Elisas Versprechen - oder: Ein Lied für die Ewigkeit - Verena Rabe - E-Book
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Elisas Versprechen - oder: Ein Lied für die Ewigkeit E-Book

Verena Rabe

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Beschreibung

So melancholisch wie eine zarte Melodie: „Ein Lied für die Ewigkeit“ von Erfolgsautorin Verena Rabe jetzt als eBook. Eine Liebe, die immer in Erinnerung bleibt … 40 Jahre hat die Sängerin Elisabeth den Amerikaner John nicht mehr gesehen, doch bei einem Konzert begegnet sie ihm plötzlich wieder. Während der Olympiade 1936 in Berlin verband die beiden eine leidenschaftliche Liebe – obwohl Elisabeth die heimliche Freundin des jüdischen Komponisten Chaim war. Als dieser auf tragische Weise aus ihrem Leben schied, trennten sich auch die Wege von Elisabeth und John. Heute sind ihre Gefühle füreinander stärker als je zuvor … Doch können sie die Schatten der Vergangenheit überwinden? Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Ein Lied für die Ewigkeit“ von Erfolgsautorin Verena Rabe.

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Über dieses Buch:

Eine Liebe, die immer in Erinnerung bleibt … 40 Jahre hat die Sängerin Elisabeth den Amerikaner John nicht mehr gesehen, doch bei einem Konzert begegnet sie ihm plötzlich wieder. Während der Olympiade 1936 in Berlin verband die beiden eine leidenschaftliche Liebe – obwohl Elisabeth die heimliche Freundin des jüdischen Komponisten Chaim war. Als dieser auf tragische Weise aus ihrem Leben schied, trennten sich auch die Wege von Elisabeth und John. Heute sind ihre Gefühle füreinander stärker als je zuvor … Doch können sie die Schatten der Vergangenheit überwinden?

Über die Autorin:

Verena Rabe, geboren und aufgewachsen in Hamburg, liebt es zu reisen. Besonders europäische Küsten haben es der Seglerin angetan. Für ihre Geschichten unternimmt sie lange Recherchereisen und lässt die Orte, die sie beschreibt, intensiv auf sich wirken. Sie hat Geschichte studiert und als Journalistin gearbeitet, bevor sie Schriftstellerin wurde. Bisher hat sie acht Romane veröffentlicht. Verena Rabe lebt mit ihrem Mann in Hamburg, hat zwei erwachsene Kinder und verbringt viel Zeit in Berlin, ihrer zweiten Heimat.

Bei dotbooks erscheinen außerdem Verena Rabes Romane »Charlottes Rückkehr«, »Thereses Geheimnis«, »Die Melodie eines Sommers« sowie »Und über uns das Blau des Himmels«.

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe September 2019

Copyright © der Originalausgabe 2006 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt, Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock/Sergiy Artsaba, anyaivanova, Dimitri Leonidas, mamita, LALS STOCK und ©123RF/pashabo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-853-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Verena Rabe

Ein Lied für die Ewigkeit

Roman

dotbooks.

Für Jörg, Anna-Stina und Johannes

Prolog

Die weiße Farbe deckte nicht. Der Anstreicher Kurt und sein Kollege Emil fluchten, weil ihre Handgelenke schon schmerzten und die Farbe stank. Bereits zum dritten Mal mussten sie überstreichen.

»Eine Drecksarbeit ist das, würde lieber wieder stempeln gehen als mich hier abschuften«, murrte Emil. »Kurt, lass uns eine Pause einlegen.« Sie setzten sich nebeneinander hin und aßen ihre Stullen.

»Weißt du, warum die sich eigentlich diese Mühe machen?«, fragte Emil. »War doch gut so. Unsereins hat immer einen Sitzplatz bekommen. Von mir aus können die das so lassen.«

»Ist wohl wegen der Olympiade und dem internationalen Besuch«, sagte Emil. »Wart’s ab, in drei Wochen ist alles so wie vorher. Deinen Sitzplatz haste sicher bald wieder. Los ran, damit wir fertig werden.«

Kurt nahm den Pinsel und tauchte ihn tief in den Farbtopf. Nach einigen Minuten war auch das letzte »Für Juden verboten« verschwunden.

Kapitel 1

Wann war sie mit Chaim zum ersten Mal hier in dem Wald in der Nähe von Kladow gewesen? 1934 – vor jetzt 46 Jahren. Damals hatte sie sich trotz ihrer knapp zwanzig Jahre älter und verbrauchter gefühlt als heute mit 66. Jetzt befand sich der Wald in unmittelbarer Nähe der Mauer. In der Ferne hörte Elisabeth Brandt Schäferhunde hysterisch bellen, die an langen Leinen Patrouille liefen. Eigentlich war es kein idyllischer Ort mehr. Aber hier konnte sie ihrem Freund in Gedanken nahe sein.

Hier hatten Chaim Steinberg und sie sich früher im knietiefen Gras vor neugierigen Blicken verborgen, wenn sie sich küssen wollten, und sie hatte ihm Geschichten über die Gestalten erzählt, die sie in den vorbeiziehenden Wolken erkannte.

Elisabeth Brandt breitete eine Decke aus und holte eine Wasserflasche und ein Paket mit Hähnchenschenkeln, Zaziki und Brot aus dem Rucksack. Als Nachtisch gab es einen kleinen Apfelkuchen und Kaffee mit Milch und Zucker aus der Thermoskanne. Fast wie früher, dachte sie.

Auch mit ihren Eltern hatte sie als Kind hierher Ausflüge unternommen. Sie war mit ihrem Vater barfuß durch das Gras gelaufen, während ihre Mutter das Picknick vorbereitete. Und nach dem Mittagessen hatte sie ihre Mutter manchmal in den kühlen Innenraum der Sakrower Kirche begleitet, denn zu der Zeit hatte ihre Mutter ihren christlichen Glauben noch nicht durch den Glauben an den Nationalsozialismus ersetzt. Elisabeth sah ihr beim Beten zu und versuchte zu verstehen, was sie mit gesenktem Kopf vor sich hin murmelte. Wenn es ihr zu langweilig wurde, lief sie in den Wald, wo ihr jüngerer Bruder Helmut Höhlen baute, jetzt lag die Sakrower Kirche im Niemandsland. Es wurden dort keine Gottesdienste mehr abgehalten.

