Ein Leben der Hilfe den Menschen in Not - Helmut Lauschke - E-Book

Ein Leben der Hilfe den Menschen in Not E-Book

Helmut Lauschke

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Beschreibung

So kam es, dass Dr. Ferdinand durch den Eingang eilte und in einer sonnenheissen Halle stehenblieb, wo Menschen auf dem Boden wie verdrückte Trauben hockten, sassen und lagen und sich in ätzenden Schweissgerüchen verballten. Dieser Pfad war gesäumt von barfüssigen Müttern mit den Gesichtern der Hilf- und Trostlosigkeit, die abgemagerte Kinder mit ihren grossen Augen auf den Armen hielten, wenn sie nicht, weil völlig erschöpft, mit einem Tuch hochgebunden auf dem Rücken der Frauen oder anderer kindlicher Begleitpersonen, zum Beispiel von wenige Jahre älteren Schwestern schliefen. Der Pfad war auch gesäumt von alten Männern und Frauen in dürftiger, meist zerrissener Körperbedeckung. Ihre Gesichter schienen bereits etwas zu erkennen, was dem diesseitigen Dasein abgekehrt war; manche von ihnen konnten auch einem Arbeitslager der Menschenschändung entnommen sein mit den Zeichen der hochgradigen Abmagerung und Entkräftung mit den spindeldürren Armen und Beinen, einer gespensterhaften Fleischausdünnung bis aufs Skelett. Die Mutter brachte ein abgemagertes Mädchen mit Bauchschmerzen zum Hospital. Bei der Operation fanden sich elf Steine, die den Magenausgang blockierten. Nach Entfernung der Steine erholte sich das Mädchen rasch. Die Mutter konnte das Schlucken der vielen Steine nicht verstehn, zumal das Mädchen keine seelischen Störungen erkennen ließ. Sie stimmte zu, dass es mit dem Hunger zu tun hatte, denn die Armut drückte hart aufs tägliche Leben. Kinder trugen auf spindeldürren Beinen Wasserbäuche (Kwashiorkor) vor sich her und schafften das Leben nicht mehr. Das geistige Streben des Menschen ist die Sehnsucht mit der Hoffnung, aus den Engen und dem Druck des Daseins, was die existenziellen Probleme und Nöte umfasst, befreit zu werden. Es sind die Wanderwege der Sprache mit den Momenten und Strecken des Erschöpftseins und der Angst, es mit dem Leben durchzustehen in der Hoffnung mit dem dünnen Fädchen. Sprache setzt auf die Geraden der Wahrheit und Verantwortung.

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Seitenzahl: 192

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Helmut Lauschke

Ein Leben der Hilfe den Menschen in Not

Bekenntnis tiefer Dankbarkeit

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Danksagung

Der Weg nach Afrika

Inmitten des Krieges

Der bakterielle Knochenfrass am kindlichen Schienbein (Hämatogene Tibia-Osteomyelitis)

Kristofina, das Mädchen, das vom Blitz getroffen wurde

Das abgemagerte Mädchen mit den elf Steinen im Magen

Schwere Haubitzen schossen Salven

Geburt

Kurz nach Mitternacht

Zur Sprache und Sprachlosigkeit

Der Menschenbildner

Epilog: Sprache sucht die Wirklichkeit

Zuerst der Blick, dann der Gedanke

Impressum neobooks

Danksagung

Bekenntnis tiefer Dankbarkeit

Es waren meine Eltern, die beispielhaft vorgelebt haben, dass der Sinn des Lebens darin liegt, besonders Menschen in Not zu helfen. Mein Vater sprach als Gynäkologe in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg mit Bewunderung von jenen deutschen Frauen, die nach Vergewaltigungen durch russische Soldaten die Schwangerschaft austrugen und eine liebe und fürsorgliche Mutter ihrer ‘deutsch-russischen’ Kinder wurden.

Diese Eltern waren mir durch ihre persönliche Bescheidenheit und ihre Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft für den Menschen in Not in ihrem ungebrochenen Fleiß ein Vorbild, dem ich nacheiferte, aber in ihrer Geradheit nie ganz erreichte. Im praktischen Leben während der nationalsozialistischen Überhebungen und Wirren und danach zeigten meine Eltern eine menschliche Größe, die geboten und nicht zu übertreffen war.

