Ein Sommer in Bonneville - Tania Schlie auch bekannt als SPIEGEL-Bestseller-Autorin Caroline Bernard - E-Book
SONDERANGEBOT
6,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von zarter Kraft und großem Mut: Der bewegende Schicksalsroman »Ein Sommer in Bonneville« von Bestseller-Autorin Tania Schlie als eBook bei dotbooks. Das Meer führte sie zusammen – das Leben reißt sie wieder auseinander … Frankreich im Jahre 1919. Die schöne Mathilde, Tochter eines Fischers, ist überglücklich, als der aufstrebende Maler Roger um ihre Hand anhält. Doch nun, nach einem langen Sommer in der Normandie, muss er nach Paris zurückkehren und verspricht, sie bald zu sich zu holen. Dann der Schock: Mathilde erfährt, dass sie schwanger ist – und Roger eine Andere geheiratet hat! Vor Mathilde liegt ein steiniger Weg, der sie schließlich nach Deauville führen wird, wo eine gewisse Mademoiselle Chanel gerade beginnt, die Welt der Mode zu erobern. Auch Mathildes Leben nimmt hier eine ungeahnte Wendung. Aber kann sie Roger wirklich vergessen? Jetzt als eBook kaufen und genießen – der bewegende Schicksalsroman »Ein Sommer von Bonneville« von Tania Schlie, ursprünglich veröffentlicht unter dem Pseudonym Greta Hansen und dem Titel »Eine Liebe in der Normandie«. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 490

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über dieses Buch:

Das Meer führte sie zusammen – das Leben reißt sie wieder auseinander … Frankreich im Jahre 1919. Die schöne Mathilde, Tochter eines Fischers, ist überglücklich, als der aufstrebende Maler Roger um ihre Hand anhält. Doch nun, nach einem langen Sommer in der Normandie, muss er nach Paris zurückkehren und verspricht, sie bald zu sich zu holen. Dann der Schock: Mathilde erfährt, dass sie schwanger ist – und Roger eine Andere geheiratet hat! Vor Mathilde liegt ein steiniger Weg, der sie schließlich nach Deauville führen wird, wo eine gewisse Mademoiselle Chanel gerade beginnt, die Welt der Mode zu erobern. Auch Mathildes Leben nimmt hier eine ungeahnte Wendung. Aber kann sie Roger wirklich vergessen?

Über die Autorin:

Tania Schlie, geboren 1961, studierte Literaturwissenschaften und Politik in Hamburg und Paris. Bevor sie anfing zu schreiben, war sie Lektorin in einem großen Verlag. Heute lebt sie als erfolgreiche Autorin in der Nähe von Hamburg.

Bei dotbooks veröffentlicht Tania Schlie, die auch unter den Namen Greta Hansen und Caroline Bernard erfolgreich ist, die Romane »Der Duft von Rosmarin und Schokolade«, »Der Duft von Sommerregen«, »Die Spur des Medaillons«, »Eine Liebe in der Provence«, »Die Liebe der Mademoiselle Godard«, und – auch als Sammelband unter dem Titel »Auf den Flügeln der Hoffnung« erhältlich – »Elsas Erbe«, »Zwischen uns der Ozean« und »Die Jahre ohne dich«.

***

eBook-Neuausgabe Juni 2019

Dieses Buch erschien bereits 2013 unter dem Titel »Eine Liebe in der Normandie« und dem Autorenpseudonym Greta Hansen bei Piper.

Copyright © der Originalausgabe 2013 Piper Verlag GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Simon Rucker, olganys, Irina Alexandrovna

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-434-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Ein Sommer in Bonneville« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Tania Schlie

Ein Sommer in Bonneville

Roman

dotbooks.

TEIL 1MATHILDE MIT ROSEN

Kapitel 1

Endlich, dachte Mathilde Martinet, als sie an diesem Morgen im März 1919 erwachte und die hellen Strahlen sah, die durch die Eisblumen an der Scheibe hindurch in ihr Zimmer fielen. Endlich scheint die Sonne wieder!

Es war der kälteste Frühling seit Menschengedenken. Als hätten die Menschen im vergangenen Krieg nicht schon genug gelitten, lag ganz Frankreich unter einer Schneedecke begraben. Und dabei stand doch Ostern vor der Tür.

Mathilde schlug die Bettdecke zurück, und die Kälte, die im Zimmer herrschte, überfiel sie. Die Sonne brachte Licht, aber noch lange keine Wärme. Sie schauderte, als ihre nackten Füße den eiskalten Dielenboden berührten, und streifte die dicken Strümpfe über, die sie bis über die Knie hinaufzog. Dann trat sie ans Fenster. Sie hauchte das eisüberzogene Glas an, um ein kleines Loch in das Eis zu schmelzen, und stieß einen Schrei des Entzückens aus. Sie kniff die Augen gegen das blendende Sonnenlicht zusammen und betrachtete die Eiskristalle, deren filigrane Verästelungen sich unter ihrem warmen Atem auflösten.

Über Nacht hatte es erneut geschneit, aber an diesem Morgen war endlich die Sonne herausgekommen. Die Landschaft vor ihrem Fenster glänzte in ihrem Licht. Der Schnee lag auf den Ästen der Apfelbäume der Obstwiese, die sich hinter dem Haus erstreckte, und ließ sie leuchten, als seien sie mit Diamanten besetzt. Oder als stünden sie schon in voller Blüte.

Sie riss das Fenster auf und beugte sich weit hinaus, um nach rechts zu den Klippen hinüberzusehen, obwohl die eiskalte Luft sie vor Kälte mit den Zähnen klappern ließ. Weil Ebbe war, konnte sie ein Stückchen Strand erkennen, das ebenfalls mit einer Schneeschicht bedeckt war und noch weißer erschien als die senkrecht aufragenden Kreideklippen an der Steilküste von Bonneville.

Mathilde schloss das Fenster wieder und schlüpfte in ihren Wollrock. Dann zog sie die selbst gestrickte Jacke mit dem doppelten Zopfmuster über die Bluse und verließ ihr Zimmer.

Als sie in die Küche kam – der einzige Raum im Haus, der am Morgen geheizt war –, sah sie sofort, dass der Platz ihrer Tante Marie-Anne verwaist war. Ihre Eltern und ihre beiden Schwestern saßen bereits am Tisch, und an ihrem eigenen Platz standen ein Teller sowie ein Becher mit Tee bereit, aber Marie-Annes Platz am Kopfende war nicht gedeckt. An den betretenen Gesichtern der anderen erkannte Mathilde, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein ungutes Gefühl beschlich sie.

»Wo ist denn Tante Marie?«, fragte sie.

Sie folgte dem Blick ihrer Schwester Pauline und sah zum Fenster hinaus. Draußen entdeckte Mathilde ihre Tante, die sich mit raschen Schritten vom Haus entfernte und schon fast das Ende des Hofes erreicht hatte. Rechts ging es zur Steilküste und zum Meer, links begann der Weg nach Bonneville. Mathilde konnte sehen, dass Marie-Anne ihr Sonntagskleid trug und über die Schultern das dicke wollene Tuch gelegt hatte. Sie trug schwer an dem braunen Familienkoffer, den eigentlich nie jemand benutzte, denn in der Familie Martinet verreiste man nicht. Nicht einmal als Mathildes Onkel François – der Bruder von Papa und Marie-Anne – in den Krieg gezogen war, hatte er ihn mitgenommen. Sonst wäre der Koffer auch verloren gewesen, denn François war von den Schlachtfeldern des Großen Krieges bisher nicht zurückgekehrt.

Mathilde wusste sofort, was das alles zu bedeuten hatte. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte jemand heftig hineingeboxt. Nun war also herausgekommen, dass Marie-Anne sich regelmäßig mit diesem Mann getroffen hatte, einem englischen Soldaten. Mathilde hatte Bescheid gewusst, und wenn sie nur rechtzeitig etwas gesagt hätte, dann hätte ihr Vater diese Treffen vielleicht verboten. Vielleicht wäre Marie-Anne dann noch hier. Der Gedanke, dass ihre geliebte Tante ging, ohne sich von ihr zu verabschieden, war unerträglich. Ohne zu überlegen, drehte sie sich um, um ihr nachzueilen, doch ihr Vater hielt sie zurück.

»Du bleibst hier!«, befahl Georges Martinet barsch.

Mathilde hielt in ihrer Bewegung inne und blickte die anderen an: Ihre Schwestern starrten auf die Teller vor sich und sagten nichts, ihre Mutter Henriette sah sie aus feuchten Augen an.

Eine hilflose Wut stieg in ihr auf. Sie merkte, dass auch ihr die Tränen kamen.

»Aber was ist denn passiert? Wohin geht Tante Marie?«

»Setz dich!«, donnerte ihr Vater. »Sofort!«

Doch Mathilde blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Erst wenn ihr mir sagt, was los ist.« Dabei warf sie ihrem Vater, der die Ellenbogen aufgestützt hatte, einen wütenden Blick zu und musterte ihn.