Elisabeth versuchte, es sich auf der Decke bequem zu machen, und bedauerte, nicht den kleinen Klappstuhl von ihrem Balkon mitgenommen zu haben. Nun gut, es würde auch so gehen. Sie tunkte die Hähnchenkeule in den Zaziki und wischte sich die Hände an einer blauen Stoffserviette ab. Sie wollte nicht jünger sein, schon allein deshalb, weil sie jetzt nicht mehr so sehr darauf achten musste, magere Sachen zu essen. Sie fand sich schöner mit etwas mehr auf den Rippen, jedoch ohne ein hageres, faltiges Gesicht.

Jetzt etwas Wein, dachte sie, aber sie hatte ihn extra zu Hause gelassen, weil sie einen klaren Kopf behalten wollte.

Wenn du hier wärst, Chaim, würdest du eine Melodie summen und es gar nicht bemerken, sprach sie in Gedanken mit ihrem Freund. So war es immer gewesen, und bis zum heutigen Tag hatte Elisabeth die Melodien nicht vergessen.

Hatte Chaim an diesem Ort nicht zum ersten Mal darüber gesprochen, dass er für sie Lieder komponieren wollte?

Sie hatten einen Picknickkorb mit Frikadellen, Brot, Bier, Wasser und Schokolade gepackt und waren am frühen Morgen nach Sakrow hinausgefahren.

Sie gingen Hand in Hand über die Wiese zu ihrem Lieblingsplatz am See, und Elisabeth dachte verwundert: So fühlt es sich also an, wenn man glücklich ist.

Sie kannten und liebten sich jetzt ein Jahr und lebten in Chaims kleiner Wohnung unterm Dach zusammen, aber Elisabeth hatte ihre winzige Wohnung nicht aufgegeben, denn sie wusste, dass Chaim, wenn er komponieren wollte, allein sein musste, und es war nie vorauszusehen, wann es so weit war, mitten in der Nacht oder am frühen Morgen. Selten war er in der Lage, es vorher anzukündigen. Und für diese Fälle war es besser, schnell und ohne Vorbereitung gehen zu können.

Nach dem Essen legte sich Chaim neben sie ins Gras. Sie bettete ihren Kopf an seine Schulter. Er wickelte eine Locke ihres blonden Haares um seinen Finger und spielte gedankenverloren damit. Manchmal ziepte es, aber sie sagte nichts, weil er vor sich hin summte und ganz weit weg zu sein schien.

Zuerst klang es nach Swing und ähnelte den Liedern, die sie abends in einer Bar in der Nähe des Kurfürstendammes sang. Aber dann summte Chaim plötzlich etwas, das überhaupt nicht dazu passte: Es war langsamer und melancholisch. Er wechselte immer wieder zwischen Dur und Moll, und sie dachte am Anfang, es handele sich um zwei Melodien, aber dann hörte sie genauer hin, und die beiden Melodien verschmolzen zu einem Lied.

»Was ist das?«, wagte sie nach einer Weile zu fragen. Chaim ließ ihr Haar los, drehte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf mit der Hand ab. Dabei rutschte sein Pullover an den Ärmeln hoch, und Elisabeth konnte die helle, nur ganz leicht gebräunte Haut auf seinem Unterarm erkennen und die teure Uhr an seinem Handgelenk, ein Überbleibsel aus besseren, wohlhabenderen Tagen.

Sie betete seine Hände mit den schmalen Handgelenken und den sensiblen Fingern an. Sie hätte sie gern geküsst, aber sie tat es nicht, denn sie wusste, dass Chaim jetzt keinen Sinn für Zärtlichkeiten hatte, weil er über seine Musik sprechen wollte.

»Das bist du«, sagte er. »Die Melodie, die mir gerade eingefallen ist, das bist du.« Seine dunkelbraunen Augen flackerten.

»Ich wollte schon lange etwas für dich komponieren, aber es ist schwerer, als ich angenommen habe. Zuerst dachte ich an ein fröhliches, schwungvolles Stück, wie die Lieder, die du abends singst, aber dann war ich mir nicht mehr sicher. Denn du bist manchmal so traurig und in dich gekehrt. Jetzt habe ich die Lösung, hör zu.« Er summte es ihr noch einmal vor.

»Der mittlere Teil klingt fremd«, sagte Elisabeth.

»Ja, das stimmt, aber ist es nicht ein wenig wie etwas von Grieg? Ich möchte einen Liederzyklus für dich schreiben, und den kannst du dann aufführen, wenn das Theater mit den Nazis vorbei ist. Dann wirst du in einem Konzertsaal singen, und ich werde dich am Klavier begleiten. Und es wird keinen interessieren, dass ich Jude bin. Lange wird es nicht mehr dauern.«

»Wie kannst du nur so optimistisch sein?«, sagte sie und dachte daran, wie verzweifelt er ausgesehen hatte, als er ihr erzählte, dass er im Frühjahr 1933 plötzlich nicht mehr als Assistent des Musikalischen Leiters beim Hamburger Stadttheater hatte anfangen können, obwohl ihm die Stelle schon sicher gewesen war.

»Du wirst sehen«, sagte Chaim lächelnd und küsste sie auf den Mund. Sie wünschte, dass sie ihm glauben könnte.

In den folgenden Tagen komponierte Chaim ununterbrochen, aber dieses Mal wollte er nicht, dass sie ging. Sie saß neben dem Klavier und las, während er spielte, sie schlief in seinem Bett oder kochte etwas für ihn, das er aß, ohne zu merken, was es überhaupt war. Es war eine magische Zeit; sie fühlte sich ihm nahe, obwohl er nichts anderes wahrnahm als seine Musik, denn er komponierte für sie.

