Und auf Mallorca sterben - Roderic Jeffries - E-Book

Und auf Mallorca sterben E-Book

Roderic Jeffries

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Beschreibung

Ein Mallorca-Krimi von Roderic Jeffries Sterben ist bitter. Noch bitterer ist es, allein zu sterben. So ergeht es William Heron, den sogar seine geliebte Betty im Stich läßt. Doch als nach ein paar Wochen auch sie tot aufgefunden wird, ist Inspektor Alvarez vorerst am Ende. Da ereignet sich ein dritter Mord. Und Alvarez fügt die Elemente des tödlichen Puzzles zusammen ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Roderic Jeffries

Und auf Mallorca sterben

Aus dem Englischen von Traudl Weiser

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Am Ende der Teerstraße schaltete Babs Browning in den ersten Gang zurück. Der holprige Sandweg war voller Schlaglöcher. In einem Orangenhain pflügte ein Mann mit seinem Esel und einem altmodischen Pflug. Der friedliche Anblick erfreute sie so wie er jahrhundertelang Reisende vor ihr erfreut hatte.

In einer scharfen Linkskurve führte der Weg an einem niedrigen Gebäude vorbei. Es stank nach Schweinestall. Die abergläubischen Mallorquiner hielten es für äußerst ungesund, die Ställe öfter als einmal im Jahr zu säubern.

Der Weg führte nun an einer Steinmauer entlang, die von üppigen rosa und weißen Hängegeranien überwuchert wurde. Babs hielt an, stieg aus und brach einen Ableger ab. Sie entdeckte einen Strauch wilden Majoran – ein unentbehrliches Gewürz der einheimischen Küche – und pflückte einige Zweige. Dann fuhr sie weiter bis zum Ende des Sandwegs. Die Zufahrt zur Garage war betoniert, ebenso der Zugang zum Patio des Ca’n Ibore.

Die Front des Hauses wurde von einem Steinsims, auf dem einige Blumentöpfe mit Geranien standen, eingerahmt. Sie bemerkte die verwelkten Blätter und den kümmerlichen Wuchs der Pflanzen.

Zwei Türen führten ins Haus. Eine neue und eine alte. Die alte, eine von Wind und Wetter gegerbte Holztür, hing in rostigen Angeln und hatte eine Klapptür für die Katzen. Die neue, in die Mauer versetzte Tür bestand zur Hälfte aus Glas und war zweckmäßig aber häßlich. Sie klopfte energisch an die Glasscheibe, drehte am Türknopf, stieß die Tür auf und betrat das Haus.

»Betty, ich bin’s, Babs.«

Niemand antwortete.

»Hallo, hallo, ist denn keiner zu Hause?« Betty mußte da sein, schließlich stand ihr Wagen in der Garage.

Sie hörte ein Geräusch hinter einer der Türen, die links von der Eingangshalle lagen. »Bist du da drin, Betty? Ich bin hier, in der Halle.«

Sie vernahm wieder ein Geräusch, das sich wie Wispern anhörte. Sie täuschte sich sicherlich, lächerlich, der Gedanke. Etwas später öffnete sich die nächstliegende Tür und Betty Stevenage trat heraus. Sorgfältig verschloß sie die Tür hinter sich. Sie trug ein bunt bedrucktes Leinenkleid, das vorne zugeknöpft wurde. Die zwei obersten Knöpfe waren nicht geschlossen. Babs blickte auf die Knöpfe, in Bettys gerötetes Gesicht, ihr zerzaustes Haar und in ihre Augen. Babs war eine erfahrene Frau und immer stolz darauf gewesen, die Welt so sehen und akzeptieren zu können, wie sie war. Aber jetzt schockierte sie die Gewißheit, daß Babs direkt aus den Armen eines Mannes kam.

»Was willst du hier?« fragte Betty mit belegter Stimme.

Babs half gern anderen Leuten, was sie nicht daran hinderte, stets geradeheraus zu sagen, was sie dachte. Doch diesmal hielt sie ihre Zunge im Zaum. »Ich wollte mich erkundigen, wie es Bill geht, und ob ich etwas für dich tun kann.«

»Ich brauche nichts.«

»Du hast nicht gesagt, wie es Bill geht«, fuhr sie Betty an.

