Ein Engel an meiner Tafel - Janet Frame - E-Book

Ein Engel an meiner Tafel E-Book

Janet Frame

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Beschreibung

Janet Frames autobiographischer Roman erzählt die Lebensgeschichte einer der eigenwilligsten Autorinnen der Weltliteratur. Die junge Janet Frame wächst unter ärmlichen und tragischen Umstanden an der Küste Neuseelands auf: ihr Bruder erkrankt an Epilepsie, und ihre beiden Schwestern ertrinken bei Badeausflügen. Nach einem Selbstmordversuch in die Psychiatrie eingeliefert, rettet die junge Autorin nur wenige Tage vor einer geplanten Hirnoperation ein Literaturpreis, und sie wird nach acht Jahren entlassen. "Ein Engel an meiner Tafel" liefert den Beweis für die lebensspendende Kraft der Literatur, erzählt von einer Autorin, die ihr Leben dem Schreiben widmete und bis zum Ende aus dieser Kraft schöpfte. Frames Autobiographie gehört zu den bedeutendsten Beispielen für dieses Genre im 20. Jahrhundert.

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Seitenzahl: 330

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Janet Frame

Ein Engel an meiner Tafel

Eine Autobiographie

Aus dem Englischenund mit einem Nachwortvon Lilian Faschinger

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Janet Frames autobiographischer Roman erzählt die Lebensgeschichte einer der eigenwilligsten Autorinnen der Weltliteratur. Die junge Janet Frame wächst unter ärmlichen und tragischen Umständen an der Küste Neuseelands auf: ihr Bruder erkrankt an Epilepsie, und ihre beiden Schwestern ertrinken bei Badeausflügen. Nach einem Selbstmordversuch in die Psychiatrie eingeliefert, rettet die junge Autorin nur wenige Tage vor einer geplanten Hirnoperation ein Literaturpreis, und sie wird nach acht Jahren entlassen. «Ein Engel an meiner Tafel» liefert den Beweis für die lebensspendende Kraft der Literatur, erzählt von einer Autorin, die ihr Leben dem Schreiben widmete und bis zum Ende aus dieser Kraft schöpfte. Frames Autobiographie gehört zu den bedeutendsten Beispielen für dieses Genre im 20. Jahrhundert.

Über die Autorin

Janet Frame wurde 1924 als drittes von fünf Kindern eines Eisenbahnarbeiters in Dunedin, Neuseeland, geboren, wo sie 2004 auch starb. Frame ist Autorin von zwölf Romanen, darunter «Wenn Eulen schrein» und «Gesichter im Wasser», fünf Erzählsammlungen, darunter «Die Lagune». Sie veröffentlichte Gedichte und ein Kinderbuch. Der posthum erschienene Roman «Dem neuen Sommer entgegen» (C.H.Beck, 2010) wurde international gefeiert. Jane Campions preisgekrönter Film zu «Ein Engel an meiner Tafel» (1990) war ein grandioser Erfolg und machte die Autorin weltweit bekannt.

Über die Übersetzerin

Lilian Faschinger ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Englischen, u.a. von Autoren wie Gertrude Stein, Paul Bowles und John Banville. Sie erhielt den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzer. Sie veröffentlichte zuletzt «Wiener Passion», Roman (2002), «Paarweise. Acht Pariser Episoden» und den Roman "Stadt der Verlierer" (2007).

Reste tranquille, si soudainL’Ange à ta table se décide;Efface doucement les quelques ridesQue fait la nappe sous ton pain                                         Rilke, Vergers

Dieser zweite Band der Autobiographieist der Familie Scrivener,Frank Sargeson, Karl und Kay Steadsowie E. P. Dawson gewidmet.

Inhalt

Erster Teil

Der Stein

Garden Terrace Nummer 4, Dunedin

Die Studentin

Und wieder «Ein Land voller Flüsse»

Isabel und die Entwicklung der Großstadt

Willowglen

1945: Eins

1945: Zwei

1945: Drei

1945: Vier

Die Pension und die Neue Welt

Sommer in Willowglen

Noch ein Tod durch das Wasser

Sehr geehrte Gebildete

Nadeln einfädeln

Zweiter Teil

Grand Hotel

Mr Brasch und Landfall

Das Foto und die Heizdecke

Oben im Norden

Mr Sargeson und die Militärbaracke

Gerede von Schätzen

Die Kiefern in der Kühle des Abends

Ein Tod

Die Seidenraupen

Miss Lincoln, Beatrix Potter und Dr. Donne

Ratschläge für die Reisende

Die Reisende

Nachwort

ERSTER TEIL

Verzweiflungstricks

Prospero:

Mein wackrer Geist! –Wer war so fest, so standhaft, dem der AufruhrNicht die Vernunft verwirrte?

Ariel:

Keine Seele,Die nicht ein Fieber, gleich dem Tollen, fühlteUnd Streiche der Verzweiflung übte.

Shakespeare, Der Sturm, 1. Akt, 2. Szene

1Der Stein

Die Zukunft legt sich wie ein Gewicht auf die Vergangenheit. Das Gewicht auf den frühesten Jahren ist leichter abzutragen, sodass diese Zeit zurückfedern kann wie Gras, das niedergedrückt war. Die Jahre, die auf die Kindheit folgen, werden angeschweißt an ihre Zukunft, schwer wie Stein, und oftmals kann die Zeit darunter nicht zurückfedern und weiterwachsen wie frisches Gras: sie liegt da in neuer Gestalt, ihr Grün ausgeblutet, mit diesen zarten, blutlosen Sprossen einer anderen, unvertrauten Zeit, die eine verwoben mit der anderen unter dem Stein.