Er hatte sie gebeten, die Texte zu schreiben, und als die Melodien fertig waren, fing sie an. Sie verwendete ihre eigenen Gedichte als Vorlage, die sie bisher nur Chaim gezeigt hatte. Die meisten beschrieben eine melancholisch-sehnsüchtige Stimmung, aber das gefiel ihrem Freund, denn genauso fühlte er sich fast immer, wenn er nicht musizierte oder sich in Gedanken mit Musik beschäftigen konnte.

Deine Lieder sind bis heute nicht aufgeführt worden, Chaim, es wird Zeit, dachte Elisabeth. Es kam oft vor, dass sie in Gedanken mit ihm sprach, und manchmal bewegte sie dabei auch die Lippen und musste sich darauf konzentrieren, nicht vor sich hin zu murmeln. Meine Stimme ist in den vergangenen Jahren ein wenig brüchig geworden. Ich werde nicht singen, aber du wirst mich ja auch nicht mehr begleiten können. Ich habe eine Sängerin gefunden, die mich an mich als junge Frau erinnert. Sie ist ein fröhlicher Mensch, aber irgendwie umgibt sie auch etwas Tragisches, als ob sie schon viel durchstehen musste. Ich habe sie nicht danach gefragt, aber die Lieder habe ich ihr während einer Gesangsstunde gegeben, und sie war sofort begeistert. Sie wollte sie unbedingt in der Musikhochschule aufführen, sicher auch weil sie ihre Professoren beeindrucken will. Sie präsentiert schließlich Lieder eines unbekannten jüdischen Komponisten, aber mir ist es egal, aus welchen Beweggründen sie die Lieder singt, solange sie nur endlich aufgeführt werden.

Ich habe deine Schwester in New York angerufen, Chaim, und sie hat mir Geld überwiesen, damit ich alles organisieren kann. Sie wäre so gerne selbst zum Konzert gekommen, aber nach ihrem Schlaganfall traut sie sich den langen Flug nicht mehr zu. Ruth hat dich sehr geliebt und wird dich niemals vergessen. Ich werde während des Konzertes in Gedanken ihre Hand halten und mit den Tränen kämpfen.

»Ach wirklich«, höre ich dich sagen. Deine Augenbrauen sind hochgezogen, das soll spöttisch wirken, aber in deinen Augen lese ich Bitterkeit. Ja, mein Lieber, ich werde um dich weinen, hoffentlich wirst du es erfahren, wo auch immer du jetzt bist. Ich vermisse dich. Ich weiß, es gab eine Zeit, da empfand ich anders, aber lass uns nicht wieder davon anfangen, bitte.

***

Seitdem Katja Zaron wusste, dass sie im Kammersaal an der Musikhochschule in der Fasanenstraße auftreten würde, konnte sie abends nicht mehr einschlafen. Sie lag meistens bis vier Uhr morgens wach, ehe sie erschöpft in den Schlaf sank. Heute Nacht ging sie in Rainers Zimmer. Ihr Freund bemerkte gar nicht, dass sie aus ihrem eigenen Bett floh, in dem er auf dem Bauch und mit ausgebreiteten Armen schlief. Sie setzte sich in seinen dunkelbraunen Ledersessel, den er von zu Hause mitgebracht hatte, und der ihr bei seinem Einzug beinahe einen Bandscheibenvorfall beschert hatte, weil er so schwer war. Sie versuchte, sich auf Lektüre für Minuten von Hermann Hesse zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Rainers andere Bücher interessierten sie nicht. Er las nur Biografien berühmter Leute, deren Namen sie zuletzt im Geschichtsunterricht ihres Gymnasiums gehört hatte, und Bücher über Wirtschaft. Er besaß auch die gesammelten Werke von Goethe und Theodor Storm in Ledereinbänden, aber davon zog sie nichts an, schon gar nicht nachts um ein Uhr, wenn der Rest der Wohngemeinschaft schlief. Ganz hinten in einem Bücherregal versteckt bewahrte Rainer seine erotische Literatur auf, aus der sie sich gegenseitig ab und zu vorlasen, wenn sie mal allein in der Wohnung waren: Geschichten von Anaïs Nin, Henry Miller und Charles Bukowski, aber Katja hatte keine Lust, sie allein zu lesen, und wecken wollte sie Rainer auch nicht. Sie übernachteten fast immer in ihrem Zimmer, es war größer und heller. Das Fenster ging zum Innenhof hinaus, in dem eine Sandkiste stand, die nie benutzt wurde, da niemand in ihrem Haus kleine Kinder hatte. Die Aussicht aus Rainers Fenster war noch trübsinniger, er sah auf ein Wellblechdach, auf dem sie im Sommer manchmal saßen und sich sonnten.

Katja hatte schon alles ausprobiert, um einschlafen zu können, abends noch Bier und Schnaps getrunken, war um Mitternacht in die Badewanne gegangen und hatte sich Melissenschaumbad in das Wasser gegossen. Jetzt legte sie Andreas Vollenweiders Behind the gardens, behind the wall, under the tree auf und lag mit geschlossenen Augen auf Rainers Bett. Normalerweise brachte diese Musik ihre Gedanken zum Stillstand, und sie konnte sich entspannen, aber so kurz vor dem Konzert halfen auch Vollenweiders Harfenklänge nicht.

Werde ich es schaffen, werde ich mein Lampenfieber kontrollieren können, was geschieht, wenn ich patze, fragte sich Katja ununterbrochen. Es war ihr erstes Konzert in der Musikhochschule.