»Der Doktor glaubt nicht, daß er noch lange leben wird.«

»Darauf würde ich nicht viel geben. Ärzte stellen immer negative Prognosen, um ihrem Ruf nicht zu schaden.«

Der tröstende Zuspruch glitt an Bettys Teilnahmslosigkeit ab.

»Da du mich nicht brauchst, kann ich ja wieder gehen«, sagte Babs. Sie ging auf die Eingangstür zu, öffnete sie und blieb stehen. Dann drehte sie sich halb um. »Die Topfpflanzen vorm Haus müssen gedüngt werden. Es wundert mich, daß du es nicht gemerkt hast.«

Sie kehrte in den Sonnenschein zurück; es war warm für die frühe Jahreszeit, und sie war verärgert und beschämt. Ungewollt war sie in eine ekelhafte Situation hineingestolpert. Sie verdrängte das Gefühl und tat es als Hirngespinst ab.

Hocherhobenen Hauptes ging sie zu ihrem Wagen zurück, bemerkte eine tiefrote Geranie, die ihr bei der Ankunft entgangen war, und brach auch davon einen Ableger ab.

Während sie den holprigen Sandweg zurückfuhr, fragte sie sich wütend, was eine Frau dazu bringen konnte, jedes Schamgefühl zu verlieren und den Mann, der im ersten Stock im Sterben lag, zu betrügen.

2

Bei jedem Hochzeitsessen fragte sich Enrique Alvarez nach dem sechsten Glas Wein traurig, wie lange das strahlende Glück der Braut und des Bräutigams wohl anhalten würde.

Lautes Rufen lenkte seine Aufmerksamkeit zum oberen Tischende, wo die Braut, der Bräutigam und deren Eltern saßen. Der Bräutigam hielt ein weißes Leintuch in die Höhe. Wie stolz mußte eine Braut heutzutage sein, die verschämt beim Anblick dieses Leintuchs lächeln konnte.

»Freu dich doch, Enrique«, versuchte Francisca ihn aufzumuntern. Sie saß ihm gegenüber, am unteren Ende des Holztisches. Dolores, seine Cousine, lachte. »Er ist immer schlecht gelaunt bis der Brandy auf den Tisch kommt.« Sie wandte sich nach links. »Juan, wenn du noch mehr von dem Pudding in dich hineinstopfst, wird dir schlecht werden. Es ist bereits deine dritte Portion!«

»Die vierte«, widersprach ihr Sohn prahlerisch. »Der Onkel mochte seinen nicht und hat ihn mir gegeben.« Genüßlich tauchte er seinen Löffel in die Karamelcreme.

»Laß ihn doch«, meinte Francisca. »Schließlich ist es ein Hochzeitsessen …«

Alvarez füllte sein Glas erneut und gab die Flasche Rotwein an Jaime weiter. Dieser leerte sie schnell in sein Glas, ehe Dolores ihn daran hindern konnte. Ein schwitzender Kellner in weißem Hemd und blauer Hose mit einem roten Kummerbund fing an, die schmutzigen Teller wegzuräumen.

Alvarez zündete sich eine Zigarette an. An dieser Feier nahmen bestimmt über dreihundert Leute teil, überlegte er. Dabei waren die Eltern des Brautpaares, die die Rechnung bezahlen mußten, einfache Leute. Wie die Zeiten sich geändert hatten, Gott sei Dank! Als seine Eltern heirateten, arbeiteten sie bis mittags auf dem Feld, gingen während der Mittagszeit nach Hause, zogen ihre besten Kleider an, fuhren mit dem Eselskarren in die Stadt, heirateten, zogen sich wieder um und gingen zurück aufs Feld, um bis zur Dämmerung weiterzuarbeiten.

Der Wohlstand hatte das Leben der Leute erleichtert, aber auch einige Werte zerstört. In Zeiten der Armut hielten die Familien zusammen, ein Nachbar half dem anderen. Heutzutage ließen verheiratete Kinder selbst ihre Eltern nicht mehr bei sich wohnen, und ein Nachbar betrog den anderen. Das war die Kehrseite der Medaille.

Wieder ertönte lautes Rufen. Ein Freund des Bräutigams schnitt seine Krawatte unterhalb des Knotens ab. Blitzlichter flammten auf, als ein weiterer Freund die zwei Hälften in kleine Stücke zerschnitt.

