Ins Jenseits auf Mallorca - Roderic Jeffries - E-Book

Ins Jenseits auf Mallorca E-Book

Roderic Jeffries

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Beschreibung

Ein Mallorca-Krimi von Roderic Jeffries Justin Burnett, Kunstprofessor und Kenner der Antike, wird tot aufgefunden – Selbstmord, Unfall oder Mord? Er stand vor einer lebensgefährlichen Tumoroperation. Inspektor Alvarez wird hinzugezogen, da es Zeugen für einen Streit zwischen Burnett und dem reichen Emporkömmling Gerald Heal gibt. Als der mit seinem Wagen allerdings kurz danach von der Küstenstraße abkommt und in den Tod stürzt, steht Alvarez vor einem rätselhaften Fall ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 270

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Roderic Jeffries

Ins Jenseits auf Mallorca

Aus dem Englischen von Ingrid Herrmann

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Das grelle Sonnenlicht spiegelte sich im Wasser des Swimmingpools und tanzte im Wellenmuster über die Zimmerdecke; im Wohnraum war es brütendheiß und stickig. Yeo-Eaton sah auf den dunklen Fernsehschirm und dachte an den neuesten Videofilm, den er sich ausgeliehen hatte. Es mußten ein paar ziemlich pikante Szenen drin vorkommen. Er fragte sich, ob er sie sich würde ansehen dürfen, oder ob Bronwen wieder den Schnellvorlauf einstellte.

»Die Varleys lieber nicht«, sagte sie.

Er drehte den Kopf und sah kurz zu ihr hin, wie sie an dem kleinen, wunderschön geformten Schreibpult saß.

»Was ist?« fragte sie ungeduldig. »Bist du einverstanden?«

Er kehrte in die Gegenwart zurück. »Einverstanden, meine Liebe?«

»Du könntest ruhig zuhören, wenn ich mit dir spreche.«

»Natürlich, meine Liebe. Entschuldige bitte.« Er brauchte einen Drink, doch sie hielt an der Absicht fest, daß ein Gentleman vor halb sieben Uhr abends nichts Alkoholisches zu sich nahm. Alkohol und Sex, pflegte sie zu sagen, seien des Teufels Advokaten. Er fragte sich, wieso der Teufel alle schönen Dinge im Leben genießen durfte.

»Bist du damit einverstanden, daß wir die Varleys nicht einladen?«

»Aber ich dachte, mit ihnen kämest du ganz gut aus.«

Sie hatte schmale Lippen, und wenn sie sie spitzte, verschwanden sie ganz, ihre kultivierte Stimme klang scharf. »Du weißt genausogut wie ich, daß es Leute gibt, die man zwar nett findet, die man aber nicht zu sich nach Hause einlädt.«

»Er ist ein guter Golfspieler.«

»Heutzutage läßt man sogar Professionelle ins Clubhaus, also, daran erkennt man nicht mehr den Gentleman.«

»Aber die Varleys sind sehr hilfsbereit. Sie haben sogar dem jungen Paar, das kein Geld mehr besaß, fast die gesamte Heimreise nach England bezahlt.«

»Sie hat einen vulgären Akzent.«

In Gedanken stellte er sich Hilda Varley vor. Eine üppige Figur mit den Rundungen an den richtigen Stellen, blonde Locken, rundes Gesicht und volle Lippen, die zu dem sinnlichen Ausdruck in ihren braunen Augen paßten. Sie bekam bestimmt keine Kopfschmerzen, wenn es Zeit war, zu Bett zu gehen …

Von der Halle her erklang das Klappern von hohen Absätzen auf den Fliesen, und in der Tür erschien Victoria. »Ich gehen jetzt«, sagte sie in gebrochenem Englisch.

Bronwen neigte den Kopf. Er antwortete: »Auf Wiedersehen, bis morgen dann.«

»Adios, Señor.« Victoria strahlte ihn an.

Er sah ihr hinterher. Victoria war eine reife Schönheit, die jedoch anfing, etwas üppig zu werden. Wenn Bronwen nicht da war und seine Gedanken kontrollierte, ließ er seiner Phantasie freien Lauf. Dann stellte er sich vor, wie Victoria zu ihm, einem Colonel im Ruhestand, in Liebe entbrannte. Bevor er die Tochter seines Vorgesetzten geheiratet hatte, war er ein schneidiger Offizier gewesen …

»Nein, nicht die Varleys.« Sie strich den Namen auf ihrer Liste durch. Mit einem spitzenumsäumten Taschentuch wischte sie sich die Stirn. (Pferde schwitzten, Männer transpirierten, Damen waren lediglich erhitzt.) »Wann kommt endlich der Handwerker, um die Klimaanlage zu reparieren? Hast du ihm denn nicht erklärt, wie dringend es ist?«

»Ich sagte, die Hitze brächte uns fast um. Er versprach, so bald als möglich zu kommen, aber er hat anscheinend sehr viel zu tun.«

»Nichts als ein Vorwand. Es wäre besser gewesen, wenn ich mit ihm gesprochen hätte.«

Dagegen konnte er nichts einwenden, denn sie hatte recht. Sie sprach kein Spanisch, geschweige denn Mallorquin, trotzdem erreichte sie immer, was sie wollte, sogar auf dieser Insel. Sie war der geborene Feldwebel.

