist gut.«
Merci sah, dass er die Stirn runzelte, und spürte, wie sich die Wut in ihrer Brust zusammenballte. Ihre Wut war schnell und stark, und sie hatte nicht gelernt, sie zu kontrollieren.
»Sie haben es bereits getan.«
»Das war vor Ihrer Grundsatzrede über unsere Regeln. Wie auch immer, er steht zur Verfügung, sobald Sie das Kommando geben.«
»Ich habe diese Regeln nicht zum Scherz aufgestellt. Keine einzige davon.«
»Es ist Zeitverschwendung, wenn ich keinen einzigen Gedanken fassen darf, ohne dass Sie ihn genehmigen.«
»Hess, alle wichtigen Entscheidungen werden vom leitenden Ermittler in Absprache mit seinem Vorgesetzten und in Übereinstimmung mit diesem Handbuch und der Politik der Abteilung getroffen.«
»Ich weiß. Ich habe diesen Abschnitt zusammen mit Brighton geschrieben, vor ungefähr einer Million Jahren.«
Sie wollte nicht darauf eingehen. »Ich habe schon am Stil gemerkt, dass es vor langer Zeit verfasst worden sein muss.«
Er dachte einen Moment über ihre Äußerung nach.
»Tja«, meinte er dann, »ich will beide Äste, an denen es Seilspuren gibt. Möglicherweise finden sich Fasern, die wir testen können. Ich hätte sie ja selbst abgesägt, als ich draußen war, aber ich hatte keine Säge dabei.«
»Na gut. Schön.«
Sie gab ihm ihre Handynummer und ermahnte ihn, die Nummer nur im Notfall zu verwenden. »Die Anrufe muss ich aus eigener Tasche bezahlen, weil die Abteilung zu geizig ist, uns Handys zur Verfügung zu stellen. Ich habe mir auch selbst ein Faxgerät für meinen Wagen zugelegt. Jedenfalls übernehme ich die Lagune und ich besorge Ihnen auch die Äste. Ich muss mir die Fundorte ohnehin nochmal vornehmen.«
Er sah sie mit seinem Falkengesicht und den scharfen Augen und der schrecklichen Frisur an. Dieser Hess war merkwürdig.
»Wann brauchen Sie McNally und die Hunde?«, fragte er.
»Sie sollen gleich loslegen. Ich stoße später dazu.«
»Noch eins. Schneiden Sie sie von außen her ab. Die Äste.«
»Ich weiß.«
Merci besorgte sich einen großen Kaffee zum Mitnehmen, mit Deckel, und fuhr mit ihrem geräumigen Impala nach Costa Mesa. Sie legte ihre Heckler & Koch 9 mm auf den Beifahrersitz, weil die Waffe beim Fahren gegen ihren linken Arm drückte. Merci legte ihn gern auf der Lehne ab und fuhr mit der Rechten am oberen Ende des Lenkrads, von wo sie den Wagen mit müheloser Kraft lenkte. Als sie aufwuchs, hatte sie beobachtet, wie ihr Vater den Familienwagen auf diese Weise lenkte. Der einzige Unterschied war, dass ihr Vater langsam fuhr, Merci dagegen schnell.
Die Adresse der Kosmetikerin stellte sich als nettes, kleines Haus an der Westseite heraus, nahe Newport Beach, aber dennoch erschwinglich für junge Leute mit geringen Gehältern. Die Kosmetikerin hieß Kamala Petersen und wohnte mit zwei ihrer Arbeitskolleginnen zusammen. Sie hatte sich an dem Abend, als Janet Kane verschwand, in demselben Einkaufszentrum aufgehalten, und ihr war jemand aufgefallen. Als man dann Janet Kane öffentlich als vermisst bekannt gab, hatte Kamala sich gemeldet. Merci hatte sie schon vor zwei Tagen kurz befragt und festgestellt, dass Kamala leicht erregbar und flatterhaft war und nicht in der Lage, sich zu konzentrieren. Aber etwas steckte in Kamala Petersen, was sie nicht herausließ. Merci glaubte zu wissen, was es war, und sie war fest entschlossen, es herauszubekommen.
Hypnose war ein Kompromiss, denn man erzielte gute Ergebnisse, aber die Aussage eines hypnotisierten Zeugen durfte vor kalifornischen Strafgerichten nicht verwendet werden. Zwei der Staatsanwälte und der Vertreter des Sheriffs hatten sich gegen diese Sitzung ausgesprochen. Merci hatte Risiken und Nutzen abgewogen und beschlossen, dass die Beschreibung eines Verdächtigen mehr zählte als der Verlust einer möglichen Zeugin. Es würde andere Zeugen geben: Sie würde sie finden und vorladen lassen. Schließlich hatte sie sich durchgesetzt. Merci misstraute selbst dem kleinsten Ansatz von Demokratie, deswegen wollte sie ja auch eines Tages Sheriff werden.
Kamala war eine grobknochige, unattraktive Frau mit krausen Haaren, aber einer wirklich herrlichen Haut. Merci Rayborn hätte nichts dagegen gehabt, eine solche Haut ihr Eigen zu nennen, allerdings hatte sie kein Interesse an der Pflege eines solchen Teints. Außerdem hatte sie eine Narbe auf der Stirn, die sie sich mit drei Jahren an einem Couchtisch zugezogen hatte, und noch eine unterhalb des Haaransatzes, als sie mit sechs Jahren von einem Zaun gefallen war. Die Narben waren gar nicht so wild, aber wenn sie versuchte, sie mit Make-up zu überdecken, fielen sie ihrer Meinung nach nur noch mehr auf.
Kamala konnte ihr nicht die Hand schütteln, weil ihr Nagellack gerade trocknete. Merci sagte, sie wolle lieber nicht hereinkommen – es sei ja auch gleich Zeit zum Aufbruch.
»Ich bin irgendwie nervös«, meinte die junge Frau und bewegte die Hände vor der Brust, als ob sie Akkordeon spielte.
»Das wird ein Kinderspiel.«
»Das letzte Mal wurde ich im Magic Mountain hypnotisiert. Da hielt ich mich dann für Michael Jackson. Das Merkwürdige war, dass die Hypnose dazu führte, dass ich mich an nichts erinnerte. Meine Mom musste mir erst sagen, was ich für einen Idioten aus mir gemacht hatte.«
»Heute wird es keine Gesangs- und Tanzeinlagen geben, außer Sie wollen es. Denken Sie nicht weiter darüber nach. Tun Sie so, als ob wir zum Strand fahren. Ich möchte, dass Ihr Kopf bei Joan frei und unbeschwert ist. Kommen Sie, wir müssen los.«
Die beiden Hochhäuser mit Arztpraxen lagen neben einem großen Kino. Es gab jede Menge Parkplätze und Merci lenkte den Chevy unter eine Magnolie.