Ein Kellner brachte vier Flaschen an ihren Tisch und Alvarez wählte einen Brandy. Der Kellner, der ihn kannte, füllte sein Wasserglas. Ein zweiter Kellner brachte ein Kistchen mit Zigarren. Alvarez bediente sich und zündete sie an. Er dachte an Juana-Maria. Sie hatte ihre eigene Hochzeit nicht erleben dürfen. Es wäre keine großartige Feier geworden. Die Zeiten der Armut waren zwar vorüber, aber man mußte sein Geld zusammenhalten. Doch das hätte dem Tag nichts von seinem Glanz genommen. Dolores legte ihm die Hand auf den Arm. »Trink aus, Enrique«, flüsterte sie, »und gieß dir noch mal nach.«

Er war dankbar für ihr unausgesprochenes Mitgefühl. Sie konnte sehr launisch und jähzornig sein, war aber eine sehr gefühlvolle Frau. Jaime war zu beneiden. Offensichtlich war er sich dessen bewußt, denn er ertrug die Launen seiner Frau mit einer – für einen Mallorquiner – unendlichen Geduld.

Am nächsten Tisch flirteten die jungen Männer mit den jungen Mädchen und brachten sie zum Kichern und Erröten. Zu seiner Zeit führten sich die jungen Leute anders auf – die Eltern der Mädchen hätten es nicht zugelassen. Ein uneheliches Kind war eine unverzeihliche Sünde. Heute begegnete man sogar auf den Straßen von Llueso den gestrauchelten Frauen, die ihre Fehltritte im Kinderwagen vor sich herschoben. Obwohl sie sich nichts anmerken ließen, bereuten sie zutiefst, Opfer der veränderten Moral geworden zu sein. Niemand hatte sie vor der Versuchung bewahrt.

Francisca beugte sich zu ihm herüber. »Ich muß dir etwas erzählen.« Sie hatte ein kleines, rundes, gutmütiges Gesicht, von tiefen Falten durchzogen, die die Beschwernisse ihres Lebens ausdrückten. Ihr Mann war nach sechs Ehejahren plötzlich gestorben, und sie mußte ihren Sohn allein großziehen. »Du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist.« Wie alle Mallorquiner, klatschte sie gerne.

»Ich weiß«, warf Dolores ein. »Pedro, dieser Narr, will die Zigeunerin, mit der er zusammenlebt, heiraten?«

»Nein, nichts dergleichen. Es betrifft den englischen Senor im Ca’n Ibore, für den ich arbeite. Er ist krank, seit er zusammen mit der englischen Senorita, die bei ihm lebt, auf die Insel kam.«

»Ist es die gutaussehende Blondine, die du mir mal gezeigt hast?«

»Mag schon sein, daß manche Leute sie so beschreiben würden«, wehrte Francisca mißbilligend ab. »Jedenfalls bat sie mich vor einigen Tagen, Tabletten für den Senor zu kaufen. Der Doktor hatte ihm neue verschrieben, die vielleicht helfen würden. Ich sollte sie besorgen und am nächsten Tag mitbringen. Ich kaufte sie und arbeitete nachmittags bei der französischen Senorita, als ich anfing, mir Sorgen zu machen. Wenn der Doktor angeordnet hatte, daß sie dem Senor neue Tabletten geben sollte, warum ist sie nicht sofort ins Dorf gefahren und hat sie besorgt?« Franciscas Stimme drückte ihre ganze Mißbilligung aus. »Na ja, jedenfalls machte ich mir Sorgen um den armen Senor. Ich richtete Miguels Abendessen her und radelte dann zur Finca hoch, um ihm die Tabletten zu bringen. Ich lehnte mein Fahrrad gegen die Garage und ging in den Patio, da hörte ich sie.« Sie verstummte, effektvoll die Spannung erhöhend.

»Wen hast du gehört?« fragte Dolores.