Sie widmete sich wieder der Gästeliste. »Phillipa werden wir wohl fragen müssen, obwohl sie selbst nie Gäste einlädt.«

»Sie kann es sich nicht leisten.«

»Dann sollte sie aber auch keine Einladungen annehmen.«

Er wußte, daß Bronwen nichts gegen Phillipas Geldnot hatte, sie mochte sie nicht, weil sie eine eigenwillige Persönlichkeit war und immer aussprach, was sie dachte. Phillipa gehörte zu den wenigen Menschen, die Bronwen nicht mit Herablassung behandelte.

»Mit Gerald sind es dann zweiunddreißig Gäste.«

»Meinst du Gerald Heal?« fragte er überrascht.

»Ich wußte nicht, daß wir noch andere Geralds kennen.«

»Aber ich dachte immer … ich hatte den Eindruck …«

»Sprich bitte in ganzen Sätzen.«

»Ja, meine Liebe.«

Sie schloß das Schreibpult und blickte in die Runde, als wollte sie sich davon überzeugen, daß alles im Zimmer an seinem Platz war. Alles mußte immer sauber und aufgeräumt sein. Zufrieden ging sie zur Couch und setzte sich. »Wieso wundert es dich, daß ich Gerald einlade?«

»Erst kürzlich hast du gesagt, er sei ordinär.«

»Das ist er auch, aber seine Herkunft kann man ihm ja nicht zum Vorwurf machen.«

»Aber die Varleys lädst du nicht ein, weil sie –«

»Godfrey, mußt du immer gleich einen Streit anfangen?«

Er wußte, daß sie den ganzen Abend lang an ihm herumnörgeln würde, wenn er jetzt nicht den Mund hielt; aber in einem Anflug von Verwegenheit fuhr er fort: »Die Varleys lädst du nicht ein, weil du sie nicht standesgemäß findest, obwohl sie immer sehr hilfsbereit sind. Dann dürftest du Gerald erst recht nicht einladen, denn er ist außerdem ein maßloser Egoist.«

»Erkennst du nicht den Unterschied?«

»Nein, tut mir leid.«

»Dann wäre es sinnlos, ihn dir erklären zu wollen. Manchmal kann man sich mit dir einfach nicht vernünftig unterhalten.«

Während er aus dem Fenster auf den Pool, den Rasen und die Lantana-Hecke sah, fiel ihm ein kurzes Gespräch ein, bei dem er zwei Hausangestellte einmal zufällig belauscht hatte. »Hast du ihn gefragt?« – »Nein, nicht.« – »Warum denn nicht, verdammt noch mal?« – »Weil ich ihn nie ohne diese Hexe erwische.« Die Erinnerung daran tat ihm gut, obwohl er nicht sicher sein konnte, daß er und Bronwen gemeint waren.

»Apropos«, sagte sie, »Ruth hat angerufen, als du gerade im Dorf warst, um die Zeitung zu kaufen.«

»Wie geht es ihr?«

»Ganz gut.«

Selbst nach so vielen Jahren stimmte ihn Bronwens mangelnde Mütterlichkeit immer noch traurig. Über seine Tochter hingegen konnte er immer noch staunen: erstens war es ein Wunder, daß sie überhaupt auf der Welt war, zweitens besaß sie ein warmherziges, liebevolles Wesen. Vielleicht wäre sie glücklicher geworden, wenn sie mehr von dem festen Charakter ihrer Mutter mitbekommen hätte. Sie beschäftigte sich viel zu sehr mit den Sorgen und Nöten anderer Menschen, und das nahm sie alles ziemlich mit. Sie war auch schon einmal verheiratet, und danach hatte sie mit einem Mann zusammengelebt. Davon hatte ihre Mutter allerdings nie etwas erfahren. Beide Beziehungen waren gescheitert.

»Ich empfahl ihr, eine Woche früher zu kommen als geplant«, sagte Bronwen.

»Dann ist sie ja in weniger als zwei Wochen schon hier«, freute er sich.

»Sie wollte noch jemanden mitbringen, aber ich fand, es sei besser, wenn sie allein käme. Bei ihren Bekanntschaften weiß man nie, wen sie einem ins Haus schleppt.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Hier unten krieg ich keine Luft, ich gehe ein bißchen nach oben ins Schlafzimmer. Hast du daran gedacht, die Klimaanlage einzuschalten?«

»Ja, meine Liebe.«

Als sie aufstand, erhob er sich gleichfalls. Seine Manieren waren genauso konservativ wie sein Pflichtbewußtsein. Er glaubte fest daran, daß ein Mann seine Frau respektieren müsse, bis der Tod ihn davon erlöste.

Sobald er hörte, wie sie die Treppe hinaufging, schenkte er sich einen großen Whisky ein. Aus der Küche holte er sich Eiswürfel. Dann ging er ins Wohnzimmer zurück, machte er sich in einem Sessel bequem und trank genüßlich. Sein Triumph war um so größer, weil es noch nicht mal sechs Uhr war.

