Ein zweites Leben auf Mallorca - Roderic Jeffries - E-Book

Ein zweites Leben auf Mallorca E-Book

Roderic Jeffries

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Beschreibung

Ein Mallorca-Krimi von Roderic Jeffries Franklin Gore kann sein neues Leben auf Mallorca nur kurze Zeit genießen. Die dunkle Vergangenheit läßt sich nicht so leicht abschütteln. Inspektor Alvarez fragt sich längst, was mit dem Mann eigentlich los ist. Warum behauptet er, nur gestürzt zu sein, obwohl er offensichtlich gefoltert wurde? Ist Lady Vivian wirklich seine Halbschwester? Alvarez verfolgt Franklins Spuren zurück ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Roderic Jeffries

Ein zweites Leben auf Mallorca

Aus dem Englischen von Ursula von Poellheim

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Die Leute behaupteten, daß Brand, wenn er im Himmel ankäme, vor dem Eingangstor auf eine gravierte, nicht etwa nur gedruckte Einladung zum Eintreten warten würde, selbst wenn das Tor weit offen stünde und man zu seinem Empfang die Fahne gehißt hätte. Er fragte mit einer für einen kleinen Mann erstaunlich tiefen Stimme: »Alles in Ordnung?« Er hatte einen eiförmigen Kopf, dessen Form die beginnende Kahlheit noch betonte.

»Natürlich! Solange Sie sich um alles kümmern, Mr. Brand.«

Brand lächelte kurz, um sein Mißfallen über diese öligen Worte zu verbergen, denn er versuchte, jeden Studenten, der das Rehabilitationszentrum von Hawdon Hall durchlief, mit der gleichen Freundlichkeit zu behandeln. Hickey, ein Schwindler, hatte sich einige Jahre lang darauf spezialisiert, frisch verwitwete Frauen zu betrügen, und als die Polizei schließlich genug Belastungsmaterial gesammelt hatte, um ihn anzuklagen, hatte er angeboten, über andere Kriminelle auszusagen, falls er dann nach Hawdon Hall geschickt würde, statt ins Gefängnis. Da seine Informationen unter anderem dazu beitragen konnten, daß Mitglieder einer Verbrecherbande verhaftet würden, die mehrere brutale bewaffnete Raubüberfälle ausgeführt hatten, war man schließlich dazu bereit gewesen. Brand wußte nicht genau, ob er Hickey mehr wegen seiner gemeinen Diebstähle oder wegen seines Verrats verachtete, doch nichts in seinem Verhalten ließ darauf schließen, wie sehr Hickey ihm mißfiel.

»Ich habe Sie hergebeten, um Ihnen zwei Dinge ans Herz zu legen. Abgesehen davon, daß ich mich von Ihnen verabschieden möchte. Sie werden feststellen, daß das Leben nicht einfach sein wird. Wenn Sie heute vormittag durch das Tor hinausgefahren werden, ist danach jede Verbindung zwischen Ihnen und diesem Zentrum unterbrochen. Sie können uns nicht mehr länger um Hilfe bitten.«

»Das ist mir klar.«

»Die Erfahrung lehrt, daß die Einsamkeit Ihr größter Feind sein wird, denn sie kann Ihr Urteilsvermögen verzerren. Die Einsamkeit könnte Ihnen einflüstern, daß es nicht riskant ist, mit der Vergangenheit Kontakt aufzunehmen, falls Sie vorsichtig sind. Dann müssen Sie sich daran erinnern, daß ein solcher Kontakt niemals sicher ist.«

»Ich bleibe so weit wie möglich von meiner Vergangenheit weg, Mr. Brand«, antwortete Hickey mit großer Ernsthaftigkeit. Er hüstelte und fügte zögernd hinzu: »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber ich habe das Gefühl, ich sollte jetzt ein Leben führen, das beweist, daß die Mühe, die Sie und Ihre Leute sich mit mir gegeben haben, nicht umsonst sein wird.«

»Sehr schön«, sagte Brand. Höchstwahrscheinlich, dachte er, ist die Möglichkeit, daß alles Zeitverschwendung war, viel größer. »Dann bleibt mir nur noch übrig, Ihnen alles Gute zu wünschen.« Er erhob sich, trat hinter dem Schreibtisch hervor, und die beiden Männer schüttelten sich die Hände.