»Die Senorita und den anderen Mann.«

»Das glaube ich nicht, das bildest du dir ein.«

»Gott ist mein Zeuge, ich sage die Wahrheit. Sie waren im unteren Schlafzimmer. Die Klappläden waren geschlossen, aber die Fenster nicht. Es war eine warme Nacht, und ich konnte jedes Wort verstehen. Weißt du, was sie gesagt hat? Daß sie ihn liebt und er gefälligst nicht mit anderen Frauen herumpussieren solle, sonst könne er was erleben. Stell dir das vor! Sie war unten im Schlafzimmer mit einem Mann, während oben ihr Senor lag, sterbenskrank.«

»Ich habe ihr sofort angesehen, daß sie so eine ist«, triumphierte Dolores mit der Selbstgefälligkeit einer tugendhaften Frau.

»Ich war so wütend, daß ich an die Tür hämmerte. Sie kam aus dem Schlafzimmer und sah mich an wie ein Gespenst.«

»Hatte sie was an?« fragte Jaime.

»Das interessiert dich natürlich«, fuhr ihn Dolores an.

Jaime blinzelte Alvarez zu.

»Wie ein Gespenst«, wiederholte Francisca voller Genugtuung.

»Dann nahm sie sich zusammen und schrie mich an. Sie wollte wissen, was ich da zu suchen habe. Ich habe es ihr ins Gesicht gesagt, daß ich mir Sorgen um den Senor gemacht hatte, wenn er ihr schon gleichgültig war. Deswegen wollte ich ihm die Tabletten bringen, anstatt bis zum nächsten Tag zu warten. Das hat gewirkt! Sie ist sofort ruhig geworden und dankte mir sogar für meine Fürsorge.«

»Hast du den Mann gesehen?« fragte Dolores.

»Natürlich nicht. Er hatte viel zuviel Angst, um herauszukommen. Männer sind feige.«

»Wie hat sich die Senorita am nächsten Tag benommen?«

»Sie ging einfach darüber hinweg. Sie hatte die Stirn, mir dafür zu danken, daß ich die Tabletten gebracht hatte, fragte mich, wieviel sie mir schuldig sei und erwähnte den Mann mit keinem Wort! An diesem Morgen mußte ich dem Senor einen Teller Suppe hinaufbringen. Als ich ihn in dem abgedunkelten Zimmer im Bett liegen sah, er kann kein Sonnenlicht vertragen, unrasiert und ungekämmt, weil sich niemand um ihn kümmert, sie ist ja anderweitig beschäftigt … ich hätte weinen können. Es hat nicht viel gefehlt und ich hätte ihm erzählt, wie sich die Senorita aufführt.«

»Du hast es nicht getan?«

Francisca schüttelte den Kopf.

»Er scheint so krank zu sein, daß es ihm egal ist, was um ihn herum vor sich geht«, sagte Jaime.

»So«, fuhr Dolores ihn streitsüchtig an, »du meinst also, wenn ein Mann krank ist, braucht er sich nicht mehr um die Ehre seiner Frau zu kümmern. Gut, wenn du das nächstemal mit einer Erkältung sterbend im Bett liegst, weil du zweimal geniest hast, kann ich mich amüsieren mit wem ich will?«

»Solange ich lebe, brauchst du keinem anderen schöne Augen machen. Ich schlage ihn grün und blau.«

»Männer!« Der verächtliche Ausruf täuschte niemanden. Sie wollte diese und keine andere Antwort hören.

Ein Mann näherte sich ihrem Tisch. Er trug ein Tablett mit den restlichen Stücken der zerschnittenen Krawatte und Geld in Scheinen und Münzen – Spenden für die Flitterwochen. »Na los, wer kauft ein Stück?«

Alvarez nahm seine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts und entnahm ihr einen 500-Peseta-Schein. Er legte das Geld auf das Tablett und wählte ein Stück Krawatte aus. Die meisten Leute spendierten nur hundert Pesetas. Er war glücklicher darüber, fünfhundert geben zu können und hatte das Gefühl, dem Brautpaar damit ein kleines Stück ehelicher Geborgenheit zu schenken.

3

Harry Waynton schaute auf seine Uhr. Er wartete auf Diana. Auf Mallorca verlor sich der übliche Sinn für Pünktlichkeit, trotzdem wurde er allmählich ungeduldig. Sie kam meistens zu Verabredungen zu spät, und er wußte nicht, ob sie damit ihre Unabhängigkeit betonen wollte oder ob sie einfach kein Zeitgefühl hatte. Ein Kellner nahm am Nebentisch Bestellungen auf und Waynton war versucht, sich noch einen Gin Tonic kommen zu lassen. Er zögerte und beschloß, zunächst Dianas Ankunft abzuwarten.