Er fand es höchst merkwürdig, daß Bronwen Ruth vorgeschlagen hatte, schon eine Woche früher auf die Insel zu kommen. Normalerweise haßte sie es, ihre einmal festgesetzten Pläne zu ändern. Genauso sonderbar war es, daß sie Gerald Heal zu ihrer Cocktail-Party einladen wollte, denn noch vor kurzem hatte sie ihn einen Proleten genannt. Wurde sie etwa tolerant? Nicht, wenn es um die Varleys ging … Großer Gott! Natürlich! Ruth sollte eine Woche früher kommen, um bei der Cocktail-Party dabei zu sein, und Gerald wurde eingeladen, weil man munkelte, er ließe sich von seiner Frau scheiden. Was für eine alberne Idee! Gerald Heal würde eine unscheinbare, oftmals linkische Frau nicht zweimal ansehen; und Ruth machte sich nichts aus Reichtum, sie fiel immer nur auf den gleichen Typ Mann herein, charmant und mittellos.

2

»Kann ich mich jetzt bewegen?« fragte Alma.

»Nein«, antwortete Guy Selby.

»Aber es kribbelt mir überall, ich habe Durst, und ich schwitze so schrecklich – wie ein Schwein.«

»Können Schweine schwitzen?«

»Keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht, und ich will mich jetzt bewegen.« Sie streckte das rechte Bein aus und massierte die Innenseite des Schenkels. »Mein Gott, was du brauchst, ist ein Schlangenmensch.«

»Bring mir einen her, der länger als zwei Sekunden stillhalten kann, und ich bin glücklich. Aber es muß eine Frau sein mit deiner Figur.«

»Interessierst du dich nur für meinen Körper?«

»Natürlich.«

»Du bist primitiv.«

»Na und?«

Sie stand auf und streckte sich. »Ich habe nicht nur Durst, sondern auch Hunger. Wohin gehen wir zum Essen?«

Er zeigte mit dem Pinsel auf sie. »So willst du zum Essen gehen?« Sie war nackt.

»Warum nicht?«

»Die Mallorquiner sind konservativ. Sie haben sich gerade erst ans Nacktbaden gewöhnt, und eine nackte Frau im Restaurant würde sie glatt umhauen.«

»Frag mal die Kellner, vielleicht lassen die sich gern umhauen … Wie wird das Bild?«

»Miserabel.«

Sie suchte sich einen Weg zwischen Möbelstücken, Büchern, Stapeln von Zeitschriften und anderem Kram, der auf dem Fußboden lag, und stellte sich vor die Staffelei. Nach einer Weile sagte sie:

»Ich bin mir nie sicher, ob du deine Arbeit herabsetzt, weil du zu bescheiden bist, oder ob du nur Komplimente hören willst.«

»Nimm ruhig das Schlimmste an.«

»Du erklärst immer, du könntest keinen Menschen malen und müßtest noch viel lernen, aber das hier ist großartig.«

»In deiner unkritischen Begeisterung merkst du doch hoffentlich, daß das Bild noch nicht fertig ist?«

»Natürlich sehe ich das, du Idiot … Du hast mir einen Ausdruck verliehen, den ich nicht identifizieren kann, was ist es?«

Während sie in sein kantiges, etwas verbissen wirkendes Gesicht sah, wußte sie, daß er ausweichen würde.

»Hunger, Durst, Muskelkrämpfe.« Er säuberte einen Pinsel in einem Topf und wischte ihn dann mit einem Lappen ab. Mit seiner braungebrannten, athletischen Figur sah er absolut nicht so aus, wie man sich den typischen Künstler vorstellt.

»Sei doch mal ernst«, bat sie.

»Du fragst dich gerade, ob du vergessen hast, die Pille zu nehmen, und gerätst in Panik.«

»Du bist wirklich unmöglich! Warum gibst du nicht manchmal zu, daß du sentimental bist, indem du deine Gefühle hinter einer Art Zynismus versteckst?«

Er säuberte einen zweiten Pinsel und dann die Palette – so unordentlich er sonst war, mit seinen Malutensilien war er pedantisch. »Kennst du nicht die Lebensweisheit, daß man immer dann, wenn man in die Sterne guckt, auf eine Bananenschale tritt?«

»So schlimm ist es dir im Leben auch nicht ergangen.«

»Die Konsumgesellschaft ist nur was für Menschen mit Geld.«

»Erzähl mir bloß nicht, du wärst lieber ein Yuppie.«

»Warum denn nicht? Dann könnte ich in einem Porsche zu meinem Appartement in den Docklands fahren, und meine einzige Sorge wäre, in welches Restaurant ich meine Freundin führen könnte. Manchmal möchte ich meine künstlerische Seele gegen materiellen Reichtum eintauschen, wenn ich eine erniedrigende Stunde lang versuche, einen gleichgültigen Galeriebesitzer für meine Arbeiten zu interessieren, der glaubt, ich sei auch nur einer von diesen Stümpern, die sich für einen neuen van Gogh halten.«

»Bei deinem Talent mußt du eines Tages Erfolg haben, das weißt du genau«, bemerkte sie ernst.

