Eine Ahnung von Leben - Detlef Haus - E-Book

Eine Ahnung von Leben E-Book

Detlef Haus

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Beschreibung

Wie wird mein Leben aussehen, was mache ich aus mir? Du kannst dir alles aussuchen, nur nicht deine Familie, sagte mein Onkel. Da wirst du reingeboren, das ist weder dein Verdienst noch deine Schuld. Du kannst Glück oder Pech haben. Ich hab das nie ganz geglaubt. Was ist mit der Gesellschaft? Gibt sie dir alle Möglichkeiten? Vielleicht, aber es geht nie ohne Probleme und Rückschläge. Es kommt aber der Tag, wo du über dich selbst bestimmst und deine eigenen Geschicke lenkst. Dann ist keiner außer dir für deine Fehler und deine Erfolge verantwortlich. Endlich hast du deine Freiheit. Du dachtest alles war gut, aber in Wirklichkeit war vieles verkommen und nun hast du es erkannt und kannst endlich leben.

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Eine Ahnung von Leben

 

 

 

 

Eine deutsch/ deutsche Erzählung

von Detlef Haus

 

 

 

 

 

 

 

„Eine Stunde ist eine Stunde

aber wichtig ist, wo ich sie verbringe,

ob vor oder hinter den Kulissen des Lebens.“

Erwin Strittmatter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I M P R E S S U MEine Ahnung von LebenDetlef Haus© 2015 Detlef Haus.Alle Rechte vorbehalten.Autor: Detlef Haus

Ahornstrasse 5, 17039 WulkenzinE-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-98551-691-9

 

Ein Ausflug

Dieser Sonnabendmorgen war nebelig und kalt. Ich konnte die Nacht vor Aufregung nicht richtig schlafen und war hundemüde, als Mutter mich weckte.       „Muss das gerade heute sein?“, sagte ich und war gedanklich schon bei meinem Trainer.       Herr Fiedler war eigentlich ein netter Mann, wie ich fand, aber wenn auf dem Platz keine Leistung kam, war er mit einem Mal wie verwandelt, und was er sagte, war nicht mehr nett.       Auch wenn ich erst 8 Jahre alt war, empfand ich die Art und Weise, uns zu motivieren, manchmal schon als eine Zumutung. Die aus seiner Sicht wahrscheinlich gut gemeinten Weisheiten wie „Was euch nicht umbringt macht euch härter ...“ waren selbst für unser kindliches Bewusstsein klar verständlich. Auch wenn mir nicht nach Frühstück zumute war, drängte Mutter darauf, und da ich einer möglichen Diskussion an diesem Morgen aus dem Wege gehen wollte, ließ ich es über mich ergehen.       „Hast du auch alles eingepackt, das Dress und die Fußballschuhe?“, fragte sie.       Ich dachte kurz nach, und mit einem abwesenden „Ja“ war ich auch schon aus der Tür.

Wir sollten uns um 9 Uhr auf dem Sportplatz in Neuburg treffen. Ich hatte mir angewöhnt, wenn irgend möglich, etwas früher zu Verabredungen wie auch zum Schulbeginn zu erscheinen.       Einige Lehrer reagierten sehr streng, wenn Schüler aus irgendwelchen Gründen zu spät zum Unterricht kamen. Herr Fiedler war einer dieser strengen Lehrer, und mir reichte es, mit anzusehen, wie er jedes Mal die Mitschüler, die zu spät kamen, mit Beschimpfungen und Zusatzhausaufgaben „motivieren“ wollte, einfach pünktlich zu sein.       Er zitierte zu gerne seinen Vater, der als Maurer auf dem Bau gearbeitet hatte, mit dem Spruch: „Fünf Minuten vor der Zeit ist des Mauers Pünktlichkeit“.       Wir konnten es alle nicht mehr hören, aber irgendwie schien mir diese Vorgehensweise auch ihre Vorteile zu haben. Zumindest diesbezüglich hatte ich mit Herrn Fiedler keine Schwierigkeiten, und gerade an diesem Morgen sollte das auch so bleiben.       Als ich nach guten 20 Minuten mit meinem Fahrrad auf dem Sportplatz ankam, waren Herr Fiedler, Matthias und Dirk schon da. Herr Fiedler fragte alle weiteren Ankömmlinge sofort, ob jeder denn auch das Dress und die Fußballschuhe mithat.       Es war für uns alle das erste offizielle Fußballspiel, und insofern war jegliche Nachfrage auch berechtigt, wie sich beim späteren Umziehen herausstellte.       Dieses erste Spiel war ein Freundschaftsspiel gegen einen alten Lokalrivalen, die „SG Zetor Benz“. Trotz unserer Unerfahrenheit war für unseren Trainer die Marschrichtung klar, wir, das Team von „Traktor Steinhausen“ können nur als Sieger vom Platz gehen.       Traktor Steinhausen wurde nicht nur gute zwölf Jahre vor der SG Zetor Benz gegründet, sondern sogar einen Monat vor der Deutschen Demokratischen Republik. Wir konnten uns aussuchen, welcher Anlass mehr verpflichtend war.       Es spielte auch keine allzu große Rolle, dass wir aufgrund unseres Alters ein natürliches Desinteresse an dieser Art von Motivationshintergrund hatten. Wir nahmen es so hin und redeten uns ein, dass das alles seine Richtigkeit hat.       Mittlerweile waren wir vollständig und kamen sogar relativ pünktlich los. Klar war, dass wir mit dem Fahrrad zum Spiel fahren mussten. Der Weg erwies sich als anstrengender und weiter als gedacht. Der Nebel und die Kälte wollten einfach nicht weichen, und so fuhren wir durch ein für alle unbekanntes Terrain auf schlechten, kraftzehrenden Feld- und Waldwegen.       Die ganze Gegend hatte durch den Nebel ein eigenartiges, etwas grusliges Aussehen, und mir kamen Erzählungen von meinem Onkel Georg in den Sinn, der von genau solchen kalten und nebligen Gegenden aus seiner Kriegsgefangenschaft in Russland erzählt hatte.       Mir lief bei diesem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken, und ich gab mir doppelt so viel Mühe, nicht den Anschluss an die Gruppe zu verlieren.      Obwohl wir noch gar nicht weit gefahren waren, ich schätzte vielleicht fünf bis sechs Kilometer, fand ich es irgendwie komisch, dass ich so nah an meinem Heimatort die Gegend nicht mehr kannte.       Ich beschloss, dass sich das nach unserer Rückkehr in den kommenden Wochen ändern muss. Herr Fiedler rief:       „Kommt Jungs, lasst uns eine kurze Pause machen, ihr fallt mir sonst vor Schwäche auf dem Platz noch um.“       Trotz der Aufregung willigten alle sofort ein. Es war abenteuerlich anzusehen, auf welchen Fahrrädern wir unterwegs waren. Bis auf das Fahrrad vom Trainer bot sich ein erbärmliches Bild. Kein Fahrrad hatte seine ursprünglichen Bestandteile, sowohl eigenwillige Farbkombinationen als auch wild zusammengebaute technische Teile vermittelten den Eindruck einer verwegenen Truppe junger Abenteurer.       Es bestand jederzeit die reale Gefahr, dass jemand aufgrund eines technischen Defekts liegenblieb und wir alle womöglich zu spät zum Freundschaftsspiel kamen. Da nur der Trainer die Strecke kannte, mussten wir auf unser Glück hoffen.       Nach ungefähr einer Stunde kamen wir in Benz an. Obwohl wir wie im Training nur auf dem Halbfeld spielen sollten, konnten wir aufgrund des Nebels nicht mal von Tor zu Tor sehen. Wir dachten schon, dass diese ganze Quälerei der Anfahrt umsonst gewesen war. Diese Zweifel waren aber unbegründet, und nach kurzer, verhaltener Begrüßung mit unserem Gegner ging es auch schon in die Kabine zum Umziehen, und die ganze Pracht der Ausrüstung kam nun zum Vorschein.       Beim Anblick der auf dem Boden verteilten Fußballschuhe musste ich sofort an die Pause auf der Anfahrt und den chaotischen Anblick der Fahrräder denken, hier bot sich ein ähnliches Bild. Ich dachte an die Schwierigkeiten beim Versuch, in Wismar passende Fußballschuhe zu bekommen. Mutter und ich hatten es dort mehrere Male versucht und irgendwann eine Art von Mitleid bei der Verkäuferin erweckt. Diese gab uns dann über eine Lieferung in der kommenden Woche den entscheidenden Tipp.       Auch wenn aus dem erhofften Schuhmodell ein unverhofftes geworden war, so hatte ich zumindest mein erstes Paar Fußballschuhe vor mir liegen.       Andere wie Dirk, Günter und Bernd müssen ähnlich ausdauernd mit ihren Eltern vor Ort in Wismar gewesen sein, um in einem der beiden Sportgeschäfte das gleiche Glück zu erzwingen. Wenn jemand nichts erzwingen musste, hatte er meistens Beziehungen, wir hatten die leider nicht.Matthias, der natürlich auch neue Fußballschuhe hatte, war einer dieser Glücklichen und zeigte das auch gerne. Der Rest der Mannschaft war mit verschiedenen Hallenschuhen ausgestattet, die bei dem Wetter nun gar nicht zu gebrauchen waren.       Herr Fiedler wusste um die Schwierigkeiten der Beschaffung und übersah dies scheinbar, wohlwissend, dass es bei den Platzverhältnissen zur Rutschpartie kommen und das unter Umständen den sicher erhofften Sieg kosten könnte.Noch bunter wurde es bei den Trikots, Hosen und Stutzen. Da wir zwei unterschiedliche Kleidersätze hatten, war es anscheinend einer mangelhaften Abstimmung geschuldet, dass nahezu die Hälfte die roten Dresse eingepackt hatte und der Rest die blauen.       Unserem Trainer verschlug es fast die Sprache, aber es war zu spät, um etwas ändern zu können. Es passte irgendwie alles zu diesem Tag und endete entsprechend entgegen der ausgegebenen Parole „Nur der Sieg zählt“ mit einer deftigen Niederlage.       Eine Parole, die mir in der Zukunft noch des Öfteren begegnen sollte.       Wir fuhren müde und der Niederlage wegen unglücklich auf unseren Fahrrädern die beschwerliche Strecke zurück. Was wir da noch nicht wussten, und das war das einzig gute Ergebnis an diesem Tag:       Eine Anreise mit dem Fahrrad sollte es nie mehr geben.

