Ein Geschenk der Erde - Larry Niven - E-Book

Ein Geschenk der Erde E-Book

Larry Niven

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Beschreibung

Ein unerwarteter Gast bringt das tödliche Gleichgewicht dieser Weltraumkolonie ins Wanken ...

Die Welt mit dem Namen Mount Lookitthat ist eingehüllt in einen todbringenden Nebel. Leben existiert nur auf dem Hochplateau eines gigantischen Monolithen. Vor 300 Jahren strandeten hier irdische Siedler. Die Crew der Schiffe sicherte sich die Herrschaft über sie. Noch immer kontrolliert die Crew die Organtransplantationen, das einzige Heilmittel - und Spender sind knapp. Daher werden alle Verbrechen mit dem Tod bestraft. Jedenfalls die der Siedler ...

Doch dann landet ein Raumschiff. An Bord: der Minenarbeiter Matthew Keller. Er besitzt ein mächtiges Talent, von dem er selbst nichts ahnt. Und mit sich führt er eine Fracht, die alles ändert. Zum ersten Mal schöpfen die Kolonisten wieder Hoffnung ...

Dieses 1968 entstandene Frühwerk des Ringwelt-Zyklus ist ein Klassiker der Hard-SF: ein spannender Gesellschaftsentwurf und ein durchdachtes technologisches Konzept. Er markiert das Ende des frühen "Known Space"-Universums und steht am Vorabend des Kzin-Kriege-Zyklus.

Die ungekürzte Fassung des Scifi-Kultromans ist jetzt endlich wieder verfügbar: als eBook bei beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

Dieser Roman erschien auf deutsch bereits in gekürzter Form unter dem Titel "Planet der Verlorenen".

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EPUB

Seitenzahl: 466

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Inhalt

Cover

Larry Niven bei Bastei Lübbe

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

KAPITEL 1: DER RAMMROBOTER

KAPITEL 2: DIE SÖHNE DER ERDE

KAPITEL 3: DER WAGEN

KAPITEL 4: DER FRAGESTELLER

KAPITEL 5: DAS HOSPITAL

KAPITEL 6: DAS VIVARIUM

KAPITEL 7: DAS TRÄNENDE HERZ

KAPITEL 8: POLLYS AUGEN

KAPITEL 9: DER WEG ZURÜCK

KAPITEL 10: PARLETTES HAND

KAPITEL 11: INTERVIEW MIT DEM CHEF

KAPITEL 12: DAS KOLONIESCHIFF

KAPITEL 13: ALLES GESCHAH ZUGLEICH

KAPITEL 14: MACHTGLEICHGEWICHT

Leseprobe

Larry Niven bei Bastei Lübbe

Der Ringwelt-Zyklus:

Ringwelt / Ringwelt Ingenieure. Doppelband, 2016 (Dt. Erstausgabe 1972 / 1982)

Ringwelt Thron / Hüter der Ringwelt. Doppelband, 2017 (Dt. Erstausgabe 1998 / 2006)

Weitere Romane im Known Space:

Die Welt der Ptavv. 2018 (auch als „Das Doppelhirn“ erschienen, Dt. Erstausgabe 1977)

Ein Geschenk der Erde. 2018 (auch als „Planet der Verlorenen“ erschienen, Dt. Erstausgabe 1977)

Protector – Brennans Legende. 2018 (auch als „Der Baum des Lebens“ erschienen, Dt. Erstausgabe 1975)

Der Weltenflotte-Zyklus (Known Space):

Weltenwandler. 2014 (Dt. Erstausgabe 2008)

Die Flotte der Puppenspieler. 2014 (Dt. Erstausgabe 2008)

Der Krieg der Puppenspieler. 2011

Verrat der Welten. 2012

Das Schicksal der Ringwelt. 2014

Über dieses Buch

Die Welt mit dem Namen Mount Lookitthat ist eingehüllt in einen todbringenden Nebel. Leben existiert nur auf dem Hochplateau eines gigantischen Monolithen. Vor 300 Jahren strandeten hier irdische Siedler. Die Crew der Schiffe sicherte sich die Herrschaft über sie. Noch immer kontrolliert die Crew die Organtransplantationen, das einzige Heilmittel – und Spender sind knapp. Daher werden alle Verbrechen mit dem Tod bestraft. Jedenfalls die der Siedler …

Doch dann landet ein Raumschiff von der Erde. An Bord: der Minenarbeiter Matthew Keller. Er besitzt ein mächtiges Talent, von dem er selbst nichts ahnt. Und mit sich führt er eine Fracht, die alles ändert. Zum ersten Mal schöpfen die Kolonisten wieder Hoffnung …

Dieses 1968 entstandene Frühwerk des Ringwelt-Zyklus ist ein Klassiker der Hard-SF: ein spannender Gesellschaftsentwurf und ein durchdachtes technologisches Konzept. Er markiert das Ende des frühen „Known Space“-Universums und steht am Vorabend des Kzin-Kriege-Zyklus.

Über den Autor

Larry Niven wurde 1938 in Los Angeles, Kalifornien geboren. 1956 schrieb er sich am Institute of Technology in Kalifornien ein, um es ein Jahr später wieder zu verlassen. Ein halbes Jahr später entdeckte er einen alten Buchladen voll mit bereits gelesenen Science-Fiction Magazinen, die ihn inspirierten, selbst etwas zu schreiben. Nachdem er sein Mathematik-Psychologie-Studium 1962 an der Washburn University, Kansas, beendet hatte, begann Larry Niven nun endgültig sich seiner Leidenschaft hinzugeben. Seine erste veröffentlichte Geschichte „The Coldest Place“ erschien in der Dezember-Ausgabe von 1964 Worlds of If.

Larry Niven gehört zu den großen Altmeistern des Genres. Er hat im Laufe seiner Karriere mehrmals die bedeutendsten Preise der Science Fiction, den Hugo- und den Nebula-Award, gewonnen, unter anderem für den Roman „Ringwelt“, der als ein Meilenstein der modernen fantastischen Literatur gilt. Mit der Romanserie um das „Ringweltuniversum“ hat er wahrscheinlich die populärste SF-Serie aller Zeiten geschaffen.

Larry Niven

Ein Geschenk der Erde

Ein Roman aus dem Ringwelt-Universum

Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer Schumacher

beBEYOND

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 1968 by Larry Niven

Titel der amerikanischen Originalausgabe: A Gift From Earth

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Der Roman erschien 1977 in leicht gekürzter Fassung unter dem Titel „Planet der Verlorenen“, 2001 ungekürzt unter dem Titel „Ein Geschenk der Erde“. Für diese Ausgabe wurde der Text korrigiert und der neuen Rechtschreibung angepasst.

Textredaktion: Ruggero Lèo / Stefan Bauer

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Mode-list | 3000ad | TomasSerada; © shutterstock: tsuneomp

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-6418-7

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes „Weltenwandler“ von Larry Niven und Edward M. Lerner.

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2008 by Larry Niven and Edward M. Lerner

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Juggler of Worlds“

Published by arrangement with Larry Niven and Edward M. Lerner

This book was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Übersetzung: Ulf Ritgen

Textredaktion: Uwe Voehl / Ruggero Leò

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Vadim Sadovsk

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

KAPITEL 1: DER RAMMROBOTER

Es war ein Rammroboter, der Mount Lookitthat als erster zu Gesicht bekam.

Rammroboter waren die ersten Besucher auf allen inzwischen besiedelten Welten gewesen. Die interstellaren Roboterrammschiffe mit ihrem endlosen Treibstoffvorrat aus interstellarem Wasserstoff konnten mit annähernd Lichtgeschwindigkeit zwischen den Sternen reisen. Vor langer Zeit hatte die UN Rammroboter ausgesandt, damit die Schiffe in den nahegelegenen Sonnensystemen nach bewohnbaren Planeten suchten.

Eine Besonderheit der ersten Rammroboter bestand darin, dass sie dabei nicht sonderlich wählerisch waren. Der Procyon-Rammroboter zum Beispiel war im Frühling auf We Made It gelandet. Wäre er im Sommer oder Winter dort angekommen, wenn die Planetenachse auf die Sonne weist, hätte er Winde mit einer Geschwindigkeit von über zweitausend Stundenkilometer messen können. Der Sirius-Rammroboter hatte zwei schmale bewohnbare Streifen auf Jinx untersucht und beschrieben; von den anderen Eigentümlichkeiten des Planeten hatte er nichts erwähnt. Und der Tau-Ceti-Rammroboter, das Interstellare Roboterrammschiff Nr. 4, hatte sogar lediglich einen bewohnbaren Punkt entdeckt – und das war alles, was ihn interessierte. Die Kolonieschiffe, die den Rammrobotern folgten, waren nicht für eine mögliche Rückreise gebaut. Sobald sie ihren Zielort erreicht hatten, mussten ihre Passagiere dort wohl oder übel bleiben, und so war Mount Lookitthat vor nunmehr dreihundert Jahren besiedelt worden.