Er trug seine Seemannskluft, was bedeutete, dass er heute noch hinausfahren würde: dunkle Hosen, darüber kniehohe Lederstiefel, die, um wasserfest zu sein, so dick und schwer waren, dass Mathilde sie als Kind kaum hatte anheben können. Außerdem trug er ein dunkles Hemd, darüber einen grob gestrickten Pullover und selbstverständlich das dunkle Halstuch, das aus der kragenlosen Jacke ragte, die er zusätzlich gegen die Kälte anhatte. Seine Kapitänsmütze lag neben ihm auf dem Tisch, ebenso die Pfeife, die er fast immer im Mund hatte, außer wenn er schlief oder aß.

Als ihr Vater weiterhin schwieg, antwortete schließlich ihre Mutter mit trauriger Stimme: »Deine Tante hat dieses Haus verlassen.«

Mathilde verstand nicht. »Sie hat unser Haus verlassen? Aber warum? Wohin geht sie denn? Und wann kommt sie zurück?«

»Sie gehört nicht länger zu unserer Familie.« Georges Martinets Stimme klang gefährlich ruhig. »Und ich möchte ihren Namen in meinem Haus nie wieder hören.« Er faltete die Hände zum Gebet, und das war das Zeichen, dass nicht mehr gesprochen werden durfte.

Mathilde setzte sich an ihren Platz. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Mit zitternden Händen griff sie nach ihrer Teetasse, konnte aber keinen Schluck hinunterbringen.

Marie-Anne Martinet war ganz anders als ihr Bruder Georges. Vielleicht lag es an dem großen Altersunterschied, der viele glauben ließ, die beiden seien Vater und Tochter und nicht Geschwister. Georges war dreiundfünfzig Jahre alt, Marie-Anne gerade siebenundzwanzig geworden. Die beiden hatten noch fünf weitere Geschwister gehabt. Vier waren bereits als Säuglinge gestorben, der fünfte war François gewesen, der im Krieg geblieben war.

Marie-Anne war eine fröhliche junge Frau, die gern lachte und dem Leben die besten Seiten abzugewinnen versuchte. Für die achtzehnjährige Mathilde war sie wie eine große Schwester, die manchmal seltsame Ideen hatte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Marie-Anne die Türen und Fenster des Hauses in einem leuchtenden Blau hatte streichen wollen.

»Warum?«, hatte ihr Vater sie gefragt.

»Warum nicht?«, hatte sie zurückgefragt.

»Es bringt nichts. Es kostet Geld.«

»Es macht unser Haus schöner, es bringt Farbe hinein.«

»Wozu Farbe?«

So hatten sie stundenlang gestritten, bis Marie-Anne schließlich aufgegeben hatte. Aber nur fast: Den Rahmen der hölzernen Eingangstür hatte sie schlussendlich doch blau gestrichen.

Mathilde konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne Marie-Anne aussehen würde. Sie vermisste sie bereits jetzt.

Sobald ihr Vater nach dem Frühstück zu seinem Boot gegangen war, wandte sie sich an ihre Mutter. »Maman, sag mir, was passiert ist.«

Henriette Martinet drehte sich zu ihr um. »Marie-Anne erwartet ein Kind.«

Mathilde erstarrte. Wieder kam ihr der Gedanke, dass sie das alles hätte verhindern können, wenn sie rechtzeitig von diesem Mann erzählt hätte. Aber Marie-Anne war so glücklich mit ihm gewesen! Und nun war ihr das Schlimmste passiert, was einer unverheirateten Frau in Bonneville passieren konnte. Sie war schwanger.

»Aber wohin geht sie denn?«, rief sie. »Sie hat doch nur uns!«

Ihre Mutter nickte. »Dein Vater hat sich immer verantwortlich für sie gefühlt, so als wäre sie seine vierte Tochter, neben dir, Mélanie und Pauline. Aber das mit der Schwangerschaft kann er ihr leider nicht vergeben.«

»Aber wo soll Tante Marie denn jetzt hin, bei dieser Kälte?«

»Ich habe ihr ein wenig Geld zugesteckt. Mehr konnte ich nicht für sie tun.« Ihre Mutter wandte den Blick ab.

***

Am 28. April, eine Woche nach Ostern, begann es erneut zu schneien. Jetzt hatte Mathilde nicht einmal mehr Freude an den Eisblumen vor ihrem Fenster. Sie fror ständig, und wenn sie an die Arbeit dachte, die ihr heute bevorstand, schüttelte sie das Grauen.

Es war der letzte Tag der Karawane. So wurden die zwei Wochen genannt, in denen das Fischereiministerium die Schleppjagd auf die wilden Austernbänke erlaubte. Die Männer fuhren in ihren robusten Dreimastern zu den Austernbänken hinaus und zogen Netze über den Meeresboden, um die Austern abzuschaben. Die vollen Netze wurden mit Winschen an Bord gehievt, entleert und dann erneut ausgesetzt. Jeden Abend kamen die Männer völlig durchnässt und halb erfroren in den Hafen zurück. Vielleicht lag es an der kalten Witterung, dass die Jagd in diesem Jahr nicht sehr erfolgreich war. Georges Martinet hatte sein Boot am vergangenen Tag nicht einmal halb voll nach Hause gebracht. Statt der üblichen viertausend Austern hatten er und seine Mannschaft nur knapp eineinhalbtausend gefangen.

Mit den anderen Frauen von Bonneville stand Mathilde oben an den Klippen und hielt Ausschau nach den Booten. Der Kanonenschuss, der die Boote zurückrief, war bereits ertönt, es konnte also nicht mehr lange dauern, bis sie in Sicht kamen.

Bonneville lag auf halber Strecke zwischen Honfleur und Trouville und bot weit und breit den einzigen sicheren Hafen für die Fischer an der felsigen Steilküste. Wobei Hafen zu viel gesagt war, denn Bonneville verfügte über kein befestigtes Hafenbecken, weshalb die Fischer mit ihren flachen Booten fast bis auf den Strand hinauffuhren. Wenn die Tide ungünstig war, wurden sie über Seilwinden hinaufgezogen.

»Heute müssen sie mehr Glück haben, sonst weiß ich nicht, wie wir über die Runden kommen sollen. Wenn wir keine Austern einsetzen, was sollen wir dann in zwei Jahren verkaufen? Das ist ja genauso schlecht wie zu Kriegszeiten«, murmelte die alte Yvonne, deren Mann in diesem Jahr zum letzten Mal hinausfuhr. Sie bekreuzigte sich, als sie die Jeune Marie erkannte, das Boot ihres Mannes. Ihr Sohn Bienaimé winkte ihr vom Schiff aus zu, und sie bekreuzigte sich noch einmal. Bienaimé war der Idiot des Dorfes, er hatte tief liegende Augen unter schwarzen dicken Brauen und einen schiefen Gang, war schwerfällig, dabei aber äußerst gutmütig. Er hatte nicht in den Krieg gemusst, was man im Dorf als eine Art Entschädigung dafür betrachtete, wie viele Scherereien seine Mutter ansonsten mit ihm hatte.

Die Umstehenden nickten zustimmend.

»Wir hätten im letzten Jahr dem Meer huldigen sollen, vielleicht wäre der Fang dann heute besser«, murmelte Ernestine Galoppeau, die Frommste unter den Frauen.

Zwar nickten einige der Frauen zustimmend, doch die meisten winkten ab.

In Bonneville gab es jedes Jahr ein Fest zu Ehren des Meeres mit einem feierlichen Gottesdienst und einer anschließenden Prozession hinunter zum Strand, um Beistand für die Männer draußen auf See und einen guten Fang zu erbitten. Im letzten Jahr des Krieges war das Fest jedoch ausgefallen, denn die Frauen hatten andere Sorgen gehabt. Vor dem Krieg hatte es gut vierzig Boote in Bonneville gegeben, heute waren es nur noch halb so viele. Viele Männer waren nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, ihre Schiffe waren verkauft oder während der Kämpfe zerstört worden.

»Wie hätten wir mitten im Krieg, ohne Männer, die Prozession auf die Beine stellen sollen? Wir hatten ja nicht mal einen Pfarrer!«, wagte Pauline einzuwenden, und die Frauen stimmten zu.

Mathilde dachte in diesem Moment an etwas ganz anderes, nämlich an das Tanzvergnügen, das es wie in jedem Jahr am Ende der Austernkarawane geben würde.

Aber vorher mussten sie noch die Austern sortieren, was eine ziemliche Plackerei war.

Sie entdeckte die Bonnefoi, das Boot ihres Vaters, das wie die anderen Segler jetzt auf Bonneville zusteuerte. Die Boote mussten alle denselben Wind nutzen und fuhren deshalb eins nach dem anderen hinaus zu den Austernbänken und wieder zurück. Wie Kamele in der Wüste. Daher der Name Karawane.

