Rote Schatten - T. Jefferson Parker - E-Book
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Rote Schatten E-Book

T. Jefferson Parker

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Beschreibung

Mord in Kaliforniens Rotlichtviertel Merci Rayborn, Ermittlerin mit Leib und Seele, soll den brutalen Mord an einem Callgirl aufklären. Doch die Ermittlungen werden für Merci zur Zerreißprobe, als sie herausfindet, dass ihr Freund und Kollege Mike McNelly in den Fall verwickelt ist … Während Mercis Weltbild ins Wanken gerät, drängt ihr Boss sie, einen weiteren Fall aufzuklären – der Mord an Patti Baily, ebenfalls einer Prostituierten, der jedoch bereits Jahrzehnte zurückliegt. Anonyme Nachrichten bestätigen schließlich Mercis schlimmste Befürchtungen: Auch an diesem Mord scheint die Polizei Mitschuld zu tragen … Je näher Merci der Wahrheit aus Korruption und Verrat kommt, desto größer wird die Gefahr. Denn jemand will die Wahrheit um jeden Preis begraben – und ist bereit, dafür zu töten … »Ein begnadeter Schriftsteller!« – The New York Times Fesselnde Krimispannung mit der taffsten Ermittlerin Kaliforniens – für Fans von Michael Connelly und Lee Child! Alle Bände der Reihe: Band 1: Dunkelstunde Band 2: Rote Schatten Band 3: Nachtspur Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 568

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Merci Rayborn, Ermittlerin mit Leib und Seele, soll den brutalen Mord an einem Callgirl aufklären. Doch die Ermittlungen werden für Merci zur Zerreißprobe, als sie herausfindet, dass ihr Freund und Kollege Mike McNelly in den Fall verwickelt ist … Während Mercis Weltbild ins Wanken gerät, drängt ihr Boss sie, einen weiteren Fall aufzuklären – der Mord an Patti Baily, ebenfalls einer Prostituierten, der jedoch bereits Jahrzehnte zurückliegt. Anonyme Nachrichten bestätigen schließlich Mercis schlimmste Befürchtungen: Auch an diesem Mord scheint die Polizei Mitschuld zu tragen … Je näher Merci der Wahrheit aus Korruption und Verrat kommt, desto größer wird die Gefahr. Denn jemand will die Wahrheit um jeden Preis begraben – und ist bereit, dafür zu töten …

eBook-Neuausgabe Juli 2025

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »Red Light« bei Hyperion Books, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2000, 2001 by T. Jefferson Parker

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 by

Ullstein Buchverlage GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Pixels Park und AdobeStock/vectorwin

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)

 

ISBN 978-3-98952-841-3

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected] . Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

 

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected] .

 

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T. Jefferson Parker

Rote Schatten

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Norbert Möllemann

 

Prolog

 

Nicht jeder mochte Aubrey Whittaker. Sie gab sich überlegen. Sie ging, als sei sie die schönste Frau der Welt, was sie nicht war. Sie redete nicht viel. Obwohl sie groß war, trug sie hochhackige Schuhe, und wenn sie schließlich doch einmal etwas sagte, kam man sich vor wie ein Autofahrer, der einen Strafzettel kassiert. Ein Blick aus ihren blauen Augen machte klar, dass sie maßlos enttäuscht von einem war. Sie war neunzehn.

Sie hatte ihn an jenem Abend wieder in ihre Wohnung bestellt, was bisher erst einmal vorgekommen war. Ein Regelverstoß. Aber er war anders als die anderen, auf entscheidende Weise anders. In ihrem Leben hatte sie gelernt, die Männer zu durchschauen. Sie waren so leicht zu lesen wie Verkehrsschilder: Vorsicht, Vorfahrt, Stop. Aber konnte man sie auch verstehen?

Aubrey trug ihr kleines Schwarzes, Strumpfhose mit Naht, Pumps mit Knöchelriemchen und eine Perlenkette. Keine Perücke, sondern ihre kurzen, blonden Haare, die hochstanden wie bei einem Jungen. Apfelroter Lippenstift.

Sie machte ihm Abendessen. Sie konnte nur ein einziges Gericht gut kochen und das gab es heute. Dazu Salat, Brötchen vom Bäcker, einen Becher mit dem französischen Kaffee, den er gern mochte, und Nachtisch. Blumen in einer runden Kristallvase, die ein Vermögen gekostet hatte.

Sie setzten sich einander gegenüber an den kleinen Tisch. Aubrey überließ D. B. den Platz mit Blick auf den Pazifik. »D. B.« stand für Dark Boy. Diesen Spitznamen hatte sie ihm gegeben, weil er immer so pessimistisch war. Der Name hatte auch etwas Ironisches, denn D. B. wirkte eher wie ein Sonnyboy, mit einem breiten, braun gebrannten Gesicht, einem gepflegten Schnurrbart, wachen Augen und einem blonden Haarschopf, der ihm wie einem Schuljungen in die Stirn fiel. Er lächelte viel, auch wenn sein Lächeln meist etwas Nervöses hatte. Er war fast zehn Zentimeter größer als sie und stark wie ein Pferd, das war nicht zu übersehen. Er erzählte blöde Witze.

Sie sagte ihm, er könne sein Pistolenhalfter über den Stuhl hängen, aber er behielt es an, ein bisschen weiter auf dem Rücken, als man es aus Filmen kennt. Meinetwegen, dachte sie. Das Gefühl von Sicherheit gefiel ihr, ließ sie eine besondere Art von genüsslicher Willfährigkeit empfinden. Aubrey Whittaker erlaubte sich nur selten echte Gefühle, konnte sie manchmal nicht von den gespielten unterscheiden.

Sie unterhielten sich. Kaum einmal wandte er den Blick von ihrem Gesicht ab, und wenn doch, dann nur für einen kurzen Moment. Ein begehrlicher Blick. Nach dem Abendessen blieb er noch kurz sitzen, wischte das Besteck mit seiner Serviette ab. Er war penibel. Dann brach er auf, genau zu der Uhrzeit, die er angekündigt hatte. Er wolle jemanden wegen eines Hundes treffen, sagte er. Einer von ihren kleinen Privatscherzen.

An der Tür umarmte sie ihn, legte ihr Kinn auf seine Schulter und lehnte ihren Kopf für einen kurzen Augenblick an sein Ohr. Sie spürte die Spannung, die von ihm ausging wie Hitze, die nach einem Sommertag vom Highway abgestrahlt wird. Der Mann, den sie brauchte, müsste so sein wie D. B., dachte sie. Dann richtete sie sich auf, lächelte und schloss die Tür hinter ihm. Es war erst zehn Minuten nach zehn.

Sie schaltete den Küchenfernseher an, suchte, bis ein Prediger auf dem Bildschirm erschien, stellte das Geschirr in die Spüle und ließ Wasser darüber laufen. Sie sah einen Wagen vom Parkplatz rollen und Bremslichter an der Bodenschwelle aufleuchten. Vielleicht war es D. B.’s großer, eindrucksvoller Schlitten, vielleicht auch nicht.

Aubrey durchströmte ein warmes Gefühl, als hätte sich ihr Blut um ein paar Grad erwärmt, als käme sie gerade aus der heißen Badewanne oder als hätte sie soeben ein großes Glas Rotwein getrunken. Sie schüttelte den Kopf und an den Rändern ihres apfelroten Mundes erschienen Lachfältchen. Einfach unglaublich, Mädel, dachte sie, was du mit deinem Leben anstellst. Von hundert Jahren hast du gerade einmal neunzehn hinter dir. Endlich findest du einen Mann, den du halbwegs ertragen kannst, er zittert, wenn er durch seine Kleider hindurch deine Berührung spürt, und dann lässt du ihn wegfahren.

Oh, er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes!

Lied aus der Bibel.

Ich habe dir im Kino einen geblasen.

Lied aus dem Radio.

Hat sich alles geändert oder gar nichts?

Sie spülte das Geschirr, trocknete sich die Hände ab und fettete sie mit einer Creme ein, die nach Lavendel duftete. Durch das Fenster betrachtete sie den schwarzen Ozean und den hellen Sand und die schaumigen Wellen, die über den Strand und dann wieder zurückfluteten.

Aubrey stand mitten im Wohnzimmer und schaute hinaus auf das Wasser und in die Nacht. Während sie über die unterschiedlichen Schattierungen von Schwarz nachdachte, zog sie ihre Pumps aus, dann ließ sie sich auf alle viere nieder. Gleichgewicht. Sie konnte den Lavendelduft riechen. Ihre Augen befanden sich auf gleicher Höhe mit der Armlehne des schwarzen Ledersofas.

Vorsichtig streckte sie ihre linke Hand aus. Behutsam hob sie ihr rechtes Knie vom Boden und schob es nach vorn. Dann kam der schwierige Teil, der Gewichtswechsel auf die andere Hand und der Augenblick der Instabilität, als sie das linke Knie anhob und nach vorn bewegte.

Sie wackelte ein bisschen, aber als ihr linkes Bein den Boden berührte, war sie wieder entspannt und völlig konzentriert, denn sie musste die komplizierte Prozedur wiederholen. Ihr Seelenklempner hatte ihr dazu geraten. Sie hatte es nie gelernt. Sie war schon mit elf Monaten gelaufen.

Ihr Psychiater hatte gesagt, um sich als Erwachsener völlig entfalten und bestimmte Zusammenhänge, besonders mathematische, begreifen zu können, müsse man krabbeln können.

