Verrat der Welten - Larry Niven - E-Book

Verrat der Welten E-Book

Larry Niven

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Beschreibung

Das Volk der Puppenspieler ist überaus ängstlich. Während ihrer Flucht vor der Supernova im Zentrum der Galaxis haben sie viele Gefahren nur knapp überlebt. Sie ahnen nicht, dass ihnen die größte Katastrophe erst noch bevorsteht ... die endgültige Auslöschung durch einen mächtigen Feind.

Der vierte Roman im "Fleet of Worlds"-Zyklus innerhalb des Known Space - Larry Nivens episches Ringwelt-Universum!

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

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Inhalt

Cover

Larry Niven bei Bastei Lübbe

Über dieses Buch

Über die Autoren

Titel

Impressum

Dramatis Personae

WUNDERLAND

1

2

3

NIMMERLAND

4

5

6

7

NIEMANDSLAND

8

9

10

11

12

GELOBTES LAND

13

14

15

16

17

18

KALTER KRIEG

19

20

21

22

23

24

25

BÜRGERKRIEG

26

27

28

29

30

PRÄVENTIVKRIEG

31

32

33

34

35

36

37

KRIEGSWIRREN

38

39

40

41

42

KRIEGSENDE

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

EPILOG

Larry Niven bei Bastei Lübbe

Der Ringwelt-Zyklus:

Ringwelt / Ringwelt Ingenieure.

Doppelband, 2016 (Dt. Erstausgabe 1972 / 1982)

Ringwelt Thron / Hüter der Ringwelt.

Doppelband, 2017 (Dt. Erstausgabe 1998 / 2006)

Weitere Romane im Known Space:

Die Welt der Ptavv.

2018 (auch als »Das Doppelhirn« erschienen, Dt. Erstausgabe 1977)

Ein Geschenk der Erde.

2018 (auch als »Planet der Verlorenen« erschienen, Dt. Erstausgabe 1977)

Protector – Brennans Legende.

2018 (auch als »Der Baum des Lebens« erschienen, Dt. Erstausgabe 1975)

Der Weltenflotte-Zyklus (Known Space):

Weltenwandler.

2014 (Dt. Erstausgabe 2008)

Die Flotte der Puppenspieler.

2014 (Dt. Erstausgabe 2008)

Der Krieg der Puppenspieler.

2011

Verrat der Welten.

2012

Das Schicksal der Ringwelt.

2014

Über dieses Buch

Das Volk der Puppenspieler ist überaus ängstlich. Während ihrer Flucht vor der Supernova im Zentrum der Galaxis haben sie viele Gefahren nur knapp überlebt. Sie ahnen nicht, dass ihnen die größte Katastrophe erst noch bevorsteht … die endgültige Auslöschung durch einen mächtigen Feind.

Der vierte Roman im »Fleet of Worlds«-Zyklus innerhalb des Known Space – Larry Nivens episches Ringwelt-Universum!

Über die Autoren

Larry Niven wurde 1938 in Los Angeles, Kalifornien geboren. 1956 schrieb er sich am Institute of Technology in Kalifornien ein, um es ein Jahr später wieder zu verlassen. Ein halbes Jahr später entdeckte er einen alten Buchladen voll mit bereits gelesenen Science-Fiction Magazinen, die ihn inspirierten, selbst etwas zu schreiben. Nachdem er sein Mathematik-Psychologie-Studium 1962 an der Washburn University, Kansas, beendet hatte, begann Larry Niven nun endgültig sich seiner Leidenschaft hinzugeben. Seine erste veröffentlichte Geschichte »The Coldest Place« erschien in der Dezember-Ausgabe von 1964 Worlds of If.

Larry Niven gehört zu den großen Altmeistern des Genres. Er hat im Laufe seiner Karriere mehrmals die bedeutendsten Preise der Science Fiction, den Hugo- und den Nebula-Award, gewonnen, unter anderem für den Roman »Ringwelt«, der als ein Meilenstein der modernen fantastischen Literatur gilt. Mit der Romanserie um das »Ringweltuniversum« hat er wahrscheinlich die populärste SF-Serie aller Zeiten geschaffen.

Edward M. Lerner wurde 1949 in den USA geboren. Er hat mehr als dreißig Jahre für diverse namhafte Firmen in der Luftfahrt- und IT-Industrie gearbeitet, denn er hat einen Abschluss in Physik und Informatik: ein Werdegang, der dafür gesorgt hat, dass er nie sonderlich in Schwierigkeiten geriet - bis er das Schreiben von SF zu seiner Hauptbeschäftigung erkor. Mit Larry Niven arbeitete er am fünfteiligen Weltenflotte-Zyklus zusammen. Er lebt mit seiner Frau Ruth in Virginia.

Larry NivenEdmund M. Lerner

VERRAT DERWELTEN

Weltenflotte-Zyklus 4

EIN ROMAN AUS DEMRINGWELT-UNIVERSUM

Aus dem Amerikanischen von Ulf Ritgen

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2010 by Larry Niven and Edward M. Lerner

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Betrayer of Worlds«

Published by arrangement with Larry Niven and Edward M. Lerner

This book was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: sdecoret

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6713-3

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Dramatis Personae

MENSCHEN

Roland Allen-Cartwright – Söldner-Captain von New Terra (Pak-Offensive)

Sigmund Ausfaller – Verteidigungsminister von New Terra (und Leiter des Geheimdienstes); stammtursprünglich von der Erde

Alice Jordan – Sigmund Ausfallers Stellvertreterin; stammt ursprünglich aus demSol-System

Beowulf (Bey) Shaeffer – Raumschiffpilot und Abenteurer; Stiefvater von Louis Wu;derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt, vermutlich aber im vom Menschen besiedeltenWeltraum

Enzio Walker-Wong – Söldner-Captain von New Terra (Gw’oth-Offensive)

Carlos Wu – Physiker und Allroundgenie;biologischer Vater von Louis Wu; derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt, vermutlich aberim vom Menschen besiedelten Weltraum

Louis Wu (alias Nathan Graynor) – auf der Erde geborener Abenteurer; während des Kalten Krieges von Nessus als Helfergegen die Gw’oth rekrutiert

KÜNSTLICHE INTELLIGENZEN

Jeeves – ursprünglich Bord-KI der Long Pass, eines interstellaren Kolonisierungsschiffs der Menschen; geklont und in unterschiedlichen Derivatzuständen auf New Terra eingesetzt

Voice – illegale Bürger-KI, abgeleitet von einem Jeeves; assistiert als Nessus’ KonfIdent

BÜRGER/PUPPENSPIELER

Achilles – Wissenschaftsminister; strebt dieLeitung der Experimentalistenpartei an – um auf diese Weise Hinterster zu werden

Baedeker – Hinterster; Vorsitzender der Experimentalistenpartei

Clotho – Radikaler Achilles-Anhänger; Captain des gestohlenen Raumschiffs Remembrance

Nessus – Leitender Agent/Kundschafter des Geheimen Direktorats

Nike – Stellvertretender Außenminister; somit Direktor des Geheimen Direktorats; Experimentalist;ehemaliger Hinterster

Thalia – Kundschafter; Vertreter der General Products Corporation auf Jm’ho (effektiv Botschafterder Konkordanzbei den Gw’oth)

Vesta – Nikes ranghöchster Assistent und KonfIdent und seit langem dessen Protegé

VERGW’OTH

Bm’o – Tn’Tn’ho (Dynast) von Tn’ho, dem wichtigsten Stadtstaat auf Jm’ho, der Heimatwelt derGw’oth

Ng’t’mo – 8-plex-Verstandeskollektiv (d. h. ein Gw’otesht 8er-Verband) im Dienste Jm’hos

Ol’t’ro – 16-plex-Verstandeskollektiv (d. h. ein Gw’otesht 16er-Verband); Anführer der abtrünnigenKolonie auf Kl’mo

Rt’o – Bm’os Beraterin

Sr’o – führende Wesenheit innerhalb von Ol’t’ro

WUNDERLAND

1

Es war unheimlich still im Dschungel.

Hinter ein bisschen Deckung aus allzu lichtem Grün lag Nathan Graynor. Er presste sich dicht an den unebenen Boden. Über den Rand der Schlucht spähte er hinunter auf die unbefestigte Straße, die am Grund des steilen, engen Canyons dessen sanftem Auf und Ab folgte. Beide Sonnen, ein gelber und ein orangefarbener Ball, standen hoch über Nathan am Himmel. Jemand, der vom Grund des Canyons die steilen Wände hinaufblickte, sähe nichts außer gleißendem Licht.

Der perfekte Zeitpunkt und Ort für einen Hinterhalt.

Es war kühl am heutigen Tag; eine stete Brise wehte. Dennoch rann Nathan der Schweiß über das Gesicht. Die Nerven, sagte er sich selbst. Dabei wusste er ganz genau, dass das höchstens die halbe Wahrheit war.

Mit dem Lauf seines Lasergewehrs schob er eine Art Farnwedel beiseite, um einen besseren Blick hinunter zu haben. (Es war sicher ein Farn, grün, eindeutig terrestrischen Ursprungs. Auf der anderen Seite der zerklüfteten Felsschlucht, dort wo die zweite Gruppe Rebellen versteckt lag, war die Vegetation rot-golden und ebenso eindeutig heimisch auf dieser Welt.) Die Straße im Canyon war primitiv, übersät von Schlaglöchern und zerfurcht von Wagenrädern: kein Hindernis für ein Anti-Grav-Fahrzeug, aber kaum zu befahren für alles, was Räder hatte.