Mathilde machte sich mit den anderen Frauen und den älteren Kindern, die ebenfalls mitarbeiten mussten, auf den Weg hinunter zum Strand. Der Pfad schlängelte sich in halsbrecherischen Windungen die sandige und von Baumwurzeln durchzogene Steilküste hinab. Hin und wieder hatte man grobe Betonschwellen in den Sand eingelassen, um den Abstieg zu erleichtern. Doch sie mussten alle paar Jahre neu verlegt werden, weil sie durch die Gezeiten und die Winde untergraben oder vom wandernden Sand verschluckt wurden.

Gleichzeitig mit den Frauen erreichten auch die ersten Boote den Strand. Mathilde wusste, wie sehr ihr Vater und die anderen Männer jedes Mal Gott dankten, wenn sie Land in Sicht hatten. Bonneville war für seine kühnen Seefahrer bekannt, aber auch für die vielen Schiffbrüche. Es verging kaum ein Jahr, in dem nicht eines der Boote vom Meer verschluckt wurde.

Mathilde stellte sich das Bild vor, das sich den Männern bot, wenn sie sich dem Land näherten. Sie konnten die Häuser oben an der Steilküste schon von Weitem sehen. Hinter dem Ort, im Landesinneren jenseits der Straße von Le Havre nach Deauville, erhob sich der bewaldete Hügel. An der Steilküste, die zum Teil aus Kreidefelsen, zum Teil aus Sand bestand, ließen sich die Pfade hinunter ans Meer ausmachen, und die Männer konnten mitverfolgen, welchen Strandzugang ihre Frauen nahmen, um ihnen beim Ausladen zu helfen. Am Fuß der Steilküste lag der Strand, der von Prielen durchzogen und von großen schwarzen Felsen, den Roches Noires, bedeckt war.

Die Männer hatten ihre Boote etwa dreißig Meter vom Strand entfernt mit hölzernen Bohlen, die back- und steuerbord in den Sand gerammt worden waren, festgemacht und waren bereits dabei, die Austern mit großen Schaufeln über Bord zu schaffen. An den Gesichtern der Männer und an ihren etwas lahmen Bewegungen konnte jeder erkennen, dass auch der letzte Tag nicht besonders erfolgreich gewesen war.

Mathilde suchte die Wasserlinie ab, um abzuschätzen, wie lange es dauern würde, bis sie die Austernhaufen bei Niedrigwasser erreichen konnten. Eine knappe halbe Stunde noch. Das Wasser kam und ging hier an der Küste der Normandie so schnell, wie ein Pferd galoppiert, so lautete ein alter Spruch. Erst bei Ebbe begann die Arbeit der Frauen. Die Austern mussten nach Größe sortiert und von Algen befreit, die zusammengewachsenen voneinander getrennt werden. Die kleinen waren besonders wertvoll. Sie wurden in spezielle Körbe gelegt und später zu den Austernbänken gebracht, die einen guten Kilometer westlich vom Ort in Strandnähe lagen. Dort würden sie noch zwei oder drei Jahre lang wachsen, bis sie groß genug für die Märkte in Paris und Deauville waren.

Mathilde trat von einem Bein auf das andere. Ihre Füße in den Stiefeln waren schon ganz taub vor Kälte, der Saum ihres Rocks war durchnässt und schwer, schon jetzt war jeder Schritt ein Kraftakt, und dabei hatte die eigentliche Arbeit noch nicht einmal begonnen. Ihre Finger waren von der Arbeit der vergangenen Tage rot und rissig, denn die Schalen der Austern waren tückisch scharf. Sie wehrten sich. Manchmal fühlte sich Mathilde wie in einem Zweikampf mit den Tieren, die um ihr Leben rangen. Aber sie empfand kein Mitleid mit den Kreaturen. Ihr oder wir, dachte sie oft, wenn sie sich die Haut an einer Schale aufritzte und ein Blutstropfen herausquoll.

Den anderen Frauen war auch anzumerken, dass sie froren. Die Lust an Witzen und Sprüchen war ihnen vergangen, spätestens als sie die langen Gesichter ihrer Männer, Väter und Brüder gesehen hatten. Und dennoch hätte ein unaufmerksamer Beobachter aus der Ferne glauben können, sie würden tanzen, weil sie alle versuchten, in hüpfenden Bewegungen warm zu bleiben.

Mathilde erkannte in der Ferne ihre Mutter Henriette. Sie näherte sich mit flinken kleinen Schritten, die wenig zu ihrer drallen Figur passten. Mathilde wusste, dass ihre Mutter zu Hause noch eine Suppe für den Abend auf den Herd gestellt hatte und auf die Minute genau losgegangen war, um rechtzeitig zum Austernsortieren zur Stelle zu sein. Sie war es auch, die die Verhandlungen mit den Käufern führte. Das konnte sie besser als jeder andere, sie war eine harte Feilscherin und eine ausgezeichnete Rechnerin, die eher die Kunden übers Ohr haute, als selbst den Kürzeren zu ziehen.

»Na, wie weit seid ihr?«, rief sie, als sie ihre Töchter erreicht hatte. »Jetzt aber los, bald wird es dunkel. Lasst uns anfangen. Meine Güte, ist das kalt!«

Sie wateten durch das Wasser, das ihnen immer noch bis zu den Knöcheln reichte, zum Boot von Georges Martinet. Henriette wechselte ein paar kurze Worte mit ihrem Mann, um über den Fang zu sprechen.

Als die Austern endlich halbwegs im Trockenen lagen, stellte Mathilde sich neben ihre Schwestern, die sich bereits an einem der Austernhaufen zu schaffen machten. Mathilde bemerkte die Blicke, die zwischen ihrer Schwester Pauline und dem jungen Jean-Pierre hin und her gingen. Jeder wusste, dass die beiden ineinander verliebt waren, schon seit dem letzten Herbst, als Jean-Pierre von der Front zurückgekommen war. Jean-Pierre arbeitete für ihren Vater als Schlepper, und wenn sie nach der Austernsaison ab Oktober auf Heringsfang gingen, war er der Einsalzer an Bord. Mathilde fand Jean-Pierre blass und uninteressant und konnte nicht verstehen, warum ihre Schwester sich in ihn verliebt hatte.

»Mathilde, du sollst hier nicht Maulaffen feilhalten!«, ertönte streng die Stimme ihrer Mutter.

Mathilde schnaufte unwillig, bückte sich, griff sich die Austern und warf sie in wütenden Bewegungen zwischen ihren Beinen hindurch nach hinten. Nach kurzer Zeit begann ihr Rücken zu schmerzen. Ihr Rock, dessen Saum sie in den Bund gesteckt hatte, um mehr Beinfreiheit zu haben, löste sich und fiel mit einem klatschenden Geräusch auf den nassen Sand. Sie fluchte leise und raffte ihn wieder hoch. Dabei fing sie den Blick eines Mannes im mittleren Alter auf, der ihr leicht spöttisch zulächelte. Er gehörte zu den Austerneinkäufern. Die Männer, die aus Rouen und sogar Paris kamen, waren in dicke Mäntel gekleidet und gingen von Austernhaufen zu Austernhaufen, um die Ware zu begutachten. Sie nahmen sie in die Hand und drehten sie nach allen Seiten. Sie öffneten einzelne Schalen, rochen daran und schluckten den glibberigen Inhalt, wobei sie den Kopf in einer ruckartigen Bewegung nach hinten warfen. Mathilde hatte noch nie erlebt, dass einer von ihnen die Austern gelobt hätte. Sie taten immer so, als hätten sie gerade eine bittere Kröte geschluckt, und feilschten um die Preise. Mathilde funkelte den Mann böse an und bückte sich erneut. Doch da sie nicht aufgepasst hatte, lief eiskaltes Wasser in ihren Stiefel. Die salzigen Tropfen durchdrangen augenblicklich die Wollstrümpfe, und es begann an ihren Beinen zu jucken, was Mathilde mehr hasste als alles andere. Wenn sie jetzt nachgab und mit der Hand in die Stiefel fuhr, um zu kratzen, würde sie nicht mehr damit aufhören können.

Resigniert nahm sie sich die nächsten Muscheln vor. Ihr blieb ja doch nichts anderes übrig. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, dass noch zwei weitere knapp mannshohe Haufen zum Fang ihres Vaters gehörten, die abgetragen werden mussten. Georges Martinet hatte seine Beute mit einem farbigen Wimpel gekennzeichnet. Es kam immer mal wieder vor, dass die Fischer die Austernhaufen verwechselten, deshalb achtete jeder darauf, seine zu markieren.

Ihr Vater und seine Männer hatten inzwischen das Boot verlassen und einen der Karren herbeigewinkt, die von Eseln gezogen wurden. Sie gehörten dem alten Maurice, der nicht mehr zur See fuhr, seitdem er in Verdun einen Arm verloren hatte, und jetzt Eselkarren vermietete. Immer zu zweit nahmen sie einen mit Austern gefüllten Korb hoch und hoben ihn mit Schwung auf die Ladefläche, wobei sie darauf achteten, die bereits verkauften Austern und die anderen, die für die Zucht bestimmt waren, nicht durcheinanderzubringen.