Andere Vorbilder der Mitmenschlichkeit und spontanen Hilfsbereitschaft waren unterschiedlich alt, sie überzeugten durch Anstand, Ehrlichkeit und Mut. Zu diesen Menschen zählten auch einige Lehrer, Hochschulprofessoren und Assistenten. Es gab die guten und menschlichen Vorbilder, wenn sie auch in der Minderzahl waren. Einige opferten durch Anstand, Menschlichkeit und Mut ihr Leben.

Der Weg nach Afrika

Im Norden des Landes, wohin ihn Dr. Witthuhn in seinem Wagen als Superintendent eines dortigen Krankenhauses in einer Tagesfahrt über die siebenhundertdreissig Kilometer lange, kochend heisse Teerstrasse gebracht hatte, wo die afrikanische Sonne erbarmungslos sengte, war alles anders. Das Hemd mit geöffnetem Kragen war schweissdurchtränkt und klebte widerspenstig auf der Haut, als Dr. Ferdinand mit dem unwohlen Gefühl der Trockenheit im Munde den Eingang betrat, dessen Türen aus den oberen Angeln herausgebrochen waren und den Durchgang halb versperrend spitzwinklig gegen die Seitenwände lehnten. Ungewöhnlich war auch, zumindest für ihn, der penetrante, fast atemberaubende Uringestank, der ihm beim Betreten des Hospitalgeländes entgegenschlug. Seine Schritte wurden schneller, als hätte er grosse Eile. Doch diesem Gestank konnte er nicht entrinnen, auch bei dem kurzfristigen Versuch nicht, den Atem anzuhalten.

Inmitten des Krieges

So kam es, dass Dr. Ferdinand seiner Begleitung fast entschlüpfte, durch den Eingang eilte und in einer hitzekochenden Halle stehenblieb, wo Menschen auf dem Boden wie verdrückte Trauben hockten, sassen und lagen und sich in ätzenden Schweissgerüchen verballten. Da bewegte sich kein Wind, und die Menschen warteten geduldig auf den Arzt, dass einer käme. Der Anblick nahm ihm fast die Luft, denn das hatte er noch nicht gesehen. Der ihn begleitende Arzt, Dr. Witthuhn, Superintendent des Hospitals, folgte ihm mit einer auffallenden Gelassenheit und ging mit der Sicherheit des Instinkts zwischen den menschlichen Knäueln, die das Gefühl der Trostlosigkeit erweckten, hindurch und zielsicher auf den fast verloren dastehenden Kollegen zu, um ihn mit den Gegebenheiten bekannt zu machen. “Es ist alles nicht so schlimm”, brummte Dr. Witthuhn vor sich hin und nahm den Kollegen am Arm und bahnte sich einen Weg durch die wartenden Menschentrauben, um ihm den Operationsraum im ‘Outpatient department’ zu zeigen. Dr. Ferdinand ging durch einen engen Pfad zwischen den dichten Trauben von Menschen hindurch, über denen eine schwere Wolke scharfer Schweissgerüche lastete.

Dieser Pfad war gesäumt von barfüssigen Müttern mit den Gesichtern der Hilf- und Trostlosigkeit, die meist abgemagerte Kinder mit ihren grossen Augen auf den Armen hielten, wenn sie nicht, weil völlig erschöpft, mit einem Tuch hochgebunden auf dem Rücken der Frauen oder anderer kindlicher Begleitpersonen, zum Beispiel von wenige Jahre älteren Schwestern schliefen. Der Pfad war auch gesäumt von alten Männern und Frauen in dürftiger, meist zerrissener Körperbedeckung. Ihre Gesichter schienen bereits etwas zu erkennen, was dem diesseitigen Dasein abgekehrt war; manche von ihnen konnten auch einem Arbeitslager der Menschenschändung entnommen sein mit den Zeichen der hochgradigen Abmagerung und Entkräftung mit den spindeldürren Armen und Beinen, einer gespensterhaften Fleischausdünnung bis aufs Skelett.