Es klopfte an der Tür. Plötzlich wurde ihr klar, was für ein lächerliches Bild sie abgeben musste: eine Frau von fast eins achtzig im kleinen Schwarzen, die umhüllt von Lavendelduft auf dem Boden herumkroch.

Sie sprang auf und trat an die Tür. »Wer ist da?«

»Ich bin’s noch mal, Aubrey ...«

Es war kaum zu verstehen bei dem Verkehrslärm auf dem Coast Highway.

»... dein Dark Boy.«

Sie betätigte den Schalter für die Verandabeleuchtung und lugte durch den Türspion. Die Glühbirne musste durchgebrannt sein, denn sie konnte nur eine mit Weihnachtskerzen geschmückte Ecke des Wohnhauses auf der anderen Seite der Gasse und die winzigen Scheinwerfer auf dem Coast Highway erkennen, die in dem mit Feuchtigkeit beschlagenen Fischauge noch kleiner erschienen. Sie hatte die Glühbirne schon monatelang nicht mehr ausgewechselt.

Als sie die Tür öffnete, lächelte sie, weil sie fast mit seiner Rückkehr gerechnet hatte, weil sie wusste, dass sie ihn jetzt in der Hand hatte. Und weil sie glücklich war.

Dann erstarb ihr Lächeln und ihr letzter Gedanke war: Nein.

Kapitel 1

 

»Bitte treten Sie zur Seite. Polizei. Nun machen Sie schon. Weg da.«

Merci Rayborn duckte sich unter der Absperrung hindurch und ging weiter die Galerie entlang. Ihr Herz schlug schnell und ihre Sinne liefen auf Hochtouren. Sie registrierte gleichzeitig die auf dem Coast Highway zu ihrer Linken vorbeirasenden Autos, die Wellen, die sich auf der anderen Seite des Gebäudes brachen, das Gemurmel der Schaulustigen hinter ihr, den niedrig über den Bergen im Osten hängenden Mond, den Geruch des Meeres und den Gestank der Abgase, die kühle Nachtluft an den Wangen, die hölzernen Bohlen, die sich unter ihren Schuhen bogen. Hier zu wohnen, in San Clemente mit Blick aufs Meer, kostete wahrscheinlich zweitausend im Monat, und trotzdem hatte man Termiten in der Galerie und Spinnweben unter dem Verandadach.

Vielleicht sogar noch Schlimmeres.

Zwei Polizisten und zwei Sanitäter, die sich unterhielten, nickten ihr zu und traten zur Seite, um sie vorbeizulassen. Vor dem überdachten Eingang von Wave Street Nr. 23 blieb Merci stehen und betrachtete die grau gestrichene Tür, die einen Spaltbreit offenstand. Die roten Spritzer ein Stück über dem Türknauf schienen noch feucht im Licht der Deckenlampe – einer gelben Glühbirne, die angeblich weniger Insekten anlockte.

»Der Nachbar hat Lärm gehört und hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dann hat er die mutmaßlichen Blutflecken entdeckt. Er hat uns um 22.45 Uhr angerufen. Zehn Minuten später waren wir hier, haben geklopft, haben uns identifiziert, keine Reaktion. Die Tür war angelehnt. Dann bin ich reingegangen und habe die Leiche dort gefunden, wo sie jetzt liegt. Gemeinsam haben wir die Wohnung nach anderen möglichen Opfern durchsucht. Negativ. Außerdem nach einem Eindringling. Ebenfalls negativ. Ich habe das Opfer auf Lebenszeichen untersucht, konnte aber nur den Tod feststellen. Dann haben wir den Vorfall gemeldet und die Wohnung versiegelt.«

»Was haben Sie da drinnen sonst noch gemacht?«

»Nichts. Ich habe die Tür ungefähr wieder so angelehnt, wie sie es vorher war. Den Knauf habe ich nicht berührt.«

»Haben Sie irgendwelche Lichtschalter berührt?«

»Ja. Das hatte ich ganz vergessen, Ihnen zu sagen.«

»Diese Lampe hier draußen, war sie an, als Sie hier ankamen?«

»Ja, ganz bestimmt.«

»War die Tür angelehnt, als der Nachbar als Erster hierherkam?«

»Das hat er ausgesagt.«

»Fragen Sie ihn, ob wir in seiner Wohnung einen Raum für unsere Ermittlungen vor Ort benutzen können. Wenn er nein sagt, machen Sie es trotzdem.«

»Ja.«

»Besorgen Sie ein Zutrittsbuch, füllen Sie es aus und befestigen Sie es irgendwie hier an der Wand. Hier hat niemand Zutritt außer den Gerichtsmedizinern und Zamorra. Niemand.«

»In Ordnung, Sergeant.«

Die Sanitäter lehnten am Geländer, nahmen jedoch Haltung an, als Merci sich an sie wandte. Sie waren jung, sahen gut aus und kamen Merci vor wie Fernsehstars.

»Wir sind reingegangen, haben sie untersucht und sind wieder rausgekommen«, sagte einer der beiden. »Mit einem Defibrillator oder Wiederbelebungsmaßnahmen haben wir es erst gar nicht versucht. Das Opfer war schon kalt, das Blut sickerte bereits nach unten, in den Extremitäten hatte die Leichenstarre eingesetzt. Ich habe innen neben der Tür das Licht an- und dann gleich wieder ausgeschaltet. Sieht nach Schusswunde aus.«

Merci sah auf die Uhr. Dienstag, 11. Dezember, 23:40 Uhr. Sie zog Schutzhandschuhe an und schob die Tür mit der Schuhspitze auf.

In der Wohnung herrschte gedämpftes Licht. Merci sah eine Küche, einen kleinen, flimmernden Fernseher, einen Esstisch mit Blumen, eine Glasschiebetür auf der anderen Seite des Tisches. Aber was ihre Aufmerksamkeit erregte, lag direkt hinter der Tür, die sie mit dem Ellenbogen geöffnet hielt: eine junge Frau in einem schwarzen Kleid, die Arme wie zufällig nach hinten gelegt, so als schliefe sie tief, das Gesicht friedlich und unverletzt, den Kopf ein wenig nach hinten geneigt. Auf ihrer Brust und ihrem Bauch befand sich noch feuchtes Blut, das in dem Dämmerlicht schwarz aussah. Die Schwärze hatte sich zu beiden Seiten von ihr auf dem hellen Teppichboden ausgebreitet.

Merci kniete sich hin und legte zwei Finger ihrer rechten Hand auf die Jugularvene der jungen Frau. Sie hatte immer das Gefühl, den Toten ein bisschen Hoffnung schuldig zu sein, auch wenn es ihnen nichts mehr nützte.

Mit Hilfe einer kleinen Taschenlampe entdeckte sie das Loch im Kleid unterhalb der linken Brust direkt über dem Herzen. Ein weiteres fand sie nicht.

Der Nachbar hatte nichts von einem Schuss erwähnt. Auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war, ging Merci zurück zur Tür und schloss sie mit dem Fuß. Die Sanitäter, die wie Schauspieler aussahen und sie beobachteten, verschwanden aus ihrem Blickfeld.

Merci blieb zwischen der Toten und dem Esszimmer stehen. Es gab keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens oder eines Kampfes, zumindest nicht auf den ersten Blick. Neben dem Sofa standen ein Paar extrem hochhackige Schuhe, als stünde dort ein Geist, der sie beobachtete. In der Wohnung war es still, die gläserne Schiebetür war geschlossen und hielt die Dezemberkälte fern. Merci schloss die Augen, konzentrierte sich auf ihren Geruchssinn. Salzige Luft. Gebratenes Geflügel. Kaffee. Die verdammten Gummihandschuhe, natürlich. Ein leichter Geruch nach verbranntem Schießpulver? Leder. Vielleicht ein Hauch von Parfum, vielleicht aber auch die Blumen auf dem Tisch – Gardenien, Rosen, Lavendel? Und natürlich der obszöne Gestank nach vergossenem Blut – intim, fleischlich, anstößig.

Sie lauschte auf die Wellen. Auf den Verkehr. Auf den leise gestellten Fernseher: Ein Prediger rief zu Spenden auf. Auf irgendjemandes Schritte auf dem Holzboden der alten Galerie. Auf ihr Herz, das heftig in ihrer Brust pochte. Merci fühlte sich am lebendigsten, wenn sie für die Toten arbeitete. Sie hatte schon immer etwas für Underdogs übriggehabt.

Im Schlafzimmer fand sie eine Handtasche mit einer Brieftasche. Darin einen dicken Stapel Hunderter, ein paar Zwanziger, diverse Kreditkarten und einen Führerschein. Aubrey Whittaker. Neunzehn.

Die Frau war ein Mädchen, und das Mädchen war gerade mal halb so alt wie Merci. In dem Jahr, als Aubrey Whittaker geboren wurde, war Merci auf der Highschool in der elften Klasse gewesen. In dem Jahr, als Aubrey Whittaker ermordet wurde, war Merci sechsunddreißig Jahre alt und Sergeant in der Mordkommission des Orange County Sheriff Department. Und alleinerziehende Mutter. Eine ehemals stolze Frau, die dabei war, sich von einem gebrochenen Herzen zu erholen und von dem, was Polizeipsychologen Stress nach belastenden Ereignissen nennen. Nach außen hin wahrte sie die Fassade, aber im Innern war sie immer noch ein Wrack.