1 Dorffußball

1 Dorffußball

Am nächsten Tag hatte keiner auch nur einen Gedanken an Fußball. Wir trafen uns ansonsten so oft es ging, um einfach zu bolzen, aber der Fahrradausflug nach Benz verlangte eine Pause vom runden Leder. Das war mir ganz recht, denn Bernd und Paul, meine Nachbarn und Spielkameraden, zog es immer wieder in die verschiedenen Wälder, die uns mal größer und mal kleiner umgaben und stellenweise mit kleinen Bächen durchzogen waren, die sich wiederum für aufregende Aktivitäten eigneten.       Paul war zwei Jahre älter als Bernd und ich und hatte neben handwerklichen Fähigkeiten gute Ideen, wie man diese Landschaft nutzen konnte. Voraussetzung war natürlich eine minimale Form der Bewaffnung.       Ein Messer war Pflicht und unbedingte Voraussetzung, um die Ideen von Paul auch umzusetzen. Ich war hier gut ausgerüstet und stolz auf meines, wobei mir gar nicht klar war, wo das Messer eigentlich herkam. Es war für mich nahezu ein Original aus irgendeinem Cowboyfilm: der gleiche Griff wie ein Bowiemesser, ein kleines Parier-Element zwischen Klinge und Griff und dann eine fünfzehn Zentimeter lange Klinge mit einem kleinen Entenschnabel.       Ich konnte es nicht nur sehr gut zum Schnitzen benutzen, denn wir hatten viel zu schnitzen, sondern es hatte auch den richtigen Schwerpunkt und warf sich somit auch sehr gut, sodass auch ein Feind auf Distanz ohne Probleme zur Strecke gebracht werden konnte. Neben dem Messer brauchten wir ohne Frage auch einen Colt, hier blieb nur, einen zu schnitzen.       Paul bewies besonderes Talent, und Bernd und ich versuchten nur irgendwie, an das Original heranzukommen.      Die eigentliche Herausforderung kam dann jedoch im Kampf. Es war immer wieder die gleiche Frage zu beantworten, wenn wir hinter Bäumen und Büschen versteckt auf den Gegner lauernd einen Schuss abfeuerten, der mit einem lauten, nachempfundenen Geräusch aus uns herausbrach.       War der andere getroffen oder eben nicht?       Darüber konnten wir uns trefflich streiten, und so manches Mal gingen wir im Streit auseinander. Das hielt aber nie lange an, und so trafen wir uns zum nächsten Abenteuer.       Besonders gerne sprangen wir über die Bäche oder über kleine Schluchten. Hierzu schnitzten wir aus Weiden zirka 3 Meter lange Stangen und machten eine Art Stabseitsprung. Das war nicht immer ganz gefahrlos und führte über nasse Sachen, wenn wir eben im Bach landeten, auch schon mal zu verstauchten Knöcheln und anderen Blessuren.       Das gehörte einfach dazu, der Indianer kennt ja schließlich auch keinen Schmerz.       Baumhäuser in luftigen Höhen, Erdhöhlen, Staudämme, geköpfte Hühner, die wir versuchten über einem Feuer garzubekommen, es ging immer irgendetwas. In der Woche fehlte uns durch die Schule die Zeit für ausgedehnte Ausflüge, und so kam uns die riesige Scheune in der Mitte des Dorfes gerade recht.       Eigentlich war es verboten, dort zu toben, aber das berührte uns nicht weiter, denn es wurde kaum kontrolliert.       Die Scheune war 40 Meter lang, 30 Meter breit und im Dachfirst 15 Meter hoch. Gut gelegen unweit von unserem Garten. Durch die Holzkonstruktion und die notwendigen Versteifungen ließen sich sehr einfach Seile befestigen, an denen wir dann durch die Scheune schwebten und uns einfach fallenließen.      In der Regel war die Scheune besonders zu den Seiten hin mit Heu vollgestopft, und durch die unterschiedliche Entnahme und Bestückung ergaben sich immer wieder andere Heuhaufen, auf die man fallen oder springen konnte.       Ein ähnliches Spiel ergab sich kurz nach der Ernte, wenn Heu lose auf den Feldern zu Mieten gestapelt wurde oder Heuballen zu großen Mieten auf dem LPG-Gelände standen.       Die Möglichkeiten gingen einfach nicht aus. Wenn das Wetter nicht mitspielte, ging es auf den Heuboden von Paul und Bernd. Über dem Stahl war der halbe Dachboden mit Heu vollgestopft, und so war für den Notfall immer gesorgt.

