Zwischenfall auf Mallorca - Roderic Jeffries - E-Book

Zwischenfall auf Mallorca E-Book

Roderic Jeffries

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Beschreibung

Ein Mallorca-Krimi von Roderic Jeffries Als die ebenso reiche wie verhaßte Engländerin Dolly Lund eines Tages tot in ihrem Bett aufgefunden wird, freuen sich alle – denn sie hatte nichts als Feinde. Nur Inspektor Alvarez dreht sich im Kreis, bis er die Elemente dieses tödlichen Puzzles zusammenfügt ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Roderic Jeffries

Zwischenfall auf Mallorca

Aus dem Englischen von Traudl Weiser

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Im Eßzimmer lief der Staubsauger, und Mark Erington blieb horchend stehen. Für den Fußboden brauchte Victoriana mindestens zehn Minuten. Und zehn Minuten würden ihm vollkommen genügen. Er trat an die Verandatür und warf einen Blick in den Garten hinter dem Patio. Matas lehnte am Stamm eines schattigen Mandelbaums, stützte sich auf den Stiel seiner Hacke und döste vor sich hin. Mark Erington lächelte. Matas war ein alter Halunke, deshalb verstanden sie sich so gut. Matas würde herumlungern, bis er das Auto hörte, und dann mit Feuereifer zu arbeiten anfangen. Mark brauchte nicht zu fürchten, von ihm gestört zu werden.

Die häßliche Chihuahua-Hündin Lulu trottete schwerfällig ins Wohnzimmer und ließ sich keuchend auf den Kirmanteppich plumpsen. Eigentlich konnte Mark verhätschelte Schoßhündchen nicht leiden, aber er bückte sich und streichelte Lulu liebevoll. Sie war sein Maskottchen geworden, seit sie ihn davor bewahrt hatte, erwischt zu werden. Dolly war früher zurückgekommen als erwartet und hatte ihr Hündchen im Wohnzimmer vorgefunden, wo es eben die kurz zuvor verspeiste Hühnerbrust auf den kostbaren Teppich erbrach. Hysterisch hatte Dolly um Hilfe für ihren sterbenskranken Liebling gerufen, und er hatte ihre Aufregung dazu genutzt, unbemerkt aus der Bibliothek zu schlüpfen, um dann für Lulu den rettenden Engel zu spielen. Daß sie ihn um Haaresbreite ertappt hätte, hatte ihn zwar erschreckt, aber nicht entmutigt.

Mark ging durch den Rundbogen in die Halle. Die vielen Rund- und Spitzbögen im und um das Haus herum und die riesige Dachterrasse erinnerten ihn an ein persisches Freudenhaus. Das hatte er Dolly einmal gesagt, doch sie hatte den Vergleich überhaupt nicht witzig gefunden. Sie liebte das Haus nicht nur wegen seines ausgefallenen Stils, sondern weil es das größte im Umkreis von Llueso war.

Zwei Gemälde hingen in der Halle – Originale des Malers Montague Dawson. Ein britischer Kunsthändler, der Dolly besucht hatte, schätzte den Wert eines Bildes auf über eine Million Peseten. Mark hatte sich vergeblich bemüht, Reproduktionen aufzutreiben, um sie gegen die Originale austauschen zu können.

Am nördlichen Ende der Halle lag die Bibliothek, ein geräumiges, hohes Zimmer. Zu der wertvollen Einrichtung gehörten unter anderem zwei Mahagonisekretäre mit Glasaufsatz, in denen ledergebundene Bücher standen – Klassiker, Biographien und Romane. Zuerst hatte er angenommen, daß sie nur der Dekoration dienten, aber Dolly hatte sie tatsächlich alle gelesen und verstand es, intelligent und einfühlsam darüber zu sprechen. Sie war also bei weitem nicht so dumm, wie er geglaubt hatte.

Der Schreibtisch aus Nußbaum- und Ebenholz, der Thomas Hardy dem Älteren zugeschrieben wurde, hatte in der Mitte eine breite und zu beiden Seiten je drei schmale Schubladen von unterschiedlicher Tiefe. Dolly hielt die breite und die oberste linke Schublade stets verschlossen. Mark nahm einen Dietrich aus der Hosentasche, sperrte die mittlere Schublade auf und zog sie heraus.