2Garden Terrace Nummer 4, Dunedin

Der sonntags verkehrende Bummelzug, ein Güterzug mit einem Waggon für Reisende an seinem Ende, brauchte sieben Stunden für die einhundertfünfundzwanzig Kilometer von Oamaru nach Dunedin, blieb an jedem Bahnhof stehen, wartete mindestens eine halbe Stunde bei den Gummibäumen in Waianakarua, bis der Mittagsexpress auf seinem Weg nach Norden vorbeigerast war, kroch an den von wilden Wicken umsäumten Bedarfshaltestellen vorüber. In den vielen Sümpfen entlang der Strecke wuchsen dunkelblaue Sumpfschwertlilien mit blass weißblauem, gelb gesprenkeltem Inneren. Wir blieben in Hampden stehen, wohin wir jedes Jahr zum Eisenbahn-Picknick gefahren waren; kurz vor der Viehsperre an der Lagune mit ihrer schattenhaften Masse schwarzer Schwäne waren wir aus dem Zug gestiegen und querfeldein mit Taschen und Decken hinunter zum Picknickplatz am Strand mit seinem «Strandklo» gewandert, einem Plumpsklo, dessen fleckiger Holzsitz in der Mitte geborsten war und dessen Betonboden nach Salz roch und von schmutzigen Pfützen und hier und da von einen Spritzer Möwenkot bedeckt war, so als ob auch die Möwen die Umkleidehütte als Klo benützten. Ich blickte hinaus auf Hampden und die schwarzen Schwäne und die Lagune, voller Erinnerungen, erschaffen aus der Vergangenheit, so wie sich eine Honig sammelnde Biene ihre eigenen süßen Bauten erschafft, und dachte an das Meer und an den Strand mit seinen Muscheln und an das Klo mit seinem nassen Boden; und an die Gratis-Himbeerlimonade in der Bahn.

Dann kreiste der Zug auf seine merkwürdige Weise die Stadt Palmerston ein, wobei das steinerne Denkmal auf dem Hügel auftauchte, verschwand und von Neuem auftauchte und die wenigen Leute im Waggon plötzlich aufstanden und mit interessiertem Blick die Fenster öffneten, denn in Palmerston gab es «Erfrischungen», doch der Mittagsexpress hatte hier gehalten und war wieder weitergefahren, nachdem seine Fahrgäste sich wie die Heuschrecken durch das Angebot an Schinkensandwiches und süßen Brötchen und heißen Pasteten hindurchgefressen und nur die «Stängel» für die des Personenzuges übriggelassen hatten, welche nun, wie alle Reisenden in Palmerston, Hunger und Durst hatten.

Die Hügel um Palmerston waren von der Sonne und vom Feuer verbrannt, mit einzelnen abgestorbenen Bäumen in einer Schlucht oder auf einem Abhang und mitunter einer Ansammlung von Bäumen, manche seit langem verdorrt, andere ganz kahl mit nur einer dünnen Schicht glänzender Blätter. Mehr Bäume tauchten auf, während sich der Zug Seacliff näherte, und wieder kam Bewegung in den Waggon, sobald die Fahrgäste Seacliff, den Bahnhof, und Seacliff, das Krankenhaus, bemerkten, die Irrenanstalt, die kurz zu sehen war, wie eine Burg aus dunklem Stein zwischen den Hügeln.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Ja, die Verrückten waren da; alle blickten hinaus zu den Verrückten, die in Oamaru bekannt waren als die, die «die Strecke runter», und in Dunedin als die, die «die Strecke rauf» geschickt worden waren. Oft war es schwer zu sagen, wer die Verrückten waren. Ein paar Leute stiegen hier aus – das waren wohl die Verwandten, die einen Besuch machten. In unserer Familie gab es keine Verrückten, obwohl uns Leute bekannt waren, die «die Strecke runter» geschickt worden waren, aber wir wussten nicht, wie sie aussahen, nur dass sie einen komischen Blick hatten und sich womöglich mit einem Brotmesser oder einer Axt auf einen stürzten.

Mich ängstigte die Aussicht auf das Leben in einer großen Stadt wie Dunedin zu sehr, als dass ich dem Bahnhof von Seacliff viel Beachtung geschenkt hätte. Nun wand sich der Zug um die steilen Klippen herum, und man sah hinunter auf die Feriensiedlungen in Waitati, Karitane, wo die «Gruppe» aus der Schule ihre «Häuschen» am Meer hatte und wo die Mummys und Daddys und großen und kleinen Brüder und Schwestern der feinen Welt mit ihrem Strand und ihren Booten und der Sonne und den Ferienvergnügungen ein Leben voll Spaß hatten.

Der Zug quietschte, ächzte, kroch dahin, schaukelte hin und her, und das Meer lag weit unten, ruhig und grau, leicht gekräuselt und glänzend wie ein Robbenfell. Dann der Tunnel, Mihiwaka, und die Fahrgäste husteten, schlossen und öffneten und schlossen die Fenster, der Waggon war von Rauch erfüllt; nach dem Tunnel dann das unvermeidliche Gefühl der Ankunft: Port Chalmers, Ravensbourne, Sawyers Bay; der Hafen und der Bahnhof von Dunedin, ein riesiger, dampfender, lauter Ort, nicht so gedrängt voll bei der Ankunft des Güterzuges am späten Nachmittag wie bei der des Invercargill-oder Lyttleton-Expresszuges, aber dennoch furchteinflößend und ehrfurchtgebietend: Ich war allein in meiner ersten Großstadt. In meinem Kopf tauchten drohend und verschwommen Weltstadtfiktionen auf, und Dunedin war eine von ihnen. Ich dachte an die «dunklen satanischen Mühlen», an Menschen, «eingesperrt wie Eichhörnchen»; an Feuersbrünste und Pestepidemien und Zwangsrekrutierungen; und obwohl ich willens war, dem Beispiel der Schriftsteller zu folgen und die neue Stadt letztendlich zu «lieben», so, wie Charles Dickens, Hazlitt und Lamb ihr London geliebt hatten, konnte ich zunächst nur an die Einsamkeit denken, an die Armut, die ich zweifellos vorfinden würde, und daran, dass das Leben in der Großstadt mich vielleicht zerstören würde –

In unserer Jugend sind wir Dichter voller Frohsinn;

Doch schließlich enden wir verzweifelt und im Wahnsinn.

Ich, die ich kaum den Kinderschuhen entwachsen war und Wordsworths «Ahnungen der Unsterblichkeit» auswendig kannte, hatte die Drohung darin ernst genommen –

Sehr bald wird deine Seele ihre irdische Bürde tragen,

Wird die Gewohnheit auf dir lasten mit einem Gewicht,

So schwer wie Frost, und tief, fast wie das Leben!