Nachdem Hickey hinausgegangen war, nahm Brand den Schnellhefter, der auf seinem Schreibtisch lag, und trat zu einer Tür hinter seinem Schreibtischsessel. Hinter ihr lag ein Saferaum, dessen massive Tür mit zwei digitalen Kombinationsschlössern gesichert war. Laut Vorschrift mußten die Zahlen einmal monatlich geändert werden. Brand erledigte dies jeden Monatsersten um neun Uhr vormittags, selbst wenn der Erste auf einen Sonntag fiel. Er speiste die Zahlen ein, zog die Tür auf und trat ein. Auf den Regalen des Tresorraums lagerten die vertraulichen Akten aller Studenten, der ehemaligen und der jetzigen. Es war für ihn eine Quelle der Befriedigung, sich vorzustellen, daß seit seinem Amtsantritt als Zentrumsleiter nur befugte Personen und er von dem Inhalt der Akten Kenntnis haben konnten.

Er legte Hickeys Ordner in ein unteres Fach und nahm Gores Unterlagen aus einem Regalfach links oben. Dann ging er hinaus, schloß die Tür und stellte die Kombination wieder ein. Da er die Akte innerhalb einer Stunde wieder zurücklegen würde und die Tür in seinem Büro der einzige Zugang zu dem Tresor war, wirkte diese Maßnahme übertrieben vorsichtig. Zumal er nicht vorhatte, das Zimmer zu verlassen. Doch die Vorschriften verlangten, daß der Tresorraum gesichert sein mußte.

Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und starrte auf die Akte: Franklin Gore. Obwohl er es immer wieder versucht hatte, war es ihm nie gelungen, mit Gore wirklich Kontakt zu bekommen, und das beschäftigte ihn, weil Gore ein anständiger und ordentlicher Mann war, der bei der Polizei gewesen war. Unglücklicherweise hatte ihre erste Begegnung den Trend für die spätere Beziehung gesetzt. Er pflegte immer persönlich zum Bahnhof zu fahren, um den eintreffenden Studenten abzuholen. Er fuhr allein mit ihm zum Zentrum zurück, und kein Angestellter durfte mit ihm in Berührung kommen, ehe er nicht einen neuen Namen erhalten hatte, denn erst dann konnte er Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden. Gore, der eindeutig stark getrunken hatte, war am Bahnhof ganz lässig gewesen, hatte während der zehnminütigen Fahrt dickköpfig geschwiegen und war im Büro ziemlich unverschämt geworden.

»Als erstes«, sagte Brand, nachdem sie angekommen waren, »müssen wir für Sie einen neuen Namen finden.« Dann machte er den üblichen Scherz, um die Situation etwas zu entspannen. »Ich behaupte, daß ich an mehr Taufen teilgenommen habe als jeder Pfarrer.«

»Na, hoffentlich wollen Sie mich nicht ganz unter Wasser tauchen.«

Brand lächelte gezwungen. »Natürlich soll der Name in keinem direkten oder indirekten Zusammenhang mit Ihrer Vergangenheit stehen.«

»Mir ist es egal, wie ich heiße.«

»Wie wär’s mit Franklin Gore?«

Erst Stunden später fiel ihm schuldbewußt ein, daß Franklin Gore in der Schule der verhaßte Klassentyrann gewesen war.

Es klopfte, und Sarah trat mit dem Morgenkaffee ein. »Ich habe keine Kekse mitgebracht, weil Sie gestern sagten, Sie würden keine mehr essen.«

»Nicht freiwillig. Es ist nur wegen der Pfunde. Oder sollte ich im Zeitalter des europäischen Gedankens lieber Kilo sagen?« Es war offensichtlich, daß sie seinen kleinen Scherz nicht verstanden hatte. »Ich fürchte, Sarah, es waren zwei Rechtschreibfehler im letzten Brief, den Sie tippten.«

»O Gott!« Sie hatte ein rosiges Gesicht, war ein wenig übergewichtig und sorglos. »In der Schule wurden nicht viele Diktate geschrieben.«

»Den Eindruck habe ich. Vielleicht freunden Sie sich mit dem Rechtschreibwörterbuch näher an.«

»Das tue ich, ganz bestimmt«, rief sie, ehe sie hinausging.

Er wußte, daß sie und das Lexikon sich weiterhin völlig fremd bleiben würden. Die Generation von heute schien sich nicht mehr um Dinge zu kümmern, die einmal wichtig gewesen waren. Er rührte einen Löffel Zucker und etwas Milch in den Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Obwohl er täglich nur vier Stück rauchte, versuchte seine Frau ständig, ihn zu überreden, dieses Laster aufzugeben. Mehr als einmal hatte er sie an Jean-Pierre Couriens Worte erinnert: »Ein Mann ohne Laster ist wie eine Bouillabaisse ohne Teufelsfisch.«

Er trank den Kaffee, drückte den Zigarettenstummel aus, öffnete die Akten und blätterte in den Papieren, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Dann sah er auf die Uhr, fragte Sarah über die Sprechanlage, ob Gore gekommen sei. Wenn ja, solle sie ihn hereinführen.