Da Dolly kein sehr ordentlicher Mensch war, war die Schublade mit Privatbriefen, Geschäftskorrespondenz, Rechnungen und Bankauszügen vollgestopft. Der Brief ihrer Schweizer Bank, der mit der Morgenpost gekommen war, lag obenauf. Mark nahm das Begleitschreiben mit der beigefügten Kontenübersicht aus dem Umschlag. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf den Brief, der in dem bei Banken üblichen verbindlichen, aber streng sachlichen Stil gehalten war, und wandte dann seine Aufmerksamkeit dem Kontoauszug zu. Die Endsumme entlockte ihm einen überraschten Pfiff. Wenn man bedachte, daß sie außerdem Konten in England, Jersey, Amerika und hier hatte … Er steckte alle Belege wieder in den Umschlag, legte ihn in die Schublade zurück und verschloß sie sorgfältig. Dann öffnete er die oberste linke Schublade. Darin bewahrte sie ihre Bargeldreserve auf. Sie hatte immer Angst, man könne ihr die Handtasche stehlen, und trug daher nie mehr als fünftausend Peseten bei sich. Aus dem Durcheinander verschiedener Scheine bediente sich Mark mit einem Fünftausender, drei Tausendern und zwei Fünfhundertpesetenscheinen. Er hätte ohne weiteres mehr nehmen können, aber er war vorsichtig. Er verschloß auch diese Schublade wieder und ging zurück in die Halle. Der Staubsauger war noch immer in Betrieb, und er lächelte zufrieden. Victoriana hätte sich zwar nichts dabei gedacht, wenn sie gesehen hätte, daß er aus der Bibliothek kam, aber er überließ lieber nichts dem Zufall.

Er ging durch das Wohnzimmer, tätschelte Lulus Kopf und schlenderte dann in den überdachten Patio hinaus. Er blieb neben der Sitzgruppe stehen, strich sich durch das dichte, lockige dunkle Haar, während er nachdenklich den Garten betrachtete. Es würde bald ein Vermögen kosten, die weitläufigen Rasenflächen in der sengenden Hitze vor dem Verdorren zu bewahren, denn die Zisterne würde austrocknen, und das Wasser mußte mit Tanklastwagen herbeigeschafft werden. Ein teures Vergnügen, die Blumenpracht zu erhalten und den riesigen nierenförmigen Swimmingpool mit Wasser zu füllen. Wenn ihn manchmal ein Gefühl der Selbstverachtung überfallen wollte, brauchte er nur die verschwenderische Pracht dieses Gartens zu betrachten, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

In der Wand neben dem Telefonanschluß war ein Klingelknopf. Er drückte darauf, setzte sich in einen Sessel und streckte die Beine aus. Zuerst wollte er etwas trinken, dann schwimmen und hinterher wieder etwas trinken. Zufrieden mit sich und der Welt, klopfte er sich leicht auf die rechte Hosentasche. Mit neuntausend Peseten konnte er Carol ins beste Restaurant am Hafen einladen, und es blieb ihm sogar noch etwas übrig, selbst wenn Carol Hummer bestellte. Doch das tat sie ohnehin nicht, so war sie nicht. Er mußte Dolly nur noch beibringen, daß er heute abend ausging. Es würde ihm schon ein plausibler Grund einfallen.

Victoriana kam in den Patio.

»Ich sterbe vor Durst«, sagte Mark. Er sprach fließend Spanisch, wenn auch mit starkem Akzent. »Bring den Servierwagen mit den Drinks, und füll den Eisbehälter auf. In dieser Hitze könnte man Spiegeleier im Schatten braten.«

»Mein Großvater hat einen sehr langen, heißen Sommer vorhergesagt. Es ist nicht mehr viel Wasser im Brunnen, und wir haben erst Mitte Juni.«

Was machte das schon aus? Dolly würde eben mehr Wasser kaufen müssen, aber sie konnte es sich leisten, die Niagarafälle zu bezahlen.

Victoriana ging ins Haus und rollte kurz darauf einen großen Barwagen neben seinen Sessel. »Eis ist genug da«, sagte sie. »Es sollte ausreichen, um sogar Sie abzukühlen.« Sie lächelte unverschämt zu dieser zweideutigen Bemerkung.

»Dann hast du ja nichts zu befürchten und kannst dich zu mir setzen, um ein Glas mit mir zu trinken.«

»So weit würde ich nie gehen.«

»Wie weit gehst du denn?«

Sie warf den Kopf in den Nacken. »Außerdem habe ich keine Zeit, mich zu Ihnen zu setzen.«

»Komm. Nur einen Moment.«

»Es geht nicht. Die Señora hat vor einer halben Stunde angerufen. Sie hat Freunde zum Abendessen eingeladen. Ich muß das Haus aufräumen und kochen.«

Seine Stimmung schlug um. Verärgert fragte er: »Für heute abend?«

»Das sagte ich doch gerade.«

Er fluchte auf englisch.