Es war nicht Angst, die Nathan Graynor ins Schwitzen brachte, jedenfalls nicht so direkt. Angst hätte vorausgesetzt, dass er voll und ganz davon überzeugt gewesen wäre, dies alles passiere wirklich, dass er wahrhaftig hier wäre und auf diese Schlucht hinabblickte.

Das Leben fühlte sich jetzt genau so an: surreal. Das war es, seit der Lenkflugkörper auf der Clementine eingeschlagen war. Die Haltegurte seines Pilotensessels hatten Nathan gerettet. Alle anderen an Bord waren ums Leben gekommen, als das Schiff zerbrach. Die Widerstandskämpfer hatten das Wrack als Erste erreicht. Zweifellos in einem tiefen Schockzustand war er ihnen willig gefolgt.

Nathan nahm kleine Schlucke aus seiner Feldflasche. Er atmete tief durch. Als weder das eine noch das andere ihn zu beruhigen vermochte, blickte er in die Klarheit des Himmels, um dort Gelassenheit zu finden. Dort segelten Vögel und die einheimischen Äquivalente: Sie ließen sich von den Aufwinden über den Ebenen hoch hinauf ins Blau tragen. Auch dieser Anblick half Nathan nicht.

Im Lager der Widerständler hatte Nathan jede Menge verstohlener Blicke auf sich gezogen. Die Rebellen trauten ihm nicht so ganz – und trotzdem war er jetzt hier. Vielleicht hatten sie es vorgezogen, ihn lieber nicht unbewacht im Lager zurückzulassen. Vielleicht aber hatte sich ihr Misstrauen ihm gegenüber ja auch gelegt. Oder vielleicht wollten sie einfach ausprobieren, ob er in den Dschungel flüchten würde, hätte er die Gelegenheit dazu. (Ob sie ihn gehen lassen würden? Nathan war alles andere als überzeugt davon.)

Wie auch immer: Seine Anwesenheit hier war ein Test.

Da – aus der Ferne drang, noch nur eine Andeutung, das Dröhnen von Motoren und das Klirren von Metall an Nathans Ohr. Dann konnte er in der Tiefe eine schmutzig braune Staubwolke ausmachen, die über der Ebene vor der Schlucht hing, ganz weit weg noch, dort, wo der Dschungel die Straße verschluckte.

Das Ziel näherte sich.

Die Aristokraten, die führenden Familien auf Wunderland, hatten den Raum um den Planeten mit jedem Tag, der verging, mehr im Griff. Nathan – und vor allem die Besatzung seines ehemaligen Schiffes – hatten das auf die harte Tour lernen müssen. Spionage-Satelliten vermochten selbst das kürzeste Getuschel über Funk aufzufangen und nachzuverfolgen. Daher war jetzt links von Nathans Position, dort, wo Logan, der Anführer der Partisanen-Gruppe verborgen lag, eines der elementarsten Signale zu hören, das es seit Menschengedenken gab: das leise Pfeifen eines Vogels.

Macht euch bereit!

Nathan pfiff, so gut es ging, eine Bestätigung zurück. Er wusste ja nicht einmal, was er da gerade zu imitieren versuchte. Noch mehr so genanntes Vogelgezwitscher war rechts von ihm zu hören und von jenseits der Schlucht. Über ihren improvisierten Panzerungen trugen die Partisanen Tarnanzüge. Selbst mit Hilfe der Pfiffe war es Nathan nicht möglich, auch nur einen der Kämpfer auszumachen. Nathans Pfiff mitgerechnet hatte es sieben Bestätigungen gegeben.

In dieses Kreuzfeuer zu geraten wäre sicherlich tödlich.

Nathan ging noch einmal durch, was er während des Trainings gelernt hatte – kaum mehr als »Wenn was reflektiert, schieß ja nicht« und »Wenn du den Gegner sehen kannst, geh davon aus, dass er dich auch sehen kann«. Nathan hob das Lasergewehr an die Schulter. (Es hatte auch eine Trainingseinheit gegeben, wo man gezeigt bekam, wie man mit Improvisationstalent Bomben aus haushaltsüblichen Chemikalien herstellen konnte. Bomben herzustellen war für Nathan der blanke Horror gewesen. Er hatte alles darangesetzt, die Lektion dieser Trainingseinheit Theorie bleiben zu lassen. Seine Hände hatten so gezittert, dass andere die Bomben zusammengemischt hatten, die jetzt tief unten in der Schlucht verborgen lagen.) Durch das Zielfernrohr folgte Nathans Blick der Straße. »Straße« war eine Übertreibung. Eigentlich war da nämlich kaum mehr als ein Pfad, der sich durch das Felsgewirr am Grunde der Schlucht schlängelte. Wo die Straße im Dschungel verschwand, wiegten sich Beinahe-Bäume im Wind.

Die ersten Fahrzeuge tauchten auf: Zugmaschinen, Lastschweber, Pritschenwagen. Alles Zivilfahrzeuge. Menschen saßen dicht gedrängt auf den Ladeflächen oder hockten, eine bedenklich instabile Sitzposition, auf den Kanten der Pritschenseitenwände. Viele trotteten zu Fuß neben den Fahrzeugen her. Nur ein paar Minuten noch, und der Konvoi bewegte sich in den Canyon hinein. In die Falle.

Vögel folgten dem Konvoi hoch in der Luft, im gleißenden Sonnenlicht nur undeutlich zu erkennen. Ihre Anwesenheit hatte nichts zu bedeuten, zumindest vielleicht nicht.

In Nathans Augen waren es Geier.

Nathan maximierte den Vergrößerungsfaktor und sah mehr Frauen und Kinder als Männer im Konvoi. Ängstlich blickten alle immer wieder über die Schulter den Weg zurück, den sie gekommen waren. Nathan entdeckte ein paar Hunde und sogar ein Pferd mit einem Senkrücken. Hier und da sah Nathan jemanden ein Jagdgewehr umklammern. Aber das alles machte diese Menschen nicht zum Feind. Wer schon würde sich in diese Wildnis unbewaffnet hineinwagen?

Nathan zoomte noch näher heran und blickte in müde Gesichter. Die Hälfte der Erwachsenen wirkte alt. Boosterspice gab es im Überfluss, allerdings nur zu gepfefferten Preisen. Alt auszusehen bedeutete daher, arm zu sein. Die meisten Männer im Konvoi hatten einen Stoppelbart. Asymmetrische Barttracht, die eine Gesichtshälfte mit Spitzbart, die andere mit sorgfältig gestutztem Dreitagebart, sah Nathan nicht. Nur Wunderlands Aristokraten ließen sich mit dieser lächerlichen Bartmode sehen, eine Vorliebe, die viel Zeit beanspruchte und daher als Symbol für Müßiggang und ein Leben im Überfluss galt.

Das konnte nicht der Nachschub-Konvoi für die Garnison sein, von dem die Rede gewesen war. Nathan erwartete den Befehl zum Rückzug. Stattdessen kam von seiner Linken ein kurzes Trillern.

Auf mein Signal hin!

Schwachsinn! Das waren doch nur Zivilisten, Flüchtlinge, mehr nicht! Arme Bauern ihrem Aussehen und dem Aussehen ihrer Transportmittel nach. Warum, tanj noch mal, die in einen Hinterhalt locken? Nathan räusperte sich.

»Still!«, zischte Logan.

Zum ersten Mal, seit Nathan auf Wunderland gestrandet war, fragte er sich, ob die eine Seite wirklich besser war als die andere.

Lüg doch nicht!, schalt er sich. Okay, gut: zum zweiten Mal. Das erste Mal hatte ihn diese Frage beschäftigt, als zwei Partisanen eine aus den eigenen Reihen aus dem Lager hinaus in den Dschungel geführt hatten, eine Frau, das Gesicht von Blutergüssen übersät, die Abzeichen, die sie als Angehörige der Partisanen auswiesen, von der Uniformjacke gerissen. Nur die beiden Männer waren zurückgekommen. Mit grimmigen Gesichtern.

Nathan hatte es vorgezogen, sich einzureden, sie hätten die Frau fortgeschickt. Die Partisanen hatten ihn schließlich aus dem Wrack seines Schiffes gezogen, hatten ihn in aller Eile fortgeschafft, hatten ihn dem Zugriff des Staatsschutzes entzogen. Er schuldete den Partisanen alles, vom Hemd, das er auf dem Leib trug, bis hin zu seinem Leben.

Jetzt fragte er sich, ob er mit dieser Schuld würde leben wollen.

Während das Dröhnen der Motoren zunahm, dachte Nathan fieberhaft nach. An dem Gemetzel teilnehmen? Nie und nimmer! Danebenstehen, nichts tun und zusehen? War das vielleicht besser?

Es musste einen anderen Weg geben! Einen Warnschuss abgeben, um die Zivilisten unten vor dem Eingang zur Schlucht aufzuschrecken? Nein. Der Laserstrahl zwischen ihrem Standort unten auf der Ebene und seinem hier oben am Rand zur Canyonsteilwand würde auf ihn als Schützen zurückverweisen. Diese Frau, die damals im Dschungel vor dem Lager geblieben war … Nathan hatte eine recht klare Vorstellung davon, wie der Widerstand mit denen verführe, die mit der Gegenseite sympathisierten. Oder …

Höchstwahrscheinlich schaute keiner der Partisanen hoch hinauf in den Himmel. Nathan zielte mit dem Lauf himmelwärts und schoss. Der Gleitflug eines Vogels in der Schussbahn endete abrupt mit einem letzten Krächzer. Die Gravitation war hier nicht einmal halb so hoch wie die, an die Nathan gewöhnt war. Der Vogel, den es so ziemlich in zwei Teile zerlegt hatte, fiel daher in Zeitlupe vom Himmel.