Er lehnte sich im Stuhl zurück und genoß die warme Sonne. Platanen verbreiteten angenehmen Schatten. Ein Amerikaner in zerschlissenen Jeans und einem grellbedruckten Hemd winkte ihm zu und steuerte seinen Tisch an. Unterwegs traf er Bekannte an einem anderen Tisch und setzte sich dazu. Das Leben auf der Insel glitt zwanglos dahin. Verabredungen wurden getroffen und nicht eingehalten; es war müßig, etwas zu planen, man lebte in den Tag hinein. Ideale Zustände für Menschen, die das Leben genießen und nicht nur ertragen wollten.

Er dachte an Gina, die ihm eines Tages ein Ultimatum gesetzt hatte: »Ich muß wissen, wie es mit uns beiden weitergehen soll. Versteh mich doch. Ich kann diese Ungewißheit nicht ertragen!« Er hatte versucht ihr zu erklären, daß das Morgen für ihn nicht existierte. Er lebte absolut im Heute und weigerte sich, für die Zukunft zu planen. Sie hatte ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und konnte nun nicht mehr zurück. Sie verließ ihn. Er war davon überzeugt, daß sie diesen Schritt ebenso wie er bereute.

Es gab Phasen im Leben mancher Männer, in denen sie ziellos dahintrieben, sich vom Wind an fremde, unbekannte Ufer wehen ließen. Sie tauchten in die Fülle des Lebens ein; die Vielfalt der unvorhergesehenen Ereignisse riß sie mit.

Er war in seinem Beruf als Werbefachmann für einen Autohersteller erfolgreich gewesen. Er war ein Mann mit viel Humor und hatte sich einen Spaß daraus gemacht, kaufwillige Engländer von der Zuverlässigkeit und Qualität der heimatlichen Autoproduktion zu überzeugen. Die Aussicht, den Rest seines Lebens Lügen verkaufen zu müssen, hatte ihm einen heilsamen Schrecken verpaßt.

Er erinnerte sich an Rita, die vorzugsweise nackt in seinem Apartment herumlief, weil sie davon überzeugt war, daß es gesund sei für die Haut, sie »atmen« zu lassen. Ohne ersichtlichen Grund schrie sie ihn eines Abends an: »Um nichts in der Welt würde ich dich heiraten.«

»Warum nicht?« hatte er sie interessiert gefragt.

»Du bist so … so …«, verzweifelt suchte sie nach Worten.

»Verantwortungslos.« Danach brach sie in Tränen aus und rannte zu ihm, um sich trösten zu lassen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Sie war eine schöne Frau, und sie hatten viel Spaß zusammen. Reumütig war er zu dem Entschluß gekommen, daß die Welt ihm noch manches aufregende Erlebnis schuldig war. Er konnte sich noch nicht häuslich niederlassen.

Als er seine Kündigung einreichte, hatte ihn sein Chef entgeistert angestarrt. »Harry, wissen Sie, was Sie tun? Sie werfen die Chance Ihres Lebens weg. In diesem Job hätten Sie Karriere machen können. Denken Sie doch einmal an Ihre Zukunft, an Ihre Pension!«

Es war ihm unverständlich, wie ein lebensfroher, siebenundzwanzigjähriger junger Mann sich Sorgen um seine Pension machen konnte.

Auf seinen Reisen durch Deutschland und Frankreich traf er viele Menschen, die sich ebenfalls vom Wind treiben ließen. Allerdings nahmen sie sich und das Leben viel zu ernst. Sie waren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und verachteten ihn wegen seines zwecklosen In-den-Tag-hinein-Lebens.

An einem heißen, sonnigen Tag kam er in Port Vendres an. Das Mittelmeer war von dieser unglaublich tiefen Bläue, als er sich entschloß, die Fähre nach Mallorca zu nehmen. Er war noch nie auf einer Mittelmeerinsel gewesen, Grund genug für ihn, dort hinzufahren.