Darüber, dass sie die richtigen Noten sang, machte sie sich keine Sorgen, sie hatte im vergangenen Monat fast nichts anderes geübt und ihre anderen Fächer schleifen lassen. Fast jeden Abend war sie die Lieder in einem der Probenräume der Hochschule durchgegangen, hatte die hässlichen Leuchtröhren an der Decke nicht mehr wahrgenommen und auch nicht die Kahlheit der beigefarbenen Wände und die Nüchternheit des Raumes. Gesang war gar nicht ihr Hauptfach, eigentlich studierte sie Schulmusik mit Schwerpunkt Klavier, aber der Aushang von Elisabeth Brandt am schwarzen Brett, der besagte, dass sie jemanden suchte, der Lieder des jüdischen Musikers Chaim Steinberg singen wollte, hatte sie gleich angesprochen. Denn ihre heimliche Leidenschaft gehörte dem Gesang, sie hatte immer im Chor gesungen, sich aber nicht vernünftig ausbilden können, weil es in St. Peter-Ording, wo sie aufgewachsen war, keinen guten Gesangslehrer gegeben hatte. Sie erkundigte sich bei ihren Kommilitonen über Elisabeth Brandt und erfuhr, dass sie in der Berliner Musikszene als Sängerin in Klubs bekannt war und ihre Interpretationen von Swing und Jazz immer noch als einmalig galten, obwohl sie seit einigen Jahren nicht mehr auftrat und nur noch unterrichtete.

Katja kaufte sich eine Schallplatte von Elisabeth Brandt mit Interpretationen von Cole-Porter-Songs. Sie legte sie zu Hause auf und kramte weiter in ihrem Zimmer herum, aber als Elisabeth zu singen begann, erstarrte Katja in der Bewegung. Diese Stimme berührte ihre Seele so tief, dass sie sich nach dem zweiten Lied weinend auf ihrem Sessel wiederfand. Diese Stimme brachte sie aus der Fassung, und ihr wurde auf einmal klar, dass sie viel lieber als Sängerin arbeiten wollte, als uninteressierte Schüler mit Musikunterricht zu quälen.

Vor ihrem ersten Treffen mit Elisabeth Brandt war Katja so nervös gewesen wie vor ihrer Abiturprüfung. Sie hatte Angst davor, den Ansprüchen dieser begnadeten Sängerin nicht zu genügen. Sie erwartete eine ernsthafte Frau in schwarzem Künstleroutfit und mit melancholischen Augen. Aber Elisabeth begrüßte sie mit einem breiten Lächeln, drückte ihre Hand und sagte ihr gleich, dass ihr Katjas Stimme am Telefon gefallen habe und sie schon sehr gespannt darauf sei, wie sie die Lieder singen würde. Katja war sofort fasziniert von dieser immer noch schönen Frau. Sie trug schwarze Marlene-Dietrich-Hosen und ein rotes T-Shirt mit tiefem Ausschnitt, und um ihre Haare hatte sie ein blaues Tuch geschlungen. Sie wirkte offen und freundlich, nur ihre randlose Brille, die viel zu eckig für ihr rundliches Gesicht war, passte nicht. Ohne Umschweife gab sie Katja die Noten und setzte sich ans Klavier.

»Versuchen Sie mal, das zu singen«, sagte sie. Keine Erklärung zum Komponisten. Chaim Steinberg. Mai 1934 stand auf dem Blatt, und das Lied hieß Nacht am Meer. Der Text beschrieb ein Liebespaar, das sich am Meer trifft; die Frau weiß, dass es das letzte Mal sein wird. Ziemlich kitschig, fand Katja, aber sie sagte nichts, weil sie wusste, dass Elisabeth den Text geschrieben hatte. Aber das Meer liebte sie, besonders die Nordsee im nordfriesischen St. Peter-Ording. Bei Ebbe ging man eine halbe Stunde über den Strand, bis man das Wasser erreichte, als ob man dem Meer hinterherlaufen musste. Bei Flut kamen die Wellen besonders im Herbst und im Winter manchmal bis zu den hölzernen Pfahlbauten mit ihren Restaurants.

Wenn Katja in Berlin am Wochenende zum Wannsee hinausfuhr, weil sie Wasser sehen wollte, versuchte sie, nicht an das Meer zu denken. Sie lag im Sand und redete sich ein, dass sie die vielen Menschen um sie herum nicht störten und sie die Segelboote auf dem See pittoresk fand, aber meistens half es nichts, und sie wurde traurig vor Sehnsucht nach dem Meer – eine Sehnsucht, die sie auch ergriff, als sie Nacht am Meer zum ersten Mal sang. Während sie sang, dachte sie an das wilde Tosen der Nordsee im Herbst, wenn es in der Nähe des Wassers so laut war, dass man sich nur noch schreiend unterhalten konnte. Und an das leise Plätschern der Wellen, wenn es mal im Sommer ganz windstill war, was selten vorkam. Sie sehnte sich nach dem salzigen Geschmack im Mund und danach, wie die Haut prickelte, wenn man lange in der Kälte am Meer spazieren gegangen war. Aber vor allem vermisste sie die Weite. Wenn sie als kleines Mädchen mit ihrem Vater am kilometerlangen Strand spazieren gegangen war, hatte er ihr von England erzählt und über das Meer gezeigt. »Sieh, Katja, dort hinten ist England«, hatte er gesagt, »die Möwe, die eben noch bei uns auf dem Strand spaziert ist, fliegt da jetzt hin.« England war für sie ein Zauberland, das nach Zitronendrops schmeckte, die ihr Vater ihr von seinen gelegentlichen Geschäftsreisen nach London mitbrachte.

Als Katja Nacht am Meer sang, dachte sie an Zitronendrops und an ihre damit verbundene Sehnsucht nach England, das sie immer noch nicht kannte.

Elisabeth hatte sie die ganze Zeit beobachtet und war blass geworden. Danach war sie aufgestanden und hatte den Arm um sie gelegt, als ob sie Katja trösten wollte. »Du bist die Richtige für Chaims Lieder«, hatte sie gesagt. »Willst du sie für mich singen? Entschuldige, jetzt habe ich dich geduzt.«

»Ist in Ordnung.«

»Ich bin Elisabeth. Du hast genau die richtige Dramatik in der Stimme.«

Und Katja hatte genickt und sich geschämt, weil sie sich nur nach dem Meer, Zitronendrops und ihrem Vater gesehnt hatte, mit dem sie mindestens einmal in der Woche telefonierte, und weil bisher nicht viel Dramatisches in ihrem Leben geschehen war.