Gegen acht Uhr abends war es zu dunkel, um weiterzuarbeiten. Mittlerweile hatte es begonnen zu regnen, was Mathilde auch schon fast egal war. Sie raffte ihr Brusttuch zusammen und arbeitete weiter, bis ihre Mutter das Kommando zum Aufhören gab. Anschließend breiteten sie große Netze über jene Austern aus, die noch nicht fortgeschafft worden waren. Über Nacht würden Wachen darauf achten, dass nichts gestohlen wurde. Und sobald die nächste Ebbe da war, würde die Plackerei weitergehen.

In östlicher Richtung waren jetzt, wo die Ebbe ihren tiefsten Stand hatte, auch die Roches Noires aus dem Meer aufgetaucht, die ihre schwarze Farbe von den Muscheln hatten, die auf ihnen lebten. Rund um die Felsen sammelte sich das Wasser in seichten Lachen, dort versuchten kleinere Fische und Krabben bis zur nächsten Flut zu überleben. Wenn sie nicht mit den Austern beschäftigt waren, suchten die Frauen und Kinder von Bonneville diese Felsen ab, um etwas Essbares zu ergattern.

Mathilde kannte es nicht anders: Ständig war sie dabei, etwas zu sammeln oder zu ernten. Das Jahr teilte sich in die Zeiten auf, in denen entweder die Austern oder die Heringe, der Holunder, die Brombeeren, die Pilze und natürlich die Äpfel reif waren und geerntet werden mussten.

Sie streckte den schmerzenden Rücken durch. Dann machte sie sich gemeinsam mit ihren Schwestern auf den Rückweg den Hügel hinauf bis zum Haus. Die nassen Strümpfe in den Stiefeln reizten die Haut. Sie freute sich auf eine warme Suppe und etwas Schweineschmalz für die schmerzenden Hände, und dann wollte sie nur noch schlafen.

Kapitel 2

Zwei Tage später war es immer noch kalt. Es war Wochenende, und die Karawane war vorüber, weshalb nun wie in jedem Jahr ein Fest im Dorf stattfand. Dort aß man traditionell an langen Tischen gebratene Sardinen und natürlich Austern, Austern in allen Variationen, roh oder gratiniert, die großen, die bis zu einem Kilogramm schwer waren und wegen ihrer Form Pieds de Cheval, Pferdehufe, genannt wurden und besonders begehrt waren, und die kleinen Fines de Claire. Dazu trank man Wein oder noch besser Cidre und Calvados, für den die Gegend berühmt war. Spätabends wurde dann auf groben Holzdielen getanzt.

In diesem Jahr waren die Gaukler zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wiedergekommen, mit der Schiffschaukel und Hau den Lukas, mit Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. In den letzten Jahren waren sie ausgeblieben, weil auch die Artisten im Krieg gewesen waren. Doch in diesem Jahr waren die bunten Wagen und die abenteuerlich aussehenden Männer und Frauen zur Freude der Dorfbewohner wieder da.

Am Sonntag nach dem Nachmittagsgottesdienst fanden sich alle am Festplatz ein. Das Gelände oberhalb der Straße am Ortsausgang glänzte weißlich im Abendlicht, denn der Boden war von Tausenden von zerbrochenen Austernschalen bedeckt. Seit Generationen wurden die Schalen der Tiere, die für das Fest ausgelöst und gegessen wurden, hier verteilt, so wie man andernorts Kieselsteine auslegt.

Am Eingang zum Festplatz stand ein kleiner hölzerner Zirkuswagen, der in knallbunten Farben gestrichen war. Auf den Stufen, die zu ihm hinaufführten, saß eine ältere Frau, die ihr rötliches Haar mit einem giftgrünen Schleier bedeckt hatte.

»Von ihr kannst du dir voraussagen lassen, ob es mit dir und Jean-Pierre etwas wird«, sagte Mélanie zu Pauline und schubste sie in Richtung des Wagens.

»Ich weiß gar nicht, was du meinst«, gab Pauline ärgerlich zurück. »Da kannst du sie ja ebenso gut über Mathilde und Albert ausfragen.«

Mathilde brauste auf. »Albert ist viel zu alt für mich.«

»Aber er ist verliebt in dich, das sieht selbst ein Blinder«, wandte Mélanie gutmütig ein.

Die Frau hatte ihren Wortwechsel verfolgt, erhob sich und eilte ihnen leichtfüßig hinterher.

Ohne dass Mathilde etwas dagegen tun konnte, ergriff die Zigeunerin ihre Hand und hielt sie fest. Ihre Schwestern blieben mit ihr stehen, sodass die vier Frauen nun einen Kreis bildeten.

»Was soll das?«, fragte Mathilde und versuchte ihre Hand freizubekommen. »Nehmen Sie doch meine Schwester! Die will sich verloben.«

Doch die Wahrsagerin drehte die Innenfläche von Mathildes Hand nach oben, hielt sie sich dicht vor ihre kurzsichtigen Augen und begann etwas zu murmeln. Mathilde nahm einen strengen Geruch nach ungewaschenem Haar wahr.

»Ich sehe eine große Liebe für dich«, sagte die Alte lispelnd, denn ihr fehlten die oberen Schneidezähne, »und sie wird schon sehr bald kommen.« Sie lachte keckernd. »Was für ein schöner Mann, und mit einer glänzenden Zukunft.«

»Ist er von hier?«, fragte Mélanie atemlos dazwischen.

Die Alte sah nicht auf, als sie den Kopf schüttelte und sagte: »Nein. Er kommt von weit her. Aber er wird dir das Herz brechen.« Dabei sah sie Mathilde ins Gesicht. Dann fuhr sie mit ihrem dreckstarrenden Zeigefinger eine Linie in Mathildes Handfläche nach und hielt inne. »Oh, da ist ja noch ein anderer Mann. Er ist ganz anders als der andere. Auch er liebt dich, aber ... er wird nicht lange bei dir bleiben.« Die Wahrsagerin pustete in Mathildes Hand und machte eine Bewegung, als würde sie die Schrift auf einer Tafel auswischen. »Du hast kein Glück im Leben, Mädchen.« Sie ließ Mathildes Hand los.

Mathilde nutzte die Gelegenheit und wischte sich ihre Hand am Rock ab, bevor sie sie rasch in die Tasche ihres Rocks steckte, wie um sie zu verbergen.

Mélanie lachte sie aus. »Lass die Frau nur reden. Das ist alles Humbug! Ich glaube ihr kein Wort.« In einer blitzschnellen Bewegung ergriff die Alte Mélanies Hand und untersuchte sie murmelnd. »Du! Sei nicht so vorlaut. Du hast nicht mehr lange zu leben!«, giftete sie plötzlich.

Mathilde spürte, wie jede Kraft aus Mélanie wich.

»Was reden Sie denn da?«, fragte Pauline empört.

»Ich will mein Geld«, sagte die Frau, deren Blick mit einem Mal etwas Bedrohliches bekam.

»Aber ...«

»Mein Geld! Meine Voraussagen haben ihren Wert. Und umsonst ist der Tod.« Sie betonte das letzte Wort in einem Tonfall, der die drei Schwestern erschauern ließ.

Mélanie hatte bereits eine Münze aus ihrer Tasche geholt und warf sie der Frau hin, wie man einem bissigen Hund einen Knochen zuwirft, damit er von einem ablässt. »Da!«

Die Frau prüfte die Echtheit der Münze mit den Zähnen und ließ sie in der Tasche ihres Rocks verschwinden.

Die drei nutzten die Gelegenheit, um sich schnell davonzumachen.

»Ihr werdet noch an meine Worte denken«, rief die Zigeunerin ihnen höhnisch hinterher.

»Geschwätz«, stieß Pauline zwischen den Zähnen hervor. »Das weiß man doch, dass diese Leute das Blaue vom Himmel herunterlügen.« Sie klang jedoch nicht sehr zuversichtlich.

Je näher die Schwestern dem Tanzboden kamen, um so lauter wurde die Musik.

Quer über den Platz über ihren Köpfen hatte man zwischen zwei Bäumen ein Seil gespannt, auf dem eine junge Frau balancierte. Sie hielt einen goldenen Schirm über ihrem Kopf und lief in graziösen Schritten und Hüpfern über das Seil. Jetzt betrat ein Mann das andere Ende des Seils, und die beiden gingen aufeinander zu. Mathilde hielt wie alle anderen den Atem an, als der Mann plötzlich eine Rolle machte und die junge Frau im selben Moment über ihn hinwegsprang und sicher hinter ihm wieder auf dem Seil landete. Ein Tusch der Kapelle erklang, die beiden verneigten sich und sprangen mit einem Salto auf den Boden.