»Was haben Sie gesagt?«

»Daß ich mich darauf freue.«

Sie kicherte.

»Wer kommt?«

»Die Señora hat keine Namen genannt. Sie sagte nur, es kämen zwei Gäste.«

Er konnte seine Pläne für den Abend vergessen. Dolly würde darauf bestehen, daß er zu Hause blieb und die Leute unterhielt, wenn sie anfingen, sich zu langweilen … Zum Teufel, warum sich den Abend in allen Einzelheiten ausmalen? Heute gab es kein Dinner zu zweit mit Carol. Aber Dollys neuntausend Peseten waren auch für ein andermal gut.

»Dann will ich mich an die Arbeit machen«, sagte Victoriana zögernd, und da er nicht widersprach, verschwand sie im Haus.

Mallorquinische Frauen erblühen früh zur vollen Reife und welken rasch, dachte er. Victoriana war jetzt in ihren besten Jahren, eine sehr attraktive Frau, die eine derbe Sinnlichkeit ausstrahlte. Der leicht gewöhnliche Zug in ihrem Gesicht wurde durch ein aufdringliches Make-up noch betont. Ihre Lippen waren voll und weich, ihre Figur wohlproportioniert. Eine Rose, die darauf wartete, gepflückt zu werden … Aber er wäre ein Idiot, sich unter Dollys Dach mit ihr auf eine Affäre einzulassen. Dolly hatte die Augen überall.

Mark schenkte sich einen süßen Wermut mit Soda ein. Resigniert zuckte er mit den Schultern. Man kann im Leben eben nicht alles haben.

2

Cynthia Rockford stolperte über einen Stein. »Verdammt!«

»Was ist denn?« fragte ihr Mann.

»Ich habe mich an einem Stein gestoßen, weil du überall hinleuchtest, nur nicht auf den Weg.«

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und richtete den Strahl der Taschenlampe direkt vor ihre Füße.

»Warum, zum Teufel, sind wir nicht mit dem Auto gefahren?«

»Es sind doch nur ein paar Schritte.«

»Weit genug, um sich sämtliche Zehen zu brechen.«

Sie gingen schweigend weiter. Vertrocknetes Gras, Dornbüsche und eine Steinmauer säumten den Weg auf einer Seite, auf der anderen ein Abhang, der schließlich in weite Felder eintauchte. Am wolkenlosen Himmel über ihnen funkelten die Sterne. Phillip Rockford schaute nach oben, und gleichzeitig verlor sich das Licht der Taschenlampe irgendwo im Dunkeln.

»Könntest du gefälligst darauf achten, was du tust, wenigstens bis wir zu Hause sind?« sagte sie mühsam beherrscht.

»Wenn ich so die Sterne betrachte, muß ich daran denken, wie damals in der Nordsee …«

»Ich kenne die Geschichte auswendig.«

»Tatsächlich? Aber es war schon sehr merkwürdig.«

»Mir ist nie etwas Merkwürdiges daran aufgefallen.«

Das überraschte ihn nicht. Cynthia stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Die Geheimnisse des Lebens faszinierten sie nicht, sie ärgerte sich höchstens über sie.

Sie erreichten ihren Bungalow und bogen vom Weg in den Garten ein. Das spärliche Licht der Taschenlampe streifte ausgetrocknete Grasbüschel und verkümmerte Pflanzen und Sträucher, die wegen ihrer Widerstandsfähigkeit ausgesucht worden waren. Rockford schloß die Haustür auf und knipste das Licht in dem sehr engen Flur an. Er trat zur Seite, und Cynthia ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer, wo sie die fünf Lampen der Deckenleuchte einschaltete. Rockford schloß die Haustür ab und folgte ihr ins Wohnzimmer. Gedankenlos löschte er drei Lampen wieder.

»Müssen wir jetzt schon im Finstern herumkriechen?« fragte sie scharf.

Er hob die breiten Schultern und schaltete die Lampen wieder ein. Die volle Beleuchtung war eigentlich nur nötig, wenn sie lesen wollten, denn die Lampen verbrauchten sehr viel Strom. Aber nach einem Besuch in der »Ca Na Nadana« war mit Cynthia nicht zu reden.

Sie setzte sich in einen der stark abgenutzten Sessel. »Diese Frau ist unausstehlich«, sagte sie.