2Scheune

2Scheune

 

Das Dorf

Das Leben in unserem Dorf hatte für mich etwas von einer Insel, und auch wenn ich bis dahin noch auf keiner Insel gewesen war, so musste es dort zumindest sehr ähnlich sein.       Mein Lebensbereich beschränkte sich im Wesentlichen, schon durch die Tatsache, dass meine Familie kein Auto hatte, auf einen Bewegungsradius von ungefähr vier Kilometern. Es bestand auch nicht wirklich die Notwendigkeit, sich von dieser „Insel“ an Land zu begeben, denn unser Dorf hatte aus meiner Sicht alles, was notwendig war: den Konsum, das Kulturhaus mit der Kneipe und dem Tanzsaal im Erdgeschoss, darüber die Einrichtungen der Kampfgruppe, die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, kurz LPG genannt, die Ställe, die Post, den Kürschner und nicht zuletzt den Kindergarten, in dem ich bis zur Einschulung untergebracht war.       Wir waren eigentlich sogar in der komfortablen Situation, dass wir alles doppelt zur Verfügung hatten, denn ganz in der Nähe, nur durch ein schmales Waldstück getrennt, befand sich der große Bruder unseres Dorfes.       Zusammen waren wir Neuburg- Steinhausen. Wir Steinhausen, die anderen Neuburg.       Es war nie wirklich eine Rivalität zwischen den Dörfern, aber irgendwie empfand ich uns doch als eine Art Anhängsel. Dieses Anhängsel verlieh aber unserem Fußballverein seinen Namen, und das brachte uns gefühlt dann doch wieder auf eine Stufe.      Neuburg war schöner. Die Anlage des Dorfes strömte allein durch die abwechslungsreiche Landschaft mit den unterschiedlichen Höhenzügen, die sich waldreich ab der Mitte des Dorfs integrierten, eine für mich unglaubliche Gemütlichkeit aus. Einer dieser Höhenzüge in der Mitte von Neuburg war am höchsten gelegen und im Laufe der Jahre zu einem Platz für Veranstaltungen umfunktioniert worden.

3 Sportplatz in Neuburg

3 Sportplatz in Neuburg

Ähnlich wie die Hauptburg südlich von Wismar, die dem Land den Namen Mecklenburg gab, gab es in grauer Vorzeit auch hier eine Befestigungsanlage.       Nun wurde hier allerdings nicht mehr gegen fremde Stämme verteidigt und gekämpft, der Kampf war bei den Volksfesten eher ein Wettkampf mit dem Alkohol.       Es musste in der Geschichte dieses über Jahrhunderte heidnischen, freien Volkes, der Mecklenburger, gelegen haben, die, wie ich aus dem Geschichtsunterricht von Herrn Fiedler erfuhr, zwar immer arm gewesen waren, sich aber bis aufs Messer gegen die Christianisierung gewehrt hatten.       Es war dieses ganze Elend von Leibeigenschaft, Frondiensten, dem Recht der ersten Nacht und anderen Qualen.       Selbst als im benachbarten Preußen die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, änderte sich in Mecklenburg noch lange nichts.       Ich dachte mir, dass es das aus alter Zeit immer noch gefühlte Elend war, oder die durch die ewige Unterdrückung vorhandene Rückständigkeit, die viele das Leben nur im Delirium ertragen ließ.       Wie auch immer, ob nun der erste Mai als Kampftag der Arbeiterklasse oder welche Veranstaltung es auch war, diese Auswüchse nervten mich und waren für uns nicht gut.

Das Fehlen der großflächig angelegten LPG sowie der Ställe ließ Neuburg eine Einheit sein. Die Nähe zwischen der neu eröffneten Schule mit angeschlossener Sporthalle, dem Sportplatz und den Verkaufseinrichtungen bot in meiner Vorstellung ein perfektes Umfeld.       Ich hatte meine Insel und freute mich auf den ersten Schultag im September 1974 in der neuen Oberschule mit dem verpflichtenden Namen „Rosa-Luxemburg“.