Splatsch!, landete der Kadaver genau vor der Konvoispitze.

Die zu Fuß waren, machten kehrt und gaben Fersengeld. In Zickzacklinien rannten sie zurück in die Deckung der Bäume. Motoren heulten auf, Fahrzeuge legten den Rückwärtsgang ein oder wendeten auf der Straße. Vielleicht hatte Nathan ja doch ein paar Leben …

Ein Knall, metallisches Kreischen: Es hatte gekracht. Eine Zugmaschine und ein Lastwagen waren kollidiert und blockierten die Straße zurück in den Dschungel.

»Jetzt!«, brüllte Logan.

Hoch droben von beiden Steilwänden des Canyons aus eröffneten die Partisanen das Feuer. Laserstrahlen, lautlos tödlich, mähten drei Männer nieder, ehe unten am Fuß des Canyons jemand es bemerkte. Dann: Schreie. Fluchen. Noch mehr Flüchtlinge brachen zusammen. Chaos.

Es war ein Massaker, ein widerliches Abschlachten …

Plötzlich Bewegung hinter dem Gemetzel. Mit der lautlosen Effizienz und geschmeidigen Schnelligkeit eines Hais brachen drei Kampfluftschiffe mit Antigrav-Antrieben aus dem Dschungel, die Lautlosigkeit ihres Angriffs gespenstisch. Blutrot spieen Laserkanonen Feuer. Als die Kampfluftschiffe näher gekommen waren, eröffneten ihre Railguns das Feuer.

Die Partisanen setzten ihre beiden einzigen Boden-Luft-Raketen ein. Ein Treffer.

Mit stotterndem Antrieb zog eines der Kampfluftschiffe eine Rauchspur hinter sich her, schmierte ab, fiel und fiel … knallte, bumm!, gegen die Stirnseite des Canyons. Der Boden bebte. Auf der anderen Seite der Schlucht bestrichen zwei Partisanen den Gegner unablässig mit Feuer. Mut an, gesunder Menschenverstand aus (»Wenn du den Gegner sehen kannst, geh davon aus, dass er dich auch sehen kann«). Die beiden übrig gebliebenen Kampfluftschiffe feuerten ihre eigenen Raketen ab.

Niemand konnte deren Einschlag, gefolgt von ohrenbetäubenden Explosionen, überlebt haben.

»Rückzug!«, brüllte Logan.

Zumindest entschied Nathan, dem die Ohren klangen, dass das Logans Befehl gewesen sein musste. Er war schon dabei gewesen, sich von der Steilwandkante zurückzuziehen, rückwärts davon fortzukriechen. Nur weg von dem Abgrund und hinein in die rettende Deckung des Dschungels, tiefer hinein und so schnell wie möglich.

Er hatte für die Flüchtlinge getan, was er konnte. Der Gedanke bot wenig Trost.

Der Flüchtlingskonvoi war auf zweifache Art und Weise Köder gewesen. Die Miliz hatte die Zivilisten benutzt, um die Rebellen aus dem Dschungel zu locken, und die Partisanen, nicht weniger gewissenlos, hatten die Flüchtlinge angegriffen, um eine Aristo-Patrouille in Reichweite ihrer Waffen zu bringen.

Blam! Blam-blam! Das Dröhnen von Geschützen. Einschläge von Raketen.

Noch mehr Raketen. Die Druckwelle riss Nathan vom Boden und hoch in die Luft. Als er wieder unten aufschlug, war er benommen. Durch das Unterholz hindurch, im Gegenlicht der Explosionen, erkannte Nathan die Umrisse eines Gesichts. Es tauchte über ihm auf, mindestens zwei Meter über ihm. Wegen der niedrigen Gravitation waren die meisten Wunderländer ziemlich groß.

Einer der Partisanen. Cody irgendwas. War er hier, um Nathan zu helfen oder ihn umzubringen?

»Komm schon, Mann!«, knurrte Cody. Vielleicht hatte er nicht bemerkt, wie Nathan die Flüchtlinge gewarnt hatte. »Zeit, zu verschwinden!«

Nathan kämpfte sich auf die Füße. Im selben Moment schleuderte ihn die Druckwelle einer weiteren Explosion gegen einen Baumstamm. Nathans linker Arm und ein paar Rippen brachen. Etwas Geschmolzenes war auf seinen Tarnanzug gespritzt. Jetzt fraß es sich durch den Stoff und durch die Panzerweste. Das Brüllen der Railguns verschluckte Nathans Schmerzensschrei.

Cody sprühte Erste-Hilfe-Schaum über das klaffende Loch in Nathans Weste. Augenblicklich wurde Nathans ganze Körperseite taub. Der Wunderländer half ihm hoch. Gemeinsam taumelten sie in den Dschungel hinein.

Ein gelbes Oval leuchtete vom schräg abfallenden Dach herunter. Keine Sonne, kam Nathan ganz allmählich zu dem Schluss. Das Leuchten einer Lampe, reflektiert von … ja, von was? Wie lange starrte er schon in das Licht, und warum war er so benommen und alles verschwommen?

Nathan blickte sich um. Er lag flach auf dem Rücken. Auf einem schmalen Feldbett. Es war eines unter vielen. Die meisten Feldbetten waren belegt, meist von Kämpfern mit blutigen Verbänden. Nathan erinnerte sich daran, dass es im Dschungel seltsam still gewesen war. Jetzt stand diese zweifelhafte Ehre diesem hier zu, diesem …?

Erstversorgungslazarett, ging ihm auf. In einer verfurzten Höhle. Ein Erdzeitalter später fand er den Grund heraus: Körperwärme. Auf jedes Lager dieser Größe in der Wildnis könnten sich Spionage-Satelliten mühelos einschießen.

Nathan konnte sich nicht daran erinnern, wie er hierhergekommen war. Cody musste ihn also bis hierher geschleppt haben.

Hatte sonst noch jemand von der Partisanengruppe es geschafft? Nathan setzte sich auf. So hätte er einen besseren Überblick über die anderen Feldbetten. Er bemerkte den Gips, ehe er den gebrochenen Arm belastet hatte.

Aber er hatte die Rippenbrüche und die Verbrennungen vergessen. Er keuchte auf. Die Einzige, die aufrecht stand – vielleicht eine Militärärztin oder Sanitäterin? –, war gerade damit beschäftigt, eine Infusion schneller zu stellen. Sie wandte den Kopf in Nathans Richtung. »Bin gleich bei Ihnen, Soldat.«

Infusion. Gipsverband. Blutige tanj Verbände! Obwohl in seinem Kopf nichts als Nebel herrschte, ging Nathan förmlich ein Licht auf: Das war ja geradezu archaisch! Er sollte schlafen, sich seiner nicht bewusst sein, in einem computergesteuerten Kokon liegen, der dazu bestimmt war, Verletzungen zu heilen. Aber verfügten die Partisanen denn überhaupt über Autodocs? Nathan konnte sich nicht daran erinnern, welche bei ihnen gesehen zu haben.

Er hatte sich ganz passabel gefühlt. Bis er sich aufgesetzt hatte. Jetzt war alles, was er fühlte, ein dumpfes Pochen in der verletzten Seite. Schmerz war so … archaisch. Finagle! Nathan musste sich eingestehen, dass er vergessen hatte, ab wann Autodocs flächendeckend in Gebrauch gekommen waren. Das war lange vor seiner Zeit gewesen, und er war einhundertunddreißig Jahre alt. Er wusste nicht, wie man mit Schmerzen umging. Niemand in seiner Generation wusste das noch. In seinem Kopf drehte sich alles, und seine Atmung raste …

»Schön langsam!« Die Ärztin, deren schweißnasses Haar zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt war, fing Nathan auf, als er wankte und zu stürzen drohte. Sie half ihm, sich wieder hinzulegen. Sie spritzte etwas in den Infusionsbeutel. »Das ist ein bisschen was gegen die Schmerzen.«

»Warten Sie!«, sagte er, einen Augenblick zu spät. Vielleicht war die zu langsame Reaktion kein Versehen. Die erste Welle des schmerzstillenden Mittels brachte Erleichterung. Es fühlte sich in vertrauter Weise herrlich an. »Wie viel von dem Zeug hab ich schon …«

Er dämmerte weg, ehe er die Frage beenden konnte.

Überall im von Menschen besiedelten Weltraum verachtete man Wunderlands Aristokraten. Eine Blockade zu durchbrechen, um medizinische Versorgungsgüter zu den Freiheitskämpfern zu bringen, war ein nobles Unterfangen. Die Blockade zu durchbrechen, um medizinische Versorgungsgüter zu verkaufen? Nun, das nahm dem Blockadebrecher etwas von seinem edlen Glanz. Aber es diente immer noch der gerechten Sache.

Oder etwa nicht?

Die Dinge waren, aus der Nähe betrachtet, lange nicht mehr nur schwarz oder weiß. Wunderlands Bürgerkrieg war wie alle Bürgerkriege eine hässliche Sache. Er entzweite Familien. Es gab kein Pardon für die jeweilige Gegenseite, und niemand erwartete Pardon. Es gab keine Zivilisten in einem Bürgerkrieg wie diesem, keine Unschuldigen, keine neutralen Parteien. Im Zweifel zu jemandes Gunsten zu entscheiden war ein seltenes Handelsgut …

Ein nicht vorhandenes Handelsgut, wenn man erst einmal seine eigene DNA in einem abgestürzten Blockadebrecher verspritzt hatte.