Aubreys zerstörtes junges Leben machte Merci traurig und wütend, aber während ihrer Laufbahn hatten viele Dinge diese Gefühle bei ihr hervorgerufen. Sie blickte aus dem Schlafzimmerfenster auf den Coast Highway. Das Gebäude nebenan hatte schon Weihnachtsschmuck angelegt, ordentlich um die Fenster herum angeordnete Glühbirnen, die von einem Zufallsgenerator an- und ausgeschaltet wurden. Auf der großen Kommode gegenüber dem Bett entdeckte Merci ein Schmuckkästchen mit offenbar teuren Ringen und Halsketten. Unter der Lampe lag eine aufgeklappte Grußkarte mit einem Baum auf einem Hügel. Sie beugte den Kopf vor und betrachtete die Karte, ohne sie zu berühren.

Auf dem blauen Himmel standen die Worte: In Gottes Welt ... Auf der Innenseite wurde der Spruch vervollständigt: ... gibt es einen Ort für Freundschaft. Unterschrieben war er mit: Herzlichst, dein D. B.

Von draußen waren Schritte zu hören und Stimmen, die lauter wurden und näherkamen.

Merci ging zur Tür und sah durch den Spion. Im Vordergrund stand Paul Zamorra, dahinter die beiden Mitarbeiter von der Gerichtsmedizin. Als sie die Tür öffnete, schaute ihr Kollege sie mit seinen freudlosen schwarzen Augen an und trat ein. Die beiden anderen folgten ihm.

Alle betrachteten Aubrey Whittacker. Zamorra kniete sich neben sie und untersuchte sie. Er holte Handschuhe aus seiner Sportjacke und zog sie an. »An die Arbeit, Leute«, sagte er. »Uns bleiben nur zwanzig Minuten, bevor die Horden hier einfallen.«

 

Die Horden fielen ein: drei weitere Streifenwagen mit insgesamt sechs Deputy-Sheriffs; der Rest des gerichtsmedizinischen Teams; der Bezirkspathologe; der Spurensicherungstrupp; der stellvertretende Staatsanwalt und zwei seiner Ermittler. Alle stapften über die hölzerne Galerie zu Aubrey Whittackers Wohnung, während über ihnen zwei Polizeihubschrauber dröhnten, die sinnlose Lichtstrahlen in die Stadt unter ihnen sandten.

Dann kamen die Polizeireporter.

Und wie immer bei solchen Anlässen wuchs auch die Menge neugieriger Passanten, aus der Dunkelheit angelockt vom Blaulicht der Streifenwagen.

Nachbarn tuschelten über die offenbar verstorbene junge Frau, die immer zu später Stunde nach Hause gekommen oder weggegangen war: sehr attraktiv, gut gekleidet, sehr groß, ruhig. Es gab deutliche Meinungsunterschiede darüber, welche Farbe, Frisur oder Länge ihre Haare gehabt hatten.

Außenstehende versuchten, sich ein Bild zu machen, und stellten Spekulationen an. Die meisten hatten sich dick eingepackt, schlangen die Arme um sich oder umeinander, hauchten in die Hände und stießen beim Sprechen Atemwölkchen aus. Surfer in mexikanischen Ponchos mit Kapuzen lehnten gegen ihre Kleinlastwagen, tranken Dosenbier und unterhielten sich nuschelnd.

 

Merci Rayborn gestattete zuerst nur fünf Personen Zutritt zu Nummer 23. Zum einen den besten Tatortspezialisten, mit denen sie je zusammengearbeitet hatte – Lynda Coiner und Evan O’Brien, beide Spurensicherer. Sie standen schon vor der Tür, als Merci schließlich öffnete, denn sie wussten, sie würde sie als Erste brauchen.

Außerdem dem stellvertretenden Staatsanwalt und seinem Mitarbeiter. Den entscheidenden Leuten eben. Sie waren diejenigen, denen Merci den Fall vortragen würde, diejenigen, für die sie Beweismaterial sammelte. Diese Leute waren klug und gelassen, sie wussten, was zu tun war. Und schließlich dem gerichtsmedizinischen Ermittler, der dafür zuständig war, anhand der Körpertemperatur den Zeitpunkt des Todes festzustellen und die Körperöffnungen zu untersuchen, aus denen serologische Körperflüssigkeiten in dem Leichensack austreten und die Arbeit der Pathologen im Labor erschweren konnten.

Und alle anderen, dachte Merci, können gefälligst noch eine halbe Stunde draußen warten. Lasst meine Leute in Ruhe arbeiten.

Währenddessen sahen sich Merci und Zamorra in der Wohnung um. Das Gebäude war ziemlich heruntergekommen, aber die Einrichtung war edel: hochwertiger Teppichboden, Ledermöbel und indirekte Beleuchtung, um wertvolle Drucke von Kahlo und O’Keeffe, Hockney und Basquiat im rechten Licht erscheinen zu lassen. Über dem teuren schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer hing ein Gemälde, das sie noch nie gesehen hatte. Es wirkte gespenstisch und zugleich pulsierend, für Mercis Geschmack ein wenig zu düster für ein Zimmer mit Meerblick. Es war ein Rembrandt, das jemanden darstellte, der einen anderen von den Toten erweckte.

Na dann viel Glück, dachte sie. Sie hatte es selbst schon zweimal versucht.

Zamorra sprach hin und wieder etwas in ein Diktiergerät. Merci notierte sich ihre Beobachtungen wie üblich in einem kleinen Notizbuch mit blauem Deckel.

Sie schrieb: Aubrey Whittacker, was für einen Job hattest du?

Aber nachdem sie den Inhalt von Aubreys Wandschrank inspiziert – aufreizende Kleidung in Hülle und Fülle – und die Notizen in einem ledergebundenen Kalender in Aubreys Handtasche überflogen hatte – eine Unmenge von Verabredungen mit einer Unmenge von Männern, die nur anhand von Initialen, verschlüsselten Anmerkungen und mit einer Menge von Telefonnummern aufgelistet waren –, kam Merci der Verdacht, dass Aubreys Gewerbe eines der ältesten der Welt war. Eine Schachtel mit zweihundertvierzig Kondomen, die Zamorra neben einem Paar schenkelhoher Lederstiefel unten im Wandschrank entdeckte, schien den Verdacht zu bestätigen.

Neunzehn und schon Profi.

Das Bett war ordentlich gemacht. Auf dem Nachttisch lag eine aufgeklappte Bibel. An einer Wand im Schlafzimmer hing ein Kreuz. Und auf dem Fernsehbildschirm war der verdammte Prediger zu sehen.

Zamorra starrte Merci an. Sein Blick tat ihr in der Seele weh. Bei Zamorras Frau war vor zwei Monaten, kurz nach der Hochzeit, ein Hirntumor festgestellt worden; seit dem Tag hatte sein markantes Gesicht, zuvor verschmitzt und charmant, einen Ausdruck zunehmend resignierter Härte angenommen. Merci machte sich Sorgen um ihn, kannte ihn aber nicht gut genug, um mit Nachfragen in seine Privatsphäre einzudringen. Gute Zäune, gute Nachbarn – und Zamorras Zaun schien besonders hoch. Der Mann gab fast nichts von sich preis. Sie würde mit einem Arzt über ihn reden.

»Ich hab sie gestern gesehen«, sagte Zamorra.

Mercis Herz machte einen Sprung. »Gestern. Wo?«

»Ein paar Kollegen vom Sittendezernat hingen mit ihr im Pedro’s herum. Ich hatte den Eindruck, dass sie ein Callgirl war, an das sie sich ranmachen wollten. Ich saß an der Theke, habe mir einen Drink bestellt und nicht weiter nachgefragt.«

»Wer von der Sitte?«

»Kathy Hulet und dein großer blonder Freund.« »Mike?«

»Ja. Mike McNally.«

»Ich fall vom Glauben ab.«

»Das tun wir doch alle.«

»Kommt auf das Timing an. Gehen wir zum Nachbarn rüber.«

Als sie die Wohnung verließen, fragte Merci Lynda Coiner, ob sie eine Patronenhülse gefunden hätten.

»Noch nicht«, antwortete Lynda. »Aber wenn es hier eine gibt, dann finden wir sie.«

 

Der Nachbar hieß Alexander Coates. Er wohnte einen Stock tiefer, drei Wohnungen weiter, in Nummer 2. Er trug eine ausgebeulte schwarze Nylonhose mit elastischen Bündchen an den Knöcheln, ein Achselhemd und einen roten Morgenmantel aus Seide. Neue Turnschuhe. Er hatte kurzes graues Haar mit Geheimratsecken, einen gepflegten grauen Bart und große graue Augen. Er bat sie, Platz zu nehmen. Im Kamin loderten Gasflammen über Holzscheiten aus Keramik. In hölzernen Buchstaben stand auf dem Sims: NOEL. Merci nahm einen vertrauten Geruch wahr, der vom Duft eines Blumensprays überdeckt wurde.

»Die Sache nimmt mich ganz schön mit«, sagte Coates. »Aubrey war so ein nettes Mädchen. So jung und anständig und ... nun ja, vielleicht ein bisschen verwirrt.«

»Fangen wir damit an, was Sie gehört und gesehen haben«, schlug Merci vor.

Coates schaute Zamorra an. »Soll ich Ihnen einen Kaffee machen oder einen Kakao oder sonst was?«

»Nein.«

Coates atmete hörbar aus, sah ins Feuer und begann zu erzählen. Er hatte den Abend allein zu Hause verbracht. Gegen zwanzig Uhr dreißig hatte er Schritte auf der Galerie ein Stockwerk über ihm gehört. Jemand hatte an Aubrey Whittackers Tür in Nummer 23 geklopft. Kurz darauf hatte er gehört, wie die Tür geschlossen wurde. Bis kurz nach zehn war nichts weiter passiert, dann fiel Aubrey Whittackers Tür erneut ins Schloss und es waren Schritte von der Galerie zu hören, und zwar in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren.