Vater arbeitete in der LPG im Dorf und war als Werkstattleiter unter anderem für die technischen Belange des Fuhrparks zuständig.       Ich besuchte ihn dort sehr gerne, auch wenn das schmutzige Umfeld eher abstoßend war. Die Traktoren, Anhänger, Erntemaschinen und die anderen verschiedensten Kraftfahrzeuge wirkten wie ein Magnet auf mich.       Vater konnte, für mich aufgrund der Vielzahl an Teilen unbegreiflich, einen Motor in all seine Bestandteile zerlegen und entsprechend auch wieder zusammenbauen.       Ich fragte mich, warum ein Werkstattleiter überhaupt arbeiten musste und nicht nur all seine Mitarbeiter anleitete.       Vater beatwortete mir diese Frage auch nicht wirklich, ich nahm an, dass er einfach nur Spaß an seiner Arbeit hatte und deswegen selbst mit anpackte.       Der Boden der riesigen Werkstatt war ganz und gar mit einer Mischung aus Motorenöl und Sandstaub bedeckt. Die ganze Fensterfront entlang standen Werkbänke aneinandergereiht, in der Halle verteilt waren unterschiedliche Arbeitsbänke mit schwerem Werkzeug, wie Maul- und Ringschlüsseln in riesigen Dimensionen, sowie Stahlwannen für abgelassenes Getriebe oder Motorenöl. Garniert wurde dieses scheinbare Durcheinander durch Ersatzteile für die verschiedenen zu reparierenden oder zu wartenden Maschinen.      Vater sah mit einer Art Armeeschirmmütze und dem schwarzen, ölverschmierten Overall fast verwegen aus, und somit sah ich ihm gerne bei der Arbeit zu.       Sein Spezialgebiet schienen festgelaufene Motoren zu sein. Er entfernte mit einem Ungetüm von Flaschenzug die Motoren aus den Halterungen des Motorraums und setzte sie auf dem Hallenboden auf bereitstehende Metallböcke ab. Nach und nach löste er die einzelnen Teile, bis die Kolben vor ihm auf dem Tisch lagen und die Analyse des Problems erfolgte.       „Vater, was machst du nun mit dem Teil?“, fragte ich.       Er versuchte, mir mit einfachen Erklärungen die Geheimisse der Motorentechnik nahezubringen, schilderte im Detail, was die Kolbenringe verraten, wo im Kolbengehäuse die problematischen Stellen liegen und wie mühsam das Schälen der Reibungsflächen mit einfachsten Hilfsmitteln, wie etwa einer Rasierklinge, funktionierte.       Ich war beindruckt und stolz und musste im gleichen Moment an meinen Freund Michael denken, dessen Vater Direktor an der Neuburger Oberschule war.       Ich fragte mich unwillkürlich, ob er das wohl auch kann. Unsere Väter und damit verbunden unser Umfeld waren so dermaßen unterschiedlich, dass ich mich spontan wunderte, wie wir eigentlich befreundet sein konnten.       Dieser Gedanke verflog sehr schnell, als sich die Hallentür öffnete und der LPG-Vorsitzende eintrat. Vater gab mir zu verstehen, dass ich gehen sollte, und ich tat so, als ob ich nur kurz dagewesen war, um eine Frage zu stellen.       Ich mochte Herrn Bräuer nicht und grüßte nur kurz und verabschiedete mich von Vater. Petra, seine Tochter, ging mit mir in eine Klasse und da ich sie gut leiden konnte, war mir vollkommen unklar, wie sie so einen unsympathischen Vater haben konnte.       Herr Bräuer hatte mich vor gar nicht allzu langer Zeit von einem Radtraktor heruntergeschmissen, der auf dem LPG-Gelände stand. Vater kam zufällig dazu und geriet über die Art und Weise mächtig mit ihm in Streit.       Natürlich war Herr Bräuer im Recht, aber mir schien, dass auch noch andere Gründe für den heftigen Wortaustausch eine Rolle spielten. Ich hatte mit meinen Kumpels auch immer mal wieder kleinere und manchmal auch größere Reiberein, das renkte sich aber immer wieder ein, und insofern konnte das bei den Erwachsenen ja auch nur so sein, zumal sie ja immer vorgaben, alles viel besser zu verstehen.

4 LPG-Werkstatt

4 LPG-Werkstatt

Unmittelbar am LPG-Gelände befand sich ein Karree aus rotem Ziegelstein, das an einer Seite offen war.       Ursprünglich müssen es Pferdestallungen von dem Gutsherrn im Dorf gewesen sein, aber mit den Jahren wurde daraus eine Ansammlung mit unterschiedlichsten Verwendungen, und das verlieh dem Ganzen eine eigentümliche Aura. Der der LPG zugewandte Teil des Karrees beherbergte immer noch einen Pferdestall, der mit einer Wand direkt an das Schlafzimmer meiner Oma grenzte.       Ihre Wohnung erstreckte sich in Verlängerung des Pferdestalls hinaus bis zur Ecke des Karrees und weiter mit zwei Räumen um die Ecke herum in Richtung Westen.       So wie Oma wohnte, musste es auch auf einem Bauernhof sein: der Ofen mit der Feuerstelle in der Küche, zwei alte Holzküchenschränke mit Waagen, Kaffeemühle, Bretter und vieles mehr. Gleich von der Küche ging es in eine Art Wirtschaftsraum mit Brennmaterial, Blechwannen, Gartengeräten, Bottichen, einer Räucherkammer und Unmengen eingeweckter Lebensmittel aller Art.       Gerade wenn wir mal wieder ein Schwein geschlachtet hatten, ging es hier hoch her. Die Schweinebraten wurden gepökelt und in den Holzbottichen eingelegt, die Räucherkammer war mit allen möglichen Würsten und Schinken übervoll, und es wurde gefeiert.      Ein Rätsel war mir allerdings, wie Oma es aushielt, jedes Mal gut 50 Meter bis zum Plumpsklo zu gehen. Es war mir ein Graus, in diesen Bretterverschlag am Ende des Karrees mit einem undefinierbaren dunklen, irgendwie Angst einflößenden Loch zur Toilette zu gehen. Alle versuchten mir dann einzureden, dass ich schon ein großer Junge war, wenn ich das allein schaffte. Aber schon dieses harte Zeitungspapier, das erst weich geknetet werden musste, bevor es überhaupt irgendwie nutzbar war, war einfach nur schlimm.       Oma kannte aber nichts anderes und somit war es für sie nie ein Problem.       Ich war so froh, dass wir zu Hause schon einen Schritt weiter waren und unsere Toilette die Nutzung von Zeitungspapier nur verstopft hätte. Über ihrer Eckwohnung befand sich die Mühle, die von unserem Nachbarn Herrn Rühs betrieben wurde.       Das Getreide der LPG für die Tierproduktion der LPG und die zahlreichen Eigenversorger, wie wir selbst, wurde hier verarbeitet. Die steile Treppe führte direkt hinter dem Küchenfenster meiner Oma auf den Mühlenboden, und mit Betreten desselben war man in einer anderen Welt. Eigentlich hätte es pro Tag diverse Abstürze mit Schwerverletzten geben müssen, denn die Stufen waren schmal, die Treppen steil und die Arbeitsschuhe rau und groß gearbeitet.       Aber es passierte nichts.       Ich dachte mir, dass allen klar war, dass ein Sturz nur tödlich enden konnte, und das machte vorsichtig.       Die vorhandene abenteuerliche Balkenkonstruktion und das Fachwerk waren über und über mit Mehlstaub bedeckt, und somit sah der ganze, sehr enge Dachboden wie eine weiße Märchenwelt aus.       Schräg gegenüber der Treppe auf der anderen Wandseite befand sich die Luke, durch die die Korn- und Mehlsäcke mit Hilfe eines Seilzuges abgelassen wurden.       Was von oben wie von unten unheimlich interessant aussah, war für meine Oma nicht so lustig, da sich unter der Luke genau ihr Schlafzimmerfenster befand.       Da Herr Rühs unser Nachbar war, ich mit seinen Söhnen zwei gute Spielkameraden gefunden hatte und mein Vater durch unsere kleine Tierhaltung immer Bedarf an rationierten Getreidesäcken hatte, war mein Zutritt zur Mühle frei. Auch wenn ich es nicht übertreiben durfte, so ließ er mich gewähren.      Gleich neben der steilen Treppe war ein weiterer kleiner Pferdestall von Herrn Gerdes, dem ehemaligen Kutscher der damaligen Gutsfamilie von Vieregge, die dem Dorf letztendlich das jetzige Kulturhaus spendierte.       Zur Herbstfurche im Garten lieh sich Vater immer mal wieder ein Pferd aus, um den Pflug zu ziehen. Ich war über die Ausmaße dieser Arbeitspferde immer wieder erstaunt.       Vater hatte auf der Siedlung in Neuendorf auch ein Pferd und konnte damit umgehen. Irgendwann stand kein Pferd mehr zur Verfügung, und so durfte ich es ersetzen.       Ich war meinen Eltern jedoch unendlich dankbar, dass sie mich prinzipiell nie zur Gartenarbeit genötigt haben. Die in der Summe überschaubaren Einsätze meinerseits konnten insofern auch nicht zu einer negativen Grundeinstellung zu dieser Art von körperlicher Arbeit führen.       Einige meiner Mitschüler waren in dieser Beziehung deutlich unter Druck, auf dem Dorf ja eigentlich auch nichts Besonderes, aber dieser Zwang, der immer wieder aufs Neue bestand, hatte aus meiner Sicht so gar nichts mit einer angemessenen Erziehung zu tun. Hier hatte man entweder Glück, wie ich, oder eben Pech.       Komischerweise waren die Mädchen von diesem Zwang meistens ausgenommen, das war nicht gerecht.