»Dolly ist ein Unikum«, gab Phillip zu. Ihm fiel auf, wie verbittert Cynthias eckiges Gesicht wirkte. Sie trug eine hübsche handgestickte Bluse und einen langen rotbraunen Glockenrock, aber zu Beginn des Abends hatte sie nicht versäumt, ihn darauf hinzuweisen, daß die Bluse und der Rock sieben Jahre alt waren. Daß Dollys Kleid neu und offensichtlich sehr teuer gewesen war, hatte Cynthia natürlich kaum fröhlicher gestimmt.

Er wußte, daß man Cynthia in der englischen Kolonie oft die »Eisjungfrau« nannte, glaubte aber nicht, daß der Spitzname auf ihre Ehe anspielte. Wenn es jedoch der Fall war, mußten die Leute über gewisse Einzelheiten sehr gut informiert sein. Cynthia hatte nämlich seit langem Schluß mit diesem »Unsinn« gemacht.

»Es war der Gipfel der Geschmacklosigkeit, mit den geschäftlichen Erfolgen ihres Schwiegersohnes zu prahlen und damit anzugeben, was für ein großes Haus er und Samantha gekauft haben.«

»Dolly ist sehr stolz auf die beiden.«

»Stolz auf ihren Reichtum.«

Da Phillip nicht widersprechen konnte, versuchte er es auch nicht.

»Und all das Silber auf dem Tisch! Zwei Kerzenleuchter wären schon zuviel gewesen, aber sie mußte vier aufstellen, alles nur, um Eindruck zu schinden. Diese Zurschaustellung ihres Reichtums ist vulgär.«

Er lachte. »Mich hat sie beeindruckt.«

Sie preßte die Lippen zusammen. »Zu trinken gab’s natürlich Veuve Clicquot, weil Champagner zehnmal so teuer ist wie spanischer Sekt. Dabei schmeckt er kein bißchen besser.«

»Warst du nicht einmal überzeugt, daß es keinen vergleichbar guten Champagner gäbe?«

»Das habe ich nie behauptet.«

Sehnsüchtig blickte Phillip zu dem kleinen Wandschrank hinüber, in dem sie ihre Getränke aufbewahrten. Er hätte einen letzten Drink gut brauchen können.

»Und dieser Typ, dieser Mark … Eine Unverschämtheit, uns einzuladen, wenn er da ist.«

»Aber er wohnt doch bei ihr.«

»Es ist schamlos von einer Frau ihres Alters, mit einem Mann zusammenzuleben, der ihr Sohn sein könnte.«

»Das finde ich nicht. Sie sind glücklich miteinander und tun niemandem damit weh. Was stört dich daran?«

»Natürlich billigst du ihr Benehmen, wie konnte ich nur etwas anderes von dir erwarten.«

»Vergiß nicht, meine Liebe, wir sind hier nicht in Cheltenham.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Das Leben auf dieser Insel ist freizügiger als in England.«

»Deswegen wolltest du dich wohl hier niederlassen.«

Er ging zum Wandschrank und öffnete ihn.

»Was tust du, Philipp?«

»Ich schenke uns beiden einen letzten Drink ein.«

»Nicht für mich, und du hast auch mehr als genug getrunken.«

»Weißt du noch, was Archie immer zu sagen pflegte? ›Genug ist genug, aber fast genug ist nicht genug.‹ Es war immer seine letzte Bemerkung, bevor er umkippte. Auf einer Party in Kapstadt …«

»Archie war ein Säufer.«

»O Cyn, hör auf! Er hat nur gern gefeiert. Auf See hat er keinen Tropfen getrunken, und in der Nacht vor dem Auslaufen rührte er keine Flasche an. Ich kann mich erinnern …«

»Ich habe genug von deinen Erinnerungen. Mir reicht es für heute.«

Phillip nahm die Flasche Soberano und ging damit in die Küche. Er schenkte sich reichlich ein, fügte Soda und Eis hinzu und trug Glas und Flasche ins Wohnzimmer zurück. Die Flasche stellte er wieder in den Schrank. Cynthia mochte es nicht, wenn Flaschen herumstanden.

»Wie kann diese Frau sich nur so aufführen, ohne zu merken, daß sie sich unmöglich macht? Aber die Neureichen haben eben kein Benehmen.«

Er wollte gerade einen Schluck trinken, als er das Glas plötzlich absetzte und kichernd sagte: »In ihrem Fall sollte es wohl besser heißen: die ›Altreichen‹.«

»Was, zum Teufel, willst du damit sagen?«

»Nun, in Anbetracht ihres Alters …«

»Um Himmels willen, kannst du nicht einmal an andere denken?« fragte sie im Tonfall bitterer Gereiztheit. »Sogar dir muß doch klar sein, daß ich heute schon genug auszustehen hatte.« Schon als junger Mann hatte Phillip Freude an Wortspielen gehabt. Während ihrer Verlobungszeit hatte Cynthia ihm diesen Spaß abgewöhnt, aber nach zwei Jahren Ehe war er zu seiner alten Gewohnheit zurückgekehrt, der einzigen Freiheit, die er sich in dieser unglücklichen und enttäuschenden Verbindung bewahrt hatte. Es war seine Art, darauf zu reagieren, daß er nicht die Zuneigung und die Wärme bei ihr fand, die ein Mann wie er brauchte.