»Morgen«, sagte Gore in einem Ton, als sei dieser Gruß schon zuviel für ihn.

»Setzen Sie sich, bitte … Ich habe Sie hergebeten, um mich nicht nur von Ihnen zu verabschieden und Ihnen alles Gute zu wünschen, sondern um Sie noch auf ein, zwei Punkte hinzuweisen. Die Dinge werden nicht einfach sein, wenn Sie das Zentrum verlassen haben. Die Einsamkeit ist eine Gefahr …«

»Das hat der Zwiebelmann schon alles vorgebetet.«

»Der Zwiebelmann?«

»Blackeley. Wiederholt sich ständig.«

Ziemlich zutreffend, dachte Brand. Er sollte nicht vergessen, es seiner Frau zu erzählen. »Ich finde wirklich, Sie sollten die Dinge ein wenig ernster nehmen. Starke emotionale Isoliertheit kann eine traumatische Erfahrung …«

»Ich bezweifle, daß ich emotional je isolierter war als zu der Zeit, in der ich als Undercoveragent gearbeitet habe.«

»Vielleicht. Aber ich möchte doch behaupten, daß dazu ein bedeutender Unterschied besteht. Damals konnten Sie das Ende der Isolation absehen, jetzt gibt es dafür keine Garantie. Sie müssen der Tatsache ins Auge blicken, daß Einsamkeit – Sehnsucht und Einsamkeit – Sie noch quälen kann, wenn Sie es längst nicht mehr für möglich halten, und Sie mit dem verzweifelten Verlangen erfüllen kann, mit einem Teil der Vergangenheit Kontakt aufzunehmen. Wenn Sie diese Möglichkeit akzeptieren, hilft Ihnen das, besser mit ihr umzugehen.«

»Ich akzeptiere sie«, erwiderte Gore gleichgültig.

Ratschläge sind selten willkommen. Und die sie am dringendsten brauchen, mögen sie am wenigsten. »Na, schön. Jetzt noch die Geldfrage.«

»Falls ich es erhalte, gibt’s da keine Fragen.«

»Es ist auf ein Konto bei der Banco de Castilla in Andorra la Vella eingezahlt worden. Soviel ich weiß, sind der Bank unorthodoxe finanzielle Transaktionen nicht fremd. Sie hat eine Methode entwickelt, die dafür sorgt, daß nur Sie persönlich an das Konto gelangen können, obwohl Sie keinen früheren Kontakt mit den Leuten hatten. Das Verfahren ist wie folgt: »Er öffnete den Schnellhefter, suchte nach dem gewünschten Papier und las dann vor: »Telefonisch wird ein Kennwort vereinbart, zwischen Ihnen und einem Angestellten der Bank. Sie erhalten ein Einführungsschreiben, in das das Kennwort eingesetzt wird. Wenn Sie sich bei der Bank melden, natürlich mit Ihrem Paß, übergeben Sie diesen Brief, und damit erhalten Sie Zugang zu Ihrem Konto. Ich werde jetzt die Bank anrufen. Dann verlasse ich das Zimmer, und Sie sprechen mit dem Bankangestellten über das Kennwort.«

»Warum wollen Sie denn rausgehen?«

»Ich brauche solche vertrauliche Einzelheiten nicht zu wissen.« Brand hob den Hörer ab, wählte die Vorwahl und dann die Nummer der Bank. Am anderen Ende meldete sich sofort eine Stimme, die Katalanisch sprach und dann zu einem einigermaßen annehmbaren Englisch überwechselte. Sie bat Brand zu warten.

»Hallo, Mr. Brand. Hier ist Pablo Pons«, sagte dann eine andere Stimme.

Brand erwiderte den Gruß und nannte die Kontonummer.

»Das Geld ist verfügbar und zu besten Konditionen kurzfristig angelegt.«

»Ich werde Mr. Franklin Gore jetzt bitten, sich mit Ihnen über das erforderliche Kennwort zu einigen, das dann im Einführungsschreiben G4 eingefügt wird. Einen Augenblick, bitte.« Brand legte den Hörer hin, nickte Gore zu und ging hinaus.

Im Vorzimmer sagte er zu Sarah: »Würden Sie bitte ein Formular G4 vorbereiten.«

»Ja, Mr. Brand.« Sie öffnete eine Schreibtischschublade und nahm das entsprechende Formular heraus. Sie spannte es mit zwei Durchschlägen und dem entsprechenden Kohlepapier in die Maschine und begann zu tippen.