Es gab Kinder in diesen Trauben, die weinten; andere schrien vor Angst oder Schmerz, wieder andere lagen mit ihren Mündern an den oft schlaff herabhängenden Brüsten ihrer von Zweifel und Armut gezeichneten Mütter. Daneben gab es Männer und Frauen, die ihre Hände oder Füsse bei der Feldarbeit verletzt, von einem Skorpion oder einem tollwütigen Hund gebissen, oder jene, die durch unfreundliche Akte anderer Menschen an den Augen oder sonstwo verletzt waren. Der Gang entlang durch die engstehenden Menschenschlangen mit ihren Schweissgerüchen und Gesichtern, in denen das Leid stand, war ein erstes erschreckendes Erlebnis für Dr. Ferdinand. Es war ein erster Gang durch eine vom Ausmass her ihm unbekannte menschliche Armut und Not hindurch bis zu der reichen Erkenntnis, die später folgen sollte, wie vielseitig und prägend der Alltag an dem war, was dem Leben alles fehlte, und wie der Mangel über Generationen ihr Leben ausgeformt hatte. Der Pfad zwischen den wartenden Menschen hindurch wurde noch enger, je mehr sie sich der Stelle näherten, auf die Dr. Witthuhn mit seiner hochgestreckten linken Hand hinzeigte und der Operationsraum zur ambulanten Wundversorgung sein sollte. Auch hier, wie schon am Eingang zum Hospital, waren die Türflügel von den harten Schlägen vergangener Jahre zerschunden; der linke Flügel war aus den Angeln gerissen und die Scheibe im rechten Türflügel zerschlagen. Spitz herausragende Scherben steckten im Scheibenrahmen.

Der erste Blick, es war ein eher flüchtiger, erkannte einen völlig veralteten Operationstisch vom Typ Heidelberg, der deutliche Rostflecken aufwies, und an dessen Halterungen der Nickelüberzug zum grossen Teil abgeblättert war, sodass der rostgebräunte Stahl zum Vorschein kam. Ein junger Arzt in der Uniform der südafrikanischen Armee machte sich an ihm zu schaffen, um eine Handverletzung eines auf dem Tisch liegenden jungen Mannes, dessen Gesicht der Schmerz verzerrte, zu versorgen. Da eine in der Wand befestigte Klimaanlage nicht arbeitete, grenzte der Hitzegrad ans Unerträgliche. Von den sieben Lichtkreisen der schief über dem Tisch hängenden Operationslampe waren drei erleuchtet. Es wunderte nicht, dass dem jungen Militärarzt der Schweiss im Strahl von der Stirn tropfte. Ihm zur Seite stand eine junge Schwester mit dem Gesicht einer schwarzen Madonna, die ihm die teils von einer Rostpatina überzogenen Instrumente wie Skalpell, Schere und Pinzette von dem dürftig bestückten Instrumententisch reichte, dessen Rollen jede Bewegung quietschend bremsten.

Eine ältere Frau mit einem Mädchen auf den Schenkeln sass auf einem gebrechlichen Stuhl mit wackelnder Lehne auch in diesem Raum. Es konnte eine Pflegeschülerin gewesen sein, die sich unbeholfen damit abmühte, dem Mädchen einen Fussverband anzulegen. Die Enge des Raumes, in die sich die wartende Menschentraube langsam vorschob, und die atemnehmende Hitze mit der raumfüllenden Palette penetranter Schweissgerüche nahm an Druck zu, sodass Dr. Witthuhn seinem Kollegen vorschlug, den Rückweg anzutreten, um ihn durch die chirurgischen Stationen zu führen.

“Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo unsere Patienten liegen.” Der Rückweg war noch beschwerlicher, da die Menschen noch enger gestaut standen in der Hoffnung auf eine baldige Behandlung. Denn mit Sonnenuntergang trat das Ausgehverbot in Kraft, das bedeutete, dass sie den Heimweg nicht mehr antreten konnten. Nachdem sie die dichte Menschentraube durchschritten hatten, als hätten sie sich einen Pfad durch den dichten Dschungel zu schlagen, waren sie draussen auf einem von Rissen durchzogenen betonierten Gang gelangt, der durch eine Überdachung von der Strahlenhärte der sich neigenden Sonne auf halber Breite verschont war. Dr. Witthuhn, breitschultrig mit hervortretendem Bauch, wischte sich den Schweiss von der Stirn. “Gleich werden Sie sich selbst ein Bild machen können von dem, was unsere Ärzte und Schwestern leisten”, sagte er mit rückwärts gewendetem Kopf dem ihm folgenden Kollegen, während sie Patienten mit Kopf- und Armverbänden und andere passierten, die sich an selbstgefertigten Krücken unbeholfen vorwärts bewegten. .