»Das war aber eine schöne Vorführung«, meinte Bienaimé, der auf einmal neben Mathilde stand. Dabei lachte er auf die ihm eigene abgehackte, meckernde Art. »Dahinten ist die stärkste Frau der Welt. Die ist toll! Ein Mann sitzt auf einem Stuhl, und sie hebt ihn am ausgestreckten Arm hoch. Kommst du mit?«

Mathilde verneinte und wandte sich ab. Eigentlich mochte sie Bienaimé. Manchmal folgte er ihr, wenn sie über die Steilklippen ging, und half ihr beim Beerensammeln. Aber heute Abend wollte sie ihn nicht um sich haben.

Direkt neben Mathilde ertönte plötzlich eine schrille Glocke, weil jemand den Lukas gehauen hatte. Sie zuckte vor Schreck zusammen.

Mélanie lachte. »Na, die Zigeunerin hat uns ja ordentlich Bange gemacht. Komm, wir kaufen uns Zuckerwatte«, sagte sie und wies mit dem Kopf in die andere Richtung, aus der sich Jean-Pierre näherte.

Pauline hatte ihn auch entdeckt und fing sogleich an, nervös an ihrem Tuch herumzuzupfen.

»Ich komme mit euch«, rief sie, doch Mélanie sagte: »Du kannst doch nachkommen«, und schubste Pauline in seine Richtung. Dann eilten sie und Mathilde davon.

Am Stand, wo die Zuckerwatte verkauft wurde, die mit Johannisbeersirup rot gefärbt war, hatte sich eine lange Schlange gebildet, und sie mussten anstehen. Über dem Durcheinander der vielen Menschen, über dem Gelächter, der Musik und der verwirrenden Vielfalt von Düften vergaßen sie allmählich das unbehagliche Gefühl, das die Worte der Wahrsagerin hinterlassen hatten. Jeder Einwohner von Bonneville, der zwei Beine hatte, war unterwegs. Niemand ließ sich freiwillig das größte Amüsement entgehen, das das Jahr zu bieten hatte.

Als sie an der Reihe waren und ihre Bestellung aufgaben, sah Mathilde, dass es der Seiltänzer von vorhin war, der die Naschereien verkaufte. Er lächelte sie breit an und hielt ihr eine besonders große Zuckerwatte hin, was Mélanie nicht entging.

»Da hast du wohl eine Eroberung gemacht. Sieht so aus, als hättest du Schlag bei den Gauklern.«

Mathilde freute sich über die Aufmerksamkeit des jungen Mannes. Denn heute hatte sie sich schon über ihr Aussehen ärgern müssen, weil sie wegen des immer noch viel zu kalten Wetters nicht ihr neues Sommerkleid hatte anziehen können. Jedes Jahr zum Ende der Karawane bekamen sie und ihre Schwestern ein neues Kleid, das sie üblicherweise auf dem Fest zum ersten Mal trugen. Heute jedoch hatte sie stattdessen das braune Wollkleid angezogen, das schon ein wenig abgetragen und kein bisschen fröhlich aussah. Aber ihr dunkles, beinahe schwarzes Haar fiel ihr in weichen Wellen um das Gesicht, das ebenmäßig und fein geschnitten war. Sie hatte volle Lippen, die verheißungsvoll glänzten und die Männer anzogen.

Auch ein paar der Einkäufer aus Paris und Caen waren noch in Bonneville und besuchten das Fest. In ihren feinen Kleidern waren sie von den Dorfbewohnern schnell zu unterscheiden, ganz abgesehen davon, dass jeder sie als Fremde erkannte, denn hier kannte jeder jeden.

Einer von ihnen, ein jüngerer Mann, der ihr bereits am Strand Blicke zugeworfen hatte, lächelte Mathilde an und kam auf sie zu. Als er vor ihr stand, zog er den Hut vor ihr.

»Darf ich um einen Tanz bitten?«

»Meine Tochter tanzt nicht mit Fremden, mein Herr!«, ertönte unvermittelt die Stimme ihrer Mutter hinter ihnen. Henriette musste zufällig vorbeigekommen sein, oder sie war die ganze Zeit schon in der Nähe gewesen, um auf ihre Töchter aufzupassen. »Schlimmer als ein Sack Flöhe!«, stöhnte sie oft.

»Aber Madame, ein Tänzchen in Ehren werden Sie mir doch nicht verwehren«, verteidigte sich der junge Mann.

Doch Henriette blieb unerbittlich. »Mit einem Tänzchen fängt es an, und dann sind Sie wieder in Paris, und meine Tochter weint sich die Augen aus.«

»Aber Maman!«, protestierte nun auch Mathilde.

Der Mann lachte. »Man hört ja viel davon, dass mit den Austernfischerinnen nicht zu spaßen ist. Aber dass es so schlimm ist ...« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging kopfschüttelnd davon.

Henriette schob Mathilde am Ellenbogen vor sich her.

»Dieser Mann ist nicht ehrlich. Er hat versucht, mich mit den Austern übers Ohr zu hauen. Mit so einem tanzt du nicht, und basta! Wir haben doch gerade erlebt, wie schnell eine Frau in ihr Unglück rennen kann.«

Natürlich meinte sie Marie-Anne.

Der Gedanke an ihre Tante machte Mathilde traurig. Wieder spürte sie ihr schlechtes Gewissen. Als sei es ihre Schuld, dass Marie-Anne nicht mehr da war!

Auf einmal hatte sie keinen Spaß mehr an den Lichtern und an der Musik. Die Zuckerwatte in ihrer Hand schmeckte ihr mit einem Mal nicht mehr, und sie ließ die Arme sinken. Der Zucker hinterließ klebrige Spuren auf ihrem Kleid. Ihre Tante fehlte ihr, mit ihr hätte dieser Abend garantiert noch mehr Spaß gemacht. Sie hätte sich auch nicht von der Wahrsagerin ins Bockshorn jagen lassen.

Im Nachhinein machte Mathilde sich bittere Vorwürfe, weil sie ihren Eltern nichts von diesem englischen Soldaten erzählt hatte. Vielleicht hätte sie damit das Schlimmste verhindern können. Aber ihre Tante und der Soldat waren so glücklich gewesen, und nie hätte sie für möglich gehalten, dass Marie-Anne so weit gehen würde, dass sie schwanger werden könnte. Mathilde war die einzige der Schwestern gewesen, der Marie-Anne verraten hatte, dass sie verliebt war, in einen Engländer. Richard Morrow war als Soldat gekommen, um gemeinsam mit den französischen Soldaten die Deutschen aus Frankreich zu vertreiben, und schon deshalb war er Mathilde sympathisch. Er sah gut aus, war groß und brünett, sein Gesicht war mit Sommersprossen übersät. In seiner Uniform machte er eine sehr gute Figur, und er hatte Geld, mit dem er Marie-Anne und Mathilde manchmal heiße Maroni kaufte.

Eigentlich war es ein Wunder gewesen, dass er und Marie-Anne sich begegnet waren, denn die Engländer waren in Le Havre stationiert, das am anderen Ufer der Seine lag. Aber Richard hatte sich in die normannische Küstenlandschaft verliebt, und immer wenn er einen freien Tag hatte, erkundete er mit dem Fahrrad die Gegend. Bei einem seiner Ausflüge hatte er die Hirondelle, die Schwalbe, entdeckt, ein Dampfschiff, das die Seine überquerte und die Orte am anderen Ufer anfuhr, Trouville und Deauville und weiter bis Caen. Die Schwalbe, der Name gefiel ihm so gut, dass er das Schiff bestieg. So war er nach Bonneville gekommen, wo er eine Reifenpanne gehabt hatte. So war er nach Bonneville gekommen, wo er eine Reifenpanne gehabt hatte. Marie-Anne hatte ihn entdeckt, wie er gerade ziemlich verloren an der Straße gestanden hatte, und hatte ihn zu Bienaimé gebracht, der alles Mögliche reparieren konnte. Während Bienaimé den Reifen geflickt hatte, hatten Richard und Marie-Anne sich unterhalten, so gut das möglich war. Er sprach ein paar Brocken Französisch und sie ein wenig Englisch, weil sie das Lehrerinnenseminar absolviert hatte.

Am Wochenende darauf war er wiedergekommen, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Und dann immer wieder.

Mathilde hatte den beiden mehr als einmal ein Alibi gegeben. Ein junger Mann und eine junge Frau allein, das war verboten, weil es gegen die guten Sitten verstieß. Und dann auch noch ein Ausländer! Zum Glück gab es viele einsame Ecken an der Küste, und die Gefühle, die Marie-Anne und Richard füreinander hatten, machten sie erfinderisch. Mathilde kannte die Liebe noch nicht, und deshalb konnte sie sich nicht vorstellen, was Marie-Anne dazu getrieben hatte, weiter zu gehen, als schicklich war.

Im Februar war Richard mit seiner Einheit nach Hause zurückgekehrt, und Marie-Anne hatte tagelang ein verweintes Gesicht gehabt. Mathilde wusste, dass sie sich heimlich Briefe schrieben, die über Odile Levasseur liefen, Marie-Annes beste Freundin, die mit ihrer Mutter im Nachbarhaus wohnte.