Gore tauchte in der geöffneten Tür zum Büro auf. »Alles klar. Um mir eine schöne Zeit zu machen, brauche ich nur zweimal zu klopfen und nach Dolly zu fragen.«

Sarah kicherte. Brand, der fand, daß ein Gentleman vor Damen keine unfeinen Anspielungen macht, sagte: »Haben Sie gepackt?«

»Bis zum letzten Socken ist alles verstaut.«

»Sobald Miss Bingham das Formular ausgefüllt hat, wird Sie es Ihnen geben, und Sie können das Kennwort einsetzen. Dann wird sie dafür sorgen, daß man Sie zum Bahnhof befördert.«

Er reichte ihm die Hand. »Ich verabschiede mich jetzt. Ich habe noch viel zu tun. Alles Gute!« Er war nicht erstaunt, daß Gore ihm unnötig kraftvoll die Hand schüttelte. Doch er selbst hatte auch einen festen Griff und erwiderte den Druck genau so stark. Es war das erstemal, daß er ein gewisses Zeichen von Respekt auf Gores Gesicht sah.

2

In zwei Punkten war sich die Fremdengemeinde einig – daß die Mallorquinos eine höchst seltsame Art hatten, die Dinge anzugehen und daß Sir Donald Macadie so etwas wie die alte Schule war.

Einszweiundachtzig groß, mit stockgeradem Rücken und immer noch dichtem Haar war Macadie eine eindrucksvolle Erscheinung. Seine dunkelbraunen Augen blickten wohlwollend und bekamen einen eisigen Ausdruck, wenn Wort oder Benehmen nicht seinen Ansprüchen entsprach. Er hatte eine Adlernase und konnte so herzlich lachen, daß die anderen mitlachten, ohne zu wissen warum.

Natürlich gab es Leute, die den Ausdruck »alte Schule« nicht als Kompliment auffaßten. Für sie war sein freundliches Benehmen herablassend, und sein häufig geäußerter Wunsch, der Besitz möge bis zum tausendsten Jahrestag in der Familie bleiben, der Gipfel an snobistischer Dummheit. Seine Ehe mit einer Frau, die halb so alt war wie er, war eine Quelle endloser Witzeleien über vergeudete Möglichkeiten.

Der Familienbesitz lag in Shropshire, und falls ein Erbe bis zum Jahre 2068 lebte, würde ein Teil des Landes seit tausend Jahren im Besitz der Familie sein. Er liebte die englische Landschaft mehr als alles andere auf der Welt, und wenn sein Asthma sich nicht immer mehr verschlimmert hätte, wäre er nie auf den Kontinent gezogen, obwohl sich dadurch die Steuerlast verringert haben würde. Doch nachdem Honor gestorben war, hatte er Vivien kennengelernt …

Honor. Gräfin und genauso wie er in Land und Tradition verliebt. Gesellschaftlich betrachtet war sie die ideale Ehefrau gewesen. Sie hatte gewußt, wer zu seiner oder ihrer Rechten sitzen mußte, wenn sie Gäste zum Abendessen hatten, einen Richter und seine Frau vom höchsten Gericht, einen Pair auf Lebenszeit mit seiner Frau, einen Finanzier und irgendeinen unbedeutenden Menschen. Sie konnte mit den Angestellten umgehen, obwohl ihr Benehmen manchmal etwas Aristokratisches hatte, wie man es häufig bei Leuten findet, für die Reichtum selbstverständlich war. Die Fähigkeiten eines Jägers konnte sie mit einem Blick einschätzen. Traurig war nur, daß sie körperlich nicht dem Idealbild einer Frau entsprochen hatte (eine Tatsache, die er sich zeit ihres Lebens nicht eingestehen wollte, was ihm aber mißlang), doch sie hatte sich ihm pflichtgemäß hingegeben und zweifellos mit dem Gedanken getröstet, daß dies zu ihren Aufgaben gehöre, es für das Königreich nützlich sei. Dann wurde sie plötzlich sehr krank, ihre Gebärmutter mußte entfernt werden, und sie war monatelang bettlägrig gewesen.

Nach allem, was sie durchgemacht hatte, fand sie, niemand könne vernünftigerweise erwarten, daß sie sich weiteren Liebesakten mit ihrem Mann hingeben würde.