5 Karree an der LPG

5 Karree an der LPG

In unmittelbarer Nähe zu dem Gebäudekomplex befand sich das alte Gutshaus. Die Nutzung dieses Gutshauses war äußerst vielseitig.       Es war mir unvorstellbar, dass dieses Riesengebäude nur eine Familie genutzt hatte, ganz gleich, wie groß sie war.       Andererseits musste es aber auch nicht so beengt sein, wie bei uns zu Hause. Zwei kleine Zimmer für vier Personen, das war das ganze Gegenteil von groß.       Der Haupteingang war in der ersten Etage über eine große Terrasse zu erreichen. Die erste Tür gleich links am Eingang im Inneren führte in den Kindergarten.       Die neuen Räumlichkeiten in einer Baracke 200 Meter entfernt waren noch nicht fertig, und so fand die Gemeinde hier zunächst einen Ersatz. Gegenüber von der Eingangstür zum Kindergarten ging es direkt in den Dorfkrug, einem großen Raum mit vielen Tischen, einem Tresen und meistens einem Haufen betrunkener Leute. Leider zog dieser Ort meinen Vater auch magisch an, mit einer scheinbar nur durch das Portemonnaie begrenzten Menge von Alkohol.       An beiden Türen vorbei, einen Flur entlang, ging es zu den ausschweifend großen Holztreppen zur zweiten Etage und weiter auf den riesigen Dachboden. Es schien so, als ob die Größe der Treppen in weiser Voraussicht für die zukünftige Nutzung gewählt worden war, ansonsten war dieser Überfluss für mich gar nicht erklärbar.      In der zweiten Etage waren ein paar Wohnungen, und auf dem Dachboden hatte sich die Kampfgruppe eingerichtet.       Mir schien, dass alle Männer aus dem Dorf hier Mitglied waren. Vater sagte, wenn man Mitglied der SED sei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, dann bestehe quasi die Pflicht, wobei es eher zwangsverpflichtend als freiwillig pflichtbewusst schien, bei der Kampfgruppe Mitglied zu sein. Unter Kämpfern stellte ich mir sowieso etwas anderes vor.       Es war egal, denn ich fand es zwischen all den Uniformen, Filzstiefeln, Stahlhelmen, diversen anderen Ausrüstungsgegenständen und den immer griffbereit stehenden Maschinenpistolen äußerst interessant, so als ob gleich irgendwas passieren würde. Hinzu kam diese eigenartige Geruchsmischung aus Waffen, Öl, überlagerten Uniformen, Männerschweiß und Alkohol.       Es war die Mischung, die einen eigentlich abstößt, aber auch irgendwie anzieht. Darüber hinaus, dass aus mir unerklärlichen Gründen kaum andere Kinder Interesse oder auch Zugang zu diesem Dachboden fanden. Ich konnte das somit nahezu allein genießen, und das Gefühl gefiel mir zusätzlich.

6 Gutshaus

6 Gutshaus

Das Thema Krieg und damit verbunden die Armee war gerade bei Familienfeiern zu fortgeschrittener Stunde immer wieder aktuell.       Nicht nur mein Vater, der als Deutschstämmiger in Litauen als Freiwilliger in einer Sondereinheit hinter den Linien seinen Dienst abgeleistet hatte und zu meinem Leidwesen einfach nicht gerne und schon gar nicht freiwillig von dieser Zeit erzählen wollte, hatte Kampferfahrung. Auch meine Onkels hatten etwas zu erzählen.       Der eine war in russischer Kriegsgefangenschaft und konnte gar nicht genug über die schlimmen Russen schimpfen und erzählte in allen Facetten darüber; der Bruder meiner Oma, der in Norwegen andere Erlebnisse gehabt zu haben schien, hielt die nicht für so erzählenswert.       Ich war also aus erster Hand mit einigen Aspekten des Militärs im Allgemeinen und bei wiederholten Feiern mit der russischen Kriegsgefangenschaft im Besonderen vertraut und fand es zu mindestens sehr interessant, wenn auch nicht erlebenswert.       Damit das aber gar nicht erst so weit kam, war ab Januar meines Geburtsjahrganges klar, dass wir Jungs NVA-Soldaten wurden, um gerade nicht die gleichen Geschichten erzählen zu müssen. Es sollten andere Geschichten werden, die letztendlich auch nur sinnvolle Lebenszeit vernichtet haben.      Zu Beginn meiner Schulzeit war Mutter ausschließlich Hausfrau, sie hatte Zeit, alles in Ruhe abzuarbeiten und fand sich nach meinem Eindruck auch selbst in dieser Rolle wieder.       Vater war der Auffassung, dass sie mit den Kindern, dem Haushalt und allem Übrigen genug zu tun hatte und er die Familie auch allein ernähren konnte. Hierbei nahm er bewusst in Kauf, dass bei den schlechten Verdienstmöglichkeiten in der LPG jede Ausgabe doppelt hinterfragt werden musste.       Als persönliche Konsequenz ließ er sich den Urlaub in den schweren Anfangsjahren prinzipiell ausbezahlen, sodass in der Folge die Familie nie zusammen Urlaub machen konnte.       Da ich den Urlaub an sich nicht und schon gar nicht außerhalb unseres Dorfes als Freizeitgestaltung kannte, vermisste ich zunächst auch nichts. Dieser Verlust sollte erst später in mein Bewusstsein treten.       Es war schwer genug, das Leben mit ein bisschen Wohlstand zu meistern, und so konzentrierte sich vieles wie selbstverständlich auf einen wesentlichen Kern von Leben, die Familie.       Die materielle Gleichschaltung der Lebensumstände war dazu eine wunderbare Voraussetzung. Nun musste nur noch abgesichert werden, dass der Tisch gut und lecker gedeckt war. Das bedeutete die Unterhaltung eines großen Nutzgartens, das Halten von Schweinen, Hühnern, Enten und Karnickel und damit verbunden die Bestellung von Rüben- und Kartoffelflächen, die nie unter einem Hektar groß waren, um die Viecher entsprechend füttern zu können.       Die aus diesem Umfang entstandenen Aufgaben schienen mir nahezu unbeherrschbar, umso mehr, wenn ich mit der Hacke auf dem Acker stand, die endlos erscheinende Reihe an zu verziehenden Rübenpflanzen bis zum Horizont vor mir hatte und schon beim blanken Anblick Rückenschmerzen bekam.       Die Arbeiten wurden jedoch von meinen Eltern in einer stoischen Ruhe erledigt, die einfach notwendig war, um jede Art von stupider, anspruchsloser Arbeit erledigen zu können. Die Arbeit schien ihnen wohl deshalb nie zu viel oder gar lästig zu sein.       Es war diese Einsicht in die Notwendigkeit, die bei der Mangelwirtschaft um uns herum meiner Mutter den Druck beim Einkauf von Lebensmitteln nahm und die absolute Prämisse von meinem Vater erfüllen ließ, auf dem Tisch immer genug zu essen zu haben.Meine ältere Schwester und ich konnten in diesen Arbeiten natürlich nichts Sinnvolles erkennen, uns beiden war aber bewusst, dass wir nicht nur dank der Kochkünste meiner Mutter, sondern insbesondere aufgrund der aufwendigen Hauswirtschaft im Vergleich zu manch einem Klassenkameraden ein Schlemmerleben führten.       So ganz ohne Zwangseinsätze lief die Versorgung auch für uns nicht ab, aber im Wesentlichen wurden wir beide doch in Ruhe gelassen und konnten unseren Aktivitäten nachgehen.