“Jetzt folgen wir der blauen Linie”, und Dr. Witthuhn zeigte auf einen vom Wetter verblichenen, ins irgendwo hinziehenden, blau gewesenen Strich, der neben einem roten, grünen und gelben, nicht weniger verblichenen Strich links auf dem von Rissen durchsetzten Betonboden verlief. “Diese Striche sind Wegweiser. Sie führen zu den verschiedenen Stationen und erleichtern den Patienten und ihren Angehörigen das Finden”, fügte er hinzu. Es war also der blaue Strich, den Dr. Ferdinand ins Auge nahm, als er Patienten, die sich kaum auf eigenen Beinen halten konnten, Müttern mit abgemagerten Kindern auf dem Arm und auf den Rücken gebunden, alten Menschen mit zerfalteten Gesichtern und erblindeten Augen, die am Stock von einem vorangehenden Kind geführt wurden, den Weg freimachte. Sie folgten der langgezogenen, blauen Markierung mit den nach rechts und links abgehenden Winkeln und kamen schliesslich an einem Flachbau mit einem Blechdach an, dessen Mauern Zeichen der fortgeschrittenen Verwitterung zeigten. Die sandbraun gestrichene Tür am Eingang war verfleckt und ramponiert. In diesem Moment wurde ein Frischoperierter mit einem dicken Verband an seinem kurz geratenen, linken Oberschenkelstumpf auf einer Trage hereingefahren, die statt auf vier nur auf drei Rollen fuhr. Es war ein Jugendlicher, der noch nicht zu Bewusstsein zurückgekehrt war, als zwei Krankenpfleger ihn im ersten Mehrbettraum von der wackligen Trage in das Bett herüberhoben. In diesem Raum waren vier Betten links und vier Betten rechts. Alle waren mit Männern belegt, die in den letzten Tagen operiert wurden. Fünf von ihnen wurden wegen Verletzungen an den Armen oder Beinen chirurgisch versorgt.

“Es vergeht kein Tag, an dem nicht Verletzte gebracht werden”, bemerkte Dr. Witthuhn, “viele von ihnen kommen mit schweren Verletzungen, nachdem sie auf eine Personenmine getreten waren und die Explosion überlebt hatten oder angeschossen wurden.” Die Männersaal verströmte den ätzenden Geruch von Schweiss und Urin und war hoffnungslos überfüllt. Was Dr. Ferdinand das erste Mal sah, war die Situation, dass ausser den acht Patienten in den Betten noch weitere Patienten mit frischen Verbänden an einer oder beiden Händen auf Decken zwischen den Betten auf dem Boden lagen. Zwei ältere Männer waren wegen Leistenbrüchen operiert. Der mit vierunddreissig Betten bestückte Männersaal wurde von zwei Schwestern, einem Krankenpfleger und einer Krankenpflegeschülerin im zweiten Ausbildungsjahr pflegerisch betreut. Trotz der unverkennbaren Überlastung begrüssten sie Dr. Ferdinand mit ausnehmender Höflichkeit, die an Herzlichkeit reichte, und gaben ihm die Hand. Im Afrikaans als der offiziellen Landessprache fragten sie ihn, ob er nicht am Hospital arbeiten wolle, da die wenigen Ärzte überlastet seien, und ein Chirurg ganz fehle. “Eine Entscheidung werde bald fallen”, erwiderte er vorausahnend, dass da eine Herausforderung auf ihn zukomme, die er noch nicht hatte, wozu die völlig ungewohnten, klimatischen Bedingungen kamen, ein solches Arbeitspensum zu bewältigen. Da erschienen ihm die Stunden des Tages bereits zu kurz. “Kommen Sie”, sagte Dr. Witthuhn, “es ist alles nicht so schlimm. Wir werden die Dinge in Ruhe in meinem Dienstzimmer besprechen.”