Er hatte die zubetonierten Küsten gesehen, die langen Strände, eingesäumt von vielstöckigen Hotels, Apartmentblocks, Restaurants, Souvenirläden, die aufdringlichen Schilder »Tee wie zu Hause« gelesen. Er hatte das Inland durchstreift, die düsteren Berge gesehen, die aus der dürren Mondlandschaft aufragten, wo schwarze Geier und Goldadler in der Thermik schwebten. Und er hatte Llueso entdeckt, an die Hügel geschmiegt, nicht völlig unberührt von den Errungenschaften der modernen Zeit, aber größtenteils in seiner Ursprünglichkeit erhalten.

Es war nicht das Paradies. Auch hier gab es Gleichgültigkeit, Egoismus, Haß und Gewalttätigkeit. Aber die Menschen hier schienen gelernt zu haben, die Freuden des Lebens zu genießen. Sein Sinnieren wurde durch die etwas schrille Stimme einer Frau unterbrochen, die in bestem South Kensington-Dialekt zu ihm sagte: »Hallo, Harry. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«

Er stand auf und bemerkte nicht zum erstenmal, daß Betty leider einen schlechten Geschmack hatte. Unter dem grellen Make-up und der auffälligen Kleidung verbarg sich eine Schönheit – ihr ovales Gesicht mit hohen Backenknochen war sehr weiblich, sie hatte blaue Augen, eine schmale Nase, deren Spitze leicht nach oben gebogen war, einen großzügigen Mund und krauses, naturblondes Haar, dazu eine schlanke, wohlproportionierte Figur.

»Wie nett, dich zu sehen, Betty«, begrüßte er sie und es gelang ihm, es glaubhaft klingen zu lassen. »Setz dich und sag mir, was du trinken möchtest.«

»Bestellst du mir bitte einen süßen Wermut?«

Waynton bestellte die Getränke – einen weiteren Gin Tonic für sich – beim Kellner. »Wie geht es Bill heute?« fragte er dann.

»Es scheint ihm schlechter zu gehen, aber der Arzt sagt, sein Zustand ist unverändert. Ich rechne mit dem Schlimmsten.«

»Das tut mir leid«, bedauerte er. Er war Bill Heron nie begegnet. Sofort nach seiner Ankunft auf der Insel war Heron krank geworden und Waynton wollte nicht mehr als die übliche Anteilnahme darüber heucheln.

Plötzlich fragte sie: »Wartest du auf jemanden?«

»Ich bin mit Diana verabredet. Doch vielleicht kommt sie gar nicht mehr; sie ist schon seit einer halben Stunde überfällig.«

»Glaubst du, sie hat dich versetzt und ist mit jemand anderem unterwegs?«

Er zuckte die Schultern und lächelte. »Wie soll ich das wissen, sie ist erwachsen. Dann hast du mich zumindest davor bewahrt, mich mit mir allein zu langweilen.«

Der Kellner brachte ihre Drinks.

Ein Pärchen kam eben die Treppen zum Marktplatz hoch und schaute zu ihm herüber. Er kannte und mochte sie und winkte ihnen zu. Sie winkten zurück und gingen auf seinen Tisch zu. Unterwegs änderten sie ihre Meinung und drehten nach rechts ab und setzten sich an einen leeren Tisch. Er war sicher, daß sie wegen Betty nicht zu ihm gekommen waren. Er wußte allerdings nicht, ob die Menschen Betty nicht mochten oder das Tragische in ihrem Leben mieden. In der zeitlosen, irrealen Welt von Llueso war die Konfrontation mit dem Vergänglichen, dem Tod äußerst unwillkommen.

»Glaubst du, daß sie mit Alex ausgegangen ist?« fragte Betty plötzlich.

»Wer?« fragte er überrascht. Er hatte völlig vergessen, über wen sie gesprochen hatten.

»Diana. Vielleicht ist sie mit ihm zum Mittagessen gegangen und hat deshalb die Verabredung mit dir nicht eingehalten.«

Er lachte. »Diese Kombination erscheint mir sehr unwahrscheinlich, zumindest von Dianas Standpunkt aus.«

»Er tut immer so überheblich, obwohl er kein bißchen besser ist als die anderen – er hat nur mehr Geld«, stellte sie unerwartet heftig fest. »Er erzählt allen, er stamme aus einer angesehenen Familie. Dabei kommt er aus dem Nichts, warum führt er sich nur so auf?«

»Wirkt er so auf dich? Ich weiß, er prahlt manchmal, aber ich finde das eher amüsant.« Harry hatte nie Verständnis dafür gehabt, daß die Zugehörigkeit oder angebliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse bei manchen Menschen derartig ablehnende Gefühle hervorrufen konnte.