***

Ich bin feige, dachte John Smithfield, ich habe es nicht einmal geschafft, nachzusehen, ob das Haus noch steht, in dem Chaims Familie bis zum Sommer 1936 wohnte, obwohl ich es Ruth Steinberg versprochen habe. Soll ich ihr sagen, dass ich es aus Zeitmangel nicht geschafft habe, oder ihr erzählen, dass das Haus noch steht und gerade renoviert wird? Möchte sie das lieber hören? Einerlei, was ich ihr sagen werde, sie wird es nicht überprüfen. Sie war seit ihrer Auswanderung nicht mehr in Deutschland, und ich glaube nicht, dass sie jemals hierher zurückkehren wird. Aber ich werde Ruth nicht vormachen können, dass ich bei Chaims Konzert war, dachte John. Sie wird zu viele Details wissen wollen und außerdem nach Elisabeth fragen.

Also würde er Ruth enttäuschen müssen, denn er wollte nicht nach Berlin fliegen. Er wollte hier in der VIP-Lounge des Hamburger Flughafens sitzen bleiben, Gin Tonics trinken, Erdnüsse essen und auf das nächste Flugzeug nach Frankfurt warten. Was würde es auch bringen, noch einmal in eine längst vergangene Epoche seines Lebens einzutauchen? Vielleicht konnten die anderen es verkraften, Ruth Steinberg und Elisabeth Brandt, vielleicht konnten sie auch nur so ihren Frieden finden. Er brauchte das nicht. Er hatte seinen Frieden mit sich längst gemacht.

Aber Ruth hatte so enthusiastisch geklungen, als sie ihm auftrug, nach Berlin zu fahren.

»Bitte sei dabei als meine Vertretung. Als Zeichen, dass es doch weitergegangen ist mit unserer Familie«, hatte sie gesagt. Warum musste ihm das ausgerechnet jetzt einfallen?

John Smithfield orderte noch einen Gin Tonic und sah ungeduldig auf die Uhr. Er wollte endlich in das Flugzeug nach Frankfurt steigen, Frankfurt war neutraler Boden. In Frankfurt würde er nicht Gefahr laufen, von seinen Erinnerungen heimgesucht zu werden. Das Einzige, was er in Frankfurt jemals gemacht hatte, waren gute Geschäfte.

Hamburg war zu gefährlich für ihn.

Schon gestern Abend, als er mit seinen Geschäftsfreunden im Fischereihafenrestaurant seinen offiziellen Rückzug aus dem Geschäftsleben feierte, weil er die Leitung seines Bostoner Groß- und Außenhandelsunternehmens »Smithfield and Son« in drei Wochen an seinen Sohn Michael übergeben würde, hatten die Erinnerungen ihn bestürmt. Vielleicht lag es nur am Wein, aber er begann davon zu erzählen, wie ihn sein Vater 1932 für ein Jahr nach Hamburg, in die Stadt seiner Vorfahren, geschickt hatte, weil er der Ansicht war, John solle sich als sein späterer Nachfolger und Inhaber von »Smithfield and Son« kulturell bilden, und wie er in Hamburg nach kurzer Zeit Chaim kennengelernt hatte.

Er begegnete ihm in einer Kneipe. Chaim saß an einem Tisch direkt an der Wand, vor sich ein Blatt Papier, auf dem er unentwegt schrieb. John setzte sich zu ihm, weil nichts anderes frei war und er neugierig darauf war, was der Mann tat. Der Mann schrieb weiter, ohne ihn zu beachten.

»Bereiten Sie einen Spickzettel für eine Prüfung vor?«, fragte John schließlich. Seine Stimme klang heiser, denn es waren die ersten Worte, die er seit drei Tagen gesprochen hatte. Er kannte noch niemanden in Hamburg.

»Nein, ich komponiere«, antwortete der Dunkelhaarige mit den für einen Mann schmächtigen Schultern und beugte sich wieder über das Blatt.

»Und das geht in einer Kneipe? Hier ist es doch ganz schön laut«, redete John weiter. Er musste sich unterhalten, auch wenn er schon bemerkt hatte, dass sein Gesprächspartner davon nicht allzu begeistert zu sein schien.

»Nein, das macht eigentlich nichts, aber jetzt habe ich den Faden verloren«, sagte sein Tischnachbar.

»Doch hoffentlich nicht meinetwegen.«

»Allerdings.«

»Das tut mir leid. Kann ich Sie zu einem Bier einladen als Wiedergutmachung?«

»Eigentlich trinke ich mittags kein Bier, aber in Ordnung«, sagte sein Gegenüber. »Ich heiße übrigens Chaim Steinberg.«

Chaim war der erste Künstler, dem John begegnete. Er wollte diesen feinfühligen Mann mit den tiefgründigen Augen unbedingt kennenlernen. Zuerst meinte Chaim, er habe keine Zeit für Freundschaft, aber als er bemerkte, dass John sich für seine Musik interessierte, fasste er Vertrauen.

John hörte ihm oft beim Üben zu, saß stundenlang im Klavierzimmer von Chaims Eltern, bewunderte Chaims Hingabe und seinen Ehrgeiz. Er selbst hatte kein Ziel, fühlte sich manchmal wie ein Stück Holz, das auf öliger See trieb. Er wusste nicht, ob ihm die Aussicht, das Familienunternehmen zu leiten, überhaupt gefiel.

Chaim schleppte ihn fast jede Woche in die Musikhalle, obwohl sich John anfänglich sträubte, denn er konnte eigentlich nichts mit klassischer Musik anfangen und liebte Swing. Aber davon wollte Chaim nichts wissen.

Zuerst ertrug John die Konzerte stumm vor sich hin leidend. Er verstand überhaupt nicht, was die da vorne auf der Bühne taten. Er langweilte sich, aber Chaim bemerkte es nicht, denn er las ununterbrochen in einem Klavierauszug oder einer Partitur, dirigierte mit einer Hand und setzte ihm nach jedem Konzert auseinander, an welcher Stelle der Dirigent Fehler gemacht hatte.

»Ich werde später besser sein«, sagte er, und John glaubte ihm sofort. Chaims Zukunftspläne standen fest. Er wollte ein berühmter Dirigent und Komponist werden, und John war davon überzeugt, dass sein Freund dieses Ziel erreichen würde.