»Das war wohl das Stichwort für die himmlischen Chöre.«

»Geh doch zum Teufel!«

»Meine liebe Dryade, glaubst du wirklich, daß Können immer über Gleichgültigkeit und Ignoranz triumphiert?«

»Ja.«

»Dann gratuliere ich dir. Du bist die letzte Naive auf Erden.«

»Kannst du die Zukunft denn nicht mal optimistisch sehen?«

»Im Augenblick sehe ich die allernächste Zukunft sogar sehr optimistisch.«

»Aber du denkst nicht mehr ans Malen. Ich ziehe mich wohl lieber an.«

»Hast du Angst? Oder bist du so nervös, weil du noch Jungfrau bist?«

»Erforsch besser dein eigenes Liebesleben, nicht meines.«

»Aber deines ist viel interessanter.«

»Für mich nicht, ich habe Hunger. Laß uns jetzt endlich essen gehen.«

Er wechselte den Tonfall. »Ich möchte lieber hier essen.« Er fing an, Farbtuben in einen Metallkasten zu legen.

»Was denn? Dein Kühlschrank ist so leer wie Mutter Hubbards Vorratskammer.«

»Ich kann uns Brot und etwas Käse holen.«

»Wir gehen zum Essen ins Ca’n Toni.«

»Aber ich möchte lieber –«

»Sei einmal ein Kavalier – was das ist, erkläre ich dir später, und tu ausnahmsweise mal das, worum ich dich bitte.«

 

Das dreieckige Gebiet im Süden der Insel hieß La Cuña, und es war in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich. Trotz des langen Küstenstreifens kamen nur sehr wenige Touristen dorthin, und es gab dort weder ein Hotel, noch eine Bar, noch ein Restaurant.

Das lag zum Teil daran, daß das Land karg und nur mit Sträuchern bedeckt war; der Hauptgrund jedoch war das Fehlen von Stränden, eine felsige Steilküste fiel bis zu hundertfünfzig Meter tief direkt ins Meer ab.

Von den zwei Dörfern, die es auf La Cuña gab, war Costanyi das größere. Natürlich hatte sich innerhalb der letzten fünfzig Jahre einiges verändert, denn die Auswirkungen des Wohlstandes reichten inzwischen auch bis dorthin, jedoch verglichen mit anderen Teilen der Insel war hier die Zeit stehengeblieben.

Ca’n Toni war durch kein Schild als Speiselokal gekennzeichnet. Die Fenster waren klein und ließen kaum Licht herein, die Holztische waren fast so alt wie das Haus, und selbst im Sommer wurde meistens in einer Ecke des Raumes über dem offenen Feuer gekocht. Eine geschriebene Speisekarte gab es natürlich nicht, und es wurden nur wenige Gerichte angeboten.

Der Kellner, der durch einen Unfall in einem Steinbruch ein Auge und drei Finger seiner linken Hand verloren hatte, zählte auf, was es gab, und wartete dann mit gleichgültiger Miene ab, was der Gast bestellte.

»Ich nehme Lammschulter«, sagte Alma. »Für dich das gleiche?«

Selby schüttelte den Kopf. »Ich nehme Frito Mallorquin.«

»Aber du hast doch gesagt, die Lammschulter hier sei einfach köstlich.«

»Ich bin nicht hungrig.«

»Du meinst wohl, du bist zu stolz, um das zu essen, worauf du wirklich Appetit hast.«

»Verdammt noch mal –«

»Ich weiß. Man hat mir schon früher gesagt, daß man mich wegen meines losen Mundwerks nirgendwohin mitnehmen könnte … Guy, für uns soll dies ein kleines Fest sein. Verdirb es bitte nicht.«

Er machte eine finstere Miene, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und bestellte dann beim Kellner in fließendem, wenn auch etwas fehlerhaftem Spanisch zweimal Lammschulter und vino corriente. Der Kellner, der nur sprach, wenn es sich nicht vermeiden ließ, nickte und ging.

Sie faßte über den Tisch und legte ihre Hand auf die von Selby.

»Wenn eines deiner Bilder bei Christie’s die Hauptattraktion wird, dann kannst du mich ja zum Essen im Four Seasons einladen.«

»Freu dich nicht zu früh drauf, das kann noch fünfundneunzig Jahre dauern.«

»Noch ehe ich fünfundzwanzig bin, werde ich auf deine Kosten schlemmen.« Im allgemeinen war er sehr selbstbewußt, nur hinsichtlich seiner Arbeit schien er oft von Zweifeln gequält. Sie nahm an, daß das der Grund für seine häufige schlechte Laune war. »Du wirst einmal sehr berühmt sein. Die Leute werden sich um deine Bilder reißen.«

»Und sich lieber den Hals brechen, ehe sie einen Scheck unterschreiben.«

Der Kellner kam mit zwei Gläsern, einem Krug Wein, einem kleinen Teller Oliven und einem größeren Teller mit mallorquinischem Brot.

Selby füllte die Gläser und reichte Alma eines hinüber. Er bemühte sich um bessere Laune. »Na schön, trinken wir auf meine erste Million.«

Der Wein hatte einen herben, erdigen Geschmack; die Oliven schmeckten etwas bitter. Alma hatte gelernt, die Erzeugnisse der Insel zu genießen, und als sie einen Olivenkern in den Aschenbecher aus Holz legte, bemerkte sie: »Heute beim Frühstück war Gerry ganz umgänglich, deshalb habe ich über dich gesprochen.«

»Ihm ist bestimmt sofort der Appetit vergangen.« Es gelang Selby nicht, seinen Unmut zu verbergen. »Warum zum Teufel hast du das getan?«

»Ich will dir helfen.«

»Wenn ich Hilfe brauche, dann sage ich es.«

»Er könnte etwas für dich tun, warum nicht diese Möglichkeit ausloten?«

»Ich will nicht vor dem allmächtigen Dollar, Yen oder sonst einer Währung in die Knie gehen.«

Sie lachte.