Verbittert sagte sie: »Du weißt, was los ist, nicht wahr? Die Leute wollen nichts mit mir zu tun haben, weil ich nicht mit Bill verheiratet bin.«

»Das glaubst du doch selbst nicht. Wenn das eine Schande wäre, die Hälfte aller Paare auf der Insel wären gesellschaftlich nicht akzeptabel.«

»Du verstehst das nicht. Für einen Mann ist das etwas anderes, dich amüsiert es nur. Aber Bill wollte mich heiraten und dann wurde er so krank …« Mit drei hastigen Schlucken leerte sie ihr Glas. »Mein Gott, bin ich froh, wenn ich hier wegkomme. Nichts klappt, die Einheimischen sind nur hinter unserem Geld her …«

»Trink noch einen und vergiß alles.«

Sie hatte ihm nicht zugehört. »Vor einigen Wochen fiel der Strom aus, und ich habe mich beim Hausbesitzer beschwert. Er tat so, als ob er mich nicht verstehen würde, also sprach ich mit seiner Frau, die etwas Englisch versteht. Nach fünf Tagen erschien er gnädigst und schaute nach. Fünf Tage!«

»Zeit bedeutet hier nicht viel. Das ist doch eine der angenehmen Seiten dieses Ortes, oder? Ohne Strom allerdings …«

»Angenehm? Mein Gott, mir kommt der Ort ganz anders vor.«

»Das kann ich mir vorstellen … Laß uns noch einen trinken und alle Sorgen vergessen.« Er bestellte eine weitere Runde beim Kellner.

»Bill riet mir, im Falle seines Todes hierzubleiben, hier hätte ich Freunde, die mir beistehen würden. Freunde!«

Er versuchte seine Verärgerung über ihr anklagendes Selbstmitleid zu verbergen.

»Ich würde nicht hierbleiben, nicht einmal für viel Geld. Ich bleibe nur, bis alle Formalitäten erledigt sind, dann bin ich sofort weg. Ich hoffe, es war das letztemal, daß ich mit einem spießigen, hochnäsigen Auswanderer oder einem mürrischen Einheimischen, der nur daran interessiert ist, mich auszunehmen, zu tun habe.« Sie griff nach ihrem Glas, merkte, daß es leer war, und stellte es zurück. Sie schwieg einen Moment und sagte dann: »Vielleicht ist sie bei Gordon?« Es klang wie eine Frage, doch sie erwartete keine Antwort. »Sie führt ein geselliges Leben. Sie kennt jeden. Beneidenswert.«

Wenn sie sich von ihrer Mißgunst befreien könnte, hätte sie alle Voraussetzungen dafür, ein glücklicher Mensch zu werden. Ihre Schönheit würde ihr Tür und Tor zum gesellschaftlichen Leben öffnen, dachte Harry.

Der Kellner brachte ihre Drinks und nahm die leeren Gläser mit. Am Ende des Marktplatzes schlug die Kirchturmuhr die volle Stunde. Erschreckt flogen einige Tauben von den Dächern der umliegenden Häuser auf und entschwebten in Richtung Puig Antonia.

»Ich muß nach Hause«, meinte Betty plötzlich. »Ich lasse Bill nicht gern länger als unbedingt notwendig allein.« Sie trank so hastig, daß sie sicherlich keinen Genuß an dem Wermut hatte. Hektisch stand sie auf, stieß ungeschickt an einen Stuhl des Nebentisches und ging.

Hier auf der Insel war sie wie ein Fisch auf dem Trockenen, dachte er. Manche Menschen konnten oder wollten sich nicht ändern. Sie würden sich niemals in einem Leben wohlfühlen, das sich von dem unterschied, in dem sie aufgewachsen waren. Er war sogar davon überzeugt, daß sie auch in England Gründe zur Unzufriedenheit finden würde. Sie war die geborene Nörglerin.