Cynthia ließ ihn allein. In ihrer Verbitterung und ihrem Hochmut erinnerte sie ihn an ihre Mutter Lady Hobson. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Er stammte von einfachen Leuten ab und hatte kein Vermögen, was ihm als jungem Oberleutnant den Umgang mit den wohlhabenden Offizieren erschwerte. Aus falschem Stolz hatte er auch ehrlich gemeinte Freundschaftsangebote zurückgewiesen. Er war sehr einsam gewesen, bis er seine Scheu ablegte. Eine Möglichkeit, aus der Isolation herauszukommen, bot sich ihm, als er einer Tochter des Admirals Sir Hugh Hobson vorgestellt wurde, die ihn mit ihren beiden Schwestern bekannt machte. Sie hatten eine schöne Zeit miteinander verbracht – beim Tennisspielen, bei gemeinsamen Picknicks, Tanzveranstaltungen … Bis ihn eines Abends der Admiral zu sich rufen ließ. »Mein lieber Junge«, sagte er mit dröhnender Kommandostimme, »meine Frau und ich haben gemerkt, daß Sie gern mit unseren Töchtern zusammen sind. Es ist wohl an der Zeit, daß Sie Ihre Wahl treffen.« Ein gewitzter Mann hätte sich gewandt aus der Affäre ziehen können, aber da sein wichtigster Grundsatz Pflichterfüllung um jeden Preis war, ließ er sich einfangen. Admiral Sir Hugh Hobson besiegelte sein Schicksal mit den Worten: »Mir scheint, unsere Cynthia hat es Ihnen angetan …«

Rockford leerte sein Glas in einem Zug.

 

»Vielleicht könnte ich mir noch ein Schlückchen genehmigen«, sagte Dolly.

Mark ging an die Bar und fragte: »Kognak?«

»Nur einen kleinen, bitte.«

Er schenkte gut drei Finger breit Rémy Martin ins Glas und brachte es ihr. Lulu, die auf ihrem Schoß lag, hob die Nase und schnupperte.

»Sie möchte Gassi gehen«, sagte Dolly.

»Sie war doch erst vor fünf Minuten draußen.«

Dolly quengelte wie ein kleines Mädchen: »Böser, böser Mann will nicht Gassi gehen mit kleiner Lulu.«

Mark gab auf, hob Lulu von Dollys Schoß, setzte sie auf den Boden und ging mit ihr hinaus.

»Paß auf, daß dieser streunende Köter sie nicht belästigt!« rief Dolly hinterher.

Er schloß die Tür hinter sich und sagte zu Lulu: »Geh und such ihn, viel Spaß!« Die Hündin watschelte davon.

Der berauschende Duft der blühenden Narzissen versüßte die Nachtluft, die Zikaden zirpten, und über ein Feld in der Nähe wanderten ein paar Schafe. Die Glöckchen, die sie um den Hals hängen hatten, bimmelten blechern. Plötzlich zerriß das Aufheulen eines hochtourigen Sportwagens die Stille der Nacht. Ob das der Ferrari ist, den ich vor ein paar Tagen gesehen habe? dachte Mark neidvoll.

Als er ins Wohnzimmer zurückkam, lag Dolly ausgestreckt auf dem Sofa. Ihr Kleid war verrutscht, und er staunte wieder einmal, wie gut sich hinter gekonnter Schönheitspflege und maßgeschneiderten Korsetts das wahre Alter einer Frau verbergen ließ. In einem Schriftstück, das er in ihrem Schreibtisch gefunden hatte, war ihr Alter mit fünfzig angegeben. Da er sie kannte, fügte er fünf Jahre hinzu, aber man nahm ihr auch die fünfundvierzig ab, zu denen sie sich bekannte. Ihr rundes Gesicht war faltenlos, und ihre Haut hatte die typisch englische pfirsichfarbene Tönung. Ihr goldbraunes Haar zeigte keine graue Strähne, und ihr Hals war glatt und weich. Ihr Körper war mit Hilfe entsprechender Unterstützung wohlproportioniert, und auf ihre Fesseln hätte ein zwanzigjähriges Mädchen stolz sein können.