Ein ganzes Rudel Polizeigleiter schwärmte hinter dem Flüchtling aus. Er hörte sie wie Bienen hinter sich summen. Jetzt, wo es zu spät war, nutzten die Gleiter all ihre Energie. In der Luft brachte sie das auf eine Geschwindigkeit von 180 km/h: schnell genug für ein solch kleines Gebiet wie Mount Lookitthat, aber – nur dieses eine Mal – nicht schnell genug, um das Rennen zu gewinnen. Der Flüchtling war nur noch wenige Meter vom Rand entfernt.

Staub wirbelte vor dem Flüchtigen auf. Zu guter Letzt hatte die Vollstreckungspolizei sich doch entschieden, das Risiko einzugehen und den Körper des Flüchtigen notfalls zu beschädigen. Der Mann prallte gegen die Staubwand wie eine Puppe, die man im Zorn weggeworfen hat, brach zusammen und hielt sich das Knie. Dann kroch er auf allen vieren auf den Rand der steil abfallenden Klippe zu. Erneut wurde er zurückgerissen; doch er ließ sich nicht aufhalten. Am Klippenrand hielt er kurz inne, blickte zurück und sah einen kreisenden Gleiter, der sich ihm aus der blauen Leere näherte.

Die Zungenspitze zwischen die Zähne geschoben, zielte Jesus Pietro Castro mit seinem Gleiter genau auf das wütende, gepeinigte und unrasierte Gesicht. Nur wenige Zentimeter zu tief, und er würde auf der Klippe aufschlagen; einige Zentimeter zu hoch, und er würde den Mann verfehlen und so die Chance vergeben, ihn wieder zurück aufs Plateau zu drängen. Er erhöhte den Schub …

Zu spät. Der Mann war verschwunden.

Später standen sie am Rand der Klippe und blickten hinab.

Oft hatte Jesus Pietro Gruppen von Kindern dabei beobachtet, wie sie ängstlich und aufgeregt am Rand der Leere gestanden und zu den verborgenen Wurzeln von Mount Lookitthat hinuntergeblickt hatten; vorsichtig hatten sie sich immer näher herangetastet … immer näher … Als Kind hatte er das ebenfalls getan. Der Anblick, der sich ihm dabei geboten hatte, war unvergesslich gewesen.

Siebzig Kilometer unter ihnen, jenseits der wirbelnden Nebelschwaden, lag die wirkliche Oberfläche von Mount Lookitthat dem Planeten.

Das große Plateau von Mount Lookitthat dem Berg war weniger als halb so groß wie Kalifornien. Die restliche Planetenoberfläche war nichts als ein schwarzer Glutofen, heiß genug, um selbst Blei zum Schmelzen zu bringen, und die Atmosphäre besaß eine Dichte, die das Sechzigfache ihres Gegenstücks auf der Erde betrug.

Matthew Keller hatte vorsätzlich eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt begangen. Er war über den Rand des Plateaus geklettert und hatte seine Augen mitgenommen, seine Leber, seine Nieren, seine Adern und alle zwölf Drüsen … Er hatte alles mitgenommen, was unter normalen Umständen in die Organbanken gewandert wäre, um das Leben jener zu retten, deren Körper zu versagen drohten. Selbst sein Wert als Dünger – der auf einer dreihundert Jahre alten Koloniewelt von nicht zu unterschätzender Bedeutung war – war nun gleich Null. Nur das Wasser, das in seinem Körper enthalten war, würde eines Tages wieder zurückkehren und als Regen in die Seen und Flüsse fallen oder als Schnee auf dem großen Nordgletscher niedergehen. Vermutlich verbrannte Keller jetzt bereits in der schrecklichen Hitze siebzig Kilometer unter ihnen.

Oder fiel er vielleicht noch?

Jesus Pietro, der Chef der Vollstreckungspolizei, riss sich zusammen und trat vom Klippenrand zurück. Der formlose Nebel rief bisweilen seltsame Halluzinationen und noch seltsamere Gedanken hervor – wie dieses eine merkwürdige Bild im Rorschachtest, das eigentlich nicht mehr war als ein leeres Blatt Papier. Jesus Pietro hatte sich gerade bei dem Gedanken daran ertappt, dass auch er auf diese Weise aus der Welt gehen wollte, wenn seine Zeit gekommen war … Und das war Verrat.

Der Major blickte seinen Chef seltsam widerwillig an.

»Major«, sagte Jesus Pietro, »warum ist Ihnen dieser Mann entkommen?«

Der Major breitete die Arme aus. »Er hatte sich mehrere Minuten lang zwischen den Bäumen versteckt. Als er schließlich auf den Rand zugerannt ist, hat es ein paar Minuten gedauert, bis wir ihn entdeckt haben.«

»Wie hat er die Bäume überhaupt erreichen können? Ich will jetzt nicht von Ihnen hören, wie er sich befreit hat. Erklären Sie mir lieber, warum Ihre Gleiter ihn nicht eingeholt haben.«

Der Major zögerte den Bruchteil einer Sekunde zu lang. »Sie haben mit ihm gespielt«, fuhr Jesus Pietro fort. »Er konnte seine Freunde nicht erreichen und sich nirgends längere Zeit verstecken; also haben Sie beschlossen, ein wenig Spaß mit ihm zu haben – es war ja nichts dabei.«

Der Major senkte den Blick.

»Sie werden seinen Platz einnehmen«, sagte Jesus Pietro.

Auf dem mit Gras und Bäumen bewachsenen Schulhof standen Schaukeln, Wippen und ein kleines, langsames Karussell. Die Schule, ein einstöckiges, ganz in Weiß gestrichenes Gebäude, säumte den Hof von zwei Seiten. Ein hoher, mit Weinranken bewachsener Stangenzaun sicherte die vierte Seite: den Rand des Gamma-Plateaus – eine steile Klippe über Lake Davidson auf dem Delta-Plateau.

Matthew Keller saß unter einem Baum und dachte nach. Ringsum spielten andere Kinder, doch sie beachteten Matt ebensowenig wie die beiden aufsichtführenden Lehrer. Die Menschen ignorierten Matt meistens, wenn er allein sein wollte.

Onkel Matt war weg. Ihn erwartete ein derart schreckliches Schicksal, dass noch nicht einmal die Erwachsenen darüber sprechen wollten.

Gestern bei Sonnenuntergang war die Vollstreckungspolizei ins Haus gekommen und hatte Matts kräftigen, gemütlichen Onkel mitgenommen. Da Matt wusste, dass man seinen Onkel ins Hospital bringen würde, hatte er versucht, die großen, uniformierten Männer aufzuhalten. Zwar hatten sie sich nur zurückhaltend gegen ihn gewehrt, doch ein achtjähriger Junge vermochte ohnehin nichts gegen mehrere Erwachsene auszurichten – wie eine Honigbiene, die wütend um vier Panzer herumsummt.

Schon bald würde man den Prozess und die Verurteilung seines Onkels im kolonialen TD-Programm ausstrahlen, zusammen mit der Anklageeröffnung und einer Aufzeichnung der Hinrichtung. Aber das war egal. Die Ausstrahlung diente nur dazu, dem Ganzen einen ordentlichen Anstrich zu verleihen. Matts Onkel würde nie wieder zurückkehren.

Das Brennen in seinen Augen warnte Matt, dass er in Tränen auszubrechen drohte.

Harold Lillard hörte auf, ziellos umherzurennen, als er bemerkte, dass er allein war. Er mochte es nicht, allein zu sein. Harold war zehn und ungewöhnlich groß für sein Alter, und er brauchte andere um sich herum – vorzugsweise Kleinere, Kinder, die er dominieren konnte. Er schaute sich hilflos um und entdeckte eine kleine Gestalt unter dem Baum am Rand des Schulhofs – klein genug und weit genug entfernt von der Hofaufsicht.

Er ging hinüber.

Der Junge unter dem Baum blickte auf.

Harold verlor das Interesse. Mit leerem Blick wandte er sich ab und ging mehr oder weniger zielstrebig auf die Wippen zu.

Das Interstellare Roboterrammschiff Nr. 143 startete von Juno mit Hilfe eines Linearbeschleunigers. Es nahm Kurs auf den interstellaren Raum und wirkte wie ein riesiges Metallinsekt, das man aus allen möglichen Ersatzteilen eilig zusammengeflickt hatte. Doch abgesehen von der Ladung glich es seinen vierzig Vorgängern bis in jede Einzelheit. Der Raumgenerator bildete die Nase des Schiffes: ein riesiger, schwer gepanzerter Zylinder mit einer großen Öffnung in der Mitte. An den Seiten befanden sich zwei Fusionstriebwerke, die zehn Grad nach außen gerichtet waren und auf seltsamen Metallgerüsten ruhten, so dass die gesamte Konstruktion an die eingezogenen Fangarme einer Gottesanbeterin erinnerte. Der eigentliche Rumpf war klein; allerdings hatte man darin auch nur den Computer und einen kleinen Treibstofftank für den Innersystemantrieb untergebracht.

Juno war bereits nicht mehr zu sehen, als die Fusionstriebwerke zündeten. Sofort wurde das Kabel am Heck des Schiffes ausgerollt. Das Kabel war über fünfzig Meter lang und bestand aus einer geflochtenen Sinclair-Molekülkette, und an seinem Ende befand sich eine Bleikapsel, die so schwer war wie der Rammroboter selbst.