»Was ist daran so komisch?« wollte Selby wissen.

»Die Vorstellung, daß du auf die Knie fällst.«

Er lächelte widerstrebend. »Dabei müßte ich eigentlich Übung darin haben. Ich bin mein Leben lang gegen Wände angerannt.«

»Jetzt hast du doch tatsächlich über dich selbst gelacht. Trink noch ein Glas, wer weiß, was dann alles passiert.«

»Dann krieche ich auf allen vieren hier hinaus.«

»Auf den Knien rutschend … Ich habe Gerry das Bild gezeigt, das du mir gegeben hast. Er meint, du hättest Talent.«

»Dann wäre der Fall ja geregelt. Rück näher, Leonardo.«

»Sarkasmus ist nicht nur die schlechteste Form von Witz, er zeugt auch von Engstirnigkeit. Nur weil Gerry stinkreich ist, muß er noch lange kein Kunstbanause sein. Im Gegenteil …«

»Ja?«

Sie schwieg noch eine Weile, dann fuhr sie fort: »Er ist ein seltsamer Mensch – manchmal scheint er aus zwei verschiedenen Persönlichkeiten zu bestehen. Er will, daß man ihn beneidet, und oft gibt er Geld aus, nur um zu beweisen, wie reich er ist. Aber mitunter verhält er sich so kultiviert, wie es nur ein Mensch mit erlesenem Geschmack fertigbringt.«

»Du meinst, er läßt lediglich die Warmwasserhähne im Bad vergolden?«

»Er erkennt Schönheit, wenn andere sie übersehen. Vor ein paar Jahren stöberte er in Hastings in einem Antiquitätengeschäft herum, das in erster Linie Gemälde verkaufte. Ein paar der Bilder waren so nachgedunkelt, daß man die Motive kaum noch erkennen konnte. Auf eines dieser Bilder wurde er aufmerksam. Neunhundertneunundneunzig Leute hätten einen Blick darauf geworfen und gedacht, nur der Rahmen sei etwas wert; er war der Tausendste, und an dem Bild fand er etwas, das ihn veranlaßte, es zu kaufen. Er ließ es reinigen und von einem Experten begutachten. Wie sich herausstellte, hatte es ein ziemlich bekannter Holländer gemalt, der zur Zeit von Charles dem Ersten eine Zeitlang in England lebte. Sein Name klang so ungefähr wie Myens.«

»Daniel Mytens?«

»Ja, richtig. Na ja, was ich damit sagen will ist, er hatte noch nie etwas von einem Maler namens Mytens gehört, und wenn man einen Mytens neben einen van Dyck hält, würde er den Unterschied vermutlich gar nicht erkennen. Aber in diesem schmutzigen, dunklen Bild entdeckte er etwas, das ihm sagte, es sei völlig anders als die restlichen Bilder. Wieso er das wußte, könnte er dir nicht erklären, er hatte nur dieses bestimmte Gefühl. Er hat eben ein Auge für Qualität. Und wenn er sagt, du hättest Talent, dann ist das auch so, verdammt noch mal!«

»Wer bin ich denn, daß ich es wagte, dir zu widersprechen. Und was habe ich davon?«

»Wir müssen ihn dazu bringen, daß er dir eine Ausstellung deiner Bilder finanziert.«

Die Aussicht darauf reizte Selby natürlich. »Und du glaubst, das würde er tun?«

»Vorausgesetzt, man macht ihm die Sache schmackhaft.«

»Indem man ihm in Aussicht stellt, dann wäre er ein Förderer der edlen Künste und würde vielleicht sogar in den Adelsstand erhoben?«

Sie lächelte kurz. »Es wäre besser, ihm einen Profit anzubieten.«

Er trank seinen Wein aus und füllte beide Gläser nach, damit der Krug leer wurde. »Teufel nochmal, selbst wenn ich jedes einzelne Bild verkaufen sollte, wäre der Erlös doch nur Kleingeld für ihn.«

»Es kommt ihm nicht auf die Höhe des Gewinns an, sondern darauf, daß du ihm dazu verholfen hast. Wenn man jemanden für den Erfolg irgendeines Clous benutzen kann, dann beweist das, daß man cleverer ist als er.«

Mit dem Glas in der Hand lehnte er sich zurück. »Du hast eine komische Art, über deinen Alten zu sprechen. Haßt du ihn eigentlich?«

»Weißt du was, das habe ich mich selbst schon gefragt.« Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Hände. Ihr Blick ging ins Leere. »Aber ich bin zu keinem Schluß gekommen. Jedesmal, wenn er sich eine neue Geliebte nahm und meiner Mutter das Leben zur Hölle machte, verfluchte ich ihn. Zum Schluß hat meine Mutter ihn verlassen. Für mich oder für das, was ich tue, scheint er sich überhaupt nicht zu interessieren, trotzdem besuche ich ihn von Zeit zu Zeit, weil ich mich mit ihm irgendwie verbunden fühle. Daraus folgere ich, daß ich ihn eigentlich gar nicht hassen kann.«