7 Kartoffelernte

7 Kartoffelernte

Im Spätsommer 1972 war es wieder mal so weit, dass ein Schwein gut genug gemästet war, um geschlachtet zu werden.       Die Schweinehaltung war aufwendig aber auch bescheiden einträglich. Zu besten Zeiten standen fünf Schweine im Stall, wobei das Wort Stall deutlich übertrieben erschien. Eigentlich war unser Stall ein Bretterverschlag mit zwei Buchten. In der einen Bucht standen die ausgewachsenen Schweine und in der anderen die Ferkel. Gerade während der Fütterung verursachten die Viecher eine unglaubliche Geräuschkulisse, und ich hatte immer den Eindruck, dass sie glücklich quieken.      Vater kaufte in der Regel je zwei neue Ferkel. Auf einer schwarzen Tafel wurden Kaufdatum und Gewicht mit Kreide vermerkt. So konnte jeder erkennen, wann es entweder mit dem Verkauf oder mit der Schlachtung soweit war. Wenn irgend möglich, versuchte mein Vater pro Jahr ein Schwein zu verkaufen.      Mit der Limitierung an Futtergetreide und der mangelnden Bereitstellung von Futterkartoffeln und anderen Futtermitteln hatte er so seine Not, die angestrebten drei Zentner zu erreichen. Es war bei näherer Betrachtung eine wirkliche Last mit dem Viehzeug.       Den Luxus, sich das einzugestehen und womöglich noch den Schluss zu ziehen, es einfach nicht mehr zu machen, gab es nicht.       Die materiellen Verhältnisse waren schlecht und der Wunsch, sich selbst, uns Kindern und vielleicht auch der kleinen Gesellschaft um uns herum zu zeigen, dass es weiter geht, war groß. Die Einnahmen meiner Eltern, deren Höhe ich irgendwann mal erfuhr, ließen mich alles verstehen. Vater verdiente 400 Mark in der LPG, ein paar Jahre später 700 Mark beim Kreisbetrieb für Landtechnik, kurz KfL und gönnte sich nach der Hochzeit elf Jahre keinen Urlaub.       Irgendwann wollte meine Mutter auch eigenes Geld verdienen und ging dann für sechs Stunden und 330 Mark in der Kartoffelhalle arbeiten. Das gab dann eine mittelschwere Revolte von Vater, der der Meinung war, dass das Geldverdienen reine Männersache sei.       Entgegen seiner ruhigen Art sprach er vor Wut einige Tage kein Wort mit Mutter, aber wie oftmals setzte dann irgendwann doch der Verstand wieder ein, und so fand er die erste Lohntüte von Mutter schon nicht mehr so verächtlich, zumal das Leben irgendwie auch immer teurer wurde. Der erste Schwarzweiß-Fernseher kostete 3000 Mark und Jahre später der erste Farbfernseher 5600 Mark, meine ersten vernünftigen Schuhe zur Jugendweihe 120 Mark, usw.       Es konnte also mit den steigenden Wünschen jede Mark gebraucht werden, zumal das Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben nicht kleiner wurde. Erstaunlich war nur, dass dieses Missverhältnis keinerlei Missmut erzeugte, das Leben ging einfach unaufgeregt weiter. Die Freude über die 500 Mark für das verkaufte Schwein einmal im Jahr und die 250 Mark für die verkauften acht Karnickel zweimal im Jahr war durch die erlernte Bescheidenheit riesengroß.