Durch den Schleier aus Schmerzmitteln hindurch versuchte Nathan, sich einen Reim auf die Dinge zu machen.

Eigentlich hatte er sich nicht in die Welt aufgemacht, um Schmuggler zu werden. Nun, er hatte auch nicht Meisterkoch, Mechaniker, Pilot oder irgendetwas von dem werden wollen, was er sonst noch unter beruflicher Erfahrung in seinem Lebenslauf verbuchen konnte. Keine Karriere, kein Hobby, keine Ehe konnte ein Jahrhundert überdauern. Er hatte ehrliche, wenn auch käufliche Absichten gehabt, als er eine Beteiligung an der Schiffsladung Medikamente erworben hatte. Besatzungsmitglied der Clementine zu werden war einfach nur eine vernünftige Entscheidung gewesen. Nathan hatte damit seine Kapitalanlage sichern wollen, nichts als seine Interessen gewahrt.

Damit hatte er sich nur etwas vorgemacht, klar.

Eine Flucht vor der langweiligen Routine, in die sich ein weiterer Beruf samt dazugehörender Laufbahn verwandelt hatte? Sicher doch. Eine Möglichkeit darüber hinwegzukommen, dass Paula Cherenkov ihn hatte fallen lassen? Richtig, auch das hatte das Blockadebrechen versprochen.

Während Nathan in den Nebel des Vergessens eintauchte, stellte er sich der bitteren Wahrheit. Er war – immer noch – auf der Flucht vor Dämonen, die aus einer weitaus länger zurückliegenden Vergangenheit stammten.

2

Die Spur war schon seit geraumer Zeit kalt.

Kalte Spur: eine Raubtier-Metapher. Eine Menschen-Metapher. Nessus war weder das eine noch das andere.

»Nessus‹ war ein Name, der aus Gründen der Praktikabilität und Bequemlichkeit gewählt worden war: ein Name, den Menschen aussprechen konnten. Nessus’ tatsächlicher Name klang, hatte man genügend Stimmband-Paare, um ihn richtig auszusprechen, in etwa wie ein Arbeitsunfall, in Walzertakt gesetzt. So hatte zumindest einmal ein Mensch den Klang beschrieben. Vor langer, langer Zeit …

Die Menschen hatten Nessus’ Spezies den Namen »Puppenspieler« gegeben, ein Jahrhundert bevor diese sich aus dem von Menschen besiedelten Weltraum zurückgezogen hatte. Sehr viel häufiger, als Menschen es bemerkt hatten, waren einige wenige Puppenspieler zurückgekehrt. Die Galaxis nämlich war ein gefährlicher Ort, und Menschen eigneten sich hervorragend als Kanonenfutter.

Kanonenfutter: wieder eine Menschen-Metapher. Nessus hatte einen großen Teil seines Lebens unter Menschen verbracht, und das, obwohl selbst ein einziger unter Fremdweltlern verbrachter Tag ein schlechtes Licht auf ihn warf. Kein vernunftbegabtes, geistig gesundes Wesen verließ Hearth und sonderte sich aus freien Stücken von der Herde ab. Indem Nessus auch nur einen Huf auf Wunderland setzte, stellte er unter Beweis, dass er definitionsgemäß geistig nicht gesund war.

Nessus hatte gelernt, den Verlust seiner geistigen Gesundheit hinzunehmen. In welch hohem Maße er dem Wahnsinn verfallen war, zeigte sich allein schon dadurch, dass er mit der Zeit gelernt hatte, Menschen zu mögen.

Vielleicht war Wahnsinn das einzige Mittel, um die Katastrophe abzuwenden, die jene Billionen und mehr bedrohte, die Nessus zurückgelassen hatte – Wahnsinn und ein mit Umsicht ausgewählter menschlicher Agent.

Nathan ging die Gänge des Lazaretts entlang, hinauf und hinunter. Er leerte Bettpfannen, prüfte routinemäßig medizinische Daten, verteilte Wasser und gab Medikamente aus. Seine Pflichten lenkten ihn von dem Spannungsgefühl ab, das seine ganze verletzte Seite durchzog, dort, wo die Verbrennungen nur schlecht verheilten. So war er mit anderem beschäftigt, und sein Gewissen war auch beruhigt. Diese Arbeit sicherte ihm die Gunst der Widerstandsbewegung, ohne dass er jemanden zu töten brauchte.

»He, Big Nate!«

Weil Nathan der Einzige war, der aufrecht stand, war er hier größer als die Riesenkerle, die Wunderland sonst so hervorbrachte. Man nahm die Unbilden des Lebens gerade in einer Umgebung wie dieser, sofern irgend möglich, mit Humor. »Hi, Terry, wie geht’s denn so heute?«

Ein Hustenanfall, jedes mühevolle Husten klang verschleimt – Wasser in der Lunge. »Ganz großartig, Big Nate, einfach ganz großartig. Sieht man das nicht?«

Nathan klopfte dem Mann auf die Schulter und ging zum nächsten Feldbett. Hier erwartete ihn eine Patientin. Nathan stellte einen Henkelkrug Wasser neben die Bettstatt. »Wie geht’s dir denn, Maeve?«

»Sag du’s mir!«, erwiderte Maeve. Ihre Gesichtszüge wirkten streng, hart, ganz so, als wäre ihr Gesicht erstarrt, als sie gerade finster dreinblickte. War natürlich nur eine Vermutung. Sie hatte allerdings auch wenig Grund zu lächeln.

Nathan schwang den Scanner über ihren Körper. Anzeigen leuchteten auf, das meiste in Grün. Er scrollte weiter. Noch mehr Grün. »Ich bin kein Arzt. Aber ich glaube, du kommst schon bald hier raus.« Mit nur noch einer Niere.

»Ah-ha«, machte sie. »Ich könnte mal wieder was brauchen.«

Hatte sie nicht zugehört? Sicher doch! Die so genannten Ärzte hier konnten kaum die Hälfte der Patienten bewältigen, die sie hier zu behandeln hatten. Also pumpten sie sie bis Oberkante Unterlippe mit Betäubungsmitteln voll. »Noch ’n bisschen zu früh«, log Nathan. Du willst doch nicht enden wie ich.

Und je weniger Schmerzmittel ich ausgebe, desto mehr bleiben für mich selbst.

Bei seiner Entlassung hatte Nathan schon am Haken gehangen. Hier, in einem Lazarett, saß er praktisch an der Quelle: Betäubungsmittel, wo man hinblickte. Ironie des Schicksals: die meisten Medikamente, die hier eingesetzt wurden, hatte man aus der Clementine geborgen. Nathan hatte die Seriennummern auf den Packungen wiedererkannt. Drogen – was waren Schmerzmittel sonst? – flossen aus den Beständen staatlicher Stellen auf den Schwarzmarkt und von dort zur Widerstandsbewegung. Wenn beide Seiten es schafften, miteinander Handel zu treiben, warum tanj noch mal schafften sie es dann nicht, miteinander zu reden?

Maeve packte Nathan am Ärmel. »Es ist nicht zu früh, Nathan. Ich habe die Zeit im Auge behalten.«

»Netter Versuch.« Nathan streckte den Arm aus. Jahre zuvor und Lichtjahre entfernt, als er, was finanzielle Mittel anging, noch flüssig gewesen war, hatte er sich ein Handgelenksimplantat geleistet. Zeitanzeige, Taschenrechnerfunktion, Kompass und noch das eine oder andere Nützliche … Das Implantat war – was für eine Schande! – das Wertvollste, was er noch besaß. Für seine Drogenrationen hätte er es sofort verkauft. Leider aber gab es hier niemanden, der die chirurgischen Fähigkeiten besessen hätte, um es voll funktionstüchtig aus seinem Handgelenk zu entfernen.

Zweifelnd blickte Maeve auf Nathans Handgelenk. Sie konnte ja nicht wissen, dass er die Zeitanzeige verstellt hatte und die Uhr jetzt nachging. Es war ein erbärmlicher Trick, und Nathan schämte sich dafür – noch mehr allerdings des eigentlichen Grundes wegen. »Dann seh ich dich halt ein bisschen später«, meinte Maeve.

»Genau.« Nathan trat an das nächste Feldbett. »Und wie fühlst du dich, Richard?«

Am Ende seiner Schicht zitterten Nathan die Hände. Er hasste sich dafür und schlüpfte doch hinaus und in den Schutz des dichten Gebüschs gleich außerhalb der Höhle. In Guerilla-Lagern gab es nur wenig Privatsphäre, wie Nathan hatte herausfinden müssen. Manche nutzten das Dickicht des Unterholzes für ein bisschen schnellen Sex.

Ein Stelldichein aber war nicht Nathans Ziel. Während seiner letzten Schicht hatte er drei Schmerztabletten abzweigen können. Zwei davon steckte er sich jetzt in den Mund.

Die Nacht war mild, die Luft hier draußen nicht von Antiseptika und Angst geschwängert. Nathan stieß tiefer in die Wildnis vor und legte sich unter einen blühenden Busch. Er ließ sich treiben …

Nathans Kindheitserinnerungen waren vor langer Zeit mit solcher Vehemenz unterdrückt worden, dass er nicht erwartete, je wieder alle abrufen zu können. Aber immer wieder kam es zu Rückblenden, die unerwartet aufblitzten: in Träumen, während Therapiesitzungen …

Unter Drogeneinfluss.