Eines Morgens warf ihr Pferd sie ab, das mit einem Huf in ein Kaninchenloch geraten war. Da sie zum Reiten nie etwas anderes hatte tragen wollen als den traditionellen Samthut, hatte der Sturz ihre Schädeldecke zertrümmert und sie war noch in der folgenden Nacht gestorben. Der Schock über ihren Tod hatte Macadie so schwere Asthmaanfälle verursacht, daß er zweimal ins Krankenhaus mußte und jedesmal Stunden unter dem Sauerstoffzelt verbrachte. Nachdem er sich von seinem zweiten schweren Anfall erholt hatte, war ihm von seinem Facharzt angeraten worden, nicht länger in einem Klima zu leben, das wie geschaffen dazu war, Erkrankungen der Atemwege zu verursachen und zu fördern. Er sollte in ein Land ziehen, in dem die Sonne schien, es wenig blühendes Gras und wenig Blütenstaub gab und die Luftverschmutzung gering war. Er hatte den Rat nicht befolgt. Über den Verlust seiner Frau und der Tatsache eines fehlenden Erben deprimiert, hatte er keine Lust gehabt, sich mit dieser Möglichkeit auseinanderzusetzen.

Zu intelligent und aktiv, um lange ein sinnloses Leben zu führen, hatte er etwa achtzehn Monate nach Honors Tod beschlossen, ein Projekt in Angriff zu nehmen, das ihn schon seit Jahren stark beschäftigte. – Er wollte eine Geschichte der Familie schreiben, von dem Tag an, da ihr das erste Land zugewiesen worden war. (Die Rolle des Historikers bedeutete ihm sehr viel – war es seine Pflicht, alles zu berichten, was er wußte? Oder war es legal, eine Tatsache wegzulassen, die auf die darauf folgenden Ereignisse keinen Einfluß hatte? Der Umstand, daß Oswald Macadie James I. vierhundertzwanzig Guineas für seinen Adelstitel zahlte, hatte den Lauf der Familiengeschichte kein bißchen verändert. Aber warf es vielleicht einen Schatten auf die Familienehre?) Nachdem er ein paar hundert Seiten vollgeschrieben hatte, fragte er seinen Verwalter, ob er jemanden kenne, der gern stundenweise für ihn schreiben würde.

Vivien. Attraktiv, gewandt, tüchtig. Immer fröhlich, trotz der Tatsache, daß ihr Mann im Vorjahr gestorben war und ihr genauso viele Schulden wie glückliche Erinnerungen hinterlassen hatte. Eine Frau voller Widersprüche. Still, bescheiden und reserviert. Witzig, spöttisch, mit Augen, die verlockend blicken konnten. Ein paar Tage lang trug sie ihr rabenschwarzes Haar streng und einfach, dann wieder umrahmte es ihr ovales Gesicht in üppiger Fülle. Gewöhnlich legte sie wenig Make-up auf und zog sich unauffällig an. Doch gelegentlich verwendete sie viel Lidschatten, Puder und Lippenstift, benützte ein aufreizendes Parfüm statt eines dezenten Dufts und trug ein Kleid, das viel enthüllte, obwohl es alles verbarg.

Bei Kapitel vier begann er den Altersunterschied zu bedauern, bei Kapitel neun bezweifelte er, ob er eine so große Rolle spielte, wie behauptet wurde. Bei Kapitel elf …

Er war bei ihrem Schreibtisch gestolpert und hatte, bei dem Versuch, sein Gleichgewicht wiederzufinden, unabsichtlich ihre rechte Brust gestreift. Er entschuldigte sich sofort. »Wozu die Aufregung«, sagte sie. Eine nette Art, die Peinlichkeit des Augenblicks zu überspielen, denn er hatte Angst gehabt, sie könnte die Sache mißdeuten. Oder hatte sie andeuten wollen, daß sie keine Entschuldigung erwarte?

Bei Kapitel zwölf hatte sie ihn bitten müssen, ihr einen Absatz vorzulesen, den sie nicht entziffern konnte, weil seine spinnenartige Handschrift nicht mehr zu lesen war. Im Jahr 1624 hatte man Sir Oswald Macadie das Neugeborene gezeigt. »Bei Gott, ein strammer Macadie!« hatte er gerufen. »Sir«, hatte die Hebamme nervös gesagt, »es ist ein Mädchen.«

»Der Teufel! Geben Sie es zurück. Für Mädchen habe ich keine Verwendung.«

»Nicht gerade ein rücksichtsvoller Ehemann«, bemerkte Vivien.

Macadie, der neben ihrem Schreibtisch stand, erwiderte pedantisch: »Urteilen Sie nicht zu hart. Er war sehr reich geworden und nahm gesellschaftlich gesehen eine hohe Stellung ein. Die Ärzte hatten ihm erklärt, daß er wegen der Masern, die er mit Dreißig bekommen hatte, steril sei, und als seine Frau schwanger wurde, betrachtete er es als ein Wunder. Nachdem sich herausstellte, daß es ein Mädchen war, fiel das Wunder in sich zusammen.«

»Natürlich.«

Sie lachten.