Seit Jahrhunderten flogen bereits derartige Frachter zu den Sternen hinaus, doch dieser hier war etwas Besonderes.

Wie die Rammroboter Nr. 141 und Nr. 142, die bereits nach Jinx und Wunderland unterwegs waren (und wie demnächst auch Rammroboter Nr. 144, den man noch nicht einmal gebaut hatte), transportierte Rammroboter Nr. 143 die Saat der Revolution. Auf der Erde war diese Revolution bereits im Gange. Dort verlief sie ruhig und geordnet. Auf Mount Lookitthat würde das anders sein.

Die medizinische Revolution, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte, hatte die menschliche Gesellschaft über fünfhundert Jahre hinweg kontinuierlich verändert. In weniger als der Hälfte dieser Zeit hatte sich Amerika an Eli Withneys Egreniermaschine angepasst, und ähnlich wie im Falle der Egreniermaschine würden die Nachwirkungen dieser Veränderung noch lange zu spüren sein. Doch schon ging die Gesellschaft wieder zu dem über, was einst Normalität gewesen war – langsam zwar, aber die Entwicklung schritt voran. In Brasilien hatte sich eine kleine, rasch wachsende Gruppe formiert, die dafür plädierte, die Todesstrafe für notorische Verkehrssünder abzuschaffen. Man würde ihnen Widerstand entgegensetzen, doch letztlich würden sie sich behaupten.

Vorwärtsgetrieben von zwei Lanzen aus aktinischem Licht, näherte sich der Rammroboter dem Orbit des Pluto. Sowohl Pluto als auch Neptun befanden sich auf der anderen Seite der Sonne, und es waren keine Schiffe in der Nähe, die durch die magnetischen Kräfte hätten beschädigt werden können, die der Antrieb des Rammroboters freisetzte.

Der Rammgenerator schaltete sich ein. Das konische Feld formierte sich recht langsam; doch nachdem der Oszillationsprozess erst einmal abgeschlossen war, maß es vierhundert Kilometer im Durchmesser. Das Schiff ruckte ein wenig – sehr wenig, um genauer zu sein –, als das Feld damit begann, interstellaren Staub und Wasserstoff einzufangen. Es beschleunigte noch immer. Der Innersystemantrieb war abgeschaltet, und daran würde sich die nächsten zwölf Jahre auch nichts ändern. Die Nahrung des Schiffes war von nun an die dünn gesäte Materie im Raum zwischen den Sternen.

In unmittelbarer Nähe des Schiffes wirkten die magnetischen Felder tödlich. Kein Lebewesen, das über ein zentrales Nervensystem verfügte, konnte innerhalb eines Radius von über fünfhundert Kilometern rings um den elektromagnetischen Sturm des Rammgenerators überleben. Seit Jahrhunderten versuchten die Menschen schon, Magnetschilde zu bauen, die es ihnen ermöglichen würden, auf einem Rammschiff mitzufliegen. Inzwischen glaubte man jedoch, dass dies unmöglich sei, und diese Analyse war in der Tat richtig. Ein Rammroboter konnte Samen, gefrorene Eier und Embryos transportieren – vorausgesetzt, sie wurden ein gutes Stück hinter dem Generator hergeschleppt. Die Menschen selbst mussten jedoch auf ihre langsamen Kolonieschiffe zurückgreifen, die mit weniger als halber Lichtgeschwindigkeit von Stern zu Stern flogen.

Was Rammroboter Nr. 143 betraf, so nahm seine Geschwindigkeit im Laufe der Jahre stetig zu. Anfangs war die Sonne noch als heller Stern zu sehen, bald jedoch schrumpfte sie zu einem blassen orangefarbenen Funken zusammen. Die Zugkraft der Rammschaufel erhöhte sich geradezu furchterregend, doch glich die immer größer werdende Menge an hereinströmendem Wasserstoff die Auswirkungen dieser Zugkraft mehr als aus. Die Teleskope auf den Trojanern des Neptun sahen von Zeit zu Zeit das helle Leuchten der Fusionsflamme des Rammroboters: ein winziges, wildes blaues Glühen vor der strahlendgelben Scheibe von Tau Ceti.

Das Universum veränderte sich. Vor und hinter dem Rammroboter rückten die Sterne aneinander, bis Sol und Tau Ceti weniger als ein Lichtjahr voneinander entfernt zu sein schienen. Sol war nun nur noch ein schwach glühender Punkt, während Tau Ceti blendendweiß leuchtete. Die beiden Roten Zwerge, die als L726 – 8 bekannt waren und an denen der Weg des Rammroboters vorbeiführte, leuchteten in warmem Gelb, und alle Sterne wirkten zusammengedrückt, als hätte sich irgendein riesiger Gott mit all seinem Gewicht auf das Universum gesetzt.

Rammroboter Nr. 143 erreichte den Mittelpunkt der Strecke, die er zurücklegen musste – 5,95 Lichtjahre von Sol entfernt, relativ zur irdischen Sonne gemessen –, und flog weiter. Der Wendepunkt war noch Lichtjahre entfernt, denn der Rammantrieb würde die Fluggeschwindigkeit des Schiffes während der Reise drosseln.

Doch im Computer des Rammroboters aktivierte sich ein Relais. Die Rammschaufel schaltete sich ab, und das Licht der Triebwerke starb, als Rammroboter Nr. 143 all seine gesammelte Energie zu einem Maserstrahl bündelte. Eine Stunde lang wurde der auf Tau Ceti gerichtete Strahl aufrechterhalten. Dann beschleunigte der Rammroboter wieder und folgte seinem eigenen Maserstrahl; doch der war ihm immer ein Stück voraus.

Mehrere fünfzehnjährige Jungen hatten vor der Tür der Medcheck-Station eine Reihe gebildet; jeder hielt eine konische Flasche mit einer klaren, gelben Flüssigkeit in der Hand. Einer nach dem anderen schritten sie vor und reichten die Probe einer hart und männlich wirkenden Krankenschwester; dann traten sie zur Seite und warteten auf neue Befehle.

Matt Keller war der drittletzte. Als der Junge vor ihm zur Seite trat und die Krankenschwester Matt ihre Hand entgegenstreckte, ohne aufzublicken, warf Matt einen kritischen Blick auf die Flüssigkeit. »Sieht nicht gut aus«, bemerkte er.

Die Krankenschwester schaute ihn verärgert an. Ein Kolonistenbalg, der ihre Zeit verschwendete?

»Ich mach’ das besser noch mal«, sagte Matt mit lauter Stimme und trank die Flüssigkeit.

»Das war Apfelsaft«, erklärte er später am Abend. »Fast hätten sie mich dabei erwischt, wie ich ihn in die Station geschmuggelt habe. Aber ihr hättet mal ihr Gesicht sehen sollen. Sie ist kreidebleich geworden.«

»Aber warum?« fragte sein Vater ehrlich erstaunt. »Warum hast du Miss Prynn geärgert? Du weißt doch, dass sie zumindest teilweise ein Crewmitglied ist, und die Proben gehen direkt ans Hospital!«

»Ich find’s lustig«, erklärte Jeanne. Sie war Matts Schwester, ein Jahr jünger als er, und stand immer auf seiner Seite.

Matts Grinsen verschwand, und sein Gesicht wirkte plötzlich finster und alt. »Das war für Onkel Matt.«

Mr Keller funkelte zuerst Jeanne an, dann seinen Sohn. »Matthew, wenn du nicht aufhörst, so zu denken, wirst du noch wie er im Hospital enden! Warum kannst du die ganze Sache nicht einfach vergessen?«

Die offensichtliche Sorge seines Vaters durchdrang Matts düstere Laune. »Mach dir keine Sorgen, Ghenghis«, erwiderte er in gelassenem Tonfall. »Miss Prynn hat die Sache vermutlich schon vergessen. Was das betrifft, habe ich schon immer Glück gehabt.«

»Unsinn. Wenn sie dich nicht meldet, dann aus purer Freundlichkeit.«

»Das wage ich nun wirklich zu bezweifeln.«

In einem kleinen Erholungsraum im Behandlungsflügel des Hospitals setzte sich Jesus Pietro Castro zum ersten Mal seit vier Tagen auf. Bei seiner Operation hatte es sich zwar um einen größeren, aber nicht allzu komplizierten Eingriff gehandelt: Man hatte ihm einen neuen linken Lungenflügel implantiert. Auch hatte ihm Millard Parlette, ein reinrassiges Crewmitglied, eine strenge Anweisung gegeben: Er sollte das Rauchen aufgeben, und zwar sofort.

Als Jesus Pietro sich aufsetzte, um den liegengebliebenen Papierkram von vier Tagen zu erledigen, spürte er in seinem Inneren ein leichtes Ziehen, das von chirurgischem Kleber herrührte. Der Papierstapel, den sein Adjutant gerade neben dem Bett aufbaute, wirkte unverhältnismäßig dick. Jesus Pietro seufzte, griff nach einem Stift und machte sich an die Arbeit.

Fünfzehn Minuten später rümpfte er die Nase, als er eine lächerliche Beschwerde las – die jemand wegen eines Streichs eingereicht hatte! Er zerknüllte das Papier, dann entfaltete er es jedoch wieder und sah es sich genauer an. »Matthew Leigh Keller?« fragte er.