Das Dienstzimmer des Superintendenten war auffallend geräumig, mit einem Sammelsurium unterschiedlicher Stühle, einem riesigen Schreibtisch, alten Regalen und einer grossen Wandtafel im Rücken des leicht erhöhten, auf fünf Rollen beweglichen Schreibtischstuhls bestückt und durch eine arbeitende Klimaanlage auf eine angenehme Temperatur gebracht. Die beiden Kollegen setzten sich einander gegenüber, Dr. Ferdinand auf einen harten Stuhl, während sich Dr. Witthuhn in einen gepolsterten Stuhl mit erhöhter Rückenlehne und abgegriffenen Armlehnen mit dem Stöhnen der Erleichterung einsinken liess. Der Polsterbezug war an der Rückenlehne eingerissen, wo der vergilbte und durchlöcherte Schaumgummi hervortrat. Dr. Witthuhn schaute auf seine Armbanduhr über dem linken Handgelenk, rief die Sekretärin und bestellte Tee mit Zucker und Milch. Währenddessen fragte er Dr. Ferdinand, ob er sich einen ersten Eindruck vom Hospital machen konnte. Seine Blicke fuhren die Fensterfront ab, fixierten die schütter behängten Äste eines alten Baumes, der sich zwischen dem Administrationsgebäude mit seinen Klimaanlagen und dem gegenüberliegenden Krankensaal für private Patienten ohne Klimaanlagen mit einigen herausragenden, dicken Aststümpfen gehalten hat. “Der erste Eindruck sprengt meine bisherigen Erfahrungen, ich habe eine solche Ansammlung von Patienten und Verletzten noch nicht gesehen”, sagte Dr. Ferdinand, dessen Augen die Aststümpfe, nachdem er sie gezählt hatte, verliessen und den gegenübersitzenden Kollegen betrachteten.

Dr. Witthuhn war ein Mann der Mittvierziger mit einem leicht geschwollenen Gesicht, dunkelbraunen Augen unter dem dunkelfarbigen Wildwuchs der Brauen. Seine Nase hatte einen breiten Rücken mit den ersten Zeichen der knolligen Entartung. Sein Mund führte dicke Lippen europäischer Ausmasse, der beim Öffnen blendende Zahnreihen oben wie unten zeigte. Das Schwarz seines buschigen Haarwuchses wurde an den Schläfen von den ersten Grautönen des frühen Alterns durchzogen. “Herr Ferdinand”, sagte Dr. Witthuhn, “seitdem ich hier Superintendent bin, und das ist seit fünf Monaten, haben sich die Dinge bereits gebessert. So konnten einige, neue Instrumente gegen alte ausgetauscht werden, zwei der vier Operationstische wurden überholt, und die Zahl der Ärzte konnte von elf auf vierzehn erhöht werden. Es ist richtig, dass diese Zahl für eine ordentliche Versorgung der Patienten noch immer zu klein ist. Doch bedenken Sie, dass hier Kriegsgebiet ist. Dafür ist diese Zahl schon beachtlich.”

Die Sekretärin, eine junge schwarze Frau mit den stimmenden Proportionen, die durchaus als schön zu bezeichnen war, brachte das Tablett mit der Kanne Tee, zwei Tassen, Zucker und Milch, das sie auf dem Schreibtisch abstellte. Beim Abstellen des Tabletts sagte sie in wohlklingender Stimme, dass Dr. Erasmus (Sekretär der zentralen Gesundheitsverwaltung) aus Windhoek angerufen habe und um einen Rückruf bittet, und dass Dr. Hutman ihn sprechen möchte. “Die Unterredung kann jetzt nicht stattfinden”, erwiderte Dr. Witthuhn, “Sie sehen, dass ich mit dem Kollegen im Gespräch bin, der aus Deutschland kommt, um hier als Chirurg zu arbeiten.” Die Sekretärin brachte Dr. Ferdinand ein Lächeln der Zustimmung entgegen, weil auch sie über die Ärztenot am Hospital besorgt war. “Sagen Sie Dr. Hutman, dass ich heute die Zeit nicht habe”, sagte Dr. Witthuhn, “die Unterredung kann morgen nach der Morgenbesprechung stattfinden.”