»Ich bin sehr, sehr müde«, murmelte sie schläfrig.

»Kein Wunder. Du verausgabst dich völlig, um die Gäste zu unterhalten.« Er wunderte sich immer wieder über seine Fähigkeit zu sprechen, als meine er seine Worte ernst.

»Ich gebe immer mein Bestes – auch wenn ich weiß, daß es vergeudete Zeit ist.«

Ihre Stimme klang verdrossen. Da er zu wissen glaubte, worüber sie sich ärgerte, sagte er: »Cynthia kann sehr zickig sein.«

»Sie ist eine außerordentlich eigensinnige Person.«

Mark setzte sich. Wenn es Dolly Spaß machte, Cynthia zu kritisieren, hatte sie einen willigen Partner in ihm. »Sie ist hochnäsig und eingebildet, dabei lebt sie in diesem schäbigen Haus. Sie können sich nicht einmal ein neues Auto leisten. Dabei erheben die Frauen pensionierter Offiziere alle Anspruch darauf, zur linken Hand Gottes zu sitzen.«

»Ihr einziges Gesprächsthema ist der Rang, den ihr Vater bei der Marine hatte.«

Cynthia wurde nur in die »Ca Na Nadana« eingeladen, weil ihr Vater dem englischen Adel angehörte und Admiral gewesen war.

»Sie war sehr unhöflich zu dir«, sagte Mark.

»Ich kann doch jedem erzählen, wie stolz ich auf Samanthas Mann bin. Und daß sie sich dieses wunderschöne Haus in Richmond gekauft haben, ist doch auch nichts Böses.«

»Natürlich kannst du das«, stimmte er ihr zu. Innerlich lachte er über ihre Heuchelei. Sie hatte es wirklich nicht mehr nötig, ihre gesellschaftliche Stellung auf Mallorca mit einem erfolgreichen Schwiegersohn zu untermauern. Sie hatte sich mit ihrem Geld einen festen Platz erobert, und niemand würde wagen, sie anzugreifen. Was machte es schon aus, daß ihre Tochter einen Tunichtgut geheiratet hatte? Warum war sie nur so spießig, das als ehrenrührig anzusehen? Denn nur deshalb hatte sie den erfolgreichen Schwiegersohn erfunden, der seiner geliebten Frau die Welt zu Füßen legte.

Mark hatte die Geschichte ebenfalls geglaubt, bis er in Dollys Schreibtisch einen langen Brief ihrer Tochter fand. Er war an Dollys Londoner Bank adressiert und ihr nachgeschickt worden. Samantha hatte sich gegen das oberflächliche Leben im Luxus aufgelehnt, das ihre Mutter führte, und aus Trotz einen jungen Habenichts geheiratet. Eine Herausforderung an das Schicksal, die junge Menschen oft so romantisch finden und die ebenso oft in Trostlosigkeit endet. Samantha mußte bitter dafür büßen. Ihr Mann war entlassen worden, und sie lebten von der Arbeitslosenunterstützung. Obwohl das Geld so knapp war, daß sie zusätzlich Sozialhilfe erhielten, vertrank ihr Mann das wenige, das sie hatten. Samantha hatte seit einiger Zeit starke Krampfadern, die operiert werden mußten, doch nur als Privatpatientin hätte sie die lange Warteliste der gesetzlichen Krankenversicherung umgehen können. Nachdem sie ihre mißlichen Lebensumstände geschildert hatte, hatte Samantha an das Herz ihrer Mutter appelliert: Konnten sie beide nicht vergessen, was geschehen war, Vergangenes vergangen sein lassen? Wäre »Mami« vielleicht bereit, ihr Geld zu schicken, damit sie sich operieren lassen und mit ihrem Mann neu anfangen konnte? Er brauchte so dringend ein wenig Selbstachtung.