– in der Gewissheit, dass diese Drohung sich in einer Großstadt bewahrheiten würde: in Dunedin. Mein einziger Trost an jenem schrecklichen ersten Tag war die Aussicht auf mein neues Zuhause bei Tante Isy und Onkel George – Garden Terrace 4, ein lichterfüllter Ort mit einem terrassenförmig angelegten Garten mit Blick über die Buchten der Halbinsel und einem Zimmer mit dem gleichen Ausblick, mit hellen Kretonnevorhängen, einer dazu passenden Bettdecke und Bettwäsche wie für eine Prinzessin. Und ich würde die Pädagogische Hochschule und in meiner Freizeit die Universität besuchen und die Leute mit meiner Fantasie beeindrucken; alle würden in mir eine echte Dichterin sehen. Die praktischen Details eines Dichterlebens waren mir noch nicht ganz klar, da es selbst für meine Fantasie zu viel war, den Übergang von der Fantasie zur Realität zu vollziehen – alle Dichter, mit denen ich mich beschäftigt hatte, waren beruhigenderweise tot, seit so langer Zeit, in so weit entfernten Ländern; doch auch wenn ich meine eigene Lebensform noch nicht gefunden hatte, waren es die Dichter, die mir auf meiner ersten Reise weg von zu Hause und von meiner Familie Gesellschaft leisteten.

Mein Wissen über Tante Isy und Onkel George war begrenzt. Wie die meisten Verwandten und Erwachsenen betrachtete ich sie als «Respekt einflößend», als Menschen, die in einer völlig anderen Welt lebten, der anzugehören ich mir nicht vorstellen konnte – eine Welt des ständigen Redens über das Tun und Treiben unzähliger Verwandter und Bekannter, über Namen und Orte, alles ausgesprochen mit der Sicherheit der Besitzenden, dem Wissen, dass jeder sich an dem ihm bestimmten, richtigen Platz befand, und wenn nicht, dann gab es Fragen und Gerüchte, ebenso zahlreich wie die vorhergehende Zustimmung. Mir war Tante Isy nur als die ehemalige Tänzerin auf den alten Fotografien der beiden schönen Schwestern Isabella und Polly bekannt, die Schottenröcke trugen und denen das schwarze Haar in seidigen Strähnen bis auf die Hüften fiel; als die Tante, die Myrtle, Dads erstes Kind, auf allen Fotos, auf denen Mutter nicht abgebildet war, auf dem Arm hielt, sodass wir fragten: «Mum, war Myrtle Tante Isys Baby? Warum bist nicht du mit Myrtle fotografiert worden?»; als die nette Tante, die jedes Jahr zu Weihnachten ein Paket schickte und so in der Woche vor Weihnachten Anlass zu der besorgten Äußerung gab: «Das Paket ist noch nicht da!»; und neuerdings betrachtete ich Tante Isy als jemanden, der einen Tantengeruch nach Mottenkugeln und Stoff verströmte und dunkle Farben trug und noch immer dort arbeitete, wo sie ihr Leben lang gearbeitet hatte, in der Roslyn-Fabrik, jetzt als Aufseherin; und die immer noch mit hoher Stimme sagte: «Lottie, Lottie, Middlemarch, Middlemarch.» Und ihren Ehemann, Onkel George, stellte ich mir als einen blassen Mann in einem grauen Mantel vor; ich glaube, er war Handelsreisender.

Dunedin war halb verborgen im Nieselregen. Vom Bahnhof bis zur Carroll Street, einer Straße auf halber Höhe eines Hügels, war es nur eine kurze Fahrt mit dem Taxi, und da war auch schon Garden Terrace, und die Nummer vier, das vierte kleine Ziegelhaus in einer aneinandergebauten Gruppe von sechs Häusern, deren Hinter- und Vordertüren über zwei enge, von der Carroll Street abzweigende Gässchen erreichbar waren. Überall waren Ziegel- und Betongebäude, hohe Schornsteine, die hintereinander in den Himmel ragten, graue Straßen, ein Bild, wie ich es in meiner Vorstellung von einer Großstadt im Geiste schon gesehen hatte. Irgendwo weiter östlich war das Meer, das mich treu vom Königreich Oamaru bis hierher begleitet hatte.

Tante Isy (nach Tante riechend) umarmte mich an der Tür. Sie roch nach ganzen Schränken voller Kleider aus Stoffen wie Voile, Jerseyseide, Serge, Crêpe-de-Chine.

«Ach Jean, wir freuen uns so, dass du bei uns wohnst. Wir sind alle so stolz darauf, dass du Lehrerin wirst. Wenn die Auszeichnungen in der Schule verliehen werden, suchen wir in der Zeitung immer nach deinem Namen; auch nach den anderen Mädchen. Was für eine gescheite Familie!»

Ich stand da und lächelte mein schüchternes Lächeln mit leicht zusammengepressten Lippen, weil meine Vorderzähne sich mittlerweile im letzten Stadium des Verfalls befanden, da die Krankenkasse nach der Grundschule nicht mehr für Zahnbehandlungen aufkam und meine Familie nicht das Geld hatte, einen Zahnarzt zu bezahlen.

Tante Isys Schwägerinnen Molly und Elsie, die nebenan auf Nummer fünf wohnten und mir als Tante Molly (die Radiotante) und Tante Elsie bekannt waren, kamen, um mich zu begrüßen.

«Das ist also Jean, und du willst Lehrerin werden?»

«Ja.»

Das Haus war wie ein großes Puppenhaus, mit einer winzigen Spülküche mit einem Ausgussbecken gleich neben der Hintertür, einem Wohn-Ess-Zimmer daneben, das «Zimmerchen» genannt wurde und von einem schmalen Korridor abging, sowie einem weiteren etwas größeren Zimmer, der «guten Stube» gleich neben der Vordertür. Im ersten Stock gab es zwei Schlafzimmer, beide klein. Das Badezimmer war unten in der Waschküche, in die man von der Spülküche aus gelangte.

«Dein Zimmer ist hier oben», sagte Tante Isy, «am oberen Ende der Treppe.»

Als wir die Treppe hinaufgingen, wandte sie sich nach rechts zu dem Zimmer, in dem sie und Onkel George schliefen.

«Onkel George ist im Bett», erklärte sie. «Möchtest du ihm guten Tag sagen?»

Ich wusste, dass Onkel George Krebs hatte. Ich stellte mich ans Fußende des Bettes.

«George, Jean möchte dir guten Tag sagen.»

«Guten Tag, Onkel George.»

«Du bist also die, die Lehrerin werden will?»

Mir fiel die graue Blässe seines Gesichts mit der weich aussehenden Haut auf, wie tote Haut, und ich fragte mich, was für ein schrecklicher Anblick sich unter der Bettwäsche verbarg. Es roch fettig nach Lanolin, und auf dem Toilettentisch lag eine Reihe blauweißer leerer Lanolintuben, einige davon ausgedrückt und aufgerollt. Da ich auf sexuellem Gebiet ebenso neugierig wie unwissend war, fragte ich mich, ob das Lanolin etwas «damit» zu tun hatte, und ich fragte mich, ob Tante Isy und Onkel George «es miteinander machten».