»Wie konnten Sie Aubreys Tür von der in Nummer vierundzwanzig oder zweiundzwanzig unterscheiden?«, fragte Merci.

»Weil ich hier schon seit achtzehn Jahren wohne. Ich habe viele Leute kommen und gehen hören, verstehen Sie.«

Und ob sie verstand. Weil sie sich Alexander Coates vorstellen konnte. Du hast schon oft gewartet, dachte sie. Du hast gewartet und auf die Schritte gelauscht und dich gefragt, was für ein Kerl es diesmal sein mochte. Die Art, wie er geht, verrät eine ganze Menge über einen Mann.

»Also gut. Was war dann?«

»Als Nächstes, so gegen zweiundzwanzig Uhr fünfzehn, kamen wieder Schritte die Galerie entlang, in dieselbe Richtung. Vor Aubreys Tür hielten sie an. Die Tür wurde geöffnet. Und dann, unmittelbar nachdem die Tür geöffnet wurde oder fast unmittelbar danach, habe ich einen dumpfen Schlag gehört, so als wäre etwas Schweres auf den Boden gefallen. Dann wurde die Tür wieder geschlossen. Nicht zugeschlagen, aber ... doch mit Nachdruck. Eine Minute lang oder zwei war gar nichts. Dann wieder ein dumpfer Aufschlag auf den Boden. Es war wie der erste Aufprall, aber kontinuierlich, als würden Möbel gerückt oder als würde gekämpft. Das hat vielleicht eine Minute gedauert. Dann war es eine Weile still. Schließlich waren da wieder Schritte, die sich entfernten.«

»Haben Sie nachgesehen?«

»Nein. Ich war in der Badewanne.«

»Haben Sie einen Schuss gehört oder die Fehlzündung eines Fahrzeugs?«

»Nichts dergleichen.«

»Haben Sie daran gedacht, die Polizei zu verständigen?«

Mit seinen großen grauen Augen blickte Coates Zamorra an, dann wieder das Kaminfeuer. »Nein. Die Geräusche, die ich gehört habe, waren nicht beunruhigend. Sie waren weder laut, noch deuteten sie auf Probleme. Es waren lediglich Geräusche. Meine Devise, verehrte Detectives, meine persönliche Auffassung bei diesen Dingen lautet, dass man die Privatsphäre seiner Nachbarn achten sollte. Es sei denn, etwas Schreckliches ... nun, Sie wissen, was ich meine – passiert direkt vor Ihren Augen.«

»Aber als Sie aus dem Bad kamen, haben Sie dann doch beschlossen, an ihrer Tür nachzusehen?«

»Richtig. Als ich dort ankam – das muss so gegen Viertel vor elf gewesen sein –, sah ich, dass die Tür offenstand.«

Coates beugte sich vor, stützte seine Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. »Ich hatte den Eindruck, dass sich an der Tür Blutflecken befanden. Die Tür stand vielleicht fünfzehn Zentimeter weit offen. Ich habe sie nicht angefasst und auch nicht in die Wohnung geschaut. Ich bin buchstäblich in meine Wohnung gerannt und habe sofort neun-eins-eins gewählt. Ich wusste gar nicht, was ich tun sollte. Ich bin wieder nach oben gegangen und habe mir die Tür noch einmal angesehen. Ich hab ihren Namen gerufen, was vielleicht albern war. Dann bin ich wieder hierher zurückgekommen, bin in der Diele auf und ab gegangen, es kam mir vor wie Stunden. Um Punkt zehn Uhr sechsundfünfzig sind die jungen Polizisten hier eingetroffen.«

Merci betrachtete Alexander Coates, der in seine Hände schluchzte. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man einen Zeugen am Reden und Denken halten und Tränen verhindern musste. Tränen reinigen nicht nur die Augen, sondern auch die Erinnerung.

»Sie haben sich richtig verhalten, Mr Coates.«

»Wirklich?«

»Absolut. Sagen Sie, als Sie das erste Mal zu Nummer 23 raufgegangen sind, war da das Verandalicht bei Aubrey Whittacker aus oder an?«

Das Schniefen hörte auf. »An.«

»Und beim zweiten Mal?«

»Auch an.«

»Haben Sie in der Zeit Autos kommen oder vom Parkplatz wegfahren hören?«

»Ja. Aber bei dem Verkehr auf dem Coast Highway verwischen sich alle Geräusche. Da kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen. Nach achtzehn Jahren am Coast Highway hat man es sich abgewöhnt, auf Autogeräusche zu achten.«

Eine halbe Stunde später waren sie fast fertig mit Alexander Coates. Er sagte, Aubrey Whittacker hätte selten Besucher gehabt, die ihm aufgefallen seien. Er sagte, er und Aubrey hätten sich manchmal im Waschraum unterhalten, da beide nicht tagsüber arbeiteten und deshalb ihre Wäsche in der ruhigeren Zeit erledigten. Sie hätte wunderschöne, traurige Augen gehabt und über einen beißenden Humor verfügt. Sie hätte weder gewalttätige Freunde erwähnt noch Ex-Ehemänner, die ihr nachstellten, und auch keine Feinde sonstiger Art. Seiner Meinung nach sei sie weder hartherzig noch grausam gewesen. Allerdings sei sie allein gewesen und habe sich auf einer Art Reise befunden, auf der Suche nach etwas in ihrem Leben, das sie noch nicht gefunden hatte. Coates meinte, Aubrey habe für eine Art Begleitservice gearbeitet. Sie habe einen neueren, dunkelroten Cadillac gefahren.

Merci nickte, während sie sich diese Aufzählung anhörte, und machte sich erneut Gedanken über Alexander Coates. Vor Jahren hatte ein kluger alter Mentor einmal gemeint, dass es ihr sowohl bei der Arbeit als auch im Privatleben von Nutzen sein könne, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Darin besaß sie jedoch absolut kein Geschick und damals hatte sie auch nicht daran geglaubt. Sie hatte nie einen Sinn darin erkennen können, Menschen verstehen zu wollen, die sie von Anfang an nicht ausstehen konnte, was auf die meisten zutraf. Aber der alte Knabe Hess hatte Recht gehabt: In den zwei Jahren, drei Monaten und zweiundzwanzig Tagen, seit er tot war, hatte Merci hart an diesem Thema gearbeitet und einiges gelernt, was sie sonst vielleicht nie gelernt hätte.

Zum Beispiel, dass man, wenn man achtzehn Jahre im selben Apartment wohnt und auf das Kommen und Gehen der Nachbarn und von deren Liebhabern lauscht, darin große Fertigkeiten entwickelt.

»Mr Coates, die beiden Male, als Sie oben jemanden kommen hörten, waren es männliche Schritte, ist das richtig?«

»Ja.« Ein bestätigender Blick und Kopfnicken.

»Die Schritte eines Mannes oder von zwei verschiedenen Männern?«

»Oh, auf jeden Fall von zwei verschiedenen Männern. Das hätte ich Ihnen noch gesagt, auch wenn Sie nicht danach gefragt hätten.«

»Wie sicher sind Sie sich dessen?«

»Nun, wenn Sie zwei Stimmen hören, wissen Sie, dass da zwei Menschen sind. Das Gleiche gilt für Schritte.«

»Was können Sie sonst noch vom Geräusch der Schritte her über die beiden Männer sagen?«

Zamorra warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts.

Coates rutschte in seinem Sessel hin und her, bereitete sich auf seinen Vortrag vor. Achtzehn Jahre gesammelter Anekdoten, dachte Merci, waren dabei, ihr Wissen zu einer These zu formen.

»Der erste? Schwer, aber nicht übergewichtig. Hatte es nicht besonders eilig. Er bemühte sich, leise aufzutreten, aber die Bretter lassen sich nicht betrügen. Pfunde sind nun mal Pfunde. Jung und wahrscheinlich sportlich. Außerdem kannte er sich aus. Die Umgebung war ihm vertraut. Er trug Schuhe oder Stiefel mit harten Sohlen. Keine Cowboystiefel, die klingen ganz anders. Für mich hörte es sich an, als käme ein junger Geschäftsmann von der Arbeit, der sich darauf freute, nach Hause zu seiner Frau oder Geliebten zu kommen. Als er wegging, war er ... unentschlossen. Er wäre lieber geblieben, aber es blieb ihm nichts anderes übrig.«

Zamorra starrte auf den Boden, den Stift in der Hand.

Coates blickte Zamorra besorgt an, traf offensichtlich eine Entscheidung und wandte sich wieder Merci zu.

»Und der zweite? Ein viel leichterer Mann. Er war ebenfalls jung, leichtfüßig, schnell. Weiche Schuhe. Irgendwie in Eile. Ich konnte nicht feststellen, ob er mit der Umgebung vertraut war oder nicht. Er ging viel langsamer weg, als er gekommen war. Er hörte sich irgendwie wackelig an. Unsicher. Ich meine mich daran zu erinnern, dass er auf halbem Wege nach unten stehen blieb. Vielleicht habe ich mir das aber auch nur eingebildet. Ich könnte es nicht beschwören. Ich habe ihn mir als einen jungen Mann vorgestellt, der unbedingt jemanden sehen wollte. Bestrebt, dorthin zu gelangen, zu bekommen, was er wollte, und dann wieder zu verschwinden. Sie wissen schon, so ein junger Kerl voller überschüssiger Energie. Als er stehen blieb, kam es mir so vor, als ob er etwas vergessen hätte. Aber er ist nicht zurückgegangen.«

Coates seufzte und blickte ins Feuer.