Und dann hatte Marie-Anne entdeckt, dass sie ein Kind von Richard erwartete. In ihrer Verzweiflung hatte sie es gebeichtet, woraufhin ihr Bruder sie aus dem Haus gewiesen hatte.

Seit vier Wochen war sie nun weg, und es verging kaum ein Tag, an dem Mathilde sich nicht sorgenvoll fragte, was wohl aus ihr geworden war und wo sie jetzt gerade war.

Ihre Mutter hielt Mathilde immer noch am Arm. Sie steuerte die Tanzfläche an, die auf einem Holzpodest errichtet war. Eine kleine Kapelle spielte Seemannslieder und ab und zu einen modernen Schlager.

»Jetzt kannst du tanzen«, sagte Henriette und ließ sich neben ihre Freundin Yvonne auf eine Bank fallen. »Hier habe ich dich im Blick.«

Bienaimé, der neben seiner Mutter saß, stand auf und bat sie um den Tanz. Damit war er schneller als Albert Pennickx, der ein paar Tische entfernt saß und sich ebenfalls erhoben hatte. Er zuckte bedauernd die Schultern und setzte sich wieder. »Später«, formten seine Lippen.

Mathilde drehte sich in Bienaimés Armen zur Musik. Er war ein guter Tänzer, seine Unbeholfenheit fiel von ihm ab, wenn er sich im Klang der Musik bewegte. Er summte leise die Melodie mit und führte Mathilde sanft über den Tanzboden. Eine Bewegung ließ sie aufmerken. Sie erkannte aus dem Augenwinkel Odile Levasseur. Sie stand am Rand des Festplatzes, dort, wohin der Schein der bunten Lichter nicht mehr reichte, und gab Mathilde verstohlen Zeichen.

»Entschuldige mich«, sagte Mathilde und ließ Bienaimé etwas abrupt stehen, um zu Odile hinüberzugehen.

»Ich habe Nachricht von Marie-Anne«, flüsterte Odile und zog Mathilde noch ein Stückchen weiter mit sich in die Dunkelheit. Sie zog ein Papier so weit aus der Tasche, dass Mathilde erkennen konnte, dass es sich um einen Brief handelte.

Kapitel 3

Endlich ein freier Tag! Und endlich schien die Sonne so warm, dass Mathilde ein paar Stunden draußen verbringen konnte.

Wie üblich, wenn sie allein sein wollte, nahm sie den Weg die Steilküste entlang. Hier gab es einen ausgetretenen schmalen Weg hinüber nach Veillefonte, einem kleinen Weiler, in dem nur ein paar Bauern wohnten. Er führte an einigen Stellen sehr dicht an der Abbruchkante entlang. Mathilde setzte ihre Schritte vorsichtig, denn der harte Winter hatte der Küste stark zugesetzt, und nur wenige Schritte entfernt war der Kreidefelsen auf einer Länge von ungefähr dreißig Metern abgebrochen. Der grasgepolsterte Weg brach dort jäh ab. Wer nicht aufpasste, fiel in die Tiefe. Immer wieder stürzten Felsbrocken hinunter, und immer wieder kam jemand dabei zu Tode – weil er mitgerissen oder aber unten am Strand von herabfallenden Brocken erschlagen wurde. Mathilde wandte sich nach rechts, um die Abbruchstelle weiträumig zu umgehen.

Eine plötzliche Windböe zerrte heftig an ihrem Rock, und ein paar Möwen wurden in ihre Richtung getragen und kreischten lautstark über ihr.

»Verschwindet!«, rief sie ihnen zu und versuchte sie mit den Armen zu verscheuchen.

Sie ging mit schnellen Schritten weiter. Sie genoss diesen ersten Spaziergang in der Frühlingswärme wie schon lange nichts mehr. Über den Winter und sogar den größten Teil des kalten Frühjahrs war sie im Haus festgesessen. Schnee, Regen und Kälte hatte den Aufenthalt im Freien sehr unangenehm gemacht. Aber Mathilde brauchte diese einsamen Wanderungen in der Natur. Sie fühlte sich wohl in der abwechslungsreichen Landschaft, und sie konnte die raue Poesie der normannischen Küste spüren. Sie kannte die Gegend rund um Bonneville genauso gut wie diesen Weg entlang der Steilküste. Als Kind hatte sie hier stundenlang mit ihren Schwestern gespielt. Hier oben oder am Fuß der Steilküste. Sie hatten Treibgut gesammelt und sich mit Quallen beworfen.

Mathilde wusste, wo die großen Menhire, übermannshohe, schmale Findlinge aus der Steinzeit, standen, auf denen sich oft giftige Kreuzottern und kleine Echsen sonnten und in deren Nähe sie schon häufig Werkzeuge aus poliertem Stein gefunden hatte, die aus früheren Zeiten stammten.

Ihre Großmutter hatte ihr alle Legenden erzählt, die sich um diese wilde Küste rankten, wo unter jedem Stein ein Geheimnis verborgen zu sein schien. Die Legenden, von denen niemand so genau wusste, was an ihnen wahr und was erfunden oder hinzugedichtet war, erzählten von unglücklichen Seeleuten, die mit ihren Schiffen hier umgekommen waren und seitdem in Nebelnächten die Küste heimsuchten und jeden aufs Meer hinauszogen, der ihnen begegnete; von der Jungfrau, die seit Jahrhunderten nachts mit einer Kerze am Meeresufer entlangging, um auf ihren Verlobten zu warten, der doch nie zurückkehren würde; von den Feen, die bei Vollmond ihre Lieder sangen und verirrte Matrosen in Katzen verwandelten, die fortan dazu verdammt waren, ihr klagendes Miauen von den Klippen zu schicken; von den Piraten und Plünderern, die es früher an der normannischen Küste gegeben hatte und die große Feuer angezündet hatten, damit die Schiffe die Orientierung verloren.

Mathilde kannte die Stellen, wo im Sommer köstliche Brombeeren und im Herbst Steinpilze wuchsen. Weil sie es ständig betrachtete, kannte sie das Meer ganz genau, die unterschiedlichen Färbungen, die es je nach Färbung des Himmels annahm. Von hier oben konnte sie genau beobachten, wie sich die Bucht bei Flut mit Wasser füllte, welche Sandbank als Erste und welche als Letzte überflutet wurde. Die Gezeiten waren hier tückisch, obwohl der Abschnitt Blumenküste hieß. Der kleine Fluss Ficelle, eigentlich nicht viel mehr als ein Bach, der unweit von Bonneville ins Meer führte, war der Grund für besonders starke Strömungen und Gezeitenunterschiede. Bei Ebbe konnte man ihn problemlos trockenen Fußes durchqueren, doch bei Flut füllte sich das schmale Bachbett rasend schnell mit Wasser.

Nach ein paar Minuten erreichte Mathilde einen ihrer Lieblingsplätze: Eine windzerzauste Kiefer wuchs hier mehr in die Waagerechte als in den Himmel. Der stetig wehende Wind vom Meer her hatte den Stamm auf Hüfthöhe seitlich wachsen lassen. Die Krone des kleinen Baumes war mit den Händen zu erreichen. Mathilde lehnte sich an den Stamm und genoss die ungewohnte Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Rund um den Baum wuchs ein Gewirr aus Heckenrosen und Flieder. Die Blüten waren nach dem harten Winter alle auf einmal aufgegangen, als wüssten sie, wie wenig Zeit ihnen noch blieb. Der Duft war ungewöhnlich stark und betörend. Mathilde atmete tief ein, dann legte sie die Hand über die Augen, um besser auf das Meer hinuntersehen zu können. Das Wasser zog sich zurück, bald würde der tiefste Stand erreicht sein. Lediglich die Ausläufer der Ficelle waren noch voll Wasser. Aber bereits jetzt tauchten die Austernbänke von Bonneville aus dem Wasser auf. Die, die dem Ufer am nächsten lagen, ragten bereits aus dem Wasser, die anderen würden bald folgen. Noch vier Tage, dann würde die Springflut einsetzen, dann würde das Wasser sich weit genug zurückziehen und die Austernbänke ihres Vaters lange genug trockenlegen, damit sie bearbeitet werden konnten. Aber das war erst in vier Tagen, heute hatte sie frei! Mathilde breitete übermütig die Arme aus, um den warmen Wind besser auf ihrem Körper spüren zu können, und schloss die Augen.

***

Roger Goulec war wütend. Er tunkte den Pinsel so heftig in den blauen Farbklecks auf seiner Palette, dass sie ihm aus der Hand rutschte und mit der Farbseite nach unten auf dem Boden landete.

»Verdammt!«

Er ließ den Pinsel vor der Leinwand schweben, während er mit der anderen Hand durch sein Haar fuhr, das fast ebenso störrisch war wie sein Dachshaarpinsel.