Vielleicht konnte man nicht, wenn man Krebs hatte?

«Er verbringt jetzt die meiste Zeit im Bett», sagte Tante Isy, während wir hinuntergingen, um Tee zu trinken.

Später saß ich auf meinem Bett in meinem winzigen Zimmer und blickte hinaus über Ziegelwände und Gebäude mit hohen Schornsteinen, so weit das Auge reichte. Wenn ich mich aus dem Fenster beugte, konnte ich innerhalb des Gartentors, das zum Gässchen führte, den kleinen Garten sehen, in dem Geranien blühten, die ich bisher nicht als Großstadtblumen betrachtet hatte; sie waren staubig, und ihr flammend roter Samt war mit Ruß bedeckt. Als mir bewusst wurde, dass ich allein in meiner ersten grauen Großstadt war, empfand ich ein Gefühl der Vorfreude und Erregung; dann wich diese Erregung allmählich der Angst. So war es also, Auge in Auge mit der Zukunft – ich war allein, hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, fürchtete mich vor der Stadt und vor der Pädagogischen Hochschule und vor dem Unterrichten und musste so tun, als wäre ich nicht allein, als gäbe es viele Leute, mit denen ich reden konnte, als fühlte ich mich in Dunedin zu Hause und als hätte ich mich mein ganzes Leben nach dem Unterrichten gesehnt.

3Die Studentin

Meine erste Woche an der Pädagogischen Hochschule in Dunedin war weniger schlimm, als ich es mir vorgestellt hatte, da ich all das Neue mit vielen anderen teilte, alle ängstlich, alle bemüht, sich schnell die selbstsicheren Manieren der Studenten anzueignen, wohingegen die Professoren, die nicht so unnahbar waren wie die Erwachsenen, die ich bisher gekannt hatte, mich mit dem Einfühlungsvermögen erstaunten, mit dem sie unsere Gefühle erklärten und versuchten, uns mit der studentischen Rolle vertraut zu machen. Sie sprachen uns mit Mister und Miss, gelegentlich auch mit Mistress an, aber weil der Krieg noch nicht zu Ende war, gab es nur wenige Männer, die rasch von den schönen blonden Frauen mit Beschlag belegt waren, während die übrigen, darunter auch ich, überlebten, indem sie davon träumten, was sein könnte, und ihre Bewunderung auf die attraktivsten Professoren konzentrierten.

Mein erstes Abenteuer mit der Selbstsicherheit hatte ich, als ich die neue Sprache hörte, die ich bald sprechen würde, der ich mich jedoch noch voll Ehrfurcht und Angst vor allzu vertrauten Bezugnahmen und Abkürzungen näherte. Während die anderen Studenten ganz zwanglos von PH sprachen, von Uni und Party (für Mr Partridge, den Direktor) und von Teststunde, brachte ich die Zauberworte noch nicht über die Lippen. Das allmähliche Erlernen der Ausdrucksweise, der Grundhaltung und der Gepflogenheiten in Benehmen und Kleidung rief in mir ein euphorisches Zugehörigkeitsgefühl hervor, das durch mein tatsächliches Gefühl der Isolation verstärkt wurde und dazu in Widerspruch stand. Während wir bei der Versammlung am Donnerstagmorgen auf das Erscheinen des Lehrkörpers und auf Party warteten, begannen die Studenten des zweiten Jahrgangs, «ihr» Lied zu singen, welches bald «unseres» sein sollte. Angesichts der Tragweite des Anlasses ging mir das Herz auf, als die Studenten des zweiten Jahrgangs sangen:

O, der Pfarrer ging runter

O, der Pfarrer ging runter

in den Keller zum Beten

soff sich sternhagelvoll

blieb den ganzen Tag (blieb den ganzen Tag)

O, der Pfarrer ging runter

in den Keller zum Beten

soff sich sternhagelvoll

blieb den ganzen Tag,

O, ich mach dem Herrgott keinen Kummer mehr …

 

O, der Teufel, der hat (O, der Teufel, der hat)

einen Pferdefuß …

Und willst du in der Hölle schmoren

Dann verschließ vor Gottes Wünschen deine Ohren …

Ich empfand das fröhliche Singen als genauso ergreifend wie jene Stelle aus dem Messias, die jedes Jahr zu Weihnachten von jedem Chor gesungen wird und auch denen sehr vertraut ist, die keinen direkten Bezug zu dieser Art von Musik haben. Die Vorstellung, dass auch ich bald «O, der Pfarrer ging runter» singen würde (inzwischen hatten auch schon einige der Studenten des ersten Studienjahres in den Refrain eingestimmt), erschien mir wie eine Verheißung des Himmels. Alle lachten und redeten und waren ganz aufgeregt, und überall wurde die neue Sprache mit solch machtvoller Überzeugung gesprochen!

Als dann Party und der Lehrkörper erschienen, hörte das Singen auf, und alle, sogar die Lehrer, sahen so selbstzufrieden aus, als teilten sie ein ungeheures Geheimnis miteinander, als wäre das Studentenleben das allerglücklichste.

Später sah ich zwei ehemalige Schülerinnen aus Waitaki, Katherine Bradley und Rona Pinder.

«Die PH macht Spaß», sagten sie.

Ich stimmte zu. «Ja, nicht wahr?»

Ich hatte vor, mit einem Stipendium des Unterrichtsministeriums an der Universität Englisch und Französisch zu studieren, und wurde in der ersten Woche von Mr Partridge dazu befragt, der auch Pädagogik unterrichtete. Ich habe ihn als einen kleinen, adretten, dunklen Mann in einem dunklen Anzug in Erinnerung. Seine Aura der Macht rührte von seiner Rolle als Direktor her, als der er, wie ich gehört hatte, Notizzettel mit der Aufforderung zu einer Unterredung ans schwarze Brett heftete, und niemand wusste – obwohl manche es ahnten –, ob eine «Notiz von Party» Lob oder Tadel zur Folge haben würde.

Mr Partridge erkundigte sich nach meiner Unterkunft.

«Wohnen Sie in einem Studentenheim?»

«Ich wohne bei einer Tante und einem Onkel.»

Er blickte missbilligend.

«Es ist nicht immer günstig, bei Verwandten zu wohnen.»

«Ach, ich komme gut aus mit meiner Tante und meinem Onkel. Und ich zahle nur zehn Shilling für Kost und Logis.»