Chaim war oft sehr ernst und melancholisch, ihn schien neben seiner Musik nicht viel anderes zu interessieren. Dennoch schaffte es John in diesem Jahr, seinem Freund die Welt näherzubringen. Er schleppte ihn in Klubs, traf Verabredungen mit Mädchen für sie beide, segelte mit ihm auf der Alster und war glücklich, wenn Chaim über seine Scherze oder seinen Akzent lachte. Und Chaim lehrte ihn das Hören, er begann die Musik, die sein Freund liebte, zu verstehen, und als er die Slawischen Tänze von Dvorak hörte, verlor er sich zum ersten Mal in der Welt der Töne.

Nach diesem Konzert saßen Chaim und er im Musikzimmer der Steinbergs vor dem Kamin und waren schon beim dritten Cognac angekommen, als sein Freund mit schwerer Zunge, aber sehr ernsthaft zu sprechen begann.

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Er hielt John einige eng beschriebene Bögen hin.

»Du hast auch ein Klavierkonzert komponiert? Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«

»Ich hatte Angst, du würdest mich auslachen.«

»Blödsinn, ich bin stolz auf dich.«

»Ich habe es in Siena geschrieben. Da war ich vor zwei Jahren. Meine Mutter hatte mir diese Reise geschenkt. Sie wollte eigentlich mitkommen, aber sie wurde krank. Ich fuhr trotzdem, mietete mir ein kleines Zimmer in einer Pension direkt an der Piazza di Campo, mitten in der Stadt. Ich fühlte mich einsam, denn ich war vorher noch nie ohne meine Familie verreist. Abends ging ich nicht weg, sondern blieb auf meinem Zimmer. Weißt du, ich war nie so mutig wie du.«

»Mutig?«

»Ja, du bist einfach auf ein Schiff gegangen und hast deine Familie und deine Freunde für ein Jahr hinter dir gelassen. Das könnte ich nicht.«

»Dass ich meine Familie für ein Jahr nicht sehen würde, hielt ich eher für eine angenehme Aussicht. Besonders meinen alten Herrn. Der tyrannisiert mich immer mit seinen hochtrabenden Vorstellungen, was ich alles werden soll. Aber erzähl weiter.«

»Ich hockte in meinem kleinen Zimmer und tat nichts. Durch das offene Fenster hörte ich Stimmen und Gelächter. Erst am dritten Abend traute ich mich hinunterzugehen und mich in ein Café auf dem Platz zu setzen. Es war warm. Ich beobachtete die Menschen und belauschte die Gespräche an den anderen Tischen. Es brachte mir mehr und mehr Spaß. All diese gestikulierenden Menschen, die ihr Herz auf der Zunge zu tragen schienen. Ich verstand kein Wort, aber das machte nichts. Aus dem Klang und Tonfall ihrer Stimmen konnte ich schließen, worüber sie sich unterhielten. Ziemlich schnell entwickelte sich aus diesen Eindrücken eine Melodie in meinem Kopf. Ich hatte kein Klavier und auch kein Notenpapier, also zeichnete ich Notenlinien auf mein Briefpapier und skizzierte die Melodie. Ich wusste, es war der Anfang eines Klavierkonzertes. Am nächsten Morgen kaufte ich mir Notenpapier und schrieb und schrieb. Es war magisch. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, woher die Einfälle kamen, sie flogen mir zu.«

»Und dann?«

»Ich kehrte nach Hause zurück und legte die Blätter in eine Schublade. Da blieben sie bis vor Kurzem. Ich hatte nie den Mut, sie mir wieder anzusehen. Aber jetzt kann ich wieder komponieren. Du inspirierst mich«, hatte er damals gesagt und ihn angelächelt. Und John hatte nicht gewusst, was er darauf erwidern sollte.

Chaim würde es mir niemals verzeihen, wenn er erführe, dass ich nicht zu dem Konzert gefahren bin, dachte John. Zwar würde das Klavierkonzert nicht aufgeführt werden, aber Chaims Lieder, die er für Elisabeth geschrieben hatte. Werde ich sie wiedersehen, fragte er sich. Bisher hatte er sich verboten, an Elisabeth zu denken. Jetzt bestürmten ihn die Gedanken an sie.

Ob sie auch selbst singen wird? Als sie Anfang zwanzig war, hatte er sie singen hören. Ihre Stimme war damals fantastisch gewesen. Das war unendlich lange her. Er wusste nicht, ob er Elisabeth überhaupt wiedersehen wollte, aber es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er alles für so eine Gelegenheit hergeschenkt. Sollte er sie jetzt vorübergehen lassen, auch wenn ihm nicht klar war, was geschehen würde, wenn er nach all der Zeit wieder vor ihr stände.

Statt nach einer Antwort zu suchen, ergriff John sein Handgepäck, legte sich seinen blauen Trenchcoat über den Arm und verließ die Lounge in Richtung Pan-Am-Schalter.

Kapitel 2

Elisabeth sah auf die Uhr. Schon vor einer Viertelstunde hätte Katja zur Probe erscheinen sollen. Warum waren kreative Menschen oft der Ansicht, Pünktlichkeit sei etwas für Buchhalter und nicht für sie? Chaim hatte nie Reue gezeigt, wenn er sie hatte warten lassen oder ihre Verabredung sogar einfach vergaß. Zuerst hatte sie es geheimnisvoll gefunden, dass ihr Freund sich nur selten an ausgemachte Termine hielt. Es war ja auch nicht schlimm gewesen, denn wenn er ein Treffen mit ihr wieder einmal vergessen hatte, ging sie einfach in seine Wohnung, um ihn abzuholen. Dort fand sie ihn fast immer am Klavier, und sie wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, ihm Vorwürfe zu machen, weil er beim Musizieren die Zeit vergaß.

Aber später, als sie nicht mehr bei ihm wohnte, als sie sich nur noch zu bestimmten Zeiten und an einsamen Plätzen treffen konnten, ärgerte es sie, dass er so unzuverlässig war, und nicht nur einmal hatte sie vor Kälte gezittert, während sie auf ihn wartete, und auch vor Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.