»Vielleicht redest du dir nur ein, zwischen euch bestünde eine Bindung, weil du ihn in deinem Unterbewußtsein haßt und das nur nicht wahrhaben willst.«

»Verdammt noch mal!« Sie war ärgerlich. »Es gefällt dir wohl, mich zu verunsichern, was?«

»Vielleicht will ich nur dein wahres Ich entdecken.«

»Warum?«

»Um zu sehen, ob ich die Wahrheit male.«

»Hat dir noch nie jemand gesagt, daß eine Lüge gnädiger sein kann als die Wahrheit?«

3

Phillipa blieb stehen, zog ein Taschentuch aus dem kurzen Ärmel ihres Kleides und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Für Anfang Mai war es ungewöhnlich heiß, aber wie sie zu sagen pflegte, konnte man sich auf das Wetter in Mallorca nie verlassen.

Sie bewunderte die Aussicht, die sie immer wieder aufs neue begeisterte. Auf dem Hügel lag Llueso, und der alte Ortskern sah noch genauso aus wie zur Zeit der Mauren. Nur in den Außenbezirken gab es moderne, kastenförmige Wohnblocks.

In der Klause auf dem Puig Antonia hausten keine Einsiedler mehr, denn Einsamkeit und Selbstverleugnung galten nicht länger als erstrebenswert. Der Boden war gutes Ackerland, der jedes Jahr, wenn auch nicht so wertvoll wie der um das nahe gelegene Mestara, seine reiche Ernte hervorbrachte.

Die von Bergen umsäumte Bucht hatte nichts von ihrem Reiz verloren, denn von hier aus konnte man die Siedlungen nicht sehen … Die Besiedlung war das Krebsgeschwür der Insel. Noch während Phillipa der Gedanke kam, hörte sie die Geräusche einer Zementmischmaschine und das noch lautere Hämmern eines Steinbrechers.

Der Stadtrat von Llueso hatte jede Form von Neubebauung verboten, denn selbst dort ahnte man vage, daß jedes weitere Haus, jeder neue Wohnblock den Frieden und die Schönheit der Umgebung noch ein Stück mehr zerstörten, doch kein Mensch kümmerte sich um den Erlaß.

Als Phillipa vor vielen Jahren auf die Insel gezogen war, gab es außerhalb von Palma nur unbefestigte Fahrwege, jeder Ausländer war eine Sensation, und wenn man zu dem neuen Parelona-Hotel wollte, mußte man die Parelona-Bucht mit einem Boot überqueren, denn über die Berge führte nur ein Maultierpfad dorthin. Damals waren die Mallorquiner noch ein freundliches, zufriedenes Volk gewesen, dem man fast blind vertrauen konnte … Sie schüttelte den Kopf; inzwischen war sie eine alte Frau. Ist denn damals wirklich alles so schön gewesen, oder vergaß sie nur die unangenehmen Erinnerungen? Sie war sich nicht sicher. Es hieß immer, das Alter hätte seine Vorzüge, doch Phillipa konnte keine entdecken.

Sie ging weiter die sanft ansteigende Straße hinauf, die sie ins Festna-Tal führte. Zu beiden Seiten erstreckten sich zirka einen Meter hohe Steinwälle, die die Hitze festhielten und reflektierten. Der Schweiß rann ihr über das Gesicht, und ihr Herz klopfte beängstigend schnell. Den zweiten Brandy nach dem Essen hätte sie lieber nicht trinken sollen.

Sie kam an einem erst kürzlich renovierten Haus vorbei, neben dem man einen Swimmingpool angelegt hatte. Die Ausländer, die sich im Sommer Häuser mieteten, verlangten einen Swimmingpool, und deshalb wurden sie jetzt dutzendweise gebaut. Jeder Pool verlor durch Verdunstung eine Menge Wasser, das wiederum nachgefüllt werden mußte. Der immens angestiegene Wasserverbrauch bewirkte, daß sich der Grundwasserspiegel senkte. Als Folge davon wurde im Hochsommer in Llueso tagsüber das Wasser abgesperrt. Die Einheimischen saßen auf dem Trockenen, weil die Touristen unten im Hafen Wasser brauchten, dabei waren die am Meer gelegenen Brunnen durch Salzwasser verunreinigt. Trotzdem wurde munter weitergebaut.

Die Straße wurde ebener, und das Gehen fiel Phillipa leichter. Für den kurzen Weg lohnte es sich nicht, ihren alten Seat 600 zu nehmen, und normalerweise wäre sie auch erst aufgebrochen, nachdem es sich etwas abgekühlt hätte. Doch als sie bei Justin anrief, hatte er nicht abgehoben, und sie machte sich Sorgen, ihm könne etwas zugestoßen sein.

Sie gelangte an ein Feld mit Auberginen, in dem eine Frau Unkraut jätete. Sie trug einen formlosen Kittel und einen breitkrempigen Strohhut. In diesem Punkt hatte sich das Leben auf der Insel trotzdem nicht verändert, dachte Phillipa; die Frauen arbeiteten auf dem Feld, während die Männer in den Bars herumsaßen.

»Antonia«, rief sie.