Dem Brief lag ein handschriftlicher Entwurf von Dollys Antwortschreiben bei. Der Inhalt sagte alles über ihren wahren Charakter aus: die hohe Inflationsrate habe sie fast an den Bettelstab gebracht, ihr Einkommen reiche knapp für ihren eigenen Lebensunterhalt. Sie habe Samantha ja eindringlich vor der Heirat mit einem Mann aus ärmlichen Verhältnissen gewarnt. Sie sei schließlich erwachsen, und jeder Mensch liege so, wie er sich bette …

Dollys gehässige Stimme unterbrach Marks Gedanken. »Cynthia ist neidisch. Sie gönnt mir dieses schöne Haus und den Luxus nicht, in dem ich lebe.«

»Und sie ist neidisch, weil sie neben dir wie eine vertrocknete Bohnenstange aussieht.«

Mark war beunruhigt, als sie auf seine Schmeicheleien nicht einging. Er kannte den bösartigen, gemeinen Zug ihres Wesens, der unvermittelt zutage treten konnte. Es lag etwas in der Luft, und sein Instinkt sagte ihm, daß es mit ihm zu tun hatte. Er versuchte sie abzulenken und lächelte sie liebevoll an. »Trinken wir noch etwas, denk nicht mehr an die ›Eisjungfrau‹.« Er stand auf.

»Sie hat mir etwas über dich erzählt.«

»Das kann nichts Nettes gewesen sein!« Seinem Lachen fehlte die Sorglosigkeit. Er zwang sich dazu, langsam zur Bar zu gehen, um die Flasche Kognak zu holen. Gewöhnlich gelang es ihm, sie mit einem Drink auf andere Gedanken zu bringen. Er kam zum Sofa zurück. »Noch einen kleinen Schluck …«

»Sie hat dich gesehen.«

Sein hübsches, wenn auch etwas weiches Gesicht, drückte amüsiertes Staunen aus. »Eine Ehre für mich, daß sie sich überhaupt daran erinnert.«

»Auf dem Marktplatz.«

Er füllte ihr Glas randvoll und fühlte ihren ärgerlichen Blick auf seinem Gesicht. »Wahrscheinlich habe ich mich nicht ehrerbietig genug benommen.« Er verbeugte sich tief und sagte unterwürfig: »Fühle mich hochgeehrt. Euer Hochwohlgeboren haben meine Wenigkeit zu bemerken geruht.«

»Hör auf, dich wie ein Narr aufzuführen! Du hast sie nicht gesehen, weil du zu beschäftigt warst.«

Plötzlich wußte Mark, worauf sie hinauswollte. Besorgt fragte er sie: »Dolly, mein Engel, was bedrückt dich? Erzähl dem kleinen Mark deinen Kummer.«

»Du warst mit einem Mädchen zusammen.«

Er stöhnte. »Ich treffe auf dem Marktplatz alle möglichen Leute. Das ist nicht zu vermeiden, wenn man ins Dorf geht. Was ist daran so außergewöhnlich?«

»Cynthia sagte, sie war sehr attraktiv.«

»Ein attraktives Mädchen, wer könnte das gewesen sein … Ah, ich weiß, sie meint Carol. Und darüber hat sie sich so aufgeregt?«

»Wer ist diese Carol?«

»Tom hat sie mir vorgestellt, ihr Nachname hörte sich an wie Whitby – mehr weiß ich nicht über sie.«

»Ihr habt miteinander getrunken.«

»Nur ein Glas.«

»Warum?«

»Was warum?«

»Warum hast du mit ihr getrunken?«

»Warum nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn man sich zufällig trifft … Sie hat mir leid getan, sie schien ein wenig einsam zu sein.«

»Cynthia hielt sie für sehr schön.«

»Carol wäre geschmeichelt. Vergiß nicht, Cynthia mißt alle anderen Menschen nur an sich selbst – die Ansichten über Schönheit sind relativ.«

Dolly schien beschwichtigt. Er kniete sich neben sie und streichelte ihre Wange. »Meine kleine Dolly wird doch nicht eifersüchtig sein?«

Schmollend erwiderte sie: »So wie Cynthia die Situation geschildert hat, mußte ich denken, das Mädchen sei …«

Er verschloß ihr den Mund mit dem Zeigefinger. »Und wenn es Venus wäre, die dem Meer entsteigt, würde Mark sie keines Blickes würdigen. Mark hat seine Dolly.«

Sie lächelte einfältig.

»Was für ein Dummchen meine Dolly sein kann, wenn ein alter Drachen ihr böse Sachen erzählt.« Er küßte sie auf die Wange und flüsterte: »Mark liebt Dolly, nur Dolly.«

Alte Hexe, dachte er und meinte Cynthia. Aber er wußte jetzt wenigstens, welche Gefahr er für sich heraufbeschwor, wenn er auch nur mit dem Gedanken spielte, Carol zum Essen auszuführen.