Zamorra schaltete abrupt sein Aufnahmegerät ab, heftete seine schwarzen Augen zuerst auf Merci, dann auf den Mann. »Wie viel Gras haben Sie eigentlich in der Badewanne geraucht?«

Auch Merci hatte einen schwachen Geruch wahrgenommen, als sie hereingekommen war. Sie hatte ihm allerdings keine besondere Bedeutung beigemessen.

Coates’ Gesicht nahm einen verstockten Ausdruck an. »Einen halben Joint.«

»Starker Stoff oder billiges Zeug?«, fragte Zamorra.

»Sehr stark.«

»Wir müssen noch mit anderen Leuten reden«, sagte Zamorra. Er stand auf und ging hinaus.

Merci klappte ihr Notizbuch zu. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

»Dieser Mann ist unglaublich wütend«, bemerkte Coates.

»Allerdings. Vielen Dank.«

Wieder auf der oberen Galerie vor Nummer 23, trat Merci zur Seite, um den Leichenbeschauern Platz zu machen, die Aubrey Whittakers Leiche wegtransportierten. Aubrey Whittacker würde jetzt höchstwahrscheinlich in ihrem roten Cadillac durch die Gegend rollen, wenn sie nicht dem falschen Mann die Tür geöffnet hätte, dachte sie. Sie blickte hinab auf den spärlichen Zwei-Uhr-nachts-Verkehr auf dem Coast Highway. Zamorra war schon dabei, den nächsten Nachbarn zu befragen.

Evan O’Brien begrüßte sie in der Wohnung mit seinem breiten Lächeln und den strahlenden grünen Augen. Der Tatortspezialist hielt ihr eine kleine Papiertüte hin. Merci nahm sie an sich, und ihr Blick fiel auf eine Patronenhülse, die in eine Ecke der Tüte gerollt war.

»Colt, Kaliber .45«, erklärte O’Brien. »Da kommen jede Menge Polizisten in Frage.«

Merci Rayborn warf dem Spezialisten einen feindseligen Blick zu, wozu sie in einem Sekundenbruchteil fähig war. Witze auf Kosten ihres Berufsstands konnte sie nicht ausstehen.

»Hey, Sergeant, beklagen Sie sich nicht bei mir über das beste Beweisstück, das Sie sich wünschen können. Lynda hat es gefunden.«

»Ist die Frau vergewaltigt worden?«

»Anscheinend nicht. Und es gibt auch keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Es sieht aber ganz so aus, als hätte es in der Küche ein Handgemenge oder Ähnliches gegeben.«

»Wie viele Schüsse?«

»Wahrscheinlich nur einer. In der oberen Ecke der Glasschiebetür ist ein Loch. Die Kugel liegt irgendwo da draußen im Meer.«

»Dann finden Sie sie.«

»Zu Befehl, Sergeant.«

Kapitel 2

 

Merci traf Mike um sieben zum Frühstück in der Gerichtscafeteria. Sie hatte nur drei Stunden geschlafen und konnte noch nicht klar denken. Tim junior war aufgewacht, als sie in sein Zimmer gekommen war. Sie hatte ihn im Arm gehalten, bis er wieder eingeschlafen war. Er war inzwischen eineinhalb Jahre alt, ihr kleiner Mann, der ihr alles bedeutete.

Heißhungrig wie immer morgens holte sie sich ein großes Frühstück. Mike stellte sein Tablett mit Joghurt, Obst und Kaffee mit einem neidischen Seitenblick ab. Er hatte einen Ordner unter dem Arm und überreichte ihn Merci.

»Eine Kopie von Whittakers Akte«, sagte er. »Ich habe gedacht, ich könnte dir ein bisschen Arbeit abnehmen.«

Sie betrachtete das Deckblatt: eine Verurteilung wegen Trunkenheit am Steuer zwei Jahre zuvor, eine Festnahme wegen Haschisch, wofür sie lediglich an einem Drogenentwöhnungsprogramm teilnehmen musste, eine anhängige Klage wegen der Ausübung der Prostitution – die aber fallen gelassen werden sollte für ihre Kooperation mit dem Sittendezernat, das wegen eines Callgirl-Rings ermittelte.

»Wir hatten Aubrey Whittaker endlich so weit, dass sie uns dabei helfen wollte, dem Callgirl-Ring auf die Spur zu kommen«, sagte er frustriert.

Mike hatte ein hübsches Gesicht und war ein ernster Typ. Und während der vergangenen Monate schien er noch ernster geworden zu sein. Im letzten Jahr war er immer mal wieder für sie da gewesen. Sie mochte ihn und vertraute ihm, und er akzeptierte, dass sie ein wenig Distanz zwischen ihnen hielt, ein kleines Polster. Heirat: nein, nicht jetzt. Zukunft: später. Die Isolierung schien Teil ihres Charakters zu sein. Mike verstand das, auch wenn sie es selbst manchmal nicht tat.

»Das war erst vor zwei Tagen«, sagte Mike.

»Welcher Callgirl-Ring?«

»Epicure.«

»Ist das nicht der italienische Prinz?«

»Er ist ein JAKS-Killer.«

JAKS war eine neue Abkürzung bei der Polizei. Sie stand für Gangster aus Jugoslawien, Albanien, Kroatien und Serbien, die sich – obwohl sie die Schlachtfelder der Geschichte mit ihren in Bruderkriegen gefallenen Toten übersät haben – aus ethnischen Gründen verbündet hatten. Sie agierten in der Regel an der Ostküste, aber das südliche Kalifornien wurde ebenfalls nicht von ihnen verschont.

»Ich dachte, die JAKS würden Supermärkte ausrauben und LKWs klauen«, sagte Merci.

»Nun, dieser hier handelt mit Fleisch und gibt sich als italienischer Prinz aus.«

Mike schälte lustlos seine Banane, dann biss er genauso lustlos hinein. Das war typisch für ihn, dachte sie: Sein ganzes Leben wurde davon bestimmt, was er sollte, anstatt von dem, was er wollte. Dieses Verhalten war das, was seinen Charakter ausmachte, was seine Anständigkeit und manchmal auch seinen Edelmut begründete. Hundert Kilo Muskeln, ein jungenhaftes Lächeln und blaue Augen wie der Himmel über der Wüste, was auch immer das wert war. Manchmal war es eine Menge wert, bei anderen Gelegenheiten hielt sie ihn schlicht für eitel.

»Vorgeschichte?«

»Hier in Kalifornien gibt es Anzeigen wegen Zuhälterei und Gewalttätigkeiten. Natürlich gegenüber Frauen. Was er drüben in New York treibt, wer weiß?«

»Hoffentlich schnappt ihr ihn.«

Mike schüttelte langsam den Kopf. »Sie ... Aubrey Whittaker hat anfangs versucht, den Kerl zu decken. Meinte, wenn wir jemanden verhaften wollten, sollten wir doch sie verhaften. Wollte nicht zugeben, dass er fast den ganzen Gewinn aus ihrer Arbeit einstrich. Sie wollte auch nicht zugeben, dass man von ihr verlangte, ihre Kunden zufrieden zu stellen, egal wie. Und auch nicht, dass sie nur für ein Trinkgeld arbeitete. Er ist ein Schwein, das Neunzehnjährige an alte Säcke verhökert, an High-Tech-Klemmis mit Millionen-Firmen und ohne Moral. Wer das einem Mädchen antut, raubt ihm die Seele. Ich werde ihn kriegen. Und du wirst das widerliche Schwein schnappen, das sie umgebracht hat.«

Mike trug ein silbernes Kreuz um den Hals. Merci sah das Kettchen hinter dem offenen Kragen seines blauen Anzughemds glitzern. Er trug es seit einigen Monaten, seit er sich der Kirchengemeinde angeschlossen hatte. Merci war nur zweimal mitgegangen. Sie hatte keine Lust, eine Kirche aufzusuchen, wo die Gläubigen gezwungen waren, aufzustehen und ihre Nachbarn zu begrüßen.

»Viel Glück bei der Suche nach ihren Angehörigen«, sagte Mike. »Sie hat ihren Namen bei Gericht ändern lassen und wollte mir nicht sagen, wie ihr richtiger lautete.«

»Wo ist sie aufgewachsen?«

»Sie wollte nicht mit der Wahrheit herausrücken. In Oregon, Seattle, Texas oder auch Ohio, je nachdem, mit wem sie darüber sprach. Mir hat sie gesagt, in Iowa.«

»Und kam dann nach Kalifornien, um ein neues Leben anzufangen.«

»Eine traurige Geschichte. Und was hast du herausgefunden?«

Sie fasste zusammen, was sie wusste. Sie würde später noch einmal alles gemeinsam mit Zamorra durchgehen, sobald die Laborergebnisse vorlagen. Erst dann würden sie sich ein Bild machen können. Was sie bis jetzt hatten – ein Einzeltäter, der womöglich eine schallgedämpfte Waffe benutzt hatte; möglicherweise jemand, den Aubrey gut genug gekannt hatte, um ihm die Tür zu öffnen; keine Vergewaltigung und auch kein Raub. Motiv – bisher Fehlanzeige. Zeugen – einer, der Geräusche gehört hatte. Verdächtige – keine. Es sei denn, man wollte ihre Freier aus dem schwarzen Büchlein mit einbeziehen, von denen es zahlreiche gab.