Antonia blickte hoch. Obwohl sie immer einen Strohhut trug, war ihr Gesicht von der Sonne verbrannt. Langsam richtete sie sich auf. »Guten Tag, Señorita.«

»Was macht Ihr Bein?« Phillipa rühmte sich, fließend Spanisch und ganz passabel Mallorquin zu sprechen; in Wahrheit hatte sie einen starken Akzent, machte viele Fehler, und über ihr Mallorquin wurde hinter ihrem Rücken gelächelt.

»Es heilt nur sehr langsam, Señorita. Gestern war ich beim Arzt und erzählte ihm, daß es immer noch schmerzt. Er meinte, nach einem so tiefen Einschnitt wäre das kein Wunder.«

»Sie sollten das Bein mehr schonen.«

»Und wer macht die Arbeit?«

»Sagen Sie García, er soll lieber arbeiten, anstatt mit Ramón zu schwatzen.« Als sie zum erstenmal auf die Insel kam, waren die einfachen Leute arm und konnten weder lesen noch schreiben; wie von selbst hatte man sie behandelt, als seien sie Kinder.

Die Leute in Antonias Alter ließen sich das noch gefallen, aber die Jüngeren nicht. Phillipa hätte sich zutiefst gegrämt, wenn sie gewußt hätte, wieviel böses Blut sie durch ihr herrisches Auftreten verursachte. »Und sagen Sie Garcia, daß eine seiner Ziegen kurz vor dem Lunch eine meiner speziellen Geranien gefressen hat.«

»Das ist ja schrecklich, Señorita.«

»Der Samen kostet tausend Pesetas.« Sie fand, man könne einem Mallorquine den Ernst seiner Situation nur klarmachen, indem man einen Preis nannte. »Dabei habe ich ihm erst gestern gesagt, sein Zaun könne die Ziegen nicht fünf Minuten lang aufhalten, wenn sie wirklich durchbrechen wollten.«

»Aber die Vorderbeine der Ziegen waren doch gefesselt.«

»Seit wann hindert das eine Ziege am Herumstreunen? Sagen Sie Ihrem Mann, er muß einen viel stärkeren und höheren Zaun ziehen. Wenn seine verflixten Tiere noch mehr von meinen Geranien fressen, muß er mir den Schaden ersetzen.«

»Das macht er schon, keine Angst.«

Phillipa ging weiter. Es war höchst unwahrscheinlich, daß der Zaun verstärkt würde. Entweder vergaß Antonia, ihm die Forderung auszurichten, oder García würde zwar zustimmen, aber bereits Minuten später vergessen, was er gesagt hatte. Mañana bedeutete nicht nur Vergeßlichkeit, sondern auch ganz bewußt Schludrigkeit.

Sie kam an das Haus, das ihr Bruder, ebenso wie sie selbst das ihre, auf Lebenszeit gemietet hatte. Es war allerdings wesentlich größer als ihres und dazu gehörte ein fünfzehnhundert Quadratmeter großes Stück Land, auf dem Orangen- und Zitronenbäume wuchsen. Außerdem noch ein riesiger Feigenbaum, dessen Früchte jedoch klein und nur als Viehfutter geeignet waren.

Justin Burnett verstand nichts von Gärtnerei, und die wenigen Rosensträucher unterlagen im Kampf mit den Unkräutern, doch die knallroten Bougainvilleen brauchten offenbar keine Pflege, und sie wucherten über eine ganze Hauswand.

Phillipa öffnete die Eingangstür und betrat die Diele. »Justin, Justin, ist alles in Ordnung?« rief sie. Sie versuchte, sich an den Namen des Arztes zu erinnern, war aber zu nervös dazu.

Von oben kam eine Antwort. »Was ist los?«

»Ich habe bei dir angerufen, aber du hast den Hörer nicht abgehoben.«

»Mein Gott noch mal!«

Sie ging ins Wohnzimmer. An den Wänden hatte Justin Regale anbringen lassen, und darauf standen die Bücher aus der Bibliothek ihres Vaters. Der Schreibtisch hatte früher auch ihrem Vater gehört. In dieser Umgebung fühlte man sich wie in ihrem alten Zuhause; die Erinnerung daran war süß und bitter zugleich. Süß, weil sie daran dachte, wie sie ihrem Vater stundenlang zugehört hatte, wenn er ihr aus den Klassikern vorgelesen hatte; bitter, weil sie in der Bibliothek vom finanziellen Ruin der Familie und den möglichen Konsequenzen erfuhr.

Langsam kam Justin die Treppe herunter. Er trug Shorts und ein oben offenes Hemd, das schüttere Haar war ungekämmt. »Um Himmels willen, wieso kommst du zur Siesta-Zeit, bei dieser Hitze, hierher?« fragte er mit seiner hohen, quengelnden Stimme. »Das habe ich dir doch gerade gesagt. Ich wollte bei dir anrufen und mich erkundigen, wie es dir geht, aber du hast dich nicht gemeldet.« Ihr fiel auf, daß er viel zu alt aussah. Sein längliches Gesicht war immer hager gewesen, doch nun glich es einer Totenmaske. Die Haare wurden immer dünner. Früher hatte er sich sehr gerade gehalten, jetzt ließ er die Schultern hängen. »Ich war ernstlich besorgt. Kannst du das denn nicht verstehen?«

»Ich wußte ja nicht, daß du anrufst, oder?«

»Das hättest du dir doch denken können.«

Er ließ sich in einen Sessel fallen.