»Wegen Verrats verurteilt«, antwortete Major Jansen, ohne zu zögern. »Vor sechs Jahren. Er ist über den Rand des Alpha-Plateaus entkommen – über den Rand der Leere. Die Aufzeichnungen besagen, er sei in die Organbanken gewandert.«

Aber das stimmte nicht, wie Jesus Pietro sich plötzlich erinnerte. Major Jansens Vorgänger hatte Kellers Platz eingenommen. Doch Keller war definitiv gestorben … »Und wieso spielt er dann Streiche in einer Medcheck-Station?«

Nach kurzem Nachdenken antwortete Major Jansen: »Er hatte einen Neffen.«

»Wäre der jetzt fünfzehn?«

»Vielleicht. Ich werde das überprüfen.«

Kellers Neffe, dachte Jesus Pietro. Ich könnte der Standardprozedur folgen und ihm eine Verwarnung schicken.

Nein. Soll er doch glauben, dass er davongekommen ist. Wenn man ihm genug Freiraum gibt, wird er früher oder später den Körper ersetzen, den sein Onkel gestohlen hat.

Jesus Pietro lächelte. Er begann, leise zu lachen, doch seine Rippen schmerzten, und so musste er wieder damit aufhören.

Die Schnauze des Rammgenerators war nicht länger hell und glänzend. Ihre Oberfläche wies eine Ansammlung kleiner und großer Löcher auf, die interstellare Staubpartikel hinterlassen hatten, welche durch das Rammfeld gedrungen waren. Überall waren diese Löcher zu sehen: auf den Fusionstriebwerken, auf dem Rumpf, und sogar auf der Frachtkapsel, die das Schiff fünfzig Kilometer hinter sich her schleppte. Das Schiff sah aus wie ein Streuselkuchen.

Der Schaden war jedoch nur oberflächlich. Mehr als ein Jahrhundert war vergangenen, seit man die robuste Bauart der Rammschiffe zum letzten Mal verändert hatte.

Nun, achteinhalb Jahre jenseits von Juno, fiel das Rammfeld ein zweites Mal in sich zusammen. Die Fusionsflammen verwandelten sich in zwei aktinische blaue Kerzen, die ein Zwanzigstel g erzeugten. Im Inneren des Schiffes aktivierte sich die Kabelspule und holte langsam das Frachtkabel ein, bis die Frachtkapsel wieder in ihrer Halterung ruhte.

Die Maschine schien zu zögern … und dann schoben sich die beiden Triebwerke mit Hilfe ihrer beweglichen, insektengleichen Beine weg vom Rumpf. Sekundenlang verharrten sie im rechten Winkel zum Schiff. Dann wurden die Beine wieder angezogen; doch jetzt wiesen die Düsen nach vorne.

Ein U-förmiger Stahlarm drehte die Frachtkapsel um, so dass sie nach vorne zeigte, und langsam rollte die Kabelspule das Kabel wieder auf volle Länge aus.

Der Rammroboter setzte seinen Weg fort, und die Triebwerke gingen wieder auf volle Leistung, nur dass sie jetzt ihre langen Zungen aus miteinander verschmelzendem Wasserstoff und Helium durch das Rammfeld selbst feuerten.

8,3 Lichtjahre von Sol entfernt, fast genau auf halber Strecke zwischen Sol und Tau Ceti liegen die beiden Roten Zwerge L726 – 8. Das Hauptmerkmal der beiden Zwergsterne ist, dass sie beide weniger Masse besitzen als jeder andere Stern, der der Menschheit bekannt ist. Trotzdem sind sie schwer genug, um im Laufe der Zeit einen dünnen Gasmantel gebildet zu haben. Als das Rammschiff durch den Rand dieses Mantels pflügte, wurde es heftig abgebremst.

Es bremste weiter. Das Universum dehnte sich aus, und die Sterne nahmen wieder ihre ursprüngliche Form und Farbe an. 11,9 Lichtjahre von Sol entfernt und knapp zwei Millionen Kilometer über dem Stern Tau Ceti kam das Schiff zum Stillstand. Der Computer schaltete das Rammfeld ab. Eine Reihe von Sensoren begann, den Himmel abzusuchen … und fixierten sich auf ein Ziel.

Erneut setzte sich das Schiff in Bewegung. Es musste sein Ziel mit dem verbliebenen Treibstoff erreichen.

Tau Ceti ist ein Stern der Klasse G8. Er ist ungefähr vierhundert Grad kühler als Sol und besitzt eine um fünfundvierzig Prozent geringere Leuchtkraft. Die Welt Mount Lookitthat umkreist Tau Ceti in circa hundertzwanzig Millionen Kilometern Entfernung; es ist eine mondlose Welt mit einer fast kreisförmigen Umlaufbahn.

Der Rammroboter hielt auf Mount Lookitthat die Welt zu. Der Computer hatte die Sicherheitsprotokolle aktiviert, und daher bewegte sich das Schiff nur vorsichtig vorwärts. Die Sensoren sammelten weiterhin Daten.

Oberflächentemperatur: fast einheitlich sechshundert Fahrenheit. Atmosphäre: lichtundurchlässig, dicht, in Oberflächennähe giftig. Durchmesser: 14.130 Kilometer.

Irgendetwas kam über den Horizont. Im sichtbaren Licht wirkte es wie eine Insel in einem Meer aus Nebel. Die Topografie der Insel erinnerte an eine lange Treppe mit breiten Stufen – flache Plateaus, die durch steile Klippen voneinander getrennt waren. Aber Rammroboter Nr. 143 ortete noch mehr als nur sichtbares Licht. Auf der ›Insel‹ herrschten erdähnliche Temperaturen; die Luft war atembar, und auch der Druck entsprach in etwa dem der Erdatmosphäre.

Überdies empfing das Schiff zwei gerichtete Funksignale.

Die Signale machten alles klar. Rammroboter Nr. 143 musste sich noch nicht einmal entscheiden, welches von beiden er beantworten sollte, denn ihre Quellen waren weniger als einen Kilometer voneinander entfernt. Tatsächlich stammten sie von den zwei auf Mount Lookitthat gelandeten Kolonieschiffen, die durch ein ausladendes Gebilde miteinander verbunden waren – dem Hospital –, so dass sie nicht länger Raumschiffe, sondern die seltsam aussehenden Türme einer Art Bungalowsiedlung waren. Doch der Rammroboter wusste das nicht, und das war auch nicht nötig.

Es waren Funksignale. Rammroboter Nr. 143 nahm Kurs auf die Umlaufbahn.

Der Boden vibrierte unter seinen Füßen, und aus allen Richtungen kam ein gedämpftes, stetes Donnern. Jesus Pietro Castro schritt die verschlungenen, labyrinthartigen Gänge des Hospitals entlang.

Auch wenn er schrecklich in Eile war, hatte er dennoch nicht ein einziges Mal daran gedacht loszurennen. Immerhin war er hier ja nicht in einer Sporthalle. Stattdessen bewegte er sich mehr wie ein Elefant, der zwar nicht rennen, aber schnell genug gehen konnte, um einen fliehenden Menschen zu zertrampeln. Jesus Pietro hatte den Kopf gesenkt, und er machte so große Schritte, wie er nur konnte. Seine Augen funkelten unheimlich unter den dichten Augenbrauen, die ebenso weiß waren wie sein buschiger Räuberschnurrbart und sein volles Haar, was insgesamt einen starken Kontrast zu seiner dunklen Haut bildete. Als er an Beamten der Vollstreckungspolizei vorübereilte, nahmen sie Haltung an oder sprangen ihm aus dem Weg wie Fußgänger vor einem heranrasenden Bus. War es sein Rang, den sie fürchteten, oder seine kräftige, massige Gestalt? Vielleicht wussten sie es noch nicht einmal selbst.

An dem großen Steinbogen, der den Haupteingang des Hospitals bildete, blickte Jesus Pietro nach oben und sah einen hell strahlenden, blau-weißen Stern. Im selben Augenblick, da er ihn entdeckte, verlosch der Stern, und nur Augenblicke später verstummte das alles durchdringende Donnern.

Ein Jeep wartete auf Jesus Pietro. Das war gut. Hätte er sich erst einen rufen müssen, hätte das jemandem sehr leid getan. Er stieg ein, und der Fahrer hob sofort ab, ohne auf den entsprechenden Befehl zu warten. Das Hospital mit seinen Mauern und Sicherheitsfeldern fiel rasch hinter ihnen zurück.

An Fallschirmen segelte das Paket des Rammroboters herab. In der Luft befanden sich noch weitere Wagen; ständig änderten sie ihren Kurs, während die Fahrer zu raten versuchten, wo genau das Paket zu Boden sinken würde. Dass es nicht weit vom Hospital entfernt niedersegeln würde, war klar. Der Rammroboter hatte mit Sicherheit auf eines der beiden Schiffe gezielt, zwischen denen das Hospital wie ein Lebewesen gewachsen war.

Aber der Wind war heute ungewöhnlich stark.