Mike hörte zu, während seine Augen hin und her wanderten. Wenn ihn irgendetwas beunruhigte, wurde sein Blick unstet und fand keinen festen Punkt.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagte er. »Ein Haufen Geld in ihrer Brieftasche, keine Vergewaltigung, nichts gestohlen? Warum bringt jemand sie um? Nur um das Geräusch einer schallgedämpften Automatik zu hören?«

»Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen, Mike.«

»Sie war ... gerade mal neunzehn.«

»Ich glaube, dass sie ihn kannte. Lynda hat gesagt, dass es überall Fingerabdrücke gab, wie in jeder anderen Wohnung auch. Wir müssen einige davon jetzt durch die bei CAL-ID und AFIS gespeicherten Dateien schicken und sehen, ob was dabei herauskommt.«

»Ist das schwarze Notizbuch verschlüsselt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn, dann schlampig. Eine Menge Initialen und Namen, denen man nachgehen kann.«

»Manche Huren geben sich viel Mühe mit der Verschlüsselung. Dabei geht es ihnen nicht so sehr um Sicherheit als darum, ihre Freier zu Chiffren zu machen.«

»Bei ihr scheint das nicht der Fall gewesen zu sein.«

»Dann ist das womöglich der Schlüssel. Das und die Patronenhülse, falls du einen Verdächtigen und die Waffe auftreibst.«

Mike öffnete den Joghurtbecher und betrachtete die Unterseite der Alufolie. Er hatte lange blonde Wimpern, und wenn er sich entspannte und gedankenverloren auf etwas starrte, wirkte er unschuldig und verwirrt. Manchmal hatte sie das Bedürfnis, ihn fest in die Arme zu nehmen, so wie sie es mit Tim jr. tat. Mike hatte etwas Sanftes an sich – das fiel ihr besonders auf, wenn er mit seinen Hunden arbeitete. Mike trainierte die Spürhunde für das Department. Er hatte ihr geradeheraus gestanden, er sei mehr ein Hundenarr als ein Menschenfreund. Er hatte hart daran gearbeitet, das zu ändern, aus Gründen, die vielleicht nicht ganz auf eigener Einsicht beruhten.

»Merci, ich wollte Brighton bitten, uns den Fall gemeinsam bearbeiten zu lassen.«

Brighton war der Sheriff; und die Zusammenarbeit mit Mike kam nicht in Frage.

»Nein«, erwiderte sie.

»Aber es gibt starke Überschneidungen bei unseren Callgirl-Ring-Ermittlungen. Ich kann dir helfen. Glaub mir.«

»Dann hilf mir, Mike, aber ich möchte nicht, dass jemand außer mir mit dem Fall betraut wird. Außer mir und Paul.«

»Mein Gott, Merci, du könntest wenigstens mal darüber nachdenken.«

»Warum sollte ich?«

Trotz ihrer Erschöpfung und der aufsteigenden Wut bemerkte Merci die Enttäuschung in Mikes Gesicht. Er sah aus wie Tim junior, wenn er feststellte, dass die Flasche leer war: am Boden zerstört, jedes Mal wieder.

»Pass auf, Mike. Du kriegst alle Informationen. Ich werde dich auf dem Laufenden halten. Ich kann im Moment keinen Sergeant vom Sittendezernat in dem Durcheinander gebrauchen. Ich bekomme alle Hilfe, die nötig ist.«

»›Sergeant vom Sittendezernat in dem Durcheinander‹?«

»Genau.«

»Ist das so was wie das Haar in der Suppe?«

»Nein, Mike, ist es nicht.«

»Steht unsere Verabredung fürs Kino heute Abend noch?«

»Ich bin jetzt schon ziemlich erledigt. Können wir das ein andermal nachholen?«

»Wenns sein muss.«

Mit einer einzigen Bewegung stand er auf und nahm sein Tablett. Sie sah ihm zu, wie er die Essensreste in den Mülleimer kippte, das Tablett wegräumte und hinausging.

 

Melvin Glandis, der stellvertretende Sheriff, beugte sich mit einem Stapel abgegriffener Akten unter einem Arm über ihren Schreibtisch. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften, kurze Beine und kleine Füße. Es hieß, er sei ein hervorragender Tänzer. Er hatte ein rosiges, freundliches Gesicht. Es war acht Uhr morgens.

»Hier ist Ihr Weihnachtsrätsel. Wenn Sie es bis Silvester lösen, kriegen Sie einen geräucherten Schinken als Belohnung.«

»Lassen Sie die Akte hier. Den Schinken können Sie behalten.«

Glandis warf die Akte auf den Tisch. »Patti Bailey, erschossen und irgendwo abgeladen, neunzehnhundertneunundsechzig. Reihen Sie sie in Ihre Liste toter Huren ein. Vielleicht haben Sie mehr Glück damit als wir damals.«

Sie wusste, was es mit dieser Akte auf sich hatte. Am Ende jeden Jahres teilte Sheriff Brighton nach dem Zufallsprinzip jedem Ermittler der Mordkommission einen ungelösten Mordfall zu. So ließ sich Ordnung schaffen und hin und wieder kamen auch mal Ergebnisse dabei heraus.

Die wurden dann veröffentlicht, denn so etwas gab gute Presse, das war werbewirksam wie Menschenleben retten oder den Geburtshelfer bei einer Frau spielen, die es nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus schafft. So was hielt bei den Bürgern den Glauben wach, selbst vierzig Jahre alte Fälle würden nicht einfach abgelegt und vergessen. Manche Detectives machten sich mit Freude an diese ungelösten Fälle, andere mit Widerwillen, je nachdem, ob sie Überstunden machen wollten oder nicht.

Merci hielt sie in erster Linie für Zeitverschwendung, die Überstunden inbegriffen. Wenn die alten Säcke ihre eigenen Fälle schon nicht hatten abschließen können, wie sollte es jemand anders hinkriegen?

»Sie wirken müde«, sagte Glandis.

»Sie auch.«

»Sind Sie die ganze Nacht wegen dieser Prostituierten auf den Beinen gewesen?«

»Mehr oder weniger.«

»Ein Schalldämpfer. Mein Gott.«

Merci hatte schon lange aufgehört, sich darüber zu wundern, in welchem Tempo sich Klatsch in ihrer Abteilung verbreitete.

Glandis zuckte die Achseln. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen. Damals war ich erst seit einem Jahr in der Abteilung für Raub und Brandstiftung, aber an einiges kann ich mich noch erinnern.«

»Danke, Mel. Wie weit sind wir mit den Ermittlungen bei dem Jungen, dessen Leichenteile gefunden wurden?«

Man hatte die verstümmelte und enthauptete Leiche eines achtjährigen Jungen gefunden. Einzelne Körperteile waren in Müllsäcke verpackt und in seinem Wohnviertel vergraben worden. Bisher gab es keine Festnahmen oder Verdächtigen. Der Fall setzte Merci Rayborn schwer zu. Wheeler und Teague waren damit betraut, sie waren gute Ermittler, aber Merci wünschte, es wäre ihr Fall. Sie war zwar nicht persönlich betroffen, aber es berührte sie dennoch persönlich.

»Wir haben einen Kinderschänder ausfindig gemacht, der eine Straße weiter wohnt, ein ehemaliger Psychiatriepatient. Wir wissen noch nicht, wo er sich zurzeit aufhält.«

Merci schüttelte den Kopf und stellte sich vor, ihr eigener Sohn würde so enden. Eine dumpfe Bereitschaft von Gewalttätigkeit stieg in ihr hoch.

»Wie geht’s Tim junior?«

»Bestens.«

»Aus Ihrem Mund hätte ich auch nichts anderes erwartet.«

Mit seinen großen Knöcheln klopfte Glandis zweimal auf ihren Schreibtisch, drehte sich in seinen glänzenden schwarzen Schuhen zu Zamorras unbesetztem Arbeitsplatz, warf ihm auch eine ungelöste Akte auf den Schreibtisch und setzte seine Runde fort.

 

Wie üblich rief sie um neun Uhr zu Hause an. Ihr Vater berichtete ihr, dass Tim jr. zur normalen Zeit aufgewacht war, sein Frühstück verschlungen hatte und jetzt im Kinderzimmer Bauklötze durch die Gegend warf. Merci hörte im Hintergrund fröhliches Quieken. Die Worte Leichenteile in Plastiktüten schossen ihr durch den Kopf, und sie hatte Mühe, sie aus ihren Gedanken zu verbannen.

»Der Kleine hat Arme wie ein Anderthalbjähriger«, sagte Clark.

Arme in Plastiktüten. Wieder musste sie die Gedanken verscheuchen.

»Miss seine Temperatur, wenn er sich beruhigt hat, ich ...«

»Schon passiert, mein Liebes. Siebenunddreißig.«

»Nach dem Mittagessen ...«

»Mach ich.«

Er fehlte ihr. Trotz seiner Abwesenheit konnte sie seine Umrisse spüren: ein großer, runder, warmer Teil von ihr. Fehlte ihr. War weg. Woanders. Aber sie hatte einfach nicht die Möglichkeit, immer bei ihm zu sein, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte. Schließlich musste sie arbeiten. Die Arbeit hielt ihre kleine Familie aufrecht. Und sie selbst auch. Das war immer so gewesen.

»Wir holen das Dreirad raus, sobald es wärmer wird. Dann gehen wir auf den Markt. Bis du nach Hause kommst, sind wir wieder zurück.«

Clark war zwei Jahre zuvor bei ihr eingezogen, nach dem Tod ihrer Mutter. Merci hatte beobachtet, wie er auf seinen persönlichen Abgrund zugekrochen war und wie er die Kehrtwende geschafft hatte. Diese Umkehr hatte eine Menge mit Tim jr. zu tun. Ihr Vater ging wundervoll mit ihm um. Für Merci waren die beiden »Die Männer«.