Weil er immer noch nicht wusste, wie er das Meer vor ihm wiedergeben sollte, übermalte er in einem Anfall von verzweifelter Wut das ganze Bild mit zornigen Strichen.

Mutlos ließ er sich auf den kleinen Schemel sinken. Er schaffte es einfach nicht. Es wollte ihm nicht gelingen, das Meer, das doch direkt vor ihm lag und auf das er seit Stunden starrte, in einem Bild zu bannen. Kaum meinte er, den richtigen Farbton, die Bewegung einer Welle getroffen zu haben, hatte sich das Wasser bereits wieder verändert, und seine Arbeit erschien ihm falsch. Dass das Wasser unablässig kam und ging, vor ihm davonwich und ihm hinterherlief, sodass er dauernd den Standort wechseln musste, wollte er nicht nasse Füße bekommen oder zu weit entfernt von ihm sein, machte die Sache nicht einfacher. Manchmal fragte er sich, ob er als Stadtmensch einfach nicht dafür geschaffen war, das Meer zu malen.

Roger seufzte aus tiefstem Herzen.

Seit drei Wochen war er jetzt hier in der Normandie, um endlich im Freien zu malen. Seine Freunde und sein ehemaliger Lehrer an der Akademie hatten ihm dringend geraten, nach der Natur zu malen, um seine Ausbildung zu vollenden. »Wenn du das Meer malen kannst, dann kannst du alles malen«, hatte Maître Leblanc, sein Lehrer, zu ihm gesagt. Und seit drei Wochen saß er nun hier, gab mehr Geld aus, als er hatte, und brachte nichts zustande. Es war zum Verrücktwerden!

Roger warf einen weiteren prüfenden Blick auf sein Bild, das er soeben zerstört hatte. Nein, so ging es wirklich nicht. Wie gut, dass er wenigstens die Leinwand übermalen konnte. Leinwände waren teuer, Pinsel und Farben ebenso.

Er bückte sich, um die Palette aufzuheben. Algen und Sand klebten an den Farben, und das Blau, mit dem er den ganzen Vormittag gekämpft hatte, war definitiv nicht zu retten. Er klopfte den Schmutz ab, so gut es ging, und sammelte die heruntergefallenen Farbtuben ein. Dabei achtete er darauf, sie sorgfältig zu verschließen. Pinsel und Spatel wischte er an seiner Hose ab und verschnürte sie mit einem Stück Band, um keinen zu verlieren. Er steckte alles in seinen Rucksack, der noch aus Armeebeständen stammte, klappte die Staffelei zusammen und nahm die Leinwand unter den Arm, wobei es ihm egal war, dass die feuchten Farben seine graue Jacke beschmierten. Mit der freien Hand griff er nach einem Bein des kleinen Hockers, den er immer zum Malen mitnahm, und machte sich auf den Rückweg in die Pension.

Sein Blick wanderte über den nassen Sand vor ihm und dann hinauf zur Steilküste. An eine einzelne Kiefer gelehnt sah er dort eine junge Frau stehen. Sie hatte die Arme seitlich ausgebreitet und schien die Umgebung und die Sonne zu genießen. Ihre Selbstvergessenheit berührte ihn, und wie sie dort stand, gab sie der Landschaft plötzlich eine Bedeutung.

Mit einem Ruck blieb er stehen. Ohne den Blick von ihr zu wenden, ließ er den Hocker zu Boden gleiten und klappte die Staffelei auseinander. Es war nicht nur die Natürlichkeit der Frau, die ihn inspirierte, sondern auch die ungewohnte Perspektive, die ihm die Steilklippen von unten zeigte, mit dem Rand der Abbruchstelle, die wie eine offene Wunde vor ihm lag. Doch in dem Augenblick, als er die Leinwand auf die Staffelei stellte, schien die Frau dort oben zu sich zu kommen. Sie nahm die Arme herunter, richtete sich auf und machte einige Schritte, sodass sie aus seinem Blickfeld verschwand. Sie hatte ihn nicht einmal bemerkt.

Roger Goulec war immer noch schlecht gelaunt, als er sein Zimmer im Haus der Witwe Maillot betrat. Er stellte die Staffelei etwas zu heftig in die Ecke hinter der Tür und lehnte die verhunzte Leinwand dagegen.

Er sah sich in dem kleinen Zimmer um. Die Decke war so niedrig, dass er kaum wagen durfte, so etwas wie einen Hüpfer oder einen Tanzschritt zu machen. Er hätte riskiert, sich den Kopf an dem Balken zu stoßen, der von der Tür zum gegenüberliegenden Fenster führte. Links stand ein schmales Bett, am Fußende ein Waschtisch. Vor dem Fenster befand sich ein kleiner Tisch, an dem er Skizzen machte und aß.

»Es war eine Schnapsidee, hierherzukommen. Ich bringe einfach nichts fertig. Diese Landschaft raubt mir den letzten Nerv! Nur grüne Wiesen, blaues Meer und weiße Kreidefelsen. Nichts, woran sich das Auge festhalten könnte, nichts, was eine Perspektive bieten würde. Und dann sehe ich diese Frau, die ein wirklich lohnendes Motiv geben würde, und schon ist sie wieder weg. Wäre ich doch bloß in Paris geblieben! Hier vergeude ich nur Zeit und Geld.« Er hieb sich wütend mit der rechten Faust in die linke Hand und setzte sich.

Vor ihm auf dem Tisch lag ein Brief aus Paris, der bereits vor zwei Tagen eingetroffen war. Er stammte von Jeanne de Barry. Jeanne war die Einzige, die an sein Talent glaubte, so schien es ihm manchmal. In ihrem Brief fragte sie nach, wie viele Bilder er bereits gemalt habe. Sie habe einen neuen Galeristen für ihn gefunden, der es kaum erwarten könne, seine Bilder zu verkaufen. Roger konnte sich ein bitteres Lachen nicht verkneifen. Jeanne hatte garantiert wieder ihre Beziehungen spielen lassen, um diesen Galeristen zu überreden, einen erfolglosen Künstler wie ihn zu vertreten. Sie hatte nicht einmal den Namen der Galerie erwähnt, aber es war sicherlich eine der großen und berühmten, die ihren Sitz in der Rue Laffitte hatten.

Jeanne glaubte immer, genau das Richtige für Roger zu tun, auch wenn sie ihn vorher gar nicht fragte, was er denn wollte. In den letzten Monaten, seit er sie näher kannte, hatte Jeanne sich in ihren hübschen Kopf gesetzt, die Frau eines berühmten Malers zu werden, und mit der finanziellen Unterstützung und den Verbindungen ihres reichen Vaters glaubte sie das auch schaffen zu können. Roger musste Jeanne zugutehalten, dass sie wirklich an sein Talent glaubte, aber das lag vielleicht auch nur daran, dass sie für ihn schwärmte. Eine profunde Kunstkennerin war sie nicht. Aber sie war es gewohnt, das zu bekommen, was sie wollte, weil es bisher in ihrem Leben immer so gewesen war. Roger sah sie vor sich, das offene Gesicht, das immer noch etwas Kindliches an sich hatte, mit den großen Augen unter dem kurzen Pony und der kecken Nase. Sie war hübsch und amüsant, und er ging gern mit ihr aus. Ihre Bewunderung schmeichelte ihm, schließlich stammte sie aus einer der reichsten Familien von Paris.

Er seufzte. Von hier aus konnte er ohnehin nichts tun, und sie richtete ja wohl keinen größeren Schaden an, wenn sie in Paris für ihn warb. Roger ging davon aus, dass ihre naive Verliebtheit ohnehin über kurz oder lang nachlassen würde. Für größere Gefühle war Jeanne zu jung und zu oberflächlich. Ihr vorheriger Günstling war ein Balletttänzer gewesen. Sie hatte ihm ein Engagement in New York verschafft, dann hatte sie das Interesse an ihm verloren. Ein ähnliches Schicksal sah Roger auch für sich selbst voraus.

Er fragte sich, wie Flavius die Nachricht von der neuen Galerie aufnehmen würde. Flavius hatte ihn bisher vertreten. Im letzten Jahr hatte er allerdings nicht ein einziges seiner Bilder verkaufen können. Er hatte Roger wie zahlreiche andere brotlose Künstler unter seine Fittiche genommen, vielleicht aus Mitleid, vielleicht glaubte er tatsächlich an sie. In jedem Fall hatte er bisher an Roger noch keinen Sou verdient. Deshalb war er ja unter anderem hier. Flavius hatte ihm geraten, ihm beinahe befohlen, sich endlich ein neues Motiv zu suchen, und ihn an diese Küste geschickt. »Dort wirst du malen, viele, viele Bilder. Du wirst schöne Landschaften malen, die die Kunden glücklich machen und die sie sich gern über den Kamin hängen. Im Herbst wirst du nach Paris zurückkehren, und ich werde alle deine Bilder verkaufen.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken.