Gerade eingeschlafen. In seinem eigenen Bett, in seinem eigenen Zimmer. Seine Eltern waren die ganze Woche über schon so seltsam gewesen. Ängstlich vielleicht? Er hatte es nicht verstanden. Auch seine Schwester wusste damit nichts anzufangen, und sie war immerhin fast sechs. Normalerweise verstand sie immer alles.

Aufgewacht in … tja, wo, wusste er nicht. Nicht in seinem Bett. Nicht in seinem Zimmer. Nicht in seinem Zuhause. Aufstehen, sich den Schlaf aus den Augen reiben und hinüber zum Fenster, einen Blick hinauswerfen. Nichts war ihm vertraut.

Mommy und Daddy, einfach weg. Ein Freund von ihnen war da, blickte richtig traurig drein. »Ich bin euer Vater«, wiederholte er endlos. Und er nannte sie auch immer wieder Nathan und Tweena – er bat sie, flehte sie an, bestand darauf und brüllte schließlich, um ihr Protestgeheul zu übertönen. Alle heulten, die Gesichter tränennass. »Das sind jetzt eure Namen. Ihr müsst sie behalten. Zu eurer eigenen Sicherheit.«

Hausarrest in dem neuen Haus, bis sie mehr noch als ihre neuen Namen herunterbeten konnten, ohne sich zu verhaspeln oder zu zögern. Und ohne zu weinen.

Gerade rechtzeitig waren sie wieder da, Nathans richtige Eltern. Und wie sie sich verändert hatten! Mommy, die immer so lustig und sorglos gewesen war, wirkte – Nathan brauchte lange, um ihrem Blick, ihrem Gesichtsausdruck einen Namen geben zu können – gehetzt, verfolgt. Mommy weinte jetzt über die seltsamsten Dinge, als ob die Farbe des Himmels oder die Länge eines Tages falsch sein könnten. Aber Erster Vater hatte sich am meisten verändert. Er, der früher alle anderen überragt hatte, war irgendwie auf Mommys Größe geschrumpft.

Zu diesem Zeitpunkt war Nathan schon alt genug, um zu bemerken, wessen Haut einen Bronzeton und wer Schlitzaugen hatte. Tweena und er hatte bronzefarbene Haut und Schlitzaugen. Neuer Vater auch. Mommy und Erster Vater, der unglaublich geschrumpfte Mann, nicht.

Die alten und die neuen Eltern redeten über andere Zeiten und andere Orte, wenn sie glaubten, niemand könne sie hören. Über wundersame Abenteuer. Über böse Menschen, teuflische Widersacher. Über unerbittliche Mächte, die hinter ihnen allen her waren. Schwarze Löcher und Raumpiraten gehörten irgendwie zu ihrem ganz normalen Erfahrungsschatz. Nathan nahm seinen ganzen Mut zusammen – da war er etwa zehn. Er hatte die neuen und die alten Eltern gefragt: Wer waren sie in Wirklichkeit? Die einzige Antwort war betretenes Schweigen gewesen; Mommy hatte erschrocken ausgesehen.

Sobald Nathan konnte, war er davongelaufen.

Der Wirbelsturm aus Erinnerungen flaute ab, endete.

Nathan trat aus Zweig- und Astgewirr des Unterholzes hinaus in brutal unverblümte Klarheit. Er war ein Junkie, ein Flüchtling und obendrein pleite. Alles, was er an Geld ein Leben lang zurückgelegt und zusammengehalten hatte, war in einem Flammenball aus dem Himmel gestürzt und zerschellt. Er saß auf Wunderland fest. In der Falle. Wenn die Aristos ihn gefangen nähmen, wäre das Beste, was er sich erhoffen könnte, Jahre schwerer körperlicher Arbeit in einem Umerziehungslager.

Die Abenteuer von Erstem Vater endeten im Allgemeinen in Triumph – und gegen jede, auch seine eigene Vernunft, glaubte Nathan die hinter vorgehaltener Hand geflüsterten, von einem Zehnjährigen belauschten Andeutungen.

Er fragte sich, ob er je Erstem Vater gerecht werden könnte.

Der Mensch kauerte zusammengesunken hinter der durchsichtigen Wand. Die Deckenhöhe, nicht etwa Angst, machte diese Haltung nötig. Denn Nessus hatte die Isolationszelle nach auf der Erde üblichen Standards konstruiert. Er hatte schlicht vergessen, wie groß Wunderländer waren.

»Das ist ungeheuerlich!«, schnaubte der Mann, das Gesicht hochrot vor Zorn. Er drehte sich in der engen zylindrischen Zelle einmal komplett um seine eigene Achse, auf der Suche nach einem Ein- beziehungsweise Ausgang oder nach einem Gegenüber, auf den er sich zumindest verbal würde einschießen können. Beides fand er nicht. Daraufhin tippte er wild auf seinem Taschencomputer herum und fluchte, als er entdeckte, dass der Funk gestört war und sich keinerlei Verbindung aufbauen ließ. Frustriert ließ er das Gerät wieder dort verschwinden, wo er es hergeholt hatte. Das Einzige, was er hinter der Zellenwand gut auszumachen verstand, war ein mannshoher Standspiegel. Empört stierte der Wunderländer sein Spiegelbild an. »Lassen Sie mich augenblicklich frei!«

»Alles zu seiner Zeit«, entgegnete Nessus hinter dem Einwegspiegel. Er sprach Interspeak fließend und mit lasziv rauchiger Altstimme. Ohne jede Schwierigkeit hätte er auch wie ein kräftiger, stämmiger Menschenmann klingen können – oder, wenn er wollte, wie ein Streichquartett. Selbstredend war es kein Zufall, dass Nessus diese Stimm- und Tonlage gewählt hatte. Menschenfrauen fassten schnell Vertrauen zu dieser Stimme, und bei Männern weckte sie reflexhaft erotische Gelüste. Beides verschaffte Nessus einen Vorteil. »Ich muss mich für die fehlende Kopffreiheit entschuldigen. Bitte setzen Sie sich doch!«

Der Wunderländer bleib stehen, trotz der gebeugten Haltung unbeugsam in seiner Arroganz. Seine Uniform, überladen mit Orden und Abzeichen, Paspeln und Epauletten, hätte einer Gilbert-und-Sullivan-Operette alle Ehre gemacht. Er schob das Kinn vor, und die Spitze seines Aristokratenbartes hinterließ eine Wachsspur auf der durchsichtigen Röhrenwand. »Ich verlange, sofort auf freien Fuß gesetzt zu werden!«

»Major Buchanan, Sie sind nicht in der Position, etwas zu verlangen!« Nessus wartete, bis diese Information bei seinem Gegenüber Wirkung zeigte. »Nichtsdestotrotz werde ich Sie wieder freilassen. Sobald wir fertig sind, selbstverständlich.«

»Drecksau!«, knurrte Buchanan. »Sie werden kein Wort aus mir herausbekommen!«

Doch, werde ich, dachte Nessus. Das war ja schließlich nicht seine erste Entführung. »Sie dürften begriffen haben, dass ich Sie zwischen zwei Transferkabinen abgefangen habe. Dennoch sind Sie bisher mit keinem Wort darauf eingegangen.« Das bedeutete, dass die Behörden der Menschen hier inzwischen in der Lage waren, auf ähnliche Weise Transfers abzufangen. Die Aufständischen würden das Transportsystem also meiden. Das könnte erklären, warum Nessus seine eigentliche Zielperson noch nicht hatte lokalisieren können.

Oder aber der Gesuchte hatte sich auf eine gänzlich andere Welt begeben, und die Spur wurde kälter und kälter …

Nessus erstickte den aufkeimenden Pessimismus. »Sie gehen davon aus, dass mein Intervenieren einen Alarm im System ausgelöst hat. Sie sind sich sicher, dass bereits eine Systemdiagnose läuft und der Staatsschutz«, in dessen Getriebe Buchanan ein Rädchen auf mittlerer Ebene war, »diese Zelle lokalisieren und mir dann die Tür eintreten wird. Nichts dergleichen wird passieren.«

Buchanan zog ein finsteres Gesicht, sagte aber nichts.

»Tatsächlich aber«, fuhr Nessus mit einer Selbstsicherheit fort, die er nicht verspürte, »war das Letzte, was das Transferkabinen-System aufgezeichnet hat, dass es Sie heute Abend nach Hause teleportiert hat. Wenn Sie jemand vermisst – morgen vielleicht? – und nach Ihnen sucht, wird man glauben, Sie hätten Ihr Haus durch die Eingangstür verlassen.«

Erste Schweißperlen sammelten sich auf Buchanans Stirn. Er blickte sich um. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass seine Zelle keine gewöhnliche Transferkabine war. »Warum bin ich hier?«, fragte er.

In ausreichendem Maße endlich doch ein Einlenken: Buchanan würde tatsächlich kooperieren.

Viele Male und auf unzähligen Welten hatte Nessus Informationen, die er brauchte, jenen abjagen müssen, die sie ihm verweigert hatten. Der jetzige Beutezug in den von Menschen bewohnten Weltraum war da keine Ausnahme. Nessus brauchte die Informationen so dringend wie immer – und die Methode, sie zu erlangen, war ihm so zuwider wie immer. Aber wie immer funktionierte sie. Die Spur, auf die ihn die erlangten Informationen geführt hatten, hatte ihn von Home nach Fafnir, dann zur Erde und schließlich hierher nach Wunderland geführt.