Es war ein aufregendes und gleichermaßen schauerliches Ereignis, auf das wir alle nicht nur aus reinen Gründen der Bevorratung von Lebensmitteln froher Erwartung waren, sondern weil es ein willkommener Anlass war, mit den näheren Verwandten zusammenzukommen. Der Ablauf war immer der gleiche, und auch wenn ich meistens im Weg stand, so versuchte ich so nah wie möglich am Geschehen dran zu sein.       Vater und Herr Lange, der Schlachter aus dem Ort, holten das Schwein aus dem Stall und führten es unter ohrenbetäubendem Quieken mit einem Strick um den Hals und mit einer Hand gesichert am Schwanz in die Waschküche im Keller des Mehrfamilienhauses.       Es war ein Wunder, dass sich das Schwein beim Abstieg der zehn Kellerstufen nicht gleich alle Beine brach und auch die Notwendigkeit erfüllt war, möglichst wenig Aufregung in das Schwein zu bringen.       Das Fleisch schmeckt nicht, wenn das Schwein zu stark unter Stress kommt, sagte Mutter.       Ich hatte zwar nicht den Eindruck, dass dieses Unterfangen gelang, aber womöglich ist die schweinische Aufregung nicht gleich der menschlichen, denn vom Gesichtspunkt des Geschmacks aus muss für das Schwein wohl doch alles in Ordnung gewesen sein.      Wenige Jahre zuvor hatte ich nicht sofort mit in die Waschküche gedurft, der Anblick des Tötens war nach Ansicht meiner Mutter nichts für Kinderaugen.       Da ich im Durchsetzen meiner Wünsche schon damals ausdauernd sein konnte, durfte ich nach ewigem Betteln bei meinem Vater nun erstmals mit dabei sein.       Ich hatte das Schlachten von Hühnern und Kaninchen schon oft gesehen und wusste in etwa, was mich erwartete. Da auch viele Eltern meiner Freunde Viehhaltung betrieben, war das für uns Dorfkinder auch keine große Sache.       Tiere waren eben keine Menschen, und so wurde das Verhältnis auch gelebt.       Es überraschte mich dann doch, was passierte. Als Herr Lange das Bolzenschussgerät an die Stirn des Schweins setzte, wurde mir doch eigenartig zumute. Mein Vater bemerkte das und sagte nur, dass das alles ganz normal sei und dass ich mir keine Sorgen machen sollte.       Mutter erzählte mir später, dass die Tötung wenige Jahre zuvor in der alten Siedlung in Neuendorf-Ausbau mit der Axt durchgeführt wurde. Onkel Bernhard zielte auch manchmal vorbei, und so ging es dann nicht so glatt wie heute. Mir war nicht klar, ob ich das jetzt beruhigend finden sollte. Die nötige Brutalität schien mir ein zu großer Gegensatz zu dem ansonsten sehr liebevollen Verhalten meiner Eltern gegenüber allen Menschen, die ich kannte.       Herr Lange drückte ab, und mit einem lauten, dumpfen Knall fiel das Schwein um. Die nun einsetzende Routine zeigte die Erfahrung von vielen Schlachtungen zuvor.       Es gab nicht allzu viel von dem Schwein, das nicht verwertet wurde. Das Muskelfleisch, die Innereien, das Blut und selbst die Därme. Ausgewaschen bildeten sie die natürliche Hülle für die verschiedensten Wurstsorten, die in großen, verzinkten Blechwannen von den Frauen durch Kneten und Stampfen des kurz zuvor in Ungetümen von handbetriebenen Fleischwölfen hergestellten Rohmaterials verarbeitet wurden.      Eine besondere Spezialität meiner Mutter waren die Blut-Klumpen, ein aus Blut, Mehl und Rosinen hergestellter Ball, der von meinem Vater mit der frisch eingepressten Leberwurst in Massen verspeist wurde.      Das Abendessen am Schlachttag war ein Festessen und so reichlich, dass die Menge jeder Vernunft widersprach.       Ein großes Ärgernis im Allgemeinen und bei solchen Anlässen im Speziellen war dann immer wieder das Gleiche, der Alkohol.       Ich versuchte, mich daran zu gewöhnen, sagte mir, Erwachsene seien nun mal so, aber mit steigendem Alter gelang dieser Selbstbetrug immer weniger, und ich empfand für diese Art des Trinkens eine immer größer werdende Abneigung. Es erschloss sich meinem zunächst kindlichen und später jugendlichen Verstand nicht, warum Schnapsflaschen am Ende einer Feier immer leer sein mussten, ganz gleich was es im übertragenden Sinne kostete.       Dies hatte nichts mit Genusstrinken zu tun, sondern schien nur den Sinn des Erreichens eines außeralltäglichen Zustands zu haben, der genau den normalen Alltag vergessen ließ. Zu meiner Verwunderung stellte ich im Laufe der Jahre fest, dass diese dem Alkohol zugewandte Verhaltensweise sehr normal bei vielen Familien und im Prinzip bei allen öffentlichen Veranstaltungen war.       Viele Jahre später sah ich eine Statistik aus dem Kreis Wismar, und unser Dorf befand sich in diesem Kreis, dass der Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol hier der größte in der DDR war. Das „Warum“ habe ich nie verstanden, aber in der Erinnerung an meine Erlebnisse aus Kindheit und Jugend, musste es einfach stimmen, denn einen noch größeren Alkoholkonsum konnte ich mir gar nicht vorstellen.