»Sie sind ja schon zurück. Und dabei ist doch heute das Wetter nach langer Zeit endlich mal schön.« Mit diesen Worten betrat seine Vermieterin das Zimmer. Dass sie nach dem Klopfen, ohne eine Antwort abzuwarten, einfach hereinkam, war auch so eine Sache, die er an der Witwe Maillot nicht mochte. Die andere war ihre Stimme, deren Klang irgendwo zwischen kehlig und piepsig lag. Wenn sie lauter sprach, raubte sie ihm den letzten Nerv.

»Madame?«, fragte er und gab sich Mühe, höflich zu wirken.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht draußen unter den Apfelbäumen essen wollen, wie gesagt, das schöne Wetter ...« Sie machte einen weiteren Schritt ins Zimmer hinein und wartete auf seine Antwort, wobei sie versuchte, einen Blick auf den Brief zu erhaschen, den er gerade gelesen hatte und der jetzt offen auf dem Schreibtisch lag.

Plötzlich kehrte ein Anflug von Rogers guter Laune zurück. »Warum eigentlich nicht?«, fragte er und schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. Wie unbeabsichtigt legte er den Ellenbogen auf den Brief. »Was haben Sie denn heute wieder Gutes zubereitet?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Die Witwe rieb sich die Hände. »Ich habe uns eine gute Fischsuppe gekocht. Unter hinterher gibt es Garnelen.«

Was sonst, dachte Roger verbittert. Seit er hier war, gab es jeden Tag Fisch in irgendeiner Form und Garnelen, die kleinen, an denen noch Reste der Schale hingen.

»Ist gut«, gab er zurück. »Ich bin dann gleich da.«

Er stand auf und machte einen Schritt auf sie zu, sodass sie rückwärts aus dem Zimmer treten musste. Er wollte vermeiden, dass sie auf die ausstehende Miete zu sprechen kam.

Er wischte sich gerade den Mund mit der Serviette ab, als er Ferdinand Fichet um die Ecke des Hauses auf sich zukommen sah. Fichet war ein Freund, ein Kollege aus Paris, der ebenfalls den Sommer zum Malen auf dem Land verbrachte. Jeder nannte ihn nur bei seinem Nachnamen.

Roger bestellte bei der Witwe Maillot eine weitere Portion Garnelen und mehr Cidre, der in großen irdenen Krügen serviert wurde, und erzählte Fichet von seinen missglückten Malversuchen.

Darauf hatte sein Freund nur gewartet.

»Warum sitzt du auch hier in diesem Nest?«, rief er aus. »Hier ist doch nichts! Komm zu uns nach Deauville. Georges ist da und Linus. Und für nächste Woche hat sich sogar Michel angesagt. Wir werden viel Spaß haben.« Georges Penasse, Linus Malaussec und Michel Dudemer waren allesamt Maler aus Paris. Sie hatten gemeinsam mit ihm die Akademie besucht. Roger mochte sie, besonders Michel Dudemer, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband und mit dem er sich auf dem Montmartre seit dem Krieg ein Atelier teilte.

»Michel kommt?«, fragte er. »Er wollte doch den Sommer über in Paris bleiben, um die Porträts fertigzustellen.« Dudemer hatte einen Auftrag für die Porträts dreier Schwestern ergattert, der ihm genügend Geld für ein halbes Jahr in die Kasse spülen würde.

Fichet schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es geht ihm nicht gut. Er hustet, und außerdem zieht er sein Bein so komisch nach. Der Arzt hat ihm zu einer Luftveränderung geraten.«

Roger musste unwillkürlich lachen. Wenn zwei Dinge nicht zueinander passten, dann ärztliche Ratschläge und sein Freund Michel. Dudemer war ein Bär von einem Mann, mit einem mächtigen Bart im Gesicht, der Menschen verabscheute, die sich ständig selbst im Blick hatten und sich um alles Sorgen machten. Er lebte in den Tag hinein und weigerte sich, über seine Zukunft, die keineswegs gesichert war, nachzudenken. Und ausgerechnet Dudemer sollte nun den Rat eines Arztes befolgen! Dann musste es ihm wohl ernstlich schlecht gehen.

»Hast du ihn gesehen?«, fragte er Fichet, nun doch ein wenig beunruhigt.

»Ja, letzte Woche in Paris. Er sieht nicht gut aus, der alte Junge. Aber ein paar Wochen an der frischen Luft werden ihn schon wieder aufpäppeln. Und wenn er hier ist, musst du auch dabei sein!«, fing er wieder an. »Komm nach Deauville.«

»Ich habe keine Zeit, um mich zu amüsieren. Und Geld auch nicht. Ich bin hier, um zu malen.«

»Jetzt sei doch nicht so. Wir arbeiten auch. Jeden Tag ziehen wir los.«

Roger schüttelte unwillig den Kopf. »Nein. Ich muss es hier schaffen. Ich muss das verdammte Meer hinkriegen. Manchmal hasse ich es geradezu. Ich bekomme es einfach nicht zu fassen.«

»Du hast immerhin noch fast drei Monate, bevor du zurückfährst. Du hast es gut.«

Die meisten seiner Pariser Malerfreunde blieben nur noch bis Ende Juli, Roger jedoch hatte beschlossen, auch noch den Spätsommer in Bonneville zu verbringen. Immer vorausgesetzt, dass sein Geld bis dahin reichte und die Witwe ihn nicht vorher hinauswarf.

»Sie haben ein paar schöne Kirchen hier in der Gegend. Vielleicht kannst du ein paar Fenster bemalen und dir etwas Geld verdienen«, schlug Fichet vor.

Er spielte damit auf Rogers Glasmalerlehre an. Vor dem Krieg hatte er bei einem Restaurator für Kirchenfenster gearbeitet und damals ein sicheres Einkommen gehabt. Aber irgendwann hatte ihm das künstlerisch nicht mehr gereicht. Er hatte angefangen, auf Leinwand zu malen. Seine ersten Modelle waren Prostituierte gewesen. Immer und immer wieder hatte er sie porträtiert, vielleicht als Ausgleich zu den religiösen Motiven. Das alles waren für ihn aber nur Vorübungen gewesen. Dann, er war neunzehn Jahre alt gewesen, war jedoch der Krieg ausgebrochen, und er war eingezogen worden. Die Erlebnisse in den Schützengräben hatten die Kirchenmalerei so sinnlos erscheinen lassen. Er konnte selbst nicht glauben, dass er das Gemetzel überlebt hatte. Sein einziger Bruder war gefallen. Als er nach Hause zurückgekehrt war, hatte er seinen Eltern, die in einem östlichen Vorort von Paris lebten, gesagt, dass er Maler werden wolle. Sein Vater hatte sein Vorhaben missbilligt, seine Mutter hatte keine Vorstellung davon gehabt, was es bedeutete. Rogers Entschluss stand jedoch fest. Er träumte davon, große Leinwände zu bemalen, und die kleinteiligen Kirchenfenster reichten ihm nicht mehr, weil sie seinen Gestaltungswillen begrenzten.

»Du hast ja recht«, sagte Roger nachdenklich. »Ich sehe ja selbst, wie viel im Krieg kaputtgegangen ist. Aber nein, ich werde nie wieder Glas bemalen. Ich brauche große Flächen, ich will mir meine Motive selbst aussuchen, und ich kann keine Heiligen mehr sehen. Da verdinge ich mich lieber als Austernfischer!«

Ferdinand lachte. »Du und Austernfischer!«

»Dabei könnte ich wenigstens das Meer studieren.«

Und damit waren sie wieder beim Thema. Das Meer, das sich der Darstellung auf der Leinwand entzog. Das man tagelang beobachten konnte, und es sah zu jeder Stunde anders aus. Mal glänzend wie Silber, dann gründunkel und bedrohlich, mal war es flach und ohne jede Bewegung, so als sei es gar nicht da, dann wogte, brodelte und spritzte es und erinnerte daran, dass unter seiner Oberfläche unbekannte Welten lagen.

Roger bewunderte Claude Monet für seine Fähigkeit, das Meer zu malen. Er hatte die Bilder gesehen, die der Alte in Sainte-Adresse gemalt hatte, gar nicht weit entfernt von hier, auf der anderen Seite der Seinemündung. Auf seinen Bildern leuchtete das Meer so intensiv, dass man als Betrachter die Augen zukneifen musste, um nicht geblendet zu werden. Oder seine Bilder, die das Meer bei Regen zeigen, durchweht von dichten Schleiern. Aber Monet gehörte zu den Impressionisten, zu einer anderen Generation, seit dem Krieg konnte man nicht mehr so malen. Die Welt hatte sich durch die Barbarei in den Schützengräben verändert, und das musste auch in der Malerei zum Ausdruck kommen. Man konnte doch nicht so tun, als hätte es die letzten vier Jahre nicht gegeben!

In diesem Punkt waren sich Roger und seine Freunde einig. Schon Hunderte Male hatten sie darüber diskutiert. Jeder für sich waren sie auf der Suche nach dem, was nun kommen sollte, nach einer Möglichkeit, die veränderte Welt darzustellen.