Die Tür flog auf, und Katja kam herein. Sie trug einen Strohhut und ein rotes, weit ausgeschnittenes Sommerkleid, das kurz über den Knien endete. Sie hatte schlanke, gebräunte Beine, ihre Füße steckten in hochhackigen, roten Sandalen. Sie sieht blendend aus, stellte Elisabeth ein wenig neidisch fest. Als sie mit Chaim zusammenwohnte, hatte sie auch so ausgesehen, aber heute trug sie keine kniefreien Kleider mehr, sondern Hosen mit weiten Beinen und Gummizug, darüber Hemden oder T-Shirts in rot, schwarz, weiß oder blau. Sie schmiegten sich an ihre Figur, sie hatte eine immer noch schlanke Taille, auch wenn sie nicht mehr ganz so schmal war wie früher. Ihre Oberschenkel waren dicker geworden, aber immer noch straff. Eigentlich war sie mit sich zufrieden. Dennoch gab es Momente wie diesen, in denen sie sich wünschte, noch einmal so jung zu sein wie Katja, die gerade Mineralwasser aus der Flasche trank. Sie wirkte so sorglos, und Elisabeth beneidete sie um diese Sorglosigkeit, denn sie selbst hatte in ihrer Jugend solche Zeiten unbeschwerter Sorglosigkeit nicht erlebt.

Katja entschuldigte sich nicht für ihr Zuspätkommen.

»Lass uns anfangen, wir haben diesen Raum nur für zwei Stunden«, sagte Elisabeth. Es hatte keinen Sinn, sie wegen ihrer Unpünktlichkeit zu rügen.

Die junge Frau stellte sich in Position, machte sich gerade und begann mit den Tonübungen. Alles Fahrige fiel von ihr ab. Sie modulierte ihre Stimme exakt, ihre Bauchdecke hob und senkte sich unter dem eng anliegenden Stoff des Kleides.

Elisabeth begleitete die Übungen am Klavier. Während der Proben übernahm sie diesen Part, aber für das Konzert hatte sie einen Pianisten engagiert, weil sie befürchtete, die Fassung zu verlieren, wenn sie selbst Chaims Lieder begleitete.

Sie schlug den Klavierauszug auf, den sie hatte drucken lassen, weil die Originalnoten auseinandergefallen waren.

»Lass uns mit Nacht am Meer beginnen«, sagte sie zu Katja.

Elisabeth erinnerte sich noch genau, wie sie den Text geschrieben hatte. Damals wohnte sie bei ihren Eltern in dem kleinen, weißen Haus mit dem ordentlichen Vorgarten in Wilmersdorf. Sie wusste nicht, ob es noch stand, sie wollte es auch gar nicht wissen. Sie hatte seit ihrem Auszug 1933 immer einen Bogen um diese Gegend gemacht. Ihre Eltern lebten schon lange nicht mehr dort, sie waren kurz nach dem Krieg nach Chile ausgewandert. Mehr wusste Elisabeth nicht, und es interessierte sie auch nicht.

Nacht am Meer hatte einen zutiefst melancholischen Text. Die Frau weiß, dass sie ihren Geliebten nur noch dieses eine Mal sehen kann, sagt es aber nicht, sondern verabschiedet sich in Gedanken von ihm, während sie die Nacht mit ihm verbringt. Dieses Klagelied auf eine verlorene Liebe inspirierte Chaim zu einer Melodie, bei der das Klavier nur die Akzente setzte.

Trotz ihrer scheinbaren Unbekümmertheit war sich Elisabeth sicher, dass Katja den Schmerz kannte, den der Verlust eines geliebten Menschen hervorrief. Sie schloss beim Singen die Augen, und in ihrer Stimme schwang Trauer mit. Natürlich hätte ich es selbst noch besser singen können, dachte Elisabeth und bedauerte nicht zum ersten Mal, dass sie nicht schon vor Jahren den Mut gefunden hatte, Chaims Lieder aufzuführen.

Wie schön Chaim gewesen war, als er Melodien zu ihrem Text improvisiert hatte. Sein Kopf erstrahlte im Schein der untergehenden Sonne, der durch das Dachfenster fiel. Er hatte sein Gesicht über die Tasten gebeugt, und seine Finger folgten seinen Eingebungen. Elisabeth hatte sich in den alten Sessel gesetzt, der dem Klavier gegenüberstand, und ihm zugesehen.

Er war der einzige Mann, dessen Aussehen sie jemals gerührt hatte. Seine Haut war eigentlich zu zart und blass für einen Mann. Neben seinen schmalen Fingern wirkten ihre eigenen derb. Seine schmalen Schultern hielt er so, als ob die Last der ganzen Welt auf ihnen läge. Er war fast immer ernst, nur in den Augenblicken der Entrückung, wenn er seinen Geist und seine Seele ganz der Musik öffnete, verlor er den melancholischen Zug, der sonst in seinen Mundwinkeln saß, und er wirkte glücklich.

Der scheppernde Klang seines alten Klaviers kümmerte ihn nicht, obwohl er auf einem Steinwayflügel Klavierspielen gelernt hatte, denn er hörte seine Musik in einer Vollendung, mit der es kein Flügel dieser Welt hätte aufnehmen können.

Das Leben mit Chaim machte sie glücklich, auch wenn sie wusste, dass seine Musik ihm wichtiger war als sie. Im Klub trat sie als Sängerin auf, sie verdiente gut. Chaim brauchte nicht viel, er trug immer noch die Kleider, die er in Hamburg gekauft hatte. Sie gingen selten aus, und die Miete war niedrig. Er bekam Geld vom Jüdischen Kulturbund und spielte ab und zu abends in den großen Hotels. Und danach kehrte er zu ihr in seine Wohnung zurück und liebte sie vorsichtig und langsam. Aber immer öfter sehnte sie sich nach einem leidenschaftlichen Liebhaber, sie vermisste Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, auch wenn sie versuchte, sich diese Sehnsucht zu verbieten.