Jesus Pietro runzelte die Stirn. Der Fallschirm würde über den Klippenrand hinweggeweht werden. Er drohte auf dem Alpha-Plateau niederzugehen, wo die Crew ihre Häuser errichtet hatte und wo keine Kolonisten geduldet wurden.

Und das tat er auch. Die Wagen flogen ihm hinterher wie ein Gänseschwarm und folgten ihm über die vierhundert Fuß hohe Klippe hinweg, die das Alpha vom Beta-Plateau trennte, wo Obstplantagen sich mit Feldern und Weiden abwechselten. Auf Beta gab es keine Häuser, denn die Crew duldete nicht, dass Kolonisten in ihrer Nähe wohnten; allerdings durften Kolonisten dort arbeiten.

Jesus Pietro griff nach dem Funkgerät. »Achtung«, sagte er. »Rammroboter-Paket Nr. 143 landet im Beta-Sektor … 22 ist in der Nähe. Schickt vier Staffeln hinter uns her. Unter gar keinen Umständen irgendwelche Wagen aufhalten oder Crewmitgliedern in die Quere kommen; Kolonisten, die sich im Umkreis eines Kilometers vom Paket aufhalten, sind jedoch sofort festzunehmen. Sie werden nur zum Verhör festgehalten, und danach seht ihr zu, dass ihr wegkommt!«

Das Paket schwebte über einen halben Morgen Zitronenbäume hinweg und landete am anderen Ende der Plantage.

Einer der letzten Rammroboter hatte die genetisch veränderten Vorfahren der Obstbäume mitgebracht – zusammen mit noch einigen anderen Produkten terranischer Bioingenieurskunst. Diese Bäume besaßen eine natürliche Immunität gegenüber Parasiten. Sie konnten überall wachsen, zumal sie sich auch mit anderen Bäumen ihrer Art nicht um Licht oder Wasser stritten und sich so gegenseitig im Wachstum behinderten. Die Bäume trugen exakt zehn Monate im Jahr reife Früchte, und wenn sie die Früchte schließlich abwarfen und Samen freisetzten, geschah dies nie bei allen zugleich, sondern in gestaffelten Intervallen, so dass jederzeit fünf von sechs Bäumen Früchte trugen.

In ihrem Bedürfnis nach Sonnenlicht hatten die Bäume ihre Blätter und Äste zu einem lichtundurchlässigen Dach ausgebreitet, so dass man den Eindruck hatte, sich in einem jungfräulichen Wald zu befinden, wenn man unter ihnen hindurchging. In ihrem Schatten wuchsen Pilze, die zwar auch von der Erde stammten, jedoch nicht manipuliert waren.

Polly hatte bereits mehrere Dutzend dieser Pilze gesammelt. So konnte sie behaupten, nur zum Pilzsammeln in den Wald gekommen zu sein, falls jemand sie fragen sollte, was sie hier zu suchen hatte, und ihre Kamera hätte sie schon lange versteckt, bevor dieser jemand überhaupt in ihre Nähe käme.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Bäume erst in gut einem Monat beschnitten werden mussten, befand sich eine bemerkenswerte Anzahl von Kolonisten auf dem Plateau. Sie wanderten durch die Wälder, lagen auf den Wiesen und kletterten zum Sport in den Klippen herum; Hunderte von Männern und Frauen machten einen Ausflug oder ein Picknick hier oben. Einem aufmerksamen Beamten der Vollstreckungspolizei wäre jedoch vermutlich aufgefallen, dass sie viel zu gleichmäßig verteilt waren; man würde zu viele von ihnen als Söhne der Erde erkennen.

Und das Paket des Rammroboters hatte sich ausgerechnet Pollys Gebiet als Landeplatz ausgesucht. Sie befand sich am Rand eines Obsthains, als sie plötzlich einen dumpfen Aufschlag hörte. Schnell und leise eilte sie in die entsprechende Richtung. Im Zwielicht unter den Bäumen war sie mit ihrem schwarzen Haar und der dunklen Haut nahezu unsichtbar. Sie kroch zwischen zwei Baumstämmen hindurch, duckte sich hinter einen weiteren und spähte an ihm vorbei.

Nicht weit von ihr entfernt lag ein großer Zylinder auf dem Gras, und fünf Fallschirme flatterten im Wind.

So sehen die also aus, dachte Polly. Dafür, dass das Paket einen so weiten Weg zurückgelegt hatte, wirkte es erstaunlich klein … aber vermutlich war es nur ein winziger Teil des gesamten Rammroboters. Der größere Teil befand sich bereits wieder auf dem Heimweg.

Aber schließlich zählte allein das Paket. Der Inhalt eines Rammroboter-Pakets war nie belanglos. Vor sechs Monaten war die Masernachricht eingetroffen, und seitdem hatten die Söhne der Erde sich darauf vorbereitet, Paket Nr. 143 in ihren Besitz zu bringen. Im schlimmsten Fall würden sie sogar darum kämpfen.

Polly hatte den Hain fast schon verlassen, als sie die Wagen entdeckte. Mindestens dreißig von ihnen landeten rings um das Paket.

Polly hielt sich versteckt.

Seine Männer hätten Jesus Pietro nicht erkannt, aber sie hätten verstanden. Bis auf zwei, drei Männer und Frauen waren alle Anwesenden in seiner Umgebung reinrassige Crewmitglieder. Ihre Fahrer, einschließlich seines eigenen, waren klugerweise in den Wagen geblieben. Jesus Pietro verhielt sich respektvoll, ja unterwürfig, und er achtete sorgfältig darauf, niemanden versehentlich anzurempeln oder gar irgendjemandem den Weg zu versperren.

Allerdings versperrte jemand ihm versehentlich die Sicht, als Millard Parlette, ein direkter Nachfahre des ersten Captains der Max Planck, die Kapsel öffnete und hineingriff. Jesus Pietro sah jedoch, was der Alte anschließend ins Sonnenlicht hielt, um es besser betrachten zu können.

Es war ein rechteckiger, fester Behälter mit abgerundeten Kanten, und er war in ein elastisches Material verpackt, das sich nun langsam auflöste. Die untere Hälfte bestand aus Metall. Der obere Teil bestand aus einem Material, das entfernt mit Glas verwandt war: so hart wie billigere Stahllegierungen, doch gleichzeitig so durchsichtig wie eine Fensterscheibe … Und in dem Behälter schwamm etwas Formloses.

Jesus Pietro klappte das Kinn herab. Er schaute genauer hin. Seine Pupillen weiteten sich. Ja, er wusste, was das war. Vor sechs Monaten hatte die Masernachricht dieses Ding angekündigt.

Ein großes Geschenk und eine große Gefahr.

»Das hier muss unser bestgehütetes Geheimnis sein«, erklärte Millard Parlette mit einer Stimme, die an eine knarrende alte Tür erinnerte. »Kein Wort davon darf jemals nach außen dringen. Sollten die Kolonisten je davon erfahren, werden sie die Sache so sehr aufbauschen, dass hier kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Wir müssen Castro sagen, dass er … Wo bei den Nebeldämonen steckt Castro?«

»Ich bin hier, Sir.«

Polly steckte die Kamera ins Etui zurück und zog sich tiefer in den Hain zurück. Sie hatte mehrere Bilder gemacht; zwei davon waren Zoomaufnahmen des Dings in dem durchsichtigen Behälter. Ihre Augen hatten es deutlich gesehen, doch auf dem Film würde man weitere Details erkennen können.

Sie hängte sich die Kamera um den Hals und kletterte auf einen Baum. Die Blätter und Äste versuchten, sie zurückzudrängen, doch sie kämpfte sich durch, immer tiefer und tiefer in das schützende Blattwerk hinein. Als sie anhielt, war das Laub über ihr nur noch wenige Zentimeter dick; trotzdem war es so dunkel wie in den Höhlen von Pluto.

In ein paar Minuten würde es hier von Polizisten nur so wimmeln. Im Augenblick warteten sie noch darauf, dass die Crewmitglieder wieder verschwanden; dann würden sie das ganze Gebiet durchkämmen. Es reichte nicht, dass Polly sich ihren Blicken entzog; sie musste genug Blätter um sich bringen, damit man sie auch mit Infrarotgeräten nicht entdecken konnte.

Dass sie die Kapsel nicht hatte an sich bringen können, konnte sie sich kaum zum Vorwurf machen. Die Söhne der Erde waren nicht in der Lage gewesen, die Masernachricht zu entschlüsseln, die Crew allerdings hatte es geschafft. Die Crewmitglieder kannten den Wert der Kapsel; doch Polly kannte ihn auch – jetzt. Wenn die 18.000 Kolonisten auf Mount Lookitthat wüssten, was sich in der Kapsel befunden hatte …

Es wurde Nacht. Die Vollstreckungspolizei hatte alle Kolonisten eingesammelt, die sie hatte finden können. Niemand hatte die Kapsel nach der Landung gesehen, und alle wurden nach dem Verhör wieder entlassen. Jetzt schwärmten die Polizisten mit Infrarotsichtgeräten aus. In Pollys Hain gab es mehrere warme Stellen, und die Polizisten deckten jede einzelne davon mit Sonarstunnern ein. Polly spürte noch nicht einmal, dass sie getroffen wurde. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie erleichtert fest, dass sie noch immer in dem Baum hockte. Sie wartete bis zum Mittag; dann ging sie zur Beta-Gamma-Brücke. Ihre Kamera hatte sie unter den Pilzen versteckt.