«Wo wohnen Sie?»

«Garden Terrace 4, Carroll Street.»

Wieder blickte er missbilligend.

«Carroll Street? Das ist keine sehr nette Gegend.»

Ich wusste, dass die Carroll Street nur zwei Straßen von der berüchtigten McLaggan Street entfernt war, wo angeblich Prostituierte wohnten und die Chinesen in ihren «Opiumhöhlen» Opium rauchten, aber die Carroll Street erschien mir harmlos: Ich hatte erfahren, dass man sie «Syrisches Viertel» nannte.

«Ganz und gar keine respektable Gegend», wiederholte Mr Partridge abschätzig, ohne seine Ansicht weiter zu erklären, «Sie wollen also Englisch und Französisch studieren?»

Er blätterte in irgendwelchen Papieren auf seinem Schreibtisch und sagte, erneut mit missbilligendem Blick: «Ich nehme an, es ist Ihnen klar, dass Sie nicht unbedingt eine gute Studentin sein müssen, nur weil Sie in der Schule gut waren. Wissen Sie, hierher kommen Studenten aus dem ganzen Land. Und die Pädagogische Hochschule ist eine Ganztagsbeschäftigung.»

Ich nickte kleinlaut. «Ja.»

Er ließ nicht locker.

«Etliche Studenten, die in der Schule gut waren, sind in den Universitätsfächern sogar durchgefallen.»

Widerwillig erteilte er mir die Erlaubnis, Englisch I und Französisch I zu studieren; seine Missbilligung zerrte am perfekten Rand meiner neu entdeckten Welt, sodass es schmerzte, und ich verließ sein Büro und ging nach Hause, durch die Union Street und das Museumsgelände bis zur Frederick Street und in die George Street, vorbei am Octagon, in die Princes Street und in die Carroll Street bis zu meiner neuen, anstößigen Adresse. Ich verstand jedoch immer noch nicht, weshalb die Carroll Street nicht «nett» war. Die Leute waren ärmer, es gab nur wenige, die die Pädagogische Hochschule oder die Universität besuchten, und abends um sechs, wenn die Kneipen schlossen, sah man vielleicht manchmal ein paar Betrunkene mehr davor …

Ich schaffte es nicht, das Anfangserfordernis der Zugehörigkeit zur Pädagogischen Hochschule zu erfüllen: Das Gebäude war neu, und ich hatte Angst vor dieser Neuheit, dieser Nacktheit. Nie zuvor hatte ich mich an einem so sauberen Ort befunden. Anders als in der Oberschule, wo jede Klasse ihr eigenes Zimmer hatte, das man tagsüber als «Zuhause» betrachtete, waren die Räume in der Hochschule einzelnen Fächern vorbehalten – der Pädagogikraum, der Zeichensaal –, und das einzige «Zuhause» der Studenten waren ihre Schließfächer im Umkleideraum, die Besitztümer und nicht Menschen beherbergten. Das «Zuhause» für die Studenten war der Gemeinschaftsraum, der mir keine große Sicherheit bot, weil er so riesig und völlig neu war, wenn ich auch entzückt war, endlich sagen zu können: Gemeinschaftsraum. Ich gehe in den Gemeinschaftsraum. Sie sind im Gemeinschaftsraum, da sich mir die alten Träume von der Universität, von Oxford, Cambridge, dem «Gelehrten Zigeuner» und Herzen im Aufruhr unauslöschlich eingeprägt hatten. In Wirklichkeit ging ich nur selten in den Gemeinschaftsraum.

Auch von den Toiletten war ich zutiefst beeindruckt. In der Nähe des Waschbeckens war ein Verbrennungsofen, auf dem stand: Gebrauchte Damenbinden hier einwerfen. Man musste unter den Blicken aller mit der schmutzigen Binde in der Hand von der Toilette über den hallenden Fliesenboden bis zum Verbrennungsofen am anderen Ende des Raumes gehen. Während meiner zwei Jahre an der Pädagogischen Hochschule trug ich meine schmutzigen Binden nach Hause in die Garden Terrace Nummer 4 und warf sie in den Abfalleimer in der Waschküche, wenn Tante Isy nicht da war, oder zwischen die Grabsteine auf dem Südfriedhof am oberen Ende der Straße, der zu «meinem» Ort geworden war, wo ich mich aufhalten, nachdenken und Gedichte verfassen konnte und der dem «Hügel» in Oamaru entsprach. Wenn Tante Isy am Wochenende den Ofen im Speisezimmer einheizte und diskret fragte, ob ich «etwas zu verbrennen» hätte, sagte ich immer: «Nein danke.»

«Ja, bitte.» – «Nein danke.»

Die wenigen Kleider, die ich besaß, lagen zusammen mit gebrauchten Damenbinden, die darauf warteten, auf den Friedhof geworfen zu werden, und mit den Papierschleifen der Caramello-Schokoladentafeln, die ich in meinem Zimmer aß, in der Lade der Kommode. Ängstlich darauf bedacht, als ideale Kostgängerin betrachtet zu werden, hatte ich Tante Isy gleich zu Beginn meines Aufenthalts erklärt, dass ich sehr wenig aß, dass ich Vegetarierin war (ich hatte mich mit Buddhismus beschäftigt) und vollauf damit zufrieden sein würde, mein karges Mahl am Ausgussbecken in der Spülküche zu verzehren, und als Tante Isy mir sagte, ich könne natürlich im Speisezimmer essen, gebrauchte ich die Ausrede, dass ich während des Essens gern lernte. Nun, da ich mich weniger vor der Stadt fürchtete und sogar lernte, mit der Straßenbahn zu fahren, sah ich mich außerstande, das Bild des Mädchens mit dem winzigen Appetit zu korrigieren, und so war ich oft hungrig. Gierig griff ich nach köstlichen Resten von gekochtem Corned Beef auf Tante Isys Teller inmitten des Stapels von schmutzigem Geschirr, welche diese übrig gelassen hatte, weil sie zu «faserig» waren. Und ich kaufte die Caramello-Schokolade zu einem Shilling pro Tafel und aß sie auf meinem Zimmer.

