Elchscheiße - Lars Simon - E-Book + Hörbuch

Elchscheiße E-Book

Lars Simon

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Beschreibung

Gödseltorp ist überall! »Was machst du denn hier?«, fragte Tanja. »Ich habe gekündigt, Häschen.« Es gab Riesenkrach. Ist ja auch nicht leicht für eine Frau, wenn sie ihrem Ur-Mann wiederbegegnet. Ich hingegen wirkte auf mich ruhig und selbstbewusst. Echte Männer sind so.   Freundin weg, Job weg, Therapeut weg – doch Torsten Brettschneider (35) lässt sich nicht unterkriegen. Er kauft sich einen gebrauchten VW-Bus, tauft ihn Lasse und fährt mit ihm gen Schweden, wo er einen Bauernhof geerbt hat. Die Postkartenidylle lässt jedoch auf sich warten … Älgskit! Was für eine Elchscheiße! Ob Torsten aus der Schwedennummer je wieder rauskommt?

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Seitenzahl: 294

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Lars Simon

Elchscheiße

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Am Ende des Buches findet sich ein kleines Schwedisch-Kompendium.

Originalausgabe 2014

© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-42208-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21508-4

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, Orten,Handlungen wäre rein zufällig undvom Autor nicht beabsichtigt.

älg Zool. [ɛlj] (-en; -ar) Elchm; Substantiv, maskulin – größtes Tier unter den Hirschen, das sich durch einen massigen Körper und ein schaufelförmiges Geweih auszeichnet; histor. Elen, Elentier.

skit vulg. [ʃi:t] (-en; -ar) Scheißef; Substantiv, feminin – 1. Kot; 2. Ausdruck großen Ärgers.

Älgskit! vulg. [ɛljʃi:t!] (-en; -ar) Elchscheiße! f; Substantiv, feminin – 1. lauter Ausruf beim unerwarteten Auffinden eines gigantischen Haufens Losung des größten zu den Hirschen gehörenden Tieres mit massigem Körper und schaufelförmigem Geweih in gebrauchten Gummistiefeln; 2. größtmögliches Zusammenspiel von schlechten, ärgerlichen Unerfreulichkeiten; 3. Anm. Beides kommt meist Hand in Hand daher.

EINS

Ich nippte an meinem Cappuccino und dachte nach.

Kürzlich hatte ich eine inspirierende Fernsehdoku gesehen, die von einem Ex-Banker handelte, der sich mit seiner gigantischen Abfindung eine ganze Südseeinsel gekauft hatte und nun dort in einer Hütte aus Palmwedeln hauste und nichts anderes tat, als das Leben einer bestimmten Vogelart zu dokumentieren, die nur auf seinem Eiland vorkam und die wahrscheinlich außer ihm und dem Fernsehsender auch niemanden sonst interessierte. Aber egal. Er hatte eine Vision und ging ihr nach. Das imponierte mir.

Also hatte ich letzte Nacht etwas beschlossen.

»Du, Tanja, ich schreibe ein Buch«, platzte es aus mir heraus.

»Wie bitte? Was?«, kam es zurück. Dabei sah sie mich an, als hätte ich ihr von meiner in Bälde anstehenden Geschlechtsumwandlung erzählt.

»Warum denn nicht? Immerhin habe ich ein Thema mit einer riesigen Zielgruppe.«

»Was denn für eins?«

»Es wird ein Buch für Männer in der Midlife-Crisis, allerdings nicht als Ratgeber, sondern verpackt in einer witzigen Erzählung. Ein Bildungsroman sozusagen.«

Ich nickte bekräftigend.

Tanja stand auf und stellte ihre Tasse auf die Spüle. »Meinst du nicht, es wäre für dich sinnvoller, so ein Buch zu lesen, anstatt es zu schreiben?«

Respekt ist ganz, ganz wichtig in einer Beziehung.

Aber wahrscheinlich war der vogelliebhabende Ex-Banker mit seiner Vision auch nicht überall sofort auf Begeisterung gestoßen. Der hatte nämlich mit entschlossenem Blick einen beeindruckenden Schlusssatz in die Kamera gesagt, nachdem diese einen letzten Schwenk über sein Inselparadies vollführt hatte, wo im dichten Urwaldgrün bunt gefiederte Vögel herumflatterten. »Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!«

Diesen Spruch hatte er zwar bestimmt aus einem Film geklaut, aber er klang überzeugend, und irgendwie passte er auch.

»Torsten! Mensch, du kommst zu spät!«, fuhr Tanja plötzlich erschrocken auf und beendete die Diskussion über meine literarischen Pläne. »Hast du mal auf die Uhr geschaut?«

Nein, hatte ich nicht. Was sollte die Frage? Ich war quasi Schriftsteller! Hatte Tanja mir überhaupt zugehört? Mein Blick begegnete jetzt trotzdem der Küchenuhr. »Hoppla! Schon Viertel vor acht.«

Ich zog schnell den Mantel über, schnappte mir meine Aktentasche, eilte durch den Flur und öffnete die Wohnungstür. Der Schriftsteller musste warten. »Bis später, Häschen!«, rief ich zurück. Tanja hatte in der Küche damit begonnen, die Spülmaschine einzuräumen.