Mit einiger Mühe hob sich Dr. Witthuhn aus seinem Stuhl, um Tee in die Tassen einzugiessen. “Nehmen Sie Zucker und Milch?” Dr. Ferdinand bat um den Tee ohne Milch, dafür mit zwei Löffel Zucker. Am Schreibtisch stehend rührte er den Zucker in die gefüllten Tassen. Mit der Tasse in der Hand erwähnte Dr. Witthuhn, dass für die Arbeitserlaubnis, die erforderlich war, das ‘Medical & Dental Council’ in Pretoria zuständig sei und von dort eingeholt werden müsse. Die Prozedur würde wahrscheinlich eine Woche in Anspruch nehmen. Dr. Witthuhn war zweckoptimistisch, als er bemerkte, dass das ‘Council’ bisher immer behilflich war. Des Weiteren bot er dem deutschen Kollegen an, vorerst in seinem Hause zu wohnen, bis eine andere Möglichkeit der Unterbringung gefunden sei.

Es klopfte heftig an der Tür, und ein mittelgrosser Mann mit blassem Gesicht, auf dessen Kopf das Haar rechts gescheitelt war, und dunkelbraunen Augen, die Feuer sprühten und den Angriff signalisierten, trat in korrekt gebügelter Leutnantsuniform der südafrikanischen Armee in den Raum, ohne auf das "Herein" anzuwarten. Dr. Witthuhn stellte den etwa achtundzwanzigjährigen Arzt mit dem Namen Dr. Hutman dem Dr. Ferdinand vor. Dr. Hutman setzte sich in einen gepolsterten Stuhl mit einem Zwischenraum von zwei Stühlen neben Dr. Witthuhn, während Dr. Ferdinand seinen harten Stuhl wieder einnahm. Der junge Arzt hielt seine Zunge für geraume Zeit unter Kontrolle, doch musterte er mit seinen dunklen, nervös hin und her fahrenden Augen den Neuankömmling aus Deutschland mit einer nicht zu übersehenen Feindseligkeit. Diesem jungen Arzt machte es nichts aus, als er das orientierende Gespräch zwischen den beiden Kollegen unterbrach und Dr. Ferdinand mit unerwarteter Aufdringlichkeit fragte, ob er hier auf Urlaub ist, ein Spezialist sei und beabsichtige, hier zu arbeiten. Da sollte er den Krieg nicht unterschätzen, der in den vergangenen Monaten an Härte zugenommen habe, wodurch die Zahl der Verletzten stark gestiegen sei.

Dr. Hutman in blitzsauberer Uniform mit scharfen Bügelfalten zeigte im Sprechen mehr Talent als im Zuhören. Das wurde deutlich, als er den Berschwerdezettel aus der Brusttasche zog, mit den Beschwerden loslegte und keine Rücksicht nahm, dass die beiden anderen Kollegen miteinander sprechen wollten, ohne gestört zu sein. Er beschwerte sich über die mangelnde Zusammenarbeit der Schwestern und Pfleger im Männersaal, die die Verbände nicht zur rechten Zeit wechselten, die Infusionen und Bluttransfusionen nicht pünktlich anhängen und die Injektionen nicht wie vorgeschrieben geben. Sie verweigern schlichtweg ihre Kooperation.

Der Versuch, das Problem in friedlicher Weise zu klären, scheiterte daran, dass Dr. Hutman den Superintendenten nicht aussprechen liess. Bei seinem langen Beschwerdemonolog mit dem Herausstellen seines persönlichen Einsatzes, ohne sich in seinem Monolog unterbrechen zu lassen, konnte sich Dr. Ferdinand des Eindrucks nicht erwehren, dass das Uniformtragen eine Zurschaustellung von Macht an der falschen Stelle sei, wo diese Schau nicht hingehört. Da erinnerte er sich an seine Kindheit zurück, wo schon damals Uniformträger in oft unerträglicher Weise ihre Macht zur Schau stellten, sich in der Uniform wichtig nahmen, dass es für die Erwachsenen entweder lächerlich oder unerträglich und gefährlich wurde.

Dr. Witthuhn war dagegen Zivilist, und als Zivilist war er es, der mit dem ärztlichen Direktor Dr. Eisenstein, der es sich in der Uniform eines “Colonel” auf dem Sessel in einem geräumigen und angenehm klimatisierten Büro gefallen liess, im Klinsch lag. Die Sorgen des Dr. Eisenstein kreisten im Wesentlichen um den Zustand und die zahnärztliche Behandlung seines persönlichen Gebisses, dass sich seine Tätigkeit auf die Herausgabe von Erlassen beschränkte, die wie am laufenden Meter kamen und von Woche zu Woche schärfer wurden, in denen die Zeichen der Diskriminierung nicht zu überlesen waren. Diskriminiert wurden Menschen der schwarzen Haut, die im Norden des Landes, nicht weit vor der angolanischen Grenze, dort, wo der Krieg hauste, am meisten litten.