Fünf Minuten später, Harry hatte sich gerade entschlossen, nicht länger zu warten, sah er Diana aus einer kleinen Gasse neben der Kirche auftauchen. Sie war eine auffallend attraktive Frau. Sie war nicht schön im klassischen Sinn, aber ihr ovales Gesicht, eingerahmt von tiefschwarzem Haar, war sehr ausdrucksvoll und ließ ihre starke, manchmal eigenwillige Persönlichkeit erkennen. Ihr Lächeln konnte sehr warm und offen sein, aber wenn sie sich langweilte, verzog sich ihr Mund geringschätzig. Sie war launisch und manche ihrer Launen waren unerklärlich, außer man verstand, daß sie auf der Suche nach etwas war, von dem sie selbst noch nicht wußte, wie es aussah. Eine Zeitlang war sie zufrieden mit einem ruhigen, gleichmäßigen Leben, im nächsten Moment verlangte sie Abwechslung und Aufregung. Sie konnte eine absolut zuverlässige Freundin sein, war aber fähig, zynisch Kritik zu üben. Sie verachtete Reichtum, scheute sich aber nicht, den Luxus zu genießen, der ihr geboten wurde. Oberflächlich betrachtet, schien ihre Ehe an ihrem launenhaften Charakter zerbrochen zu sein.

Sie überquerte den Marktplatz und war sich ihrer Ausstrahlung bewußt. Sie registrierte die Aufmerksamkeit der Männer mit verächtlicher Sorglosigkeit. Sie trug ein leichtes, durchsichtiges Baumwollhemd und hautenge Jeans. In ihrer Kleiderwahl folgte sie nur ihrem Gefühl und mißachtete alle Konventionen. Auch ein Grund, warum manche Menschen sie nicht ausstehen konnten.

Während sie sich setzte, sagte sie: »Habe ich mich verspätet?« Man konnte hören, daß es ihr egal war.

»Aber nein. Es ist noch nicht einmal halb zwei.«

Sie schaute ihn an. »Du bist so verständnisvoll! Ich habe dich eine Stunde warten lassen. Ich wurde aufgehalten.«

»Von Alex?«

»Diesem Provinzler? Willst du mich beleidigen?«

Er lachte. »Dann warst du bei Gordon?«

»Noch schlimmer. Wofür hältst du mich?«

»Ich kann nichts dafür. Betty hatte sich an meinen Tisch gesetzt und war sehr daran interessiert, mit wem du wohl zusammen sein könntest. Sie vermutete dich bei Alex oder Gordon.«

»Zu schade, daß sie nicht in Southgate oder wie das gottverlassene Kaff heißen mag, geblieben ist. Die Männer dort entsprechen sicherlich mehr ihrem Geschmack.«

»Sei nicht zu streng mit ihr. Sie war ziemlich nervös.«

»Tatsächlich?«

»Hast du nie Verständnis für andere Menschen? Du scheinst heute schlecht gelaunt zu sein.«

Es war ihr anzumerken, daß sie verärgert war und zu einer entsprechenden Antwort ansetzte, als sie sich plötzlich beruhigte. »Weißt du was, Harry? Manchmal tust du mir sehr gut. Ich habe immer das Gefühl, daß du wie ein Steinzeitmensch reagieren würdest, wenn ich dich zu sehr in Rage bringe. Das hindert mich daran, gänzlich abscheulich zu werden.« Sie lehnte sich im Stuhl zurück, hob ihr Gesicht der Sonne entgegen und schloß die Augen. »Ich habe mich verspätet, weil ich Hugh getroffen habe. Er wollte mich zu einem Drink einladen. Ich fühlte mich niedergeschlagen und habe akzeptiert. Darüber vergaß ich die Zeit. Es tut mir leid.«

»Du hast dich soeben entschuldigt.«

»Ich habe meine schwachen Momente.«

Er sagte beiläufig: »Hugh scheint ein netter Bursche zu sein.«

»Ja, wenn er nicht gerade ans Bett denkt.«

»Tut er das?«

Sie öffnete ihre Augen und schaute ihn an. »Das tun doch alle Männer, oder?«

»Darauf weiß ich nur eine subjektive Antwort.«

»Und wie lautet die?«

»Ja.«

Sie lachte.

4