Unsere Zwei-Raum-Wohnung in dem Sechs-Familienhaus direkt an der Fernverkehrsstrasse 105 war für uns vier einfach zu klein. Ich wollte so wie der eine oder andere Klassenkamerad ein eigenes Zimmer haben, sah aber auf absehbare Zeit keine Möglichkeit, es zu bekommen.Mutter hatte eines Abends angedeutet, dass die örtliche Wohnungsbaugesellschaft zur Schaffung von zusätzlichem Wohnraum den riesigen Dachboden mit vier weiteren Zimmern ausbauen wollte. Jede der sechs Familien konnte sich somit um die vier Zimmer bewerben oder musste sich vielleicht sogar streiten.      Auch wenn ich wusste und letztlich ohne allzu großen Widerstand akzeptierte, dass, wenn überhaupt, meine ältere Schwester das erste Anrecht auf das Zimmer haben würde, sah ich doch in weiter Ferne mein Ziel näherkommen.       Es war also beschlossene Sache, den Antrag auf das zusätzliche Zimmer zu stellen.       Es spielte uns in die Hände, dass meine Tante und mein Onkel, die gleich neben uns auf der Etage wohnten, kein Interesse an dem Zimmer hatten, da alle drei Kinder nicht mehr zu Hause wohnten. Herr und Frau Pohl, ein alleinstehendes Ehepaar aus dem Erdgeschoss, legten auf zusätzlichen Wohnraum ebenfalls keinen Wert, und so war es nur eine Frage der Zeit, wann die Bauarbeiten losgingen und wir das Zimmer bekamen.       Nach zwei langen Jahren, die ich auf das Zimmer auf dem Dachboden warten musste, war es dann soweit. Meine Schwester begann ein Studium in Dresden, und so kam der Tag, an dem ich mit der Gestaltung beginnen konnte.       Mittlerweile war ich 14 Jahre alt, und Michael hatte das Zimmer seines Bruders auf dem Dachboden seines Wohnhauses schon übernommen. Mir war klar, dass die bis jetzt stattfindenden Treffen bei Michael schon aus Gründen der dezentralen Lage unseres Hauses nicht in mein neues Reich wechseln würden, aber ich hatte jetzt die Möglichkeit, Freunde einzuladen und auch Mädchen zu empfangen. Diese gedankliche Unabhängigkeit war wunderbar.       All die Jahre musste ich aus Platzgründen im Schlafzimmer meiner Eltern schlafen. Das war vor der Jugendweihe auch irgendwie akzeptabel, aber danach war es unmöglich.       Die Jugendweihe änderte zwar nicht alles, aber durch das ganze Gerede von „Ihr seid jetzt in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen“ bis „Nun seid ihr keine Kinder mehr“ kam es zu einer Art Bewusstseinsänderung, die natürlich ihren Preis hatte, nämlich genau wie von allen Erwachsenen bis zu diesem Termin als Legitimation für Verbote aller Art genutzt, endlich nicht mehr durch Verbote limitiert zu sein.       Leider erwies sich das mehr als Wunsch, als dass es sich in gelebter Realität widerspiegelte, aber einige Dinge unseres, meines Lebens, änderten sich doch.       Das Zimmer auf dem Dachboden war die materialisierte Basisstation für eine Art von Unabhängigkeit, wie ich sie später gedanklich und auch real kaum noch erlebte. Es ging also an die Einrichtung meines neuen Reiches.      Dieses Unterfangen erwies sich als schwierig. Die Einrichtungssituation meiner Eltern war bescheiden, und insofern konnte ich nur auf den Bestand meiner Schwester und auf Eigenkreationen zurückgreifen.       Die Basis bildete ein Schrankteil aus den siebziger Jahren, eine Anrichte unter einem Glasteil mit Schiebetüren, einmal der ganze Stolz meiner Eltern.       Im geschätzten Alter von vier Jahren hatte ich die erste Begegnung mit diesem Möbelstück. Auf der Couch hinter meinem Vater hockend hatte ich mit der Handtasche meiner Mutter die Lasso-Künste der Cowboys nachahmen wollen. Leider entglitt mir die Handtasche mit beachtlicher Geschwindigkeit, beim Lasso-Werfen ja nicht unüblich, in Richtung der Glasvitrine und zerschlug eine der reichverzierten Scheiben nebst den Trinkgläsern hinter der Scheibe.       Gutes Glas oder Porzellan wurde sichtbar in der Vitrine verstaut.       Kurz, mein Vater rettete mir gefühlt das Leben, denn meine Mutter war nach meinem Eindruck zu allem bereit.       An diese Situation musste ich beim Anblick meines dekorativsten Möbelstücks doch ab und zu mal denken.       Aus dem Bestand meiner Schwester übernahm ich eine passable Liege in, für die achtziger Jahre, ungewöhnlichem Blau. Gerade weil Grau beziehungsweise Grautöne die dominierenden Farben im Alltag waren, beschloss ich ohnehin, wenn irgendwie machbar, Farbe in mein neues Reich zu bringen.       Hier kam mir die Hilfe meiner Schwester zugute. Sie arbeitete in einer Polstermöbelfabrik in Wismar, die auch für das kapitalistische Ausland, gängiger Sprachgebrauch für eigentlich alles, was in Richtung Westen an die DDR grenzte, produzierte.      Wie wahrscheinlich in jedem Betrieb war das eine oder andere Produkt, in diesem Fall Reste von herrlich weichen und farbenfrohen Stoffen, das Objekt der Begierde, und ich nervte sie solange, bis sie mir ein paar Reste mitbrachte.       Zum Weihnachtsfest 1977 sollten diese Beziehungen zu Westwaren für mich ihren Höhepunkt erreichen, denn ich bekam einen Fernsehsessel mit gold-gelbem Samtbezug geschenkt.Ich hatte keine Ahnung, wie sie das gedreht hatte, aber er war offiziell gekauft, und das reichte. Die Dinge nahmen langsam Gestalt an, und es konnte kaum noch besser werden.       Allerdings durfte ich im Jahr darauf eine zweiwöchige bezahlte Ferienarbeit in der Polstermöbelfabrik ableisten und empfand das trotz Bezahlung eher als Preis für meinen Fernsehsessel. Es war meine zweite körperliche, im Akkord abzuarbeitende Ferienarbeit.       Ich sah mein fast neues Möbelstück mit anderen Augen. Es war ein Knochenjob, die Sessel und Couchen am Fließband zusammenzuschrauben, und es reifte die Erkenntnis weiter, dass rein körperliche Arbeit unter allen Umständen für mein späteres Arbeitsleben zu verhindern sei. Diese Erkenntnis schloss sich nahtlos an die Erfahrungen bei einer Ferienarbeit in der höhlenartigen Kartoffelhalle bei meiner Mutter und einer weiteren in der freien Natur zwei Jahre zuvor an. Eine Nachbargemeinde suchte zur Renaturierung von Wasserläufen auf Wiesen und Ackerland billige Arbeitskräfte.       Eigentlich gab es im Dorf nur billige Arbeitskräfte, aber Schüler, die Ferienarbeit suchten, waren besonders billig.       Selbst eine Ferienarbeit war oftmals nicht ohne Beziehungen zu bekommen, und mit diesem Hintergrund an einem Überangebot an jungen Arbeitskräften waren diese eben schlecht bezahlt. Im Fach Staatsbürgerkunde wurde uns das unmenschliche Prinzip der Ausbeutung von Arbeitskräften immer wieder vor Augen geführt. Erstaunlich war die Erkenntnis, dass das im Sozialismus genauso funktionierte.       Hier war eine dringende Diskussion mit Frau Heinemann, unserer Staatskundelehrerin, notwendig.       Ich fuhr also jeden Morgen sechs Kilometer hin und mit einer unendlichen Sehnsucht nach dem Abend die gleichen sechs Kilometer zurück. Die Arbeit war nicht nur körperlich für einen 14-Jährigen aus meiner Sicht viel zu schwer, sondern deutlich erschwerend kam hinzu, dass ein zwei Jahre älterer Schüler unheimlichen Spaß am Drangsalieren seiner Mitschüler empfand.      Ich schien hier besonders gefragt zu sein, und so entwickelte sich dieser Arbeitseinsatz zur Tortur. Eine letzte Ferienarbeit, die ich schon mit einer schmerzvollen Vorahnung annahm, sollte mich endgültig von den vielen ehrenwerten Berufswünschen jeder Art von körperlichem Handwerk entfernen.

8Wohnhaus

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Mein Vater hatte ein paar Jahre zuvor seinen Arbeitsplatz gewechselt, von der LPG zum KFL, einem Reparaturbetrieb für Landmaschinentechnik. In diesem Fall insbesondere für die Reparatur am Fließband von Baggern des Typs T174. Mein Onkel Karl war Meister in diesem Betrieb, und somit hatte ich Beziehungen.       Ich besuchte meinen Vater regelmäßig bei der Arbeit und kannte den ganzen Betrieb. Die Ausstattung, der Geruch, das ganze Drumherum erinnerten mich sehr an die bewunderten Besuche bei meinem Vater in der LPG am Anfang meiner Schulzeit.       Es war spannend, die ganze Taktstraße vom Zerlegen des Baggers bis zum finalen Zusammenbau zu beobachten. Hinzu kam, dass im Grunde nur Bekannte aus dem Dorf in diesem Betrieb arbeiteten. Die Arbeit und das Wohnen waren so dicht beieinander, dass die meisten zum Mittagessen nach Hause gingen.      Allein vier Männer aus dem Sechsfamilienhaus, in dem ich wohnte, arbeiteten mit meinem Vater zusammen. Auch wenn es bequem war, so war gefüllt auch nie Feierabend, da die gleichen Leute trotzdem immer noch da waren.      Das Arbeitsangebot kam so unverhofft wie die Zusage, die ich machte.