Mit jedem Tag, den Nessus fort von Hearth und der Herde war, wuchs der Druck, der auf ihm lastete.

Sicher gäbe es etwas, was Buchanans Kooperationsbereitschaft zu stimulieren vermochte. Gewaltandrohung? Bestechung? Arglistige Täuschung? Eines davon wäre das Mittel der Wahl, nur wusste Nessus nicht, welches. Noch nicht. Er wusste allerdings, dass seine manische Phase nicht mehr lange anhalten würde. Katatonie, die Seele und Geist zu heilen vermochte, würde über ihn kommen, und zwar eher früher als später.

Er brauchte Antworten, und er brauchte sie jetzt.

Bestechung funktionierte. Ehe Nessus Buchanan, der jetzt mächtig ins Schwitzen kam, zurück in seine Wohnstatt transferierte, kannte er die Identität aller Gangsterbosse Wunderlands. Zudem besaß er genügend Hinweise darauf, wie er Kontakt zu ihnen herstellen konnte.

Wenn Nathan Graynor tatsächlich nach Wunderland gekommen war, sollte das im kriminellen Untergrund jemand wissen.

3

Nathan schlenderte müde auf die Höhle zu und passierte die Wachen rechts und links davon. Er nickte ihnen zu. Der Strom der Verwundeten, die in das Höhlenlazarett gebracht wurden, riss nie ab, und Nathan war erschöpft. Aber um den nötigen Schlaf zu finden, musste er erst eine Pille einwerfen. Pillen.

Er ging an dem Dickicht für Quickies vorbei (offenkundig, da bestens zu hören, von einem Pärchen belegt) und drang tiefer in den Dschungel ein. Nathan hatte gerade noch so viel Selbstachtung im Leib, dass er nicht gesehen werden wollte, wenn er sich von seiner schlimmsten Seite zeigte: wie er, im Tausch für ein paar Pillen mehr, Silverman, der den Schwarzmarkt im Lager belieferte, mit Gerüchten fütterte.

Nathan nahm den üblichen Weg durch den Dschungel. Dieses Mal fragte er sich ernsthaft, ob nicht vielleicht heute die Nacht wäre, in der ihn die Randzonen-Patrouille über den Haufen schösse. Beide Sonnen waren bereits untergegangen, und Dunkelheit senkte sich über den Dschungel. Bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, bewegte sich Nathan nur mit äußerster Vorsicht und daher langsam die Anhöhe hinunter und auf den Treffpunkt mit Silverman zu: einen massigen Granitblock auf einer Lichtung, die ein von der üppigen Vegetation fast verschluckter Fluss in zwei Teile teilte. »Ich bin’s, Big Nate«, wisperte er. Der Spitzname, den ihm die Patienten verpasst hatten, war an ihm hängen geblieben. »Hab erst spät von der Schicht weggekonnt.«

Aber das da neben dem Granitblock war nicht Silverman. Nathan erstarrte.

»Nicht näher kommen!«, warnte die Kreatur mit einer absolut deplatziert wirkenden sexy Frauenstimme.

Ein Schauder lief Nathan den Rücken hinunter. Er wusste, was das da vor ihm für ein Geschöpf war … oder nicht?

Die Kreatur war etwa so groß wie Nathan, aber damit endete auch schon jede Ähnlichkeit mit einem Menschen. Der Alien stand auf drei Beinen, zwei Vorder- und ein Hinterbein, das erstaunlich viele Gelenke besaß. Er trug einen breite Schärpe, an der viele Taschen baumelten. Zwei winzige Köpfe saßen auf langen, beweglichen, weil biegsamen Hälsen. Jeder der abgeflachten, dreieckig wirkenden Köpfe hatte einen Mund, ein Ohr und ein Auge. Der Rumpf (von blasser Farbe, aber beim herrschenden Sternenlicht hätte Nathan, was Farben anging, sowieso nur raten können) erinnerte vage an einen flügellosen, federlosen Strauß. Fast ganz versteckt unter einer dichten Mähne, die zu nicht sonderlich ordentlichen Zöpfen geflochten war, saß ein massiger Buckel zwischen den breiten Schultern des Aliens. Jedenfalls entschied Nathan sich dafür, die Muskelpakete dort, wo die Hälse aus dem Rumpf wuchsen, für Schultern zu halten. Denn die Hälse und Münder hatten eine Doppelfunktion: Sie waren augenscheinlich zugleich auch Hände und Arme der Kreatur. Dieses Zusammenspiel aus Kopf und Hals erinnerte Nathan albernerweise an Handpuppen aus Socken …

Und ganz plötzlich wusste Nathan, was für eine sonderbare Lebensform er vor sich hatte. Fast war sogar sein dringendes Verlangen nach Drogen vergessen. »Sie … Sie sind ein Puppenspieler!«

Zwei Köpfe wandten sich einander zu, und kurz blickte der Alien sich selbst in die Augen. »Man nennt uns häufig so, ja. Ich bin Nessus.«

Puppenspieler! Nathan hatte sich während seiner Schulzeit ausführlich mit dieser Spezies beschäftigt. Im Bekannten Weltraum war man immer nur in begrenzter Zahl auf sie gestoßen. Die genaue Position ihrer Welten im All war ein Geheimnis. Einst hatte ihr Handelsimperium den ganzen interstellaren Markt kontrolliert. Dann, nur ein paar Jahre vor Nathans Geburt, waren sämtliche Puppenspieler aus dem Bekannten Weltraum verschwunden.

Und dennoch stand hier und jetzt vor ihm ein Angehöriger genau dieser absonderlichen Spezies …

Nathan sagte: »Ich dachte, die Puppenspieler wären auf der Flucht vor der Explosion des galaktischen Zentrums«, einer Kettenreaktion von Supernovae. Die Strahlung würde alles Leben in diesem Teil der Galaxis auslöschen. In zwanzigtausend Jahren oder so. Puppenspieler aber konnten nicht vorsichtig genug sein.

»Die meisten von uns sind in der Tat auf der Flucht. Aber manch einer hat hier noch das eine oder andere zu erledigen.«

So wie ich. Vor Verlangen nach der nächsten Dosis Drogen kribbelte Nathans Haut. »Ich hatte erwartet, hier einen … Menschen zu treffen.«

Die beiden Köpfe des Puppenspielers hüpften in gegenläufiger Bewegung auf/ab, ab/auf. »Die kriminellen Elemente dieses Planeten waren bei meinen Nachforschungen sehr hilfreich. Man hat mir die entsprechenden Hinweise zukommen lassen, um Sie aufzuspüren.«

Nathan zitterte. Dieses Zittern hatte nichts mit dem Verlangen nach der nächsten Pille zu tun. »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln!«

Wieder sah Nessus sich selbst in die Augen. »Nein, das ist keine Verwechselung, Nathan Graynor. Die Leistungen Ihres Stiefvaters sind legendär. Ich bedarf, wie ich gestehen muss, seiner Fähigkeiten. Da ich ihn nicht finden konnte, kam ich zu Ihnen.«

Augenblicklich zitterten Nathans Hände unkontrollierbar. Er versenkte sie in den Taschen seines Overalls. Er war vielleicht acht gewesen, nicht viel älter jedenfalls, als er seine Väter bei einem Gespräch über Puppenspieler belauscht hatte. Sie hatten nicht gewusst, dass er hinter dem Sofa gewesen war. Jedes Wort war mit Bedacht gewählt gewesen und für Nathan vollkommen undurchschaubar geblieben. Es hatte keine zusammenhängende Geschichte gegeben, keinen Kontext, in den sich das Gesagte hätte einordnen lassen, stattdessen nur Andeutungen und versteckte Hinweise.

Einzig und allein die Lehre aus dem ganzen Gerede war unmissverständlich und glasklar gewesen: Puppenspieler stehen zu einmal geschlossenen Verträgen; aber meistens bekommt man das Kleingedruckte nicht rechtzeitig zu Gesicht.

Als ob man ein Geschäft mit dem Teufel abschlösse.

»Wir haben nicht viel Zeit«, mahnte Nessus. Auch er zitterte. »Helfen Sie mir, Ihren Stiefvater zu finden, und ich hole Sie von diesem Planeten runter, der völlig zu Unrecht Wunderland heißt.«

Was, wenn Nathan das Angebot nicht annähme?

Egal, ob Nessus es beabsichtigt hatte oder nicht: Er hatte den »kriminellen Elementen« ausreichend Grund zu dem Verdacht gegeben, Nathan könnte wichtig sein – womit sie ja auch durchaus richtiglagen.

Ein lebender Blockadebrecher, an dem man ein Exempel statuieren könnte? Die Aristos würden nichts lieber tun! Sicher bohrte Silverman bereits jetzt, in diesem Augenblick, nach Informationen darüber, wie es Nathan in genau dieses Lazarett-Lager der Widerstandsbewegung verschlagen hatte. Wie lange würde es dann wohl noch dauern, bis besagter Silverman Nathan an den Staatsschutz verkaufte?

Nur darüber nachzudenken war schon schrecklich genug. »Wie sind Sie an den Patrouillen vorbeigekommen, Nessus?«

Ein Hals beugte sich tief hinunter und machte sich steif und gerade: Er zeigte auf etwas auf dem Boden. Nathan bemerkte eine dünne Scheibe auf dem festgetretenen, verdichteten Erdreich des Trampelpfades. Der Puppenspieler stand auf eben dieser Scheibe, nicht etwa auf dem Pfad selbst.