Für diese ‘Bantu’-Menschen setzte sich Dr. Witthuhn als Superintendent des Hospitals ein, kämpfte für sie mit den Argumenten eines gebildeten Zivilisten gegen bornierte und machtbesessene Uniformträger, die ihre Aufgabe in Beschwerden und der Fliessbandarbeit von Erlassen sahen. Dr. Witthuhn war ein Arzt mit Herz, der seine Arbeit im Helfen für die Menschen sah, was ihm die Arbeit schwermachte, wenn es des Helfens wegen zu Zusammenstössen mit den Uniformträgern kam. Er setzte sich als Zivilist dafür ein, dass das Hospital für die Zivilbevölkerung offenstand, um den leidgeplagten Menschen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie so dringend brauchten. Einen Unterschied in der Hautfarbe durfte es in der ärztlichen Behandlung für ihn nicht geben, die für alle Menschen gleich sein sollte. Dr. Hutman liess den Superintendent nicht ausreden, der es englisch, dann in Afrikaans versuchte, um auf die Beschwerdepunkte und ihre Ursachen näher einzugehn. Der Superintendent musste energisch werden, bat den jungen Arzt, ihn nicht ständig zu unterbrechen, und schlug ihm vor, die intravenösen Injektionen und Infusionen selbst vor Operationsbeginn zu verabreichen. Er versuchte, den jungen Kollegen davon zu überzeugen, dass eine gute Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal zu erreichen ist, wenn er als Arzt freundlich und mit Geduld und Verständnis auf die Probleme im Krankensaal eingehe. Das Problem der fehlenden Antibiotika und bestimmter Infusionslösungen könne er nicht lösen, da er wie das ganze Hospital auf die Zuteilung aus der Zentralapotheke in Windhoek angewiesen sei, was den Verantwortungsbereich des Superintendenten übersteige. Das wollte der junge Arzt in seiner geschniegelten Uniform nicht begreifen und am wenigsten den Vorschlag, die Spritzen an den Patienten selbst zu setzen und die Infusionen vor Op-Beginn selbst anzulegen.

Für dieses Mehr an persönlichem Engagement und Verständnis für die Saalprobleme hatte der junge Arzt kein offenes Ohr. Eine diesbezügliche Belehrung lehnte er kategorisch ab. Der Eindruck entstand, dass das Tragen einer Leutnantsuniform der südafrikanischen Streitmacht mit dem Vorrecht verbunden sei, einem Superintendenten kategorisch zu widersprechen. Das wollte sich Dr. Witthuhn nicht länger gefallen lassen. Den Kompromiss der Vernunft gab es nicht. Dr. Hutman, dessen Jähzorn sich mit dem Blut im Gesicht staute, stand auf und machte sich durch die Bemerkung ungezogen, dass er sich beim ärztlichen Direktor beschweren werde, jenem Militäroberst, dessen zentraler Sorgenkreis die Zahnsanierung seines Gebisses war.

Der freche Arztkerl beschwerte sich, die Beschwerde hatte Erfolg, und der neue Erlass liess nicht auf sich warten, in dem zu lesen war, dass das Pflegepersonal den Anweisungen des Arztes strikt zu folgen und wegen der permanenten Überlastung der Ärzte auch ärztliche Aufgaben in den Sälen zu übernehmen habe. Gezeichnet war der Erlass, wie alle Erlasse gezeichnet waren, von Dr. Eisenstein, ‘Colonel, Director of Health & Welfare’.