»Er konnte ja nicht wissen«, fuhr Macadie fort, »daß in den nächsten fünf Jahren drei Söhne folgen würden.«

»Komisch, nicht wahr, wie oft das Leben noch einen Joker im Ärmel hat.«

»Sie haben das auch schon erlebt?«

»Wer nicht?«

An jenem Tag lud er sie zum Essen ein. Sie hatte darauf bestanden, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, obwohl er ihr versichert hatte, daß dies völlig überflüssig sei. Als der Filipino-Butler sie in den »Trafalgar Room« führte, wurde er zu seinem Ärger und zu seiner Belustigung daran erinnert, wie Sir Horace Macadie seine irische Geliebte beschrieben hatte: Eine sehr sinnliche Frau, der Bescheidenheit schwerfiel und die jeden Mann dazu veranlaßte zu überlegen, ob ihre geheimen Vorzüge so hervorragend waren wie ihre offensichtlichen.

Das Abendessen war ein großer Erfolg gewesen.

 

Er bat sie, ihn zu heiraten, aber da er ein Mann mit Grundsätzen war, erklärte er ihr vorher, daß sich Honor und er gewissen Tests unterzogen hätten, weil sie keine Kinder bekämen. Dabei hatte sich herausgestellt, daß er unfruchtbar sei. Und deshalb könne Vivien niemals ein Kind von ihm haben. Sie hatte volles Verständnis für die Sache gehabt und mit ihm viel mehr den Umstand beklagt, daß er keinen Erben haben konnte, als sich über seinen Heiratsantrag zu freuen.

Kurz nachdem sie geheiratet hatten, sagte sie, daß er dem Rat der Ärzte folgen und aufs Festland ziehen solle.

»Nein.«

»Es ist nur zu deinem Besten, Liebling.«

»Seit ich dich kennengelernt habe, geht es mir glänzend.«

»Gestern nachmittag auch?«

»Der … der Anfall war eine Ausnahme.«

»Ich möchte das große Glück, das ich gefunden habe, nicht verlieren, nur weil du nicht auf die Ärzte hören willst.« Sie wußte, daß er für seine Liebe zu Stowton Place zu leiden bereit war, aber er wollte sie nicht wegen ihrer Liebe zu ihm leiden lassen.

 

Nachdem die Entscheidung zugunsten einer Ortsänderung gefallen war, mußte geklärt werden, wohin sie ziehen sollten. Er klopfte mit den Fingern auf die Armlehne, wie er es häufig tat, wenn er unsicher war. »Wohin sollen wir gehen?«

»Ich habe immer davon geträumt, auf einer Insel im Mittelmeer zu leben.«

»Es gibt viele griechische Inseln, die sehr schön sind, aber es soll schwierig sein, dort Land zu erwerben, trotz der Europäischen Gemeinschaft. Dann wäre da Sardinien mit der Touristenanlage – hat Aga Khan sie nicht gebaut? –, in der das Leben sehr angenehm sein soll.«

»Wurde dort nicht vor ein paar Jahren eine junge Engländerin gekidnappt, um Lösegeld zu erpressen?«

»Jetzt da du es erwähnst – ich glaube, ja. Vermutlich steckten Einheimische dahinter, deren Ziel ›Sardinien den Sarden‹ war.«

»Wirklich, Donald, dein Scherz hat nicht mal Volksschulniveau … Ich würde mich in einem Land, wo so etwas möglich ist, nicht wohl fühlen.«

»Wenn man realistisch denkt, muß man zugeben, daß so etwas überall passieren kann.«

»Aber wenn es einmal vorgekommen ist, geschieht es leicht wieder.«

»Der Blitz schlägt nie zweimal am selben Ort ein.«

»Laut dem Guinness-Buch der Rekorde gibt es einen Amerikaner, den der Blitz siebenmal getroffen hat.«

»Wenn’s einmal einschlägt, kann man das als Pech betrachten. Siebenmal sieht nach Leichtsinn aus.«

»Sei nicht so schwierig! Warum ziehen wir nicht nach Mallorca?«

»Um Gottes willen!«

»Ich habe nicht Sodom vorgeschlagen.«

»Da ich altmodisch bin, kenne ich mich damit nicht aus. Aber wenn man sich auf die Presse verlassen kann, dann ist Mallorca dabei, unter dem Gewicht von Zement und anderem Unsinn im Meer zu versinken.«

»Bist du mal dort gewesen?«

»Nie.«

»Dann heb dir deinen Spott so lange auf, bis du die Insel kennst.« Sie stand auf, trat zu seinem Sessel und streichelte ihm die Wange. »Ich habe meine erste Hochzeitsreise dorthin gemacht.«