Nach der Probe war Katjas Oberteil durchgeschwitzt, und auch Elisabeths T-Shirt klebte. Eigentlich hätte sie sofort nach Hause gehen und sich umziehen mögen, aber Katja fragte sie, ob sie noch einen Kaffee mit ihr tränke. Elisabeth wunderte sich über sich selbst, dass sie zustimmte, denn sie wollte mit ihren Gedanken an Chaim allein sein. Aber Katja schien es sehr wichtig zu sein, mit ihr zu sprechen.

Sie setzten sich in ein kleines Café. Hier drinnen waren sie die einzigen Gäste, die anderen Leute hatten sich draußen vor der Tür einen Platz gesucht. Es war sonnig und warm, aber sie beide genossen die Kühle und Ruhe im Innenraum. Elisabeth steckte sich eine Gauloise an, hielt ihrer Schülerin die Schachtel hin, und zu ihrer Überraschung nahm Katja auch eine Zigarette. Normalerweise winkten die jungen Sänger mit der Begründung ab, sie wollten sich durch das Rauchen nicht ihre Stimme verderben. Elisabeth konnte das nicht nachvollziehen, sie hatte eigentlich immer geraucht, zwar nie so viel, dass ihre Atemtechnik dadurch beeinträchtigt wurde, aber doch genug, um sich als Raucherin zu fühlen.

»Eigentlich rauche ich ja nicht, aber ich bin jetzt so nervös, weil ich dich etwas fragen möchte«, sagte Katja und wurde sogar rot. Nicht zum ersten Mal wunderte sich Elisabeth über die Schüchternheit dieser jungen, schönen Frau. Sie sah Katja lächelnd an und wartete.

»Vielleicht ist es indiskret, aber ich würde gerne mehr über Chaim Steinberg wissen. Bisher kenne ich nur seine Musik und das wenige, was du mir erzählt hast. Du standest ihm doch nahe?«

»Ja, ich liebte ihn sehr.«

»Wie war er? Um eine solche Musik zu schreiben, muss er sehr einfühlsam gewesen sein.«

»Ja, beinahe zu sehr. Manchmal hatte ich den Eindruck, er sei nur zufällig auf dieser Welt, und sein Platz wäre sonst irgendwo anders. Als er klein war, wollte er ein Vogel werden, erzählte er mir. Er hatte sich auch schon genau überlegt, wie er es anstellen würde. Er würde sich beim Schwimmen in der Elbe einfach zu weit hinauswagen und dann untertauchen, sich tot stellen, bis die Strömung ihn mitrisse. ›Und wenn ich dann gestorben bin, erhebe ich mich als Vogel aus den Fluten, so stellte ich mir das vor‹, erklärte er mir einmal. Und ich war mir sicher, dass er den Plan, sich zu ertränken, in die Tat umgesetzt hätte, wenn ihn seine Mutter nicht rechtzeitig darüber hätte aufklären können, dass ein Mensch sich nach seinem Tod nicht einfach in einen Vogel verwandelt. Chaim hing nicht sehr am Leben«, sagte Elisabeth, aber sie wusste nicht, ob das sein Lebensgefühl richtig beschrieb. Er war nicht depressiv oder lebensmüde gewesen. Aber für ihn ergab das Leben nur dann einen Sinn, solange er musizieren konnte.

»Wie habt ihr euch kennengelernt?«, fragte Katja.

Elisabeth war Chaim in einer eleganten Wohnung in Zehlendorf begegnet, einer dieser Wohnungen, die ihr mit Anfang zwanzig unendlich viel Respekt einflößten. Die Decken waren verschwenderisch mit Stuck verziert, bei jedem Schritt knarrte der Parkettfußboden, in den Intarsien eingelegt waren. Große orientalische Teppiche dämpften die Schritte. Drei ineinander übergehende Räume wurden durch weiß lackierte Flügeltüren getrennt: eine Bibliothek mit schweren rotbraunen Ledermöbeln, in der Mitte ein Salon, an der Wand ein weißer Schrank, gefüllt mit Meißner Porzellanfiguren, unter den Fenstern zierliche weiße Sessel und kleine Mahagonitische.

Ein schlanker, feingliedriger Mann lehnte am Fenster des Salons und schaute mit einem Ausdruck, der zwischen Langeweile und Melancholie schwankte, über die anderen Gäste hinweg. Er trug seinen Frack mit einer natürlichen Eleganz, als ob er das täglich täte. Er war nicht unsicher, obwohl er abseits stand und von den anderen in Ruhe gelassen wurde und sie ihn respektvoll aus der Ferne beobachteten. Das muss Chaim Steinberg sein, dachte Elisabeth, der vielversprechende junge Musiker, der heute Abend spielen soll.

Im dritten Zimmer, das größer war als Elisabeths gesamte Wohnung, befand sich ein gelber Flügel, und davor waren Stühle aufgereiht. Sie hatte zu viel Sekt getrunken, weil sie sich in dieser Umgebung nicht wohlfühlte. Sie hatte eigentlich nicht kommen wollen, aber ihre jüdische Schulfreundin Charlotte, die sich um sie kümmerte, seit sie nicht mehr bei ihren Eltern lebte, hatte sie dazu überredet.

»Du musst mal etwas anderes sehen als deinen Klub, dreckiges Geschirr und die mürrischen Gesichter der Gäste«, hatte sie gesagt. Es war Anfang 1934, und sie arbeitete in einem Klub als Zigarettenverkäuferin und Kellnerin.

»Ich habe überhaupt nichts anzuziehen«, hatte sie sich noch gewehrt. Daraufhin hatte Charlotte ihr ein dunkelblaues Kleid mit kleinem, rundem Ausschnitt und Faltenrock übergestülpt und ihr noch eine lange Perlenkette umgehängt. Ich sehe fast so aus, als ob ich zu dem Kreis gehören würde, dachte Elisabeth, aber sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken.

Die Dame des Hauses stellte Chaim Steinberg vor. Er habe leider in der heutigen Zeit wenige Möglichkeiten aufzutreten, sagte sie, und sie sei besonders froh darüber, ihn durch dieses bescheidene Hauskonzert fördern zu können.