KAPITEL 2: DIE SÖHNE DER ERDE

Von Campbelltowns Glockenturm hallten vier mächtige Glockenschläge herab. Die Schallwellen wanderten durch die Stadt, über Felder und Straßen und wurden immer schwächer. Auch über die Mine glitten sie hinweg, ohne anzuhalten, und einige Männer blickten auf und legten ihre Werkzeuge beiseite.

Matt lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Er schmeckte schon kühles Bier auf der Zunge.

Die Fahrradfahrt von der Mine ging nur bergab. Matt erreichte Cziller’s, als der Laden sich bereits füllte. Er bestellte das Übliche – einen Krug Bier – und leerte sein erstes Glas in einem Zug. Sofort überkam ihn eine Art Glücksgefühl, und so trank er das zweite Glas weit vorsichtiger, um nicht vorzeitig betrunken zu werden. Dort saß er nun eine Zeitlang und nippte an seinem Bier, während immer mehr Arbeiter in die Bar strömten.

Morgen ist Samstag, dachte er. Für zwei Tage und drei Nächte konnte er die unzuverlässigen kleinen Biester vergessen, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt verdiente.

Ein Ellbogen traf Matt im Nacken. Er ignorierte es: eine Angewohnheit, die seine Vorfahren von der überfüllten Erde mitgebracht hatten und die seine Familie bis zu diesem Tag beibehalten hatte. Doch als der Ellbogen ihn zum zweiten Mal traf, hatte er das Glas an die Lippen gehoben. Bier lief ihm am Kinn herab, und er drehte sich um, um den Rüpel zurechtzuweisen.

»Tut mir leid«, sagte ein kleiner Mann mit glattem schwarzem Haar. Er besaß ein schmales, ausdrucksloses Gesicht und die Aura eines müden Buchhalters. Matt sah ihn sich genauer an.

»Hood«, sagte er.

»Ja, mein Name ist Hood; aber Sie kenne ich nicht.«

Matt grinste, denn er mochte großspurige Gesten. Er steckte sich die Finger in den Kragen und öffnete sein Hemd bis zum Bauch. »Versuch’s noch mal«, lud er sein Gegenüber ein.

Der Mann zuckte unwillkürlich zurück; dann bemerkte er die winzige Narbe auf Matts Brust. »Keller.«

»Stimmt«, bestätigte Matt und schloss das Hemd wieder.

»Keller. Da will ich doch verdammt sein …«, sagte Hood. Man merkte ihm deutlich an, dass er sich diese Phrase seit langem für eine derartige Situation aufgespart hatte. »Das muss mindestens sieben Jahre her sein. Was hast du in letzter Zeit so gemacht?«

»Schnapp dir den Stuhl da.« Hood erkannte seine Gelegenheit und saß fast schon, bevor sein Vorgänger von dem Stuhl hatte aufstehen können. »Ich habe Kindermädchen für Minenwürmer gespielt«, erklärte Matt. »Und du?«

Hoods Lächeln verschwand. »Äääh … Du machst mir doch nicht immer noch Vorwürfe wegen der Narbe da, oder?«

»Nein! Natürlich nicht«, beteuerte Matt mit feierlichem Ernst. »Das Ganze war mein Fehler. Außerdem ist es schon lange her.«

Und das war wirklich so. Matt war in der achten Klasse gewesen, als Hood eines Tages in Matts Klassenzimmer kam, um sich den Bleistiftspitzer zu borgen. An diesem Tag sah Matt ihn zum ersten Mal: Hood war ungefähr so groß wie Matt gewesen, wenn auch offensichtlich ein Jahr älter, was ihn in seiner Klasse zu einem der Kleinsten gemacht hatte. Unglücklicherweise war Matts Lehrer nicht im Raum gewesen. Ohne jemanden auch nur anzusehen, marschierte Hood durch den Raum, spitzte seinen Bleistift, und als er sich umdrehte, versperrte ihm eine Horde grölender Achtklässler den Weg. Auf Hood, einen Neuling an dieser Schule, mussten sie wie eine Bande von Kannibalen gewirkt haben. Und in der vordersten Reihe stand Matt und schwang wie ein Löwenbändiger einen Stuhl.

Hood war entsetzt und vollkommen verschreckt durch die Mauer aus Kindern gestürmt und geflohen … Die frisch gespitzte Bleistiftspitze hatte er in Matts Brust zurückgelassen.

Das war eines der wenigen Male gewesen, dass Matt sich so rüpelhaft aufgeführt hatte. Für ihn war die Narbe ein Schandmal.

»Gut«, sagte Hood sichtlich erleichtert. »Und du bist jetzt Bergarbeiter?«

»Ja, und das bereue ich jede wache Minute, und ich verfluche den Tag, da die Erde uns diese kleinen Schlangen geschickt hat.«

»Immer noch besser, als die Löcher selbst zu graben.«

»Glaubst du? Bist du bereit für eine kleine Vorlesung?«

»Einen Moment.« Heldenhaft leerte Hood sein Glas. »Bereit.«

»Ein Minenwurm ist ungefähr zwölf Zentimeter lang und einen Zentimeter breit, eine Mutation des terranischen Regenwurms. Sein Grabmaul ist mit winzigen Diamantzähnen besetzt. Erz frisst er zum Vergnügen, doch um sich zu ernähren, benötigt er synthetisches Material. Allerdings braucht jede der verschiedenen Wurmarten ein anderes Material zur Ernährung, und für jedes Metall, das es gibt, hat man eine eigene Wurmart gezüchtet. Draußen in der Mine haben wir insgesamt sechs verschiedene Arten, und ich muss dafür sorgen, dass jeder Wurm immer einen Erzklumpen in der Nähe hat.«

»Das hört sich nicht sonderlich kompliziert an. Aber können sie sich nicht selbst etwas zu fressen besorgen?«

»Theoretisch ja, in der Praxis jedoch nicht immer. Aber das ist noch nicht alles. Jeder Wurm hat Bakterien im Magen, die das Metall aus dem Erz herauslösen. Die Würmer lassen die Metallkörner rings um ihre Futterblöcke fallen, und wir sammeln sie auf. Nun, wie es der Zufall will, sterben diese Bakterien leicht. Wenn das geschieht, stirbt auch der Wurm, weil Erzbrocken seine gesamten Innereien verstopfen. Dann fressen die anderen Würmer den Kadaver, um das Erz zurückzugewinnen. Dummerweise fressen sie dabei in fünf von sechs Fällen das falsche Erz.«

»Können die Würmer sich denn nicht gegenseitig voneinander unterscheiden?«

»Das ist es ja! Sie können es nicht! Sie fressen das falsche Metall; sie fressen die falschen Würmer; sie fressen die falschen Futterblöcke, und selbst wenn sie alles richtig machen, sterben sie spätestens nach zehn Tagen. Die Geningenieure haben diese kurze Lebensdauer absichtlich geschaffen, weil die Zähne der Würmer so rasch abnutzen. Um das zu kompensieren, sollen sich die Würmer eigentlich wie verrückt vermehren, doch das können sie eben nicht, wenn sie die ganze Zeit über arbeiten müssen. Ständig müssen wir uns an die Crew wenden und um neue Würmer betteln.«

»Also haben sie euch sozusagen an den … äh, am Gemächt.«

»Genau. Sie verlangen von uns, was sie wollen.«

»Könnten sie nicht vielleicht auch die falschen Chemikalien in die Futterblöcke stopfen?«

Matt blickte erstaunt auf. »Ich wette, genau das tun sie … oder zumindest mischen sie zu wenig von dem richtigen Zeug bei; auf diese Weise würden sie gleichzeitig auch noch Geld sparen. Natürlich lassen sie uns auch nicht unsere eigenen Würmer züchten. Diese …« Matt verkniff sich den Satz. Schließlich hatte er Hood schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Die Crew mochte es nicht, wenn man ihr Schimpfnamen gab.

»Zeit zum Abendessen«, bemerkte Hood.

Sie tranken den Rest des Biers und gingen ins einzige Restaurant der Stadt. Hood wollte wissen, was aus seinen alten Schulfreunden, oder besser aus seinen Mitschülern geworden war; Hood hatte nie leicht Freunde gefunden. Matt, der über die meisten etwas wusste, gab die gewünschten Antworten. Dann sprachen sie über ihrer beider Arbeit. Hood war Lehrer in einer Schule auf Delta. Zu Matts Überraschung war aus dem in sich gekehrten Jungen ein unterhaltsamer Geschichtenerzähler geworden. Hood besaß noch immer die trockene, präzise Aussprache, die ihm schon zu Schulzeiten zu eigen gewesen war, und das machte seine Scherze nur umso lustiger. Beide waren sie recht gut in ihren Berufen, und beide verdienten sie genügend Geld, um davon leben zu können. Allerdings gab es auch nirgends auf dem Plateau so etwas wie echte Armut. »Schließlich will die Crew nicht das Geld der Kolonisten«, teilte Hood während der Hauptspeise Matt mit.