»Ich vermisse meine Männer.«

»Also bis bald, Liebes. Du fehlst uns. Arbeite nicht zu viel.«

Es wurde Nachmittag, aber Zamorra tauchte nicht auf. Kein Anruf. Keine Nachricht. Nichts. Sie arbeitete zwar erst seit drei Monaten mit ihm zusammen, aber heute war es das erste Mal, dass er sich so unprofessionell und rücksichtslos verhielt.

Merci rief um eins bei ihm zu Hause an, aber dort meldete sich nur der Anrufbeantworter. Das Krankenhaus, dachte sie. Sie fand die Nummer, die Zamorra ihr vom Zimmer seiner Frau im Medical Center der University of California in Irvine gegeben hatte, rief dann aber doch nicht an. Sie fühlte sich machtlos gegenüber Krankheiten, und Dinge, bei denen sie sich machtlos fühlte, machten ihr Angst.

Sie überprüfte, ob Alexander Coates schon einmal straffällig geworden war: negativ.

Sie überprüfte die Zahl der ungelösten Morde an Prostituierten der vergangenen zwei Jahre: Es waren drei.

Sie sprach mit einem Sicherheitsexperten der Telefongesellschaft, um eine Liste aller Anrufe bei Aubrey Whittaker zu erhalten. Sie brauche sie schnell, und er solle ihr nichts von Vollmacht oder Vorladung erzählen und auch sonst keinen Stuss. Er versprach zurückzurufen.

Sie blätterte durch Aubrey Whittakers ledergebundenen Kalender und betrachtete einige der Namen. Ein paar Freier waren mit Vor- und Zunamen eingetragen, die meisten aber nur mit Initialen plus Zunamen. Bei einigen standen Ziffern, vermutlich Kreditkartennummern. Fantastisch, dachte sie, so kann man die schnelle Nummer in der Mittagspause mit der Kreditkarte zahlen, und wenn dann die Ehefrau die Abrechnung in die Finger bekommt, erklärt man ihr einfach, das seien wohl die Kosten für einen mobilen Autowartungsservice gewesen. Mobiler Sexservice.

Bei vielen Namen waren keine Ziffern vermerkt. Merci fragte sich, ob es sich dabei um Aubreys private Kunden handelte, bei denen sie direkt kassierte, ohne den Löwenanteil an die JAKS-Leute abfuhren zu müssen. Zwei der Namen kamen ihr bekannt vor, also rief sie einen Freund beim Orange County Journal an und bat ihn, im Archiv nachzusehen. Im Gegenzug versprach sie ihm einen ersten Hinweis, wenn bei der Nachforschung eine Geschichte herauskäme. Für alle Fälle gab sie ihm noch zwanzig weitere Namen durch, die wichtig klangen, Namen von Männern, die ziemlich schnell einknicken würden, wenn man sie sich vorknöpfte.

Am Tag, als sie ermordet worden war, hatte Aubrey Whittaker um 15:45 Uhr ein Date mit »Dr.« und um 20:30 Uhr »din« mit »D. B.«. Am Tag davor hatte sie vier Dates im Kalender verzeichnet.

An den Sonntagmorgen gab es zu Mercis Verwunderung Einträge für 8:30 Uhr, die offensichtlich mit irgendwelchen Predigten zu tun hatten und mit Aubreys Meinung dazu.

 

Christus an erste Stelle setzen – Ken H., gut, aber hin und wieder unrealistisch.

 

Ziemlich unglaubwürdig, dachte Merci. Dahinter musste etwas anderes stecken.

Nach sechs weiteren Telefonaten hatte Merci in Erfahrung gebracht, dass Reverend Ken Holly der Newport Maranatha Church vorstand und tatsächlich vor drei Wochen eine Predigt zum Thema Christus gehalten hatte.

Doch, er kenne Aubrey. Nein, er wisse nicht, dass sie ermordet worden sei. Er klang ernst.

Er wusste wenig über Aubrey, außer dass sie sich seiner Gemeinde vor ein paar Wochen angeschlossen habe. Sie sei gut gekleidet gewesen, allein, offenkundig ungebunden. Sie sei zu den Christian Singles gekommen. Womit sie ihren Lebensunterhalt bestritt, habe er nicht gewusst.

Er bat Merci, den Namen seiner Kirche nach Möglichkeit aus den Zeitungen herauszuhalten. Sie versprach ihm, dafür zu sorgen. Er erklärte sich bereit, sich mit ihr zu treffen und auch die Namen und Adressen einiger der Christian Singles aufzuschreiben, die Aubrey gekannt hatten. Merci bedankte sich und bat ihn, dies bis zum nächsten Tag zu erledigen.

Sie ging zur Toilette, wusch sich die Hände und fragte sich, wie es wohl sein musste, seinen Lebensunterhalt wie Aubrey zu verdienen. Im Spiegel sah sie eine Frau, die nicht gerade für diese Arbeit prädestiniert war, eine dunkelhaarige, knochige Frau mit einem unversöhnlichen und aufrichtigen Gesichtsausdruck. Wenn man genau hinsah, konnte man in dem Gesicht eine Spur von Sanftheit entdecken. Aber in erster Linie war darin eine Bereitschaft zur Konfrontation zu entdecken.

Sie sah zu, wie die Mitarbeiter des Coroners Aubrey Whittakers Leiche fotografierten und röntgten. Soweit Merci das sehen konnte, gab es keine Kugel oder Bleireste im Körper. In der Nähe des Zentrums von Aubreys rechter Herzkammer befand sich eine kleine dunkle Veränderung im Muskel, die nach Ansicht der Gerichtsmediziner von der Kugel herrührte.

Merci wunderte sich über die Eintrittswunde. Der Wundrand war zwar ausgefranst, aber klein, und die Hautränder waren aufgestülpt und in einem Radius von gut einem Zentimeter um das Loch herum verbrannt. Um den dunklen Kreis befand sich ein weiterer Ring geröteten Fleischs. Abgesehen davon war der makellose, junge Körper von Aubrey Whittaker unversehrt.

»Die Mündung der Waffe wurde direkt auf das Kleid aufgesetzt«, erklärte der Leichenbeschauer. »Die Seide ist verbrannt. Die Haut auch.«

Die Austrittswunde war doppelt so groß, wies jedoch kaum Verfärbungen auf. Nur ein kleiner Hautfetzen war abgerissen. Das Loch befand sich neun Zentimeter höher als die Eintrittswunde. Merci stellte sich die Wohnung und den Schusswinkel vor, und vor ihrem geistigen Auge zog sie eine Linie von Aubrey Whittakers Herz zum oberen Teil der Glasschiebetür, wo die Tatortermittler das Loch gefunden hatten.

»Sieht aus wie ein glatter Durchschuss«, sagte der Gerichtsmediziner. »Kein Knochen getroffen, zumindest nicht erheblich. Ich würde sagen, es handelte sich um gehärtete Munition. Mit einer weicheren Spitze wäre die Kugel auf dem Weg durch den Körper stärker abgeflacht worden.«

Die Autopsie war für den späten Nachmittag angesetzt.

Merci blickte Evan O’Brien im kriminaltechnischen Labor über die Schulter und sah zu, wie er die Karten mit den Fingerabdrücken für die Überprüfung bei der Polizeibehörde CAL-ID durch das Computersystem AFIS vorbereitete. O’Brien war der effizienteste Spezialist für Fingerabdrücke, den Merci je kennen gelernt hatte. In seinem Fachgebiet kannte er sich ebenso gut aus wie in dem labyrinthischen System der staatlichen Zuständigkeiten, bei dessen Computerisierung er während seiner Zeit bei CAL- ID in Sacramento mitgeholfen hatte.

Merci beobachtete Lynda Coiner, die die Patronenhülse aus dem .45er-Colt bereitmachte für die Überprüfung durch die Federal-Drug-Fire-Registrierung, in der Hoffnung, dass dieselbe Waffe schon bei einem Drogendelikt benutzt worden war. Für Merci roch die Geschichte zwar nicht nach Drogen, aber einen Versuch war es wert.

Sie half einem Labortechniker bei der Entwicklung und Trocknung der letzten Tatortfotos, die sie für die Abstimmung ihres weiteren Vorgehens brauchte. Ein Satz Fotos war für sie bestimmt, einer für Zamorra. Zum Glück hatte sie auf dem College mal Fotokurse belegt. Während sie im Dämmerlicht der Dunkelkammer neben dem dröhnenden Trockner stand, konnte sie zusehen, wie Aubrey Whittakers Leiche auf dem Fotopapier Formen annahm, langsam und gleichmäßig wie von Geisterhand.

Aubrey Whittaker, dachte sie: Gespielin von Männern, Kritikerin von Predigern, Hausbesuche, christlicher Single. Man ändert seinen Namen, geht von zu Hause weg, fängt von vorn an.

Wer bist du?

Sie machte zwei Kopien des gerichtsmedizinischen Berichts, der Labordaten und des Tatortberichts.

Die Berichte las sie noch nicht, da sie lieber alles im Beisein ihres Partners dort erfahren wollte, wo es geschehen war. Ein Tatort sah bei Tageslicht immer anders aus.

Ein paar Minuten verbrachte sie auf dem Hof für sichergestellte Fahrzeuge und unterhielt sich mit Ike Sumich, einem jungen Techniker, den sie für einen echten Überflieger hielt. Ebenso wie Evan war auch Ike einer ihrer Leute. Merci gefiel die Vorstellung, zu einem Stamm zu gehören. Sie war gerade dabei, einen Stamm zu bilden, indem sie Leute um sich scharte, die ihr helfen konnten und die sie mochte.