Nessus erklärte: »Diese Scheibe und eine weitere haben mich direkt hierher gebracht. Stellen Sie sich die Scheiben einfach als Transferkabinen vor! Solche, die sich nicht aufspüren und auch nicht nachverfolgen lassen, selbstverständlich.«

»Einer Ihrer … Helfershelfer hat das Ding hierher gebracht?« Wer könnte besser etwas in ein Lager der Widerstandsbewegung schmuggeln als Schwarzmarkthändler?

»Gegen eine beachtliche Gebühr, ja.«

Die Geschichtsschreibung kannte Puppenspieler nur als Feiglinge. Nathan zweifelte keinen Augenblick an der Richtigkeit dieser Aussage. Wer außer Feiglingen würde schon vor einer Gefahr flüchten, vor deren Eintreten noch zwanzigtausend Jahre vergingen? Aber Feigheit gehörte unter Puppenspielern zur Lebensart und war daher keine Beleidigung. Was galt dann wohl für das Gegenteil von Feigheit?

Nathan sagte: »Den kriminellen Elementen hier zu vertrauen, um sich in ein bewachtes Armeelager hineinzuschleichen – verzeihen Sie meine Offenheit, Nessus –, das war so mutig, dass es schon an Geistesgestörtheit grenzt!«

»Wenn ich geistig gesund wäre, hätte ich meine Heimatwelt nie verlassen.« Mit dem einen Mund zupfte Nessus an den Zöpfen seiner Mähne. »Aber nicht einmal der Geistesgestörteste unter uns ist in der Lage, es auf einer fremden Welt lange auszuhalten. Also, entscheiden Sie sich bitte gleich! Wollen Sie mir helfen? Sind Sie dabei?«

Die Aristos wären den Rest seines Lebens hinter Nathan her, und er sah keinen Weg, den Planeten zu verlassen. Selbstverständlich wollte er dabei sein! Der Haken an der Sache war nur, dass Nathan keine Ahnung hatte, wo sein Vater war. Und zwar egal, welcher seiner beiden Väter. Seit Jahrzehnten hatte Nathan keinen Kontakt mehr zu seiner Familie.

Und wenn er es wüsste? So sehr er seinen Eltern das Versteckspiel, das seine Kindheit überschattet hatte, übel nahm, ja, so sehr er sie manchmal sogar hasste, sie hatten sich nicht ohne Grund versteckt. Er würde sie an niemanden verkaufen. Ganz sicher nicht an einen geistesgestörten Alien.

»Wahrscheinlich wissen Sie es dann gar nicht«, sagte Nathan also. »Es hat da diesen Unfall gegeben, ein paar Jahre nachdem ich Home verlassen hatte. Alle sind tot.«

Nessus steckte einen Kopf tief in die Mähne. Mit den Lippen zupfte er geradezu zwanghaft an den Zöpfen herum; krampfhaft zuckte der Hals.

Der Puppenspieler war verängstigt, ja, in Panik! Die Panik mochte sich daraus erklären, dass er sich auf einem fremden Planeten befand, allein unter Fremdwesen, ihnen schutzlos ausgeliefert, und dass angesichts dessen sein manischer Mut verebbte. Nathan jedoch glaubte mehr hinter dieser Panik zu spüren.

Wer zum Finagle waren seine Eltern denn? Was hatten sie getan? Was hatte sie dazu gebracht, ihre eigenen Kinder im Stich zu lassen? Vor wem versteckten sie sich? Und welche Dienste zu leisten waren seine Eltern möglicherweise imstande, die einen Puppenspieler aus seinem Versteck zu locken in der Lage waren?

Schaudernd zog Nessus den Kopf wieder aus der schützenden Mähne. Er reckte beide Hälse, beide Köpfe hoch und blickte Nathan aus den Augen, je eines pro Kopf, direkt ins Gesicht. »Nehmen Sie seinen Platz ein!«

Nathan blinzelte. »Um was zu tun?«

»Es könnte gefährlich werden«, meinte Nessus. Mit dem Huf eines Vorderbeins scharrte er über die Scheibe. »Man wird Sie großzügig entlohnen, für alles entschädigen. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen.«

Gefährlicher, als sich auf einem Planeten mitten im Bürgerkrieg herumzutreiben? »Wie großzügig?«

»Ausreisemöglichkeit von diesem Planeten. Ihrem Erfolg angemessene Vermögenswerte. Und, bitte entschuldigen Sie meinen Mangel an Feingefühl, Heilung Ihrer Drogensucht.«

Wenn Nessus so viel über ihn wusste … »Warum sollten Sie ausgerechnet meine Hilfe wünschen?«

»Sie sind Louis Wu, der Sohn von Carlos Wu, einem der brillantesten Köpfe unter den Menschen auf der Erde. Der Name, den Ihre Mutter von Geburt an trug, war Sharrol Janss. Beowulf Shaeffer, Ihr Stiefvater, war ein Abenteurer und Entdecker, der seinesgleichen suchte. Mehr als einmal hat er meiner Spezies große Dienste geleistet. Er überflog die Oberfläche eines Neutronensterns und konnte, tatsächlich mit dem Leben davongekommen, darüber berichten. Er reiste zum galaktischen Zentrum und entdeckte, dass es explodiert war. Er …«

Louis, Louis Wu! Erinnerungen explodierten in Nathans Hirn wie Raketen bei einem Feuerwerk. Ein Name aus ferner Vergangenheit – sein Name! Und dann diese erstaunlichen Enthüllungen über seine Familie! Nessus zu begleiten bedeutete die Chance, alles Verschüttete wieder zu entdecken.

Nessus hatte noch nicht geendet. »Es gibt allerdings eine weitere Bedingung. Manches von dem, was Sie zu sehen bekommen werden, darf nie und niemandem enthüllt werden. Daher werden Ihre Erinnerungen korrigiert, ehe ich Sie in den Bekannten Weltraum zurückbringe.«

»Korrigiert«, wiederholte Nathan – nein, Louis!

Etwas tief in Nessus’ Schärpe trällerte unaufdringlich leise. »Ein Annäherungsalarm. Welchen Entschluss Sie auch immer fassen, fassen Sie ihn rasch! Zwanzig Sekunden nachdem ich fort bin, explodiert diese Stepperscheibe.«

»Inwiefern korrigiert?«

Nessus steckte einen Kopf in eine der Schärpentaschen – und verschwand.

Zwanzig Sekunden! Neunzehn. Achtzehn. Siebzehn.

Der Countdown tickerte in Louis’ Verstand der Null entgegen. Das Herz hämmerte ihm in der Brust.

Vierzehn. Dreizehn. Zwölf. Elf.

Er stierte auf die Scheibe, die auf dem Boden lag. Du bist durch einen Kaninchenbau nach Wunderland gelangt. Du verlässt Wunderland nicht auf demselben Weg.

Neun. Acht.

Flussabwärts: Geräusche, die Quelle nicht auszumachen. Wahrscheinlich die Randzonen-Patrouille. Was würden die Anführer der Widerstandsbewegung vermuten, fände man ihn, Big Nate, den Außenseiter, hier neben einem explodierten Gerät, das offenkundig Alien-Ursprungs war?

Wie heftig wäre überhaupt die Explosion? Lauf!, mahnte er sich selbst. Aber seine Füße hatten vor der Scheibe wohl Wurzeln geschlagen.

Aus zwei Schritt Entfernung funkelte die Scheibe ihn an.

Sein Stiefvater – der berühmt-berüchtigte Beowulf Shaeffer, jawohl! – war bereit gewesen, dem Wort eines Puppenspielers zu vertrauen. Allen Worten. Auch den Worten im Kleingedruckten.

Sechs. Fünf.

Jenseits der Scheibe lagen Wahrheiten, nach denen Louis sein Leben lang gesucht hatte. Seine Vergangenheit. Seine Wurzeln. Wenn er Nessus nicht folgte, wäre er dann noch fähig, es mit sich selbst auszuhalten?

Vier. Drei. Zwei.

Louis tat einen Schritt …

NIMMERLAND

4

Nessus schnellte in die Isolationszelle an Bord der Aegis.

Nachdem er mit der Zunge ein weiteres Mal den Transportregler bedient hatte, materialisierte er auf einer Stepperscheibe außerhalb der Zelle – gleich hinter dem Einwegspiegel. Während er sich von der Stepperscheibe hinunterschleppte, erhaschte er einen Blick auf sich selbst: nervös, zerzaust, mit wildem Blick. Von der manischen Hochphase, in die er sich hineingesteigert hatte, war so gut wie nichts mehr übrig.

Jeden Moment könnte Louis eintreffen.

Nessus war fast schon zu erschöpft, um sich deswegen noch Sorgen zu machen. Mut und Vorsicht – Wahnsinn und Vernunft – mussten sich austarieren. Die Flucht in die Katatonie ließ sich nicht mehr weiter hinauszögern. Nessus’ Quartier, nur ein halbes Deck von seinem jetzigen Standort entfernt, war daher eine schier unerreichbare Zuflucht. Seine Köpfe zuckten zwischen seine Beine. Seine Knie sackten schon weg …

Hatte er die Stepperscheibe der Zelle rekonfiguriert? Wenn nicht, würde Louis herausschnellen können!