Später, beim Kaffee, sagte Hood: »Ich weiß, wo heute eine Party steigt.«

»Sind wir eingeladen?«

»Ja.«

Matt hatte für heute Abend noch nichts geplant, doch er wollte sichergehen. »Sind Partykiller willkommen?«

»In deinem Fall sind sie gern gesehene Gäste. Harry Kane wird dir gefallen. Er ist der Gastgeber.«

»Dann bin ich dabei.«

Die Sonne versank hinter dem Rand des Gamma-Plateaus, als die beiden jungen Männer nach oben fuhren. Ihre Fahrräder stellten sie auf der Rückseite des Hauses ab. Als sie zur Vorderseite gingen, zeigte sich die Sonne wieder, ein rotglühender Halbkreis über dem ewigen Wolkenmeer am Rand der Leere. Harry Kanes Haus stand nur fünfzehn Meter vom Plateaurand entfernt. Kurz blieben die beiden Männer stehen, um den Sonnenuntergang zu betrachten; dann drehten sie sich wieder zum Haus um.

Das Haus war ein ausgedehnter Bungalow in Kreuzform und besaß nach außen gewölbte Wände, wie es typisch für Gebäude aus Baukorallen war. Bei Harry Kanes Haus hatte man allerdings nicht versucht, das Baumaterial zu verbergen, wie es allgemein üblich war – Baukoralle wurde nur von den Kolonisten verwendet. Matt hatte noch nie ein Haus gesehen, das nicht gestrichen war; er konnte jedoch nicht umhin, den Effekt zu bewundern, den der fehlende Anstrich dem Haus verlieh. Die Überreste des sogenannten ›Formballons‹, der allen Gebäuden, die auf diese Weise errichtet wurden, ihre typische runde Form verlieh, waren sorgfältig entfernt worden, und anschließend hatte man die Wände poliert, bis sie blassrosa schimmerten. Selbst nach Sonnenuntergang leuchtete das Haus noch ein wenig.

Fast schien es, als wäre das Haus stolz darauf, eine Kolonistenkonstruktion zu sein.

Die Baukoralle war ein weiteres Geschenk der Rammroboter; gewonnen aus genetisch manipulierten Meereskorallen, war sie der billigste bekannte Baustoff. Der einzige wirkliche Kostenfaktor war der Plastikballon, der das Wachstum der Koralle steuerte und gleichzeitig das notwendige Futter enthielt. Alle Kolonisten lebten in Häusern aus Baukoralle. Allerdings hätten auch nur wenige mit Stein, Holz oder Ziegel bauen wollen, wäre es denn erlaubt gewesen. Trotzdem bemühten sich die meisten, ihre Häuser ein wenig wie jene aussehen zu lassen, die auf dem Alpha-Plateau standen. Mit Farbe, Holz, Metall und Plastik versuchten sie, die Crew zu imitieren.

So kam es, dass Harry Kanes Haus vollkommen atypisch wirkte – egal, ob man es bei Tag oder Nacht betrachtete.

Der Lärm traf die beiden Männer wie ein Schlag, als sie die Tür öffneten. Matt blieb kurz stehen, während sein Gehör sich auf den Geräuschpegel einstellte – eine Überlebenstechnik, die seine Vorfahren entwickelt hatten, als die Bevölkerung der Erde neunzehn Milliarden Menschen betrug, und die die meisten Kolonisten auf dem 11,9 Lichtjahre von der Erde entfernten Planeten nicht vergessen hatten. In den vergangenen vierhundert Jahren hätte ein Erdenmensch genauso gut stocktaub sein können, wenn er nicht imstande war, sich mit jemandem zu unterhalten, obwohl ihm gleichzeitig tausend Betrunkene ins Ohr grölten. Matts Leute hatten sich einige dieser alten Angewohnheiten bewahrt. Das große Wohnzimmer war zum Bersten gefüllt, und die Gäste ignorierten die wenigen Stühle größtenteils.

Der Raum war wirklich groß, und die Bar, die dem Eingang gegenüberlag, war riesig. Matt schrie: »Harry Kane hat wohl oft Gäste!«

»Das hat er! Komm mit! Ich werde dich ihm vorstellen!«

Während sie sich durch die Gäste drängten, schnappte Matt ein paar Gesprächsfetzen auf. Er vermutete, dass die Party schon länger im Gange war, und offenbar kannten mehrere Leute faktisch keinen der anderen Gäste, doch alle hielten sie Drinks in den Händen. Die Gäste entstammten allen möglichen Altersgruppen und Berufen. Hood hatte die Wahrheit gesagt. Wenn ein Partykiller hier nicht willkommen war, wo dann? Schließlich kannte ihn keiner der Anwesenden.

Die Innenwände waren genauso korallenrosa wie die Außenmauern. Der Boden war völlig mit einem Teppich aus mutiertem Gras bedeckt, der außer an den Wänden überall flach war; ohne Zweifel hatte man ihn per Sandstrahl geglättet, nachdem man das Haus fertiggestellt und den Formballon entfernt hatte. Dass sich unter dem Teppich jedoch ebenfalls Baukoralle befand und kein Parkett oder Fliesen, das wusste Matt.

Die beiden Männer erreichten die Bar, ohne mit allzu vielen Leuten aneinanderzustoßen. Hood beugte sich soweit er konnte über die Theke – was aufgrund seiner Größe nicht sehr weit war – und rief: »Harry! Zwei Wodka-Soda, und ich möchte dir … Verdammt, Keller! Wie heißt du überhaupt mit Vornamen?«

»Matt.«

»Ich möchte dir Matt Keller vorstellen. Wir kennen uns aus der Schule.«

»Es ist mir ein Vergnügen, Matt«, sagte Harry Kane, griff über die Theke und schüttelte Matt die Hand. »Und freut mich auch, dich hier zu sehen, Jay.« Harry war ungefähr von Matts Größe, nur wesentlich stämmiger, und sein breites Gesicht wurde von einem noch breiteren Grinsen und einer unförmigen Nase beherrscht. Er sah exakt so aus, wie man sich einen Barmann vorstellte. Harry mixte die Wodka-Soda in eisgekühlten Gläsern und reichte sie seinen Gästen. »Amüsiert euch«, sagte er und ging zum anderen Ende der Theke, um zwei weitere Neuankömmlinge zu bedienen.

Hood erklärte: »Harry glaubt, die beste Möglichkeit, alle Gäste möglichst früh begrüßen zu können, bestünde darin, die ersten paar Stunden Barkeeper zu spielen. Irgendwann gibt er dann den Job an einen Freiwilligen weiter.«

»Gut gedacht«, erwiderte Matt. »Heißt du Jay mit Vornamen?«

»Das ist eine Abkürzung für Jayhawk. Jayhawk Hood. Einer meiner Vorfahren stammte aus Kansas; deshalb hat man mich nach dem Wappentier benannt.«

»Es ist schon verrückt, dass wir acht Jahre gebraucht haben, um unsere jeweiligen Vornamen zu lernen.«

In diesem Augenblick entdeckten einige Gäste Hood, und sofort fielen sie über ihn und Matt her. Hood hatte kaum Zeit, ein Grinsen aufzusetzen, da begannen die Gäste schon, sich ihm vorzustellen. Matt war erleichtert; die Ablenkung kam ihm gelegen. Er war sicher, dass Harry Kane seinem alten Bekannten Hood noch irgendetwas zugesteckt hatte, als er ihm den Drink an der Bar überreichte. Das hatte Matts Neugier geweckt, doch seine Erziehung verbot ihm, danach zu fragen. Also wollte er es so rasch wie möglich vergessen.

Die Neuankömmlinge waren vier Männer und eine Frau. Matt erinnerte sich hinterher nur an die Frau.

Ihr Name war Laney Mattson. Sie war ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt, fünf Jahre älter als Matt. Mit nackten Füßen hätte er sie vielleicht nur knapp um einen Zentimeter überragt; doch sie trug Stöckelschuhe, und ihr toupiertes, rotbraunes Haar ließ sie sogar noch größer wirken. Und sie war nicht einfach nur lang; sie war wirklich groß: breite, runde Hüften und ein ausladender Busen, den ihr tiefer Ausschnitt zusätzlich betonte. Sie wirkt hübscher, als sie in Wirklichkeit ist, dachte Matt. Und sie verwendet Kosmetika. Außerdem legt sie einen unglaublichen Überschwang an den Tag.

Die Männer waren so alt wie sie, vielleicht auch ein wenig älter, aber alle Ende zwanzig. Bei jedem der vier sah es normal aus, wenn er mit Laney tanzte. Es waren Riesen. Matt behielt von ihnen nur die tiefen, hallenden Stimmen im Gedächtnis, die riesigen Hände, in denen seine Hand bei der Begrüßung förmlich verschwand, und die freundlich lächelnden Gesichter, die von der rosafarbenen Decke zu ihm herabblickten. Doch er mochte sie alle. Er konnte sie nur einfach nicht voneinander unterscheiden.