»Aha – die rosarote Brille.«

»Ach, halt den Mund! Die Insel ist teilweise wirklich fürchterlich, andere Teile sind wiederum so wunderschön, daß es einem fast weh tut. Wir müssen nur ein Haus finden, das im ruhigeren Teil der Insel liegt.«

»Wäre es nicht lustiger, ein wenig herumzusuchen? Wir könnten auf einer griechischen Insel ein Haus mieten …«

»Wir dürfen nicht nur romantisch sein, wir müssen auch realistisch bleiben. Sicherlich ließe sich eine Insel finden, die abseits des Touristenstroms liegt, aber das würde auch bedeuten, daß dort die Infrastruktur nicht gut ist. Gott möge verhüten, daß du wieder einen schlimmen Asthmaanfall bekommst, trotzdem müssen wir in der Nähe von erstklassiger medizinischer Betreuung bleiben. Es könnte Stunden dauern, bis man dich in ein ordentliches Krankenhaus gebracht hat, wenn unser Haus zu abgelegen ist.«

»Vermutlich hast du recht.«

»Und noch etwas: Wir müssen bequem hierher zurückkehren können, damit du jederzeit auftanken kannst.«

»Was heißt auftanken?«

»Siehst du in deinem Besitz nicht einen Lebenszweck, den andere Leute in der Religion finden?«

»Du erstaunst mich.«

»Möge ich nie damit aufhören.«

 

Sie mieteten ein großes Haus und begannen die Suche nach einem Zuhause. Sie besichtigten große luxuriöse Villen, Häuser, die direkt am Meer lagen, Grundbesitz mit weiter Sicht. Obwohl er zuzugeben gezwungen war, daß seine frühere Verachtung für die Insel völlig ungerechtfertigt war und trotz Viviens Begeisterung für manche besichtigte Anwesen, beschloß er, daß er sich in der Frage der Hauswahl ausnahmsweise einmal nicht nach ihren Wünschen richten würde.

Der Angestellte eines der Maklerbüros traf unangemeldet ein und verkündete in unbeholfenem Englisch, daß er ihnen jetzt einen einzigartigen Besitz zeigen würde, der gerade zum Verkauf ausgeschrieben worden war.

»Tut mir leid«, sagte Macadie, »wir suchen nicht mehr nach einem geeigneten Objekt, weil wir beschlossen haben, uns nicht auf der Insel niederzulassen.«

»Die Burg, Sir, würde sogar einem König gefallen.«

»Ich bin aber nur ein Baronet.«

»Mit Worten läßt sie sich nicht beschreiben. Man muß sie sehen.«

»Na gut, schauen wir uns das Objekt an.«

Macadie hatte keine Ahnung, daß Makler auf Mallorca sehr hohe Provisionen bekamen. Solange auch nur die geringste Aussicht auf einen Verkauf bestand, mußte man sie praktisch hinauswerfen, um sie loszuwerden.

 

»Son Termol.« Sechs Kilometer Staubstraße, die sich um einen Berg wanden und dann an zwei Stellen einen anderen hinauf. Drei Häuser, die auf einem flachen Gipfel standen. Im Westen Blick auf die Sierra de Cala Roig, im Norden aufs Meer, im Osten auf das dornige Vorgebirge von Parelona und die Bucht von Llueso. Im Süden, hinter den niedrigeren Bergen, die Ebene von Mestara.

Macadie, in dessen Haar der Wind spielte, genoß die Aussicht.

»Warum gibt es drei Häuser?« fragte Vivien.

Der Makler grinste. »Sie wurden von einem österreichischen Grafen gebaut, der die Damen sehr liebte. Sie wollten nicht zusammenleben.«

»Eindeutig ein Mann«, bemerkte Macadie, »für den Vielfalt die Würze des Lasters war … Wie groß ist das Land?«

»Zweihundertfünfzig Hektar, Señor.«

»Wo verläuft ungefähr die Grenze?«

»Alles Land, das Sie sehen, bis zum Himmel.«

»Hätte nicht gedacht, daß es so weit reicht«, erwiderte Macadie, über die Übertreibung amüsiert.

»Wäre es nicht eine gute Idee, einen Blick ins Innere der Häuser zu werfen?« schlug Vivien vor in einem Ton, der verriet, daß ihr der abblätternde Putz, die zerbrochenen Fensterläden, die fehlenden Scheiben und die abbröckelnden Kacheln nicht entgangen waren.

Sie gingen in das Haus auf der rechten Seite. Drinnen sah es aus, als wären Landstreicher eingebrochen und hätten ein paar Monate lang im Haus gewohnt. »Mein Gott, was für ein schreckliches Durcheinander!« rief Vivien.