Mehr über die verzwickte Situation im Gesundheitswesen des Landes und in der regionalen ‘Administration for Ovambos’ sollte Dr. Ferdinand am ersten Abend im Hause von Dr. Witthuhn erfahren, der als Sohn eines deutschen Missionars in der Kap Provinz geboren und für einige Jahre als Fliegerarzt beim ‘Luftgeschwader Richthofen’ im Oldenburgischen tätig war. Er sprach das Deutsch fliessend mit dem südarfrikanischen Akzent, wo es gelegentlich zu ‘afrikaansen’ Verwechselungen kam. “Kommen Sie, ich zeige ihnen ihr Zimmer”. Dr. Ferdinand folgte ihm und fand einen engen, vollgestopften Raum vor, wo auf dem Bett, Hemden, Hosen, Socken und noch manches mehr neben geschriebenen und unbeschriebenen Blättern und Zeitschriften, Gebügeltes neben Ungebügeltem, Gestopftes neben Ungestopftem lagen. Dr. Witthuhn räumte die Sachen mit wenigen Griffen vom Bett, schob übervolle und halb gefüllte Kartons gegen die gegenüberliegende Wand, wo er sie zur Pyramide übereinander stapelte, dass die Pyramidenspitze die Zimmerdecke berührte.

Während Dr. Ferdinand in der vollgestopften Enge sich zu drehen und zurechtzufinden suchte, ging Dr. Witthuhn ins Wohnzimmer zurück, legte eine Platte auf den Plattenteller und liess Mozart’s Zauberflöte erklingen. Im Auf-und-ab der wunderbaren Flöte erfreute er sich besonders an der Papageno-Arie, die er musikalisch begleitete. Er war vor vielen Jahren Mitglied des Windhoeker ‘Cantare audire’ Chores und schwärmte davon, wie der Chor anlässlich des irischen Musikfestivals 1976 in Dublin den dritten Preis ersang. Dr. Wittuhn hätte ebenso Musiker sein können. Auch verstand er sich glänzend in der zeitgenössischen Malerei aus. Das zeigten die ausgesuchten, meist schief hängenden Bildreproduktionen an den Wänden seines ihm von der Owambo-Administration zur Verfügung gestellten Flachbauhauses mit Asbestwänden und Wellblechdach, das sich aus vier Zimmern, Küche, Duschraum und einer separaten Toilette zusammensetzte. Ein nicht weniger wichtiges Gebiet in seinem Leben galt dem Gaumen und seinen Genüssen. Es schien zu seinen Abenden zu gehören, dass er mit Beginn des Sonnenuntergangs ungleich zerhacktes Ast- und Wurzelholz in die durchlöcherte Blechwanne in genialischer Unordnung übereinander legte, das Feuer entfachte und dabei den Papageno imitierte, dazu war er musikalisch begabt. “Ist das nicht herrlich”, entzückte sich Dr. Witthuhn mit Blick gegen den sich rot färbenden Himmel mit der untergehenden Sonne und Mozart’s Zauberflöte aus der offenen Tür und dem gekippten Oberfenster des Wohnraums in der Wiedergabe der Wiener Philharmoniker unter Karl Böhm trotz des Quietschens der Grammophonnadel durch die ausgefahrenen Rillen der viel gespielten “Flöten”-Platte.

“Das ist meine Medizin nach einem Tag Oshakati Hospital”, lachte er. Dann ging er zu seinem blauen Mittelklasse-BMW, den er als Superintendent des Hospitals von der Gesundheitsadministration gratis bekam, öffnete den Kofferraum und holte das Fleisch der verschiedenen Sorten, ‘Boerewors’ (Burenwurst), ein Zweikilonetz mit Kartoffeln, eine Plastiktüte mit vegetarischem Zubehör und eine Zwölferlage Bierdumpies der Marke ‘Guinness’ heran. Das Feuer in der durchlöcherten Wanne brannte lichterloh, als er die ersten zwei Dumpies öffnete, den Willkommensgruss für Dr. Ferdinand in Oshakati aufsagte, mit seiner Flasche leicht gekreuzt gegen die andere stiess und nach dem “Prosit!” sein Dumpy fast austrank. Als die Flammen mit dem Züngeln aufhörten, verteilte Dr. Witthuhn die Glutstücke in der Wanne, wobei kleinere Stücke durch die Wannenlöcher auf den Boden fielen, dass man mit den Füssen aufpassen musste. Dann legte er den alten Rost mit den weit auseinander liegenden Quer- und Längsstangen über die Wanne und die Schweinskoteletts, die Filetstücke vom Rind und die ‘Boerewors’-Kringel auf den Rost.