Hood überraschte ihn erneut. Nie hob Hood übermäßig seine trockene Stimme oder reckte den Hals, um seinen Gegenübern ins Gesicht zu blicken, und trotzdem blieb er stets Herr der Unterhaltung. Er war es auch, der mit dem Thema ›Schulzeit‹ begann. Das verleitete einen der großen Männer dazu zu berichten, wie er einmal das TD der Schule neu verdrahtet hatte, so dass er und seine Klassenkameraden die Unterrichtsübertragung auf ganz besondere Weise hatten sehen können: die Bilder standen auf dem Kopf und waren zudem von innen nach außen verzerrt gewesen. Matt erzählte von der Probenflasche voll Apfelsaft, den er in die Medcheck-Station von Gamma geschmuggelt hatte, und berichtete, was er damit gemacht hatte. Ein anderer Gast, der dem Gespräch bis jetzt höflich schweigend gelauscht hatte, erwähnte, dass er einst den Wagen einer Crew-Familie auf dem Beta-Plateau gestohlen hatte. Er hatte den Autopiloten so eingestellt, dass der Wagen in konstant tausend Fuß Höhe über dem Rand der Leere gekreist war. Fünf Tage lang hatte der Wagen dort seine Kreise gezogen, bis er schließlich unter den Augen von Dutzenden von Vollstreckungspolizisten in den Nebel gestürzt war.

Matt beobachtete, wie Jay Hood und Laney miteinander redeten. Laney hatte Hood den Arm um die Schultern gelegt; Hood reichte ihr nur knapp bis zum Kinn. Beide redeten entweder gleichzeitig oder schnitten sich gegenseitig das Wort ab. Sie rasten von einer Erinnerung zur anderen; Anekdote folgte auf Anekdote und Scherz auf Scherz. All das teilten sie mit der Gruppe und sprachen doch nur miteinander.

Es war nicht Liebe, was er da beobachtete, entschied Matt, auch wenn es dieser ähnelte. Vielmehr empfanden Hood und Laney eine ungeheure Befriedigung, dass sie einander kannten. Befriedigung und Stolz. Matt fühlte sich mit einem Mal sehr einsam.

Nach einer gewissen Zeit bemerkte Matt, dass Laney ein Hörgerät trug. Es war so klein und geschickt gefärbt, dass es in ihrem Ohr nahezu unsichtbar war. Tatsächlich hätte Matt nicht unbedingt darauf wetten wollen, dass es sich wirklich dort befand.

Wenn Laney ein Hörgerät brauchte, war es schade, dass sie es nicht besser verbergen konnte. Seit Jahrhunderten ließen sich zivilisierte Leute kleine Teilchen aus lamelliertem Plastik über dem Mastoxidknochen unter die Haut setzen. Auf Mount Lookitthat existierten solche Dinge jedoch nicht. Ein Crewmitglied hätte sich allerdings für ein defektes Ohr schlicht Ersatz aus den Organbanken geholt …

Die Gläser waren leer, und einer von Laneys großen Begleitern brachte Ersatz. Mit der typischen Wechselhaftigkeit einer Cocktailparty wuchs und schrumpfte die Gruppe, teilte sich auf und wuchs wieder zusammen. Kurz ließen die anderen Matt und Jay Hood in einem Wald aus Rücken und Ellbogen allein. Hood fragte: »Möchtest du ein schönes Mädchen kennenlernen?«

»Immer.«

Hood drehte sich um und ging voraus, und Matt bemerkte die gleiche seltsame Färbung im Ohr seines Schulkameraden wie in Laneys. Seit wann war Hood denn schwerhörig? Aber vielleicht hatte sich Matt ja getäuscht; vielleicht war das alles nur Einbildung – schließlich hatte er ja schon mehrere Wodka-Soda getrunken. Allerdings war es auch ungewöhnlich, dass die winzigen Geräte in beiden Fällen viel zu tief implantiert zu sein schienen, als dass man sie wieder hätte entfernen können.

Doch ob er sich das Gerät nun eingebildet hatte oder nicht: Es hatte exakt die richtige Größe besessen, dass es sich dabei um den Gegenstand gehandelt haben konnte, den Harry Kane Jay Hood zusammen mit dem Drink zugesteckt hatte.

»Das ist die einfachste Art zuzuschlagen, Sir.« Respektvoll beugte sich Jesus Pietro auf seinem Stuhl vor, faltete die Hände auf dem Tisch und vermittelte so den Eindruck eines hochintelligenten Mannes, der sich voll und ganz seiner Arbeit widmete. »Wir wissen, dass die Mitglieder das Kane-Haus immer zu zweit oder zu viert verlassen. Wir werden sie uns vor dem Haus schnappen. Wenn keiner mehr aus dem Haus kommt, wissen wir, dass sie etwas bemerkt haben. Dann werden wir hineingehen.«

Hinter seiner respektvollen Maske war Jesus Pietro verärgert. Zum ersten Mal seit vier Jahren hatte er wieder eine große Razzia gegen die Söhne der Erde geplant, und Millard Parlette hatte sich ausgerechnet diese Nacht ausgesucht, um dem Hospital einen Besuch abzustatten. Warum ausgerechnet heute? Er kam ohnehin nur alle zwei Monate vorbei – Dank sei den Nebeldämonen. Der Besuch eines Crewmitglieds brachte Jesus Pietros Männer stets aus der Fassung.

Aber zumindest war Parlette zu ihm gekommen. Einmal hatte Parlette ihn zu sich nach Hause bestellt, und das war schlimm gewesen. Hier jedoch war Jesus Pietro in seinem Element. Sein Büro war Ausdruck seiner Persönlichkeit. Der Schreibtisch besaß die Form eines Bumerangs und umgab Jesus Pietro in stumpfem Winkel, was ihm eine große Arbeitsfläche bot. Für Gäste gab es drei unterschiedlich bequeme Stühle: einen für die Crew, einen für das Hospitalpersonal und einen für Kolonisten. Das Büro war groß und eckig; nur die hintere Wand war leicht gewölbt. Während drei Wände cremefarben gestrichen waren – was sehr angenehm für das Auge war –, bestand die Rückwand aus blankpoliertem, dunklem Metall.

Sie war Teil der Außenhülle der Max Planck. Jesus Pietros Büro lag unmittelbar an der Quelle der halben spirituellen Kraft von Mount Lookitthat – und an der Quelle der halben Energieversorgung; das Büro grenzte an eines der beiden Schiffe, mit denen die Menschen auf den Planeten gelangt waren. Wenn er an seinem Schreibtisch saß, konnte Jesus Pietro die Kraft in seinem Rücken deutlich spüren.

»Unser einziges Problem«, fuhr er fort, »besteht darin, dass nicht alle von Kanes Gästen in die Verschwörung verwickelt sind. Mindestens die Hälfte sind irgendwelche Ahnungslose, die man nur zur Tarnung eingeladen hat. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, sie von den anderen zu trennen.«

»Das verstehe ich«, sagte der alte Mann mit krächzender Stimme. Er war groß und hager, und er erinnerte an Don Quichotte, nur dass in seinen Augen nicht der Wahnsinn funkelte – im Gegenteil: Sein Blick war klar und wachsam. Seit nunmehr fast zweihundert Jahren hatte das Hospital den Körper und den Geist des Mannes am Leben erhalten. Vermutlich wusste noch nicht einmal er, wie viele seiner Körperteile und Organe von Kolonisten stammten, die wegen eines Kapitalverbrechens verurteilt worden waren. »Warum heute Nacht?« fragte er.

»Warum nicht, Sir?« Jesus Pietro wusste, worauf Parlette hinauswollte, und seine Gedanken überschlugen sich. Millard Parlette ließ sich von niemandem zum Narren halten. Der Alte war eines der wenigen Crewmitglieder, das bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Die meisten der dreißigtausend Crewmitglieder auf Mount Lookitthat gaben sich damit zufrieden, sich immer kompliziertere Spiele auszudenken, ganz egal, ob sich diese Spiele nun auf Sport oder Mode bezogen. Die Spiele wechselten immer wieder nach einem komplexen sozialen Muster, das sich ständig veränderte und bisweilen auch recht lächerlich anmutete. Parlette zog es vor zu arbeiten – manchmal. Er hatte beschlossen, die Kontrolle über das Hospital zu übernehmen. Er war kompetent und effizient. Auch wenn er sich nur selten blicken ließ, schien er doch immer zu wissen, was gerade vor sich ging, und es war schwer, ihn anzulügen.

»Gestern kam die Kapsel des Rammroboters an«, sagte er. »Vergangene Nacht haben Ihre Männer das Gelände nach Spionen abgesucht. Heute Nacht planen Sie die erste große Razzia seit vier Jahren. Glauben Sie, irgendjemand oder irgendetwas sei Ihnen durch die Finger geschlüpft?«

»Nein, Sir!« erwiderte Jesus Pietro, doch er sah, dass seine Antwort Millard Parlette nicht zufriedenstellte. »Doch in diesem Fall kann ich es mir nicht leisten, alles auf Sieg zu setzen, auch wenn die Sache noch so sicher erscheinen mag. Falls ein Kolonist Wind von dem Paket des Rammroboters bekommen haben sollte, dann ist er heute Nacht bei Kane.«