»Vielleicht sind ein paar Peseten nötig, um das zu ändern«, gab der Makler zu. »Aber kein Problem.«

 

Als sie wieder in ihrem gemieteten Haus waren, fragte Vivien: »Ist das dein Ernst? Es wäre, als lebte man im Busch.«

»Ich habe die Rückfahrt gestoppt. Es sind nur fünfundzwanzig Minuten mit dem Auto bis zum Dorf. Wenn du dir es genau überlegst, so braucht man von Stowton Place bis Little Sowerburry … Hast du schon mal so eine Aussicht gesehen?«

»Wer will schon drei Häuser.«

»Eines für uns, eines für die Angestellten, eines für Gäste. Überleg doch nur, wieviel angenehmer es ist, wenn man die Gäste für so viele Stunden täglich von seinem Leben ausschließen kann.«

»Wenn du das denkst, warum lädst du sie dann überhaupt ein?«

»Meiner Erfahrung nach laden sich die meisten Leute selbst ein.«

»Was wird die Renovierung von drei Häusern kosten?«

»Ich glaube, wir brauchen uns um diese Seite der Angelegenheit keine allzu großen Sorgen machen. Aber wenn du so dagegen bist, den Besitz zu kaufen, lassen wir es einfach.«

»Ich bin nicht dagegen, Liebling, ich versuche nur, herauszufinden, ob es eine vernünftige Idee ist. Wir wären wirklich völlig auf uns selbst angewiesen. Es ist kaum die Art von Haus, wo die Nachbarn auf einen Kaffee und einen kleinen Schwatz vorbeikommen.«

»Diese Möglichkeit macht für mich die Sache noch verlockender.«

»Und du bist noch schwieriger. Du weißt sehr gut, daß du kein Misanthrop bist.«

»Gut, ich gestehe es demütig: Ich habe mich in den Ort verliebt, und deshalb bemühe ich mich, auch an den Nachteilen noch etwas Gutes zu finden. Um die Wahrheit zu sagen – mir gefällt die Vorstellung, auf meinem eigenen privaten Olymp zu hausen.«

Sie konnte im allgemeinen beurteilen, was auf die Dauer gesehen das Beste war. Sie trat zu ihm und legte ihre Wangen an die seine. »Dann zum Teufel mit allen Problemen. Wir werden auf dem Olymp wohnen. Aber, mein lieber Zeus, daß du mir nicht Leda als Schwan besuchst!«

 

Der Baumeister versprach zuversichtlich, daß die Arbeiten bis September beendet sein würden, denn es war Sitte, den Fremden zu erzählen, was sie gern hören wollten. Im folgenden März war die Renovierung schließlich abgeschlossen.

Von außen hatten die drei Steinhäuser düster gewirkt. Jetzt, mit den sorgfältig geplanten Anbauten, die ihre Silhouette veränderten und freundlicher machten, wirkten sie einfach nur solide. Ihr Inneres war dank Viviens natürlichem Flair für Form und Farbe warm und freundlich. Für den Garten war die Erde lastwagenweise herbeigeschafft worden. Man hatte alte Olivenbäume und Palmen gepflanzt, Blumenbeete gestaltet. Um den kleeblattförmigen Swimmingpool war ein Rasen aus Gammagras angelegt worden. Es genügte, um die Götter des Olymps neidisch zu machen.

3

Vor der Küche des hundertfünfzig Jahre alten Bauernhauses stand ein Weinstock, der sowohl Schatten als auch Trauben lieferte. Unter ihm saßen Verd und Inspector Alvarez an einem groben Holztisch.

»Sie klauen meine Tomaten«, sagte Verd zum drittenmal. Dank des einzigen Vorderzahns klangen die Wörter wie ein Pfeifen. »Es sind die Franzosen unten an der Straße, die Gaspars Haus gemietet haben.«

»Hast du sie dabei erwischt?« Alvarez trank. Der selbstgekelterte Wein schmeckte nach warmer, trockener Erde und weckte in ihm Erinnerungen an seine Jugendzeit.

Verd reagierte nicht auf die Frage. »Weißt du, wieviel sie zahlen? Hunderttausend?«

»Im Sommer können die Mieten hoch sein.«

»Aber hunderttausend!« Manche behaupteten, Verd sei etwas einfältig und deshalb könne er nicht begreifen, daß die Welt sich geändert hatte. In Wirklichkeit hatte er vor Veränderungen solche Angst, daß er im Geist in der Vergangenheit bleiben mußte, wenn er die Gegenwart überleben wollte. Deshalb glaubte er immer noch, daß hundert Peseten eine Menge Geld seien. »Wenn sie so reich sind, warum klauen sie dann meine Tomaten?«