Ich nahm wenig Anteil am geselligen Leben der Hochschule. Ich sehnte mich danach, einmal einen zerknitterten Gabardine-Regenmantel (die Uniform der Studenten) kaufen zu können. Völlig ahnungslos, was Liebe und Sexualität betraf, beobachtete ich mit neiderfülltem Staunen das Leben jener Frauen, die, indem sie ihren «Mann» fanden, nicht nur ihre eigenen Erwartungen erfüllten, sondern auch die ihrer Familie und ihrer Freunde und so ihr Wesen mit einer Blüte der Selbstsicherheit ergänzten. Ich hatte meine einzige Liebesaffäre mit der Lyrik und Prosa in den Vorlesungen der Hochschule und in den neu begonnenen an der Universität, wo ich meine Zeit verträumte. An der Universität musste ich mich nicht wie eine Lehrerin benehmen. Ich konnte in der Vorlesung sitzen und zuhören, wurde nicht einmal zum Sprechen aufgefordert und gab mich, unbehindert von Kritik und Kommentaren, dem Träumen über das Thema der Vorlesung und manchmal auch über den Vortragenden hin. Meine Aufmerksamkeit war groß. Ich staunte über all das neue Wissen, über den Enthusiasmus und die Begabung der Lehrenden an der Hochschule wie auch an der Universität, über die neue, jeweils ganz eigene Ausdrucksweise der Hochschul- und der Universitätsstudenten und über die in den Englischvorlesungen von Professor Ramsay und Gregor Cameron neu präsentierte Sprache Shakespeares und Chaucers, wobei Professor Ramsay jedes Wort von Shakespeare analysierte und uns so sein eigenes Staunen über Shakespeares Sprache und ihre Bedeutung vermittelte. Wie das Meer aus Oamaru kamen auch Shakespeare und seine Sprache mit mir nach Dunedin, und ich hütete beide wie einen Schatz, da sie sowohl zu meinem neuen Leben gehörten als auch zum Leben «des Mädchens, das fort war». Wir beschäftigten uns eingehend mit Maß für Maß, das ich nie gelesen hatte und das nun zu einem meiner Lieblingsstücke von Shakespeare wurde, denn jede Zeile löste eine Unmenge von Ideen in mir aus, die sich in Traum-Avenuen, Gedichtzeilen, den Arbeiten für die Semesterabschlussprüfungen, doch zu meinem Leidwesen nicht in den literarischen Essays drängten, die ich so gern geschrieben hätte. Damals waren von den Universitätsprofessoren noch keine schriftlichen oder mündlichen Kommentare seitens der Studenten der Stufe I oder II erwünscht. In den Englisch-Klassenarbeiten an der Pädagogischen Hochschule konnte ich ab und zu meinen sehnlichen Wunsch nach dem Prosaschreiben befriedigen.

Viel von meiner Zeit und meinen Erfahrungen als Studentin ist mir heute verschlossen, von jener Substanz, die mit dem Leben jedes Augenblicks beziehungsweise mit dem Erfassen eines jeden Moments unseres Lebens freigesetzt wird. Ich kann mich an meine Gefühle erinnern und sie nachvollziehen, doch habe ich heute ein Bedürfnis nach einer rationalen Begründung für das, was so unvermeidlich schien. Ich hatte keinen Begriff vom Ausmaß meiner Einsamkeit. Ich klammerte mich an die Werke der Literatur, wie ein Kind sich an seine Mutter klammert. Ich entsinne mich noch, wie Maß für Maß, dieses zutiefst durchdachte Stück randvoll von Verletzungen der Unschuld, von sexuellem Ringen und Stellungnahmen zur Sexualität, von langen Diskussionen über Leben, Tod und Unsterblichkeit, mein Herz gewann und in meiner Erinnerung bestehen blieb, mich im täglichen Leben begleitete:

Was ist in dem, das die Bezeichnung Leben trägt?

Dennoch birgt dieses Leben viele tausend Tode;

Doch fürchten wir den Tod.

Es ist ein schonungsloses Stück in aufrichtiger Sprache über Trost und Abhilfe, über die Analyse von Rache und Abgeltung und über Leben und Tod in der Waagschale. Während ich dies jetzt schreibe, bin ich ungehalten über mein Ich als Studentin, das so ungeformt war, so unerwachsen, so grausam unschuldig. Obgleich ich damals nicht die Möglichkeit hatte zu erfahren, ob andere Studenten auch im Stande einer solchen Unschuld lebten, habe ich inzwischen herausgefunden, dass viele ein ebenso bizarres Leben in Befangenheit und Schüchternheit und Unwissenheit führten wie ich. Ich habe von anderen gehört, die Umwege über den mit Gebüsch bewachsenen Stadtgürtel machten, um ihre Binden loszuwerden; und von einer Frau, die ihre erste Woche in einem Studentenwohnheim im Dunkeln verbrachte, weil sie zu schüchtern war, um zu bitten, man möge die Glühbirne auswechseln, und kein Geld hatte, um eine zu kaufen. Unser Leben war zerbrechlich, voller Qualen der Verlegenheit und Enttäuschung, voll missglückter Kommunikation, doch auch voll intensiver Gefühle des Staunens über die Flut von Ideen, ausgelöst durch Bücher, Musik, bildende Kunst und andere Menschen; es war eine Zeit, in der wir Zuflucht fanden bei den mit riesigen Anfangsbuchstaben versehenen Abstraktionen Liebe, Leben, Zeit, Alter, Jugend, Fantasie.

Der Südfriedhof, wo ich meinen peinlichen Abfall wegwarf, war mein Lieblingsort. Ich war zu schüchtern, um mich zu Tante Isy ins kleine Speisezimmer neben den Ofen zu setzen, und wenn der Anblick der Ziegelmauern und trostlosen Hinterhöfe mit ihren überquellenden Mülleimern allzu bedrückend wurde, stieg ich auf den Hügel, saß im langen Gras oder auf einem der ummauerten Gräber und blickte über meine neue Stadt – auf Caversham und das graue Gebäude aus Stein, das aussah wie ein Armenhaus und das ich anfangs für die Anstalt für verwahrloste Kinder hielt, das aber, wie ich später herausfand, Parkside war, ein Altersheim; auf das an der Bahnlinie gelegene Ende des Carisbrook-Fußballfeldes, den Sportplatz mit seinen Regenpfützen und Möwen an den Wochentagen; das dicht besiedelte, ärmliche, überschwemmungsgefährdete St. Kilda, wo ich die ersten sechs Wochen meines Lebens verbracht hatte. Ich blickte auch über die Halbinsel und den Hafen und weiter hinaus auf das offene Meer, den Pazifik, meinen Pazifik.