3

Carol Whitby war einssiebzig groß, hatte naturgelocktes blondes Haar, ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen, strahlendblaue Augen und einen stets zum Lachen bereiten Mund. Sie war schlank und bevorzugte lässige Kleidung. Bis vor drei Jahren hatte sie mit ihren Eltern in einem gemütlichen Einfamilienhaus mit Garten in Canterbury gewohnt. Sie waren eine glückliche Familie gewesen und hatten sich gut verstanden. Und wenn Carol hin und wieder andere Wünsche hatte als die Eltern, appellierte sie an ihre Liebe und bekam, was sie wollte. So ist es immer in glücklichen Familien.

Als Carol von einer Reise nach Korfu zurückkehrte, erfuhr sie, daß ihre Mutter seit längerem starke Schmerzen hatte und sich operieren lassen mußte. Carol war natürlich furchtbar erschrocken, aber auch seit jeher davon überzeugt gewesen, daß ein wirklich schweres Unglück nur andere Familien treffen konnte, nie die ihre. Am Tag nach der Operation wußte sie, daß sie sich geirrt hatte. Ihre Mutter war unheilbar an Krebs erkrankt.

Hätte man sie vorher gefragt, wie ihr Vater ihrer Meinung nach in einem solchen Fall reagieren würde, sie hätte, ohne zu zögern, geantwortet, daß er seinen Kummer unterdrücken und mit ganzer Kraft versuchen würde, seiner Frau zu helfen, ihr Leid zu ertragen. Doch der Vater reagierte völlig anders. Carol konnte es nicht fassen. Er behandelte seine Frau plötzlich wie eine Fremde. Als sie seine ganze Liebe, sein Verständnis brauchte, um mit ihrem Schicksal fertig zu werden, wandte er sich von ihr ab, als sei sie an ihrer Krankheit selbst schuld.

Zutiefst enttäuscht hatte Carol ihm sein befremdliches Verhalten vorgeworfen. Er hatte ihr schweigend zugehört, sich weder verteidigt noch versucht, sich zu rechtfertigen oder ihre Vorwürfe zurückzuweisen.

Der Mutter blieb eine lange Leidenszeit erspart, sie starb kurz darauf. Bei der Beerdigung zeigte sich der Vater völlig teilnahmslos, und außer sich vor Schmerz hatte Carol ihn beschuldigt, er habe die Mutter nie geliebt, wahrscheinlich sei er sogar froh, daß sie tot sei …

Fünf Wochen später hatte er Selbstmord begangen, an dem Tag, an dem er mit seiner Frau silberne Hochzeit gefeiert hätte. Er hinterließ zwei Briefe: einen für die Polizei, um keinen Zweifel an seinem Selbstmord aufkommen zu lassen, einen zweiten für seine Tochter. Darin schrieb er ihr alles, worüber er nicht hatte sprechen können. Da begriff Carol, wie furchtbar sie sich getäuscht hatte. Er hatte seine Frau nicht deshalb so abweisend behandelt, weil er aufgehört hatte, sie zu lieben, sondern weil er es nicht ertragen konnte, sie zu verlieren. Er hatte diese letzte Zeit mit ihr nur überleben können, indem er seine Liebe tief in seinem Herzen begrub.

Eine Zeitlang quälte sich Carol mit Selbstvorwürfen und gab sich die Schuld an seinem Selbstmord, weil sie für seine verzweifelte Lage nicht genügend Verständnis aufgebracht hatte. Dann erkannte sie, daß nichts und niemand den Vater hätte davon abhalten können, seinem Leben ein Ende zu setzen. Die zweifache Tragödie – eigentlich ein dreifaches Leid, wenn sie das ihre hinzuzählte – hatte sie gelehrt, daß es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich war, einen anderen Menschen völlig zu verstehen. Sie versuchte nie wieder, sich ein Urteil über einen Menschen zu bilden – sie nahm sie, wie sie waren. Diese Bereitschaft, fraglos und vorurteilsfrei zu akzeptieren, machte sie zu einer echten Güte fähig, die nichts mit sentimentaler Gutmütigkeit zu tun hatte. Zu ihrem Glück – denn nichts fordert mehr Feindseligkeit heraus als offensichtliche Güte – war sie ein sehr humorvoller Mensch.

»Ich habe Hunger«, sagte sie jetzt.

George Trent blickte die Straße zur Bucht hinunter, von der man gerade noch ein Stückchen sehen konnte. Das Meer war spiegelglatt, und der Himmel über den Berggipfeln färbte sich in der nahenden Dämmerung violett.

»Das ist untertrieben«, verbesserte sich Carol. »Ich bin kurz vorm Verhungern. Ich habe heute nur eine Banane, einen Apfel und einen Joghurt gegessen.«

»Ich werde dich trotzdem nicht zum Essen einladen.«

»Weil du etwas Besseres vorhast?«