Nessus zitterte vor Angst. Wie hatte das nur passieren können! Zu vergessen, die Konfiguration der Stepperscheibe zu verändern! Es gab nur eine Erklärung dafür: Er war dem völligen Zusammenbruch mittlerweile derart nah, dass sein Gehirn gar nicht mehr richtig funktionierte. Wenn er jetzt den Transportregler überprüfte, würde das überhaupt nichts nutzen. Denn schon im nächsten Moment würde er sich wieder fragen, ob er alles geändert hätte oder nicht.

Irgendwie gelang es Nessus, die Köpfe wieder zwischen den Knien hervorzuholen. Er packte die Stepperscheibe an ihrem Rand und nahm sie von Deck auf. Die Scheibe rutschte ihm aus den Zähnen; er verlor das Gleichgewicht und taumelte rücklings gegen die Wand.

Mit dem Hinterbein stützte Nessus sich ab; sein Huf kratzte ein wenig Farbe von der Wand. Erneut packte er die Stepperscheibe und versuchte sie hochzuwuchten. Er streckte das Hinterbein durch, stieß sich von der Wand ab. Die Scheibe bewegte sich, hob sich, höher, höher … kippte zur Seite und krachte wieder auf Deck, allerdings die schwarze Seite oben. Die Stepperscheibe lag auf dem Kopf.

Damit waren die Steuereinstellungen und die Adressierungsmodule bedeutungslos. Mit der aktiven Seite nach unten sorgten die Sicherheitssperren automatisch für eine Deaktivierung der Scheibe.

Nessus stieß einen blökenden Laut aus; in dem zweistimmigen Glissando schwang unverkennbar Hysterie mit. Er hätte die gleichen Sicherungen auch aktivieren können, indem er einfach auf der Stepperscheibe stehen geblieben wäre.

Louis schnellte in die Isolationszelle.

Nessus brach zusammen. Er kniff die Augen zu, presste beide Köpfe fest gegen den Bauch und rollte sich zu einer so festen Kugel zusammen, dass er kaum noch atmen konnte.

Bis das Einzige, was vom ganzen Universum noch zu hören war, der gedämpft klingende Schlag seiner eigenen Herzen war.

Was zur …!

Eine gekrümmte, konvexe durchsichtige Wand. Louis drehte sich einmal um die eigene Achse, kniff die Augen zusammen, um sie vor der plötzlichen, gleißenden Helligkeit zu schützen. Er befand sich im Inneren eines allseits geschlossenen Zylinders. Eine Tür gab es nicht. Der Raum, in dem der Zylinder stand und den er durch die transparente Wand erkennen konnte, war so gut wie leer. Louis sah nur einen großen Standspiegel, einen dunklen Kreis auf dem Boden und einen lederbezogenen Klumpen.

In langsamem Rhythmus schwoll der Klumpen an und zog sich wieder zusammen. Schwoll an und zog sich zusammen. Atmete der Klumpen etwa? Klar, ja! Wahrscheinlich Nessus, der sich zusammengerollt hatte und Köpfe und Beine unter dem Rumpf versteckte!

»Nessus! Lassen Sie mich raus! Nessus! Irgendjemand!« Und einige Sekunden später, kläglich: »Hallo?«

Die einzige Antwort war das schmerzhaft laute Echo seiner eigenen Stimme in der winzigen Kabine. Der »Klumpen« rührte sich nicht.

Mit der Faust schlug Louis gegen die transparente Wand – aber nur ein einziges Mal. Die Wand war hart! »Tanj noch mal, Nessus! Lassen Sie mich hier raus!«

Nachdem das Echo verklungen war: Stille.

Was wusste Louis über Puppenspieler? Nicht viel. Er betrachtete den »Klumpen«. Im Sternenlicht unten auf Wunderland hatte Louis keinerlei Farben erkennen können. Soweit jetzt erkennbar hatte Nessus ein ledriges, schmutzig weißes Fell, hier und da braun gefleckt. Seine Mähne war von einem etwas dunkleren Braun.

Hinter Nessus war die Wand leicht konvex, nicht gerade. Auf jeder Oberfläche in dem Raum befanden sich Handgriffe (na ja: Mundgriffe). Also ein Schiff. Der Raum war riesig: vermutlich ein Frachtraum.

Drei Monate lang hatte Louis’ erster Gedanke nach dem Aufwachen und sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen nur einem gegolten: Er musste unbedingt, egal wie, Wunderland verlassen. Er musste – irgendwie – ein Schiff finden. Bitteres Lachen brach sich Bahn. Wirklich, man sollte tanj genau aufpassen, was man sich wünschte!

Louis setzte die Bestandsaufnahme seiner Umgebung fort. Begutachtete alles außer dem Spiegel. Ganz egal, was es war.

Der Fleischklumpen war dasselbe zusammengekrampfte Etwas wie bei Louis’ Eintreffen. Das Abebben von Nessus’ Panikattacke: Verriete sich das durch irgendwelche Hinweise? Es mit Schreien zu versuchen schien jedenfalls genauso wenig zu helfen wie vorhin.

Niedergeschlagenheit hüllte Louis ein wie dichter Nebel. Nathan oder Louis, was machte das schon für einen Unterschied? Er war ein Junkie, für sich selbst eine Gefahr und für alle anderen nutzlos. Sei doch ehrlich, rührte er im Selbsthass, sieh den Tatsachen ins Auge und sag ganz offen, was du bist!

Endlich wandte er sich doch dem Spiegel zu. Eine hohläugige Gestalt starrte ihn an. Louis begann zu zittern. »Du hast mir versprochen, ich komme von den Drogen runter!«, schrie er.

Nessus rührte sich nicht.

Louis ließ sich gegen die Seitenwand der Kabine sacken. Er war hier gefangen, bis sich Nessus von seiner Panikattacke erholt hätte.

Es sah ganz so aus, als stünde ihm ein kalter Entzug bevor.

Zeit verstrich. Nessus rührte sich nicht.

Louis machte sich daran, die Wände jenseits seiner Zelle einer genauen Musterung zu unterziehen. Als er sich auf die Zehenspitzen stellte, bemerkte er einen breiten Kratzer an der grauen, konvexen Wand hinter Nessus. Auf Deck fanden sich schmale, eingerollte graue Streifen: abgeschabte Farbe.

Eine seit langer Zeit nicht mehr benutzte Synapse feuerte: eine General-Products-Zelle! In etwas anderem würde sich ein Puppenspieler niemals durch den Raum bewegen.

Damals, als die Puppenspieler noch im Bekannten Weltraum Handel trieben, war die General Products Corporation das Herzstück ihres Handelsimperiums gewesen. Die Handelsware, die GP mehr verkaufte als alles andere, waren Raumschiff-Rümpfe. Niemand wusste, wie eine GP-Zelle gebaut wurde oder woraus sie eigentlich bestand, nur dass die Entschädigung, die man erhielte, würde eine solche Zelle zerstört, enorm wäre. Gewaltig. (Wieder eine Kindheitserinnerung: Seine Väter unterhielten sich. Anscheinend waren GP-Zellen nicht gänzlich unzerstörbar. Aber die lächerliche Mini-Boden-Luft-Rakete, die aus der Clementine einen brennenden Schrotthaufen gemacht hatte, hätte einer GP-Zelle nicht einmal einen Kratzer verpasst.)

Der Preis für unzerstörbare Zellen stieg in unermessliche Höhen, nachdem die Puppenspieler sich aus dem Bekannten Weltraum zurückgezogen hatten. Die noch vorhandenen GP-Zellen hatte man weitestgehend zu Kriegsschiffen umgebaut, zu Kreuzfahrtschiffen der Spitzenklasse und zu Jachten für die Superreichen. Das größte noch vorhandene GP-Modell, eine Kugel von fast dreihundert Metern Durchmesser, wurde dazu genutzt, komplette neue Kolonien zu transportieren. Die Tramp-Frachter, die Louis normalerweise flog – ziemlich oft, um sich so seine Reise zu finanzieren – waren nur heruntergekommene, von Menschen gebaute Schiffe.

Ein einziges Mal war Louis in einer GP-Zelle gereist. Er erinnerte sich noch daran, dass das Baumaterial der Zelle gänzlich transparent gewesen war. Dass es Licht durchließ, war eine besondere Eigenheit. Die Teile des Schiffsrumpfs, die man undurchsichtig haben wollte, lackierte man sich einfach selbst.

Sich an derart obskure historische Tatsachen zu erinnern war ebenso eine Ablenkung wie das Betrachten jeder Naht, jedes Kratzers und jeder Delle in der unerreichbaren Wand jenseits der Kabine, die ihn gefangen hielt. Und wovon lenkte Louis sich ab? Vom Zittern seiner Arme und Beine natürlich: den Vorboten der Entzugserscheinungen, jener Krampfanfälle, die unweigerlich kommen würden.

Er war es leid, Nessus zu beobachten. Er war auch alles andere als erpicht darauf, in den Spiegel zu schauen. Also blickte er sich wieder und wieder in dem großen Raum um.

Durch den schmalen Streifen abgekratzter Farbe genau hinter Nessus konnte Louis durch die Hülle der GP-Zelle hinausspähen: Etwas bewegte sich dort. Dieses Etwas trieb hin und her. Seegras? Und … Luftblasen? Da war noch etwas anderes …

Ein Auge! Ein riesiges Auge!

Louis war der Gefangene eines komatösen Aliens, in einer winzigen Zelle, an Bord eines fremden Schiffes, irgendwo tief im Wasser, und Finagle allein wusste, was sich dort draußen herumtrieb! Gefangen, ohne Essen, ohne Wasser, ohne auch nur einen Nachttopf.