Mein Pazifik, meine Stadt: Auf meine Weise gewann ich Freunde. Wenn ich unter den alten Toten des alten Dunedin saß (denn die neuen Toten hatten einen eigenen Platz, eine Landzunge mit Blick über das Meer in Anderson’s Bay), verdiente – oder stahl – ich mir ein wenig von ihrem Frieden, dort im sich sanft wiegenden langen Gras zwischen dem Bärlauch und den wilden Wicken und dem Huflattich mit den tief reichenden Wurzeln, die Teil der Friedhöfe waren, das Zubehör der Eisenbahnlinien wie der Toten. Manchmal verfasste ich ein Gedicht, das ich später, wenn ich in die Garden Terrace zurückkam, niederschrieb. Und wenn ich an der Telefonzelle am oberen Ende der Straße vorüberging, schien es plötzlich, als wäre die Gesellschaft der Toten nicht genug, und eines Abends rief ich Miss Macaulay von der Schule in Waitaki an, die nun im Ruhestand war und mit ihrer betagten Mutter in St. Clair lebte. Als sie sich meldete, merkte ich, dass ich nichts zu sagen hatte; trotzdem hielt ich den Hörer umklammert und warf in Abständen von drei Minuten einen Penny nach dem anderen ein. Während der ersten Monate meines Aufenthalts in Dunedin rief ich mehrmals an. Diese Gewohnheit fand eines Abends ein abruptes Ende, als Miss Macaulay sagte: «Du hast einen ganzen Shilling ausgegeben, Jean!»

Mir war nicht bewusst gewesen, dass sie es hören konnte, wenn ich die Münzen einwarf. Ich starb beinahe vor Scham. Ich wagte es nicht, mein Gefühl der Einsamkeit zuzugeben. Immer wieder hatte ich gesagt, wie schön es an der Pädagogischen Hochschule und an der Universität sei. Und die Französischvorlesungen? (Miss Macaulay hatte Englisch und Französisch unterrichtet.) O ja, die genoss ich sehr! Das stimmte – sowohl die Englisch- als auch die Französischvorlesungen hielten mich in meinem neuen Leben als werdende Lehrerin aufrecht. Ich rief nicht mehr in St. Clair an.

Einige Wochen später nahmen Katherine Bradley, Rona Pinder und ich, drei von Miss Macaulays «ehemaligen Mädchen», eine Einladung zum Nachmittagstee bei ihr zu Hause an. Wir tranken Tee und aßen Schokoladentorte mit Schokoladenglasur in einem Haus, das ausgepolstert war mit Kissen und dunklen Möbeln: ein ganz normales Haus. Wir redeten über das Studium und tauschten Grußworte mit der alten Mrs Macaulay, stets des «Schattens» gewärtig, der zwischen «Ideal und Wirklichkeit» fiel. Ich hatte gedacht, unsere Lehrerin würde sich auch im Ruhestand noch mit dem Studium der französischen und englischen Literatur beschäftigen, vielleicht sogar Essays darüber schreiben. Unsere Konversation war nicht sehr erhellend. Mir ging der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass unser ganzer Schulunterricht nur Schein gewesen war, dass die große Literatur eher erduldet als genossen worden war und dann prosaischen Angelegenheiten Platz gemacht hatte. War das möglich? Ich fühlte mich verraten. Aber ich wusste, dass meine Lehrer an der Universität ihre Studien fortsetzen würden bis zu ihrem Tod. Professor Ramsay und Gregor Cameron waren undenkbar ohne Shakespeare und Chaucer.

Hätten auch sie sich von ihrer Literatur trennen lassen, wenn sie eine alte Mutter zu versorgen gehabt hätten, wenn sie Frauen gewesen wären? Mich betrübte das Wissen, dass Miss Macaulay durch dieselben häuslichen Pflichten von ihrem Platz abgezogen worden war, die meiner Mutter die Aussicht auf den ihren verwehrt hatten.

«Besuch mich wieder einmal», sagte Miss Macaulay.

Ich besuchte sie nicht wieder.

Ich fuhr nun seltener nach Hause. Üblicherweise kaufte ich eine ermäßigte Karte, fuhr mit dem Zug am Freitagabend, der zwischen ein und zwei Uhr nachts in Oamaru ankam, und mit dem sonntags verkehrenden Bummelzug nach Dunedin zurück. Auf der Fahrt nach Hause stellte ich mir immer vor, dass in der Eden Street 56 alles friedlich sein würde, anders, doch sobald ich eintraf, wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Isabel und June führten ihr eigenes Leben, die Feindseligkeit zwischen meinem Vater und meinem Bruder hatte sich vertieft, während meine Mutter selbstlos ihre Rolle als treusorgende Ernährerin, Friedensstifterin und Dichterin weiterspielte. Zu ihren Träumen von «Publikation» und Christi Wiederkunft hatte sich ein neuer Traum gesellt, ein Traum, der sie mitten unter die Figuren aus den Märchen platzierte: Jede ihrer mittlerweile erwachsenen Töchter sollte an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag einen weißen Fuchspelz bekommen. Ihr Traum von Bruddies Gesundheit oder auch Ruhm trotz seiner Krankheit war unverändert.

Meine Unzufriedenheit mit meinem Zuhause und meiner Familie war groß. Die Unwissenheit meiner Eltern machte mich wütend. Sie wussten nichts über Sigmund Freud, über den Goldenen Zweig, über T. S. Eliot. (Praktischerweise übersah ich dabei, dass mein Wissen über Freud, den Goldenen Zweig und T. S. Eliot am Anfang des Jahres ebefalls noch recht begrenzt gewesen war.) Überwältigt von der Flut neuen Wissens, platzte ich fast vor Kenntnissen über den Geist, die Seele, das Kind, sowohl das Normale Kind als auch den Jugendlichen Straftäter, obwohl ich gerade erst gelernt hatte, dass ein solches Wesen wie Das Kind überhaupt existiert. Das alles schilderte und erklärte ich meinen verblüfften Eltern ausführlich, bewertete und etikettierte es. Ebenso begeistert war ich von meinem neuen Wissen über Agrikultur und Geomorphologie. Ich redete über Kompost und über Gesteinsformationen. Ich erklärte Theorien, als wären es meine eigenen. Ich hatte die Ansichten über die Klassifizierung von Menschen zum Teil deshalb übernommen, weil ich geblendet war von der neuen Sprache und ihrem überzeugenden Vokabular. Ich konnte jetzt zu den Mitgliedern meiner Familie sagen: «Das ist eine Rationalisierung, das ist eine Sublimierung, in Wirklichkeit bist du sexuell frustriert, dein Über-Ich sagt dir das, aber dein Es ist anderer Meinung.»