»Du hättest ja –«

Er unterbrach sie barsch. »Ich hatte solche Kopfschmerzen, daß es mir egal war, wer da gerade anrief.«

Seine Gereiztheit beunruhigte sie noch mehr. »Schon wieder? Erst vor ein paar Tagen hattest du doch diese schrecklichen Kopfschmerzen.«

»Meinst du, das hätte ich vergessen?«

»Du mußt noch mal den Spezialisten aufsuchen!«

»Der kann mir auch nichts Neues sagen.«

»Glaubst du nicht?«

»Hör endlich auf damit!«

Sie kniff die Lippen zusammen, schwieg jedoch. Sie stammte aus einer Familie, in der die Frauen den Männern Respekt zollten, und daran hielt sie sich auch jetzt noch, obwohl längst feststand, daß sie den stärkeren Charakter von beiden besaß.

Nachdem ihr Vater durch Spekulationen sein Vermögen verloren hatte, fand sie sich mit den Konsequenzen ab. Justin hingegen versuchte verzweifelt, sich der Realität zu entziehen. Sie hatte gleich angefangen zu arbeiten, um sich auf diese Weise dem Existenzkampf zu stellen, obwohl sie von ihrer Erziehung her darauf nicht vorbereitet war. Noch Monate nach dem Bankrott war Justin zu Hause geblieben, zu ängstlich und zu trotzig, um ihrem Beispiel zu folgen.

Sie versuchte, ihn ein bißchen aufzuheitern. »Eine von Garcías Ziegen ist in meinen Garten eingedrungen und hat eine dieser besonders schönen Geranien gefressen.«

Er hörte ihr gar nicht zu.

»Dabei hatte ich ihm gesagt, daß sein Zaun die Ziegen nicht zurückhalten würde, aber er wollte ja nicht auf mich hören.«

»Sie sind alle dumm.«

»Eher eigensinnig als dumm.« Fremden gegenüber, selbst vor ihrem Bruder, verteidigte sie die Mallorquiner, obwohl sie im stillen manchmal zugeben mußte, daß die Einheimischen in der Tat dumm wirkten, weil sie offenbar außerstande waren, Probleme vorherzusehen.

»Lydia rief heute früh an.«

»Das war nett von ihr.«

»Im Gegenteil. Die Kopfschmerzen hatten schon angefangen, und sie erzählte immerzu von ihrer Familie.«

»Sie ist sehr stolz auf sie.«

»Aber mich soll sie damit in Ruhe lassen. Was geht es mich an, ob Vernon einen vierstelligen IQ hat.«

»Er heißt Redmund; Vernon ist der Sohn von Praters.«

»Ist doch egal, wie sie alle heißen.«

»Er wird wohl ein gutes Examen machen.«

»Wahrscheinlich, indem er mogelt.«

»Justin, ich wünsche mir, du würdest noch mal den Spezialisten aufsuchen.«

»Er wird mir doch wieder nur zu der Operation raten. Aber ich will nicht. Verstehst du, ich will nicht.«

»Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Erinnerst du dich an Tony? Der hat die Operation glänzend überstanden.«

»Von mir aus kann er von den Toten auferweckt worden sein. Ich lasse mich nicht operieren, und das ist mein letztes Wort.«

Unwillkürlich schlich sich der Begriff »Angsthase« in ihre Gedanken. »Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein.«

»Aber ich. Wenn ich welchen mache, trinkst du dann eine Tasse mit?«

»Glaubst du, davon vergehen meine Kopfschmerzen?«

»Vielleicht fühlst du dich dann ein bißchen besser.«

»Du kannst manchmal unglaublich naiv sein.«

Nur mit Mühe verbiß sie sich eine barsche Antwort. Sie stand auf. »Ich mache auf jeden Fall soviel, daß du eine Tasse mittrinken kannst, wenn du doch einen möchtest.«

Die Küche war wesentlich besser ausgestattet als ihre. Sie sah, daß er sich sogar eine elektrische Kaffeemaschine zugelegt hatte. Er war aber schon immer extravagant gewesen. Neid ist eine Todsünde, ging es ihr durch den Kopf. Warum soll er sich keine elektrische Kaffeemaschine kaufen, wenn er sie sich leisten kann? Schließlich half er ihr finanziell oft aus. Irgendwie war es ja schon ungerecht. Er, der Schwächere, bezog eine relativ hohe Rente, die sich den steigenden Lebenshaltungskosten anpaßte, sie hingegen mußte ohne eigenes Verschulden mit einer schmalen Altersversorgung auskommen …

Sie füllte den Kaffee in die Silberkanne um, die noch aus dem Familienbesitz ihrer Mutter stammte, und suchte nach dem dazu passenden Milchkännchen, bis ihr einfiel, daß er es kürzlich zerbrochen hatte. Selbstverständlich hatte der Sohn das gesamte Silber geerbt. Wenn ihr das Milchkännchen gehört und es ihr auf den Boden gefallen wäre, hätte sie es nicht einfach in eine Schublade gelegt und dann vergessen, sondern versucht, es irgendwo auf der Insel reparieren zu lassen.

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