Manchmal betrachtete sie sie und versuchte sich vorzustellen, wie sie in dreißig Jahren aussehen würden.

Sumich sah gut aus in ihrer Zukunftsvision, allerdings würde er Sport treiben müssen, um eine Wampe zu vermeiden.

Ike hatte sie sehr unterstützt bei dem Fall, der sie vor einigen Jahren fast das Leben gekostet hätte. Zurzeit bearbeiteten sie keinen gemeinsamen Fall; Merci wollte sich nur mal bei ihm blicken lassen und ihm zeigen, dass er in der Mordkommission eine Verbündete hatte.

Als Zamorra schließlich in ihrem Büro eintraf, war es fast 15:00 Uhr. Er war zwar frisch rasiert und seine Haare waren noch nass vom Duschen, aber er hatte gerötete Augen und einen leeren Blick.

»Sind wir so weit, dass wir uns in der Wohnung umsehen können?«, fragte er.

»Ja.«

»Ich fahre.«

Kapitel 3

 

Merci entriegelte die Tür und schob sie auf, verließ sich auf ihre Erinnerung. »Coates hat Geräusche gehört und um Viertel vor elf angerufen. Zehn Minuten später trafen die Deputies Burns und Sungaila ein. Die Lampe über der Eingangstür war eingeschaltet und die Tür stand zehn Zentimeter weit offen. Allen dreien ist das Blut aufgefallen.«

Noch einmal schob sie die Tür sanft auf und beobachtete, wie sie wieder zurückschwang. Auch diesmal blieb sie einen Spaltbreit offenstehen. Merci zitterte in der kalten Dezemberluft. Sie nahm den Tatortbericht heraus und überflog den maschinengeschriebenen Text.

»Die Tatortspezialisten haben die Veranda auf Fußspuren untersucht, aber da die Farbe alt ist und hier viel herumgelaufen wurde, konnten sie laut Lynda Coiners Feststellungen nichts Brauchbares entdecken. Wenn wir Alexander Coates Glauben schenken, trug Aubreys erster Besucher Schuhe oder Stiefel mit festen Sohlen, der zweite weiche. Was hältst du von Coates’ Lauscherei, Paul?«

»Sechzig zu vierzig. Sechzig, dass er Recht hat.«

»Ich gebe ihm sogar noch mehr. Ich glaube, wir sollten von zwei Männern ausgehen. Die Frage ist, ob sie zusammengearbeitet haben. Woran sie gearbeitet haben, ist dann die nächste Frage.«

Zamorra sagte nichts. Er betrachtete die Tür mit seinen blutunterlaufenen Augen, zeigte auf eine kleine, sichelförmige Einkerbung in der grauen Farbe der Tür. Darunter war das Holz sichtbar, gleich rechts neben dem Blutspritzer, etwa in Herzhöhe.

Er warf einen Blick auf seine Kopie des Berichts. »O’Brien meint, dass hier die Patronenhülse in Richtung Esstisch abgeprallt ist. Coiner hat sie in der Blumenvase gefunden. Das war gute Arbeit.«

»Sie hatte die Abprallstelle als Hinweis.«

Zamorra schüttelte langsam den Kopf. »Er hat sie direkt von hier aus erschossen. Er ist noch nicht einmal zur Tür reingekommen. Sie hat aufgemacht, peng, aus, Ende.«

Seine Stimme klang irgendwie mechanisch, dachte Merci, wie von weit her. Er ist noch immer im Krankenhaus bei seiner Frau.

Sie betraten die Wohnung. Wieder fiel die Eingangstür nicht ganz ins Schloss. Helles Nachmittagslicht schien durch die Glasschiebetür und die Fenster. Der Tag war klar und kühl, und die Sonne stand schon tief über dem Meer. Merci spürte die Wärme, die durch die Scheiben eindrang. Sie bemerkte das Loch in der oberen linken Ecke der Schiebetür, das ihr am Abend zuvor nicht aufgefallen war.

Niemand ist vollkommen, dachte sie, obwohl sie es von sich selbst eigentlich erwartete. Was hatte Hess noch gesagt? Verzeih dir selbst, Merci. Du hast noch fünfzig Jahre vor dir, die du mit dir selbst verbringen musst.

Na gut, wenn’s sein muss.

Die Tatortspezialisten hatten die Umrisse der Leiche mit dunkler Kreide auf dem Boden nachgezogen. Merci blickte von ihrer Akte zu ihrem Partner.

»Ich kapier’s nicht. Coiner und O’Brien haben gesagt, nach den Blutspuren auf dem Teppichboden zu urteilen, sei sie einen Meter weit ins Esszimmer hineingeschleppt worden.«

»Damit er die Tür hinter sich schließen konnte«, erwiderte Zamorra. »Ihre Füße waren im Weg.«

»Aber warum, Paul? Was hat er hier drin gemacht? Er hat sie nicht sexuell missbraucht, zumindest soweit wir wissen. Und soweit wir wissen, hat er nichts mitgehen lassen. Er hat weder das Bargeld oder ihre Kreditkarten noch die teuren verschreibungspflichtigen Medikamente angerührt. Er ist ein großes Risiko eingegangen. Er hat Zeit verschwendet. Warum?«

»Vielleicht hat er sie fotografiert, sich einen runtergeholt und ist dann abgehauen.«

Merci rief sich die jüngsten ungelösten Morde an Prostituierten in Erinnerung: Zwei Leichen hatte man in Motels in unterschiedlichen Gegenden des County gefunden, die dritte hatte auf dem Harbor Boulevard, unten bei den Autohäusern, gelegen. Alle drei Frauen waren auf den Straßenstrich gegangen. Eine wurde erwürgt, die nächste erschlagen, die letzte bekam eine Kugel in den Kopf.

»Keine Spermaspuren.«

»Vielleicht hat er einen Gummi benutzt. Es waren schließlich genug da.«

Merci dachte darüber nach, fand aber, dass es keinen Sinn ergab. Die ganze Geschichte kam ihr so geplant, so kaltblütig und frei von Sex vor. Es gab nicht einmal einen Hinweis darauf, dass er sie überhaupt berührt hatte, außer um sie von der Tür wegzuschleifen.

Sie standen sich am Esszimmertisch gegenüber. Merci registrierte die Platzdeckchen, die daneben liegenden passenden Stoffservietten, die kleine Kristallvase, in der Lynda Coiner die Patronenhülse gefunden hatte. An einem Platz stand ein fast leeres Glas Wasser, eine fast volle Tasse Kaffee am anderen. Am Rand des Wasserglases waren Lippenstiftspuren zu sehen. Sowohl auf dem Glas als auch auf der Tasse befand sich noch der schwarze Staub für die Abnahme von Fingerabdrücken. Merci sah, wo das Klebeband vom Wasserglas abgezogen worden war. Sie beugte sich hinunter, um besseres Licht zu haben, und bemerkte Fingerabdruckstaub auch auf dem Glastisch. Reichlich Abdrücke.

Sie ging in die Küche. Eine benutzte Auflaufform auf der Anrichte, in der Spüle Teller, Salatschüsseln, Besteck. In der Auflaufform lagen noch zwei Hühnerschenkel. Keine Schnapsgläser, keine Schnapsflasche. Wenn man vor der Spüle stand, hatte man durch ein zur Rechten liegendes Küchenfenster einen Blick aufs Meer.

»Also gut, Paul. Sie kocht Abendessen für irgendwen. In ihrem Kalender steht D. B. Gehen wir davon aus, dass es sich um den handelt, der laut Coates’ Aussage um halb neun angekommen ist – ein großer Mann, leichtfüßig, mit der Umgebung vertraut. Er klopft und sie öffnet ihm die Tür. Keine lauten Worte. Keine laute Musik. Keine Kampfgeräusche, kein Schuss oder sonst etwas. Sie essen Salat und Hähnchen. Kein Alkohol. Um zehn nach zehn geht er. Fünf Minuten lang ist alles ruhig. Wir wissen das, weil Alexander Coates mit der Stoppuhr in der Badewanne liegt.«

Zamorra war mittlerweile im Wohnzimmer. Er stand im Sonnenlicht und schaute hinunter auf Aubrey Whittakers hochhackige Schuhe. Seine Stimme klang flach, abwesend. »Dann kommt Freund Nummer zwei die Treppe rauf und geht über die Galerie. Er ist ein kleinerer Typ und trägt Schuhe mit weicher Sohle. Er klopft nicht, aber sie macht trotzdem die Tür auf.«

Merci blätterte den Tatortbericht durch, um herauszufinden, ob die Klingel auf Fingerabdrücke hin untersucht worden war. Evan hatte sich darum gekümmert, aber nichts gefunden. Sie teilte es Zamorra mit.

»Vielleicht hat er sie abgewischt«, sagte er. »Vielleicht hat er ganz leise geklopft. Vielleicht hat Coates gerade gerülpst, im Wasser geplanscht oder gegähnt und es schlichtweg nicht gehört.«

Merci dachte darüber nach. »Sie hört das Klopfen oder Klingeln, geht zur Tür und macht auf. Aber zuvor schaltet sie das Verandalicht ein und schaut durch den Spion. Das ist wichtig. Sie muss ihn gekannt haben. Warum hätte sie sonst öffnen sollen? Sie ist ein Callgirl. Sie hat schon eine Menge erlebt. Natürlich ist sie misstrauisch. Dennoch öffnet sie.«