Mutter errötete, als ich das Wort «sexuell» aussprach. Dad runzelte die Stirn und sagte nur: «Das ist es also, was du an der Universität und an der Pädagogischen Hochschule lernst.»

Ich erläuterte meinen Schwestern die Bedeutung ihrer Träume und dass «alles phallisch» sei. Ich redete auch mit übertriebener Klugheit über T. S. Eliot und den Goldenen Zweig und das «Wüste Land». «Unterrichten macht wirklich Spaß», sagte ich und erklärte, dass wir einen Monat Unterricht an der Hochschule hatten und dann einen Monat in Schulen waren, dass es Teststunden gab, Lehrproben, wo wir die Klasse einen ganzen Tag allein unterrichteten, und am Ende des Monats eine Beurteilung.

«Tante Isy sagt, du bist ein reizendes Mädchen», sagte Mutter stolz. «Sie sagt, du machst überhaupt keine Umstände, sie merkt kaum, dass du im Haus bist.»

«Ach ja», sagte ich, erfreut darüber, dass sie und Dad erfreut waren.

«Und es ist eine Hilfe, dich im Haus zu haben, wo Onkel George doch so krank ist.»

Onkel George. Das war wirklich ein Rätsel. Manchmal stand er auf und ging spazieren, ich wusste nicht, wohin, aber er hatte einen grauen Mantel an und ging hinaus in die graue Nacht, und wenn er zurückkam, war auch sein Gesicht grau, und Tante Isy half ihm aus dem Mantel, nahm ihm den Schal ab und begleitete ihn hinauf ins Bett; eventuell rief sie dann noch herunter: «Jean, sei bitte so lieb und lauf zu Joe dem Syrer um eine Tube Lanolin.»

Und wieder einmal holte ich die blauweiße Tube Lanolin.

«Wie geht es Onkel George denn?», fragte Mutter. (Ich hatte angefangen, Mum «Mutter» zu nennen, zum Zeichen, dass ich erwachsen wurde.)

«Das weiß ich eigentlich gar nicht», sagte ich. «Manchmal geht er spazieren. Keiner erwähnt seine Krankheit.»

Ich wusste, dass sie so taten, als wäre er nicht krank. Ich hasste diese Heuchelei. Ich hasste es, zu Hause zu sein, denn ich hatte das Gefühl, dass ich mein Zuhause für immer verlassen hatte und bis auf gelegentliche Besuche auch nie mehr zurückkehren würde. Ich sah so klar, wie verstrickt meine Familie in ein verhängnisvolles Geschick war, dass es mir Angst machte. Ich hatte den Eindruck, dass meine Mutter in einer Welt lebte, die in keiner Weise mit der «wirklichen» Welt übereinstimmte, und jedes ihrer Worte schien mir eine Verheimlichung, eine Lüge, eine verzweifelte Weigerung zu sein, die «Wirklichkeit» anzuerkennen. Ich war mir nicht einmal bewusst, dass ich selbst in die Welt der Heuchelei eingetreten war, was ich bei anderen so verurteilte.

Ich konnte in meinem Vater einen hilflosen Menschen sehen, der versuchte, sich den stürmischen Winden einer grausamen Welt entgegenzustemmen. Im Geiste konnte ich sehen, wie er mit dem Fahrrad die steile Eden Street hinauffuhr, den Körper nach vornübergebeugt, entschlossen, nicht vor dem Hügel zu kapitulieren und auch nicht vor dem Gegenwind, der geradewegs aus dem Schnee kam, aus dem Landesinneren, «von Hakataramea her», und hin zu den Südalpen wehte. Ich sah meinen Bruder mit seinem frischen Aussehen und den braunen Haaren, die in die Höhe standen wie Onkel Bobs Haare, und dem Mund, der zitterte wegen all der Tränen, die er geweint hatte in seiner Hilflosigkeit gegenüber seinem Angreifer. Und meine Schwestern – Isabel, die in ihrem Wesen Myrtle immer ähnlicher wurde, trotzig, wagemutig, eine Rebellin und der Liebling aller; und June mit dem blauen Gürtel von Wilson House, der irgendwie zu ihrem stillen Charakter passte, voll vager Dichtung und Musik. Sie teilte am ehesten meinen literarischen Geschmack und verstand mein Grübeln über die großen Abstraktionen – die ganze Familie war Teil des gemeinsamen und, wie ich erkannte, unwiederbringlich verlorenen «Wir». Ich versuchte das Wort «wir» zu verwenden, wenn ich über mein Leben als Studentin sprach, aber ich wusste, dass es zwecklos war, wenn ich beschrieb, was «sie», die Studenten, taten, wo sie hingingen, was sie empfanden, was sie sagten; und um zu überleben, musste ich mein «Ich» verbergen, das, was ich wirklich fühlte, dachte und träumte. Ich hatte mich von der ersten Person Plural hin zu einem schemenhaften «Ich» bewegt – fast ein Nichts, wie ein Niemandsland.

Ich wurde «Studentin» genannt, «eine von denen», über die sich die Öffentlichkeit von Dunedin beschwerte und die von den Professoren liebevoll oder tadelnd mit «Ach, ihr Studenten!» angesprochen oder von den Verwandten stolz als «eine Studentin, wissen Sie» erwähnt wurden. Da ich die Begeisterung und das Vergnügen meiner Kommilitonen bei all ihren Aktivitäten spürte – Theaterspielen, Sport, Debattieren, Tanzen, «Ausgehen» mit dem anderen Geschlecht –, schnappte ich fast über vor Aufregung, wenn ich das Studentenleben betrachtete. Ich muss ein Vermögen an überwältigtem Staunen durchgebracht haben, einfach in dem Wissen, dass ich dabei war; und nur wenige Erlebnisse reichten an meine Freude heran, die Universität zu besuchen, die ich hauptsächlich aus der Perspektive der englischen Literatur wahrnahm – Gregor Cameron war doch sicherlich der Grammatiker aus dem Gedicht «Begräbnis eines Grammatikers»?

Hier – hier ist sein Ort, wo Meteore rasen, wo sich Wolken formen,

Wo Blitze sich vom Himmel lösen

Und Sterne entstehen und vergehen! Freude soll

ausbrechen mit dem Sturm,

Der Tau soll Frieden senden!

Erhabene Entwürfe müssen näher rücken wie Wirkungen;

Erhaben hingestreckt,