»Du hast nicht vergessen, dass Renate und Ferdinand heute Abend um halb acht zum Essen kommen, oder?«, kam es aus der Küche.

»Nein, weiß ich!«, antwortete ich lautstark. Im Treppenhaus hallte es. »Soll ich noch etwas besorgen?«

»Ja, bring doch bitte zwei frische Baguettes mit, wenn du von der Arbeit kommst«, gab sie mir zwischen Besteckklirren und Tassengeklapper mit auf den Weg.

Die 08:15-Uhr-Bahn war brechend voll. Von der um 08:02 Uhr hatte ich nur noch die Rücklichter im Tunnel verschwinden sehen. Sie war höhnisch lachend vor mir geflohen. Doch jetzt ruckelte ich endlich zusammen mit den anderen Fahrgästen von Ginnheim in die Frankfurter City. Ferdinand und Renate. Ich mochte die beiden eigentlich recht gerne, ihn, obwohl er übertrieben frankophil war, und sie, seine Lebensgefährtin und zugleich beste Freundin von Tanja, obwohl sie übertrieben esoterisch war. Noch mehr hätte ich mir allerdings einen ruhigen Abend in Zweisamkeit mit meiner Freundin gewünscht. Der war überfällig, denn unser Gespräch am Frühstückstisch war leider repräsentativ für den aktuellen Stand unserer Beziehung. Es hätte durchaus besser laufen können. Mit weniger Sand im Getriebe.

Doch dafür hatte ich ja Ferdinand. Der war nämlich nicht nur frankophil, sondern auch Gesprächstherapeut und promovierter Psychologe. Seit gut drei Monaten ging ich mehr oder weniger regelmäßig zu ihm. Heimlich. Niemand wusste davon, vor allem Tanja nicht. Alles hatte nach einem ziemlich fiesen Streit mit ihr kurz nach Weihnachten begonnen, den Ferdinand am Rande mitbekommen hatte. Ganz Gentleman und Freund hatte er geschwiegen, mich aber am nächsten Tag angerufen und mir den Vorschlag gemacht, mich mal bei ihm auszusprechen. Er habe das Gefühl, ich unterdrücke zu viel von mir, sei deshalb unzufrieden und könne daher mit Stresssituationen in der Beziehung dementsprechend unzureichend umgehen. Ich müsse wieder mehr der Ur-Mann werden, der ich einmal gewesen sei. Ferdinand war Anhänger dieser Theorie mit leicht machistischen Tendenzen. Höhle, Faustrecht, Weibchen, Jagd, Instinkte, Beute und Feuer machen, eben Ur-Mann sein. Etwas, das nach seinem Dafürhalten in der heutigen Gesellschaft zu sehr in Vergessenheit geraten sei, aber hundertprozentig noch genauso gut funktioniere wie vor knapp zwanzigtausend Jahren. »Steinaxt statt iPhone«, sagte er abschließend scherzhaft und lachte dabei wie ein provenzalischer Landadliger. So munterte er mich zwar auf, und das war total nett von ihm, dennoch haderte ich damit, seine Dienste wirklich in Anspruch zu nehmen. Und war seine Frau-Mann-Beziehungstheorie nicht ein klein wenig zu anachronistisch?

Am Ende hatte ich trotzdem zugesagt. Was hatte ich zu verlieren?

Drei Haltestellen später stieg ich aus und die Treppe vom U-Bahnhof nach oben zurück ins Tageslicht. Dann schob ich mich noch einen halben Kilometer durch Schwärme von Menschen, an hupenden Autos vorbei, bis ich an die Hanauer Landstraße kam, wo sich die Büros von Wieland IT-Security befanden. Ein altes Loftgebäude aus roten Ziegeln mit meterhohen stahlgrauen Fenstern und geweißten Gewölbedecken. Meine Schritte hallten durch das lichtdurchflutete, klimatisierte Treppenhaus, dann durch den Flur, bis ich mein Büro erreichte. Ich legte die Aktentasche auf den kleinen Besprechungstisch, zog mein Sakko aus und hängte es an die Garderobe, lief in die Teeküche, zapfte mir eine Latte macchiato und setzte mich an meinen Schreibtisch.

»Guten Morgen«, piepste es.

Ich sah auf. Elisa stand in der Tür. Sie war Vertriebsmitarbeiterin in meinem Team, Anfang dreißig, hatte die Stimme eines Vögelchens, lispelte ganz leicht und trug ihre Kostüme immer eine Nummer zu eng und zu kurz. Sie war trotzdem ledig.

»Eine Frau mit einem seltsamen Akzent hat angerufen. Sie wollte nicht verraten, worum es geht, und sich gleich noch mal melden. Wahrscheinlich wieder nur eine Telefonverkäuferin.«

»Alles klar, danke«, sagte ich und öffnete meine E-Mails, kam aber nicht dazu, sie zu lesen, denn da klingelte es bereits. Ich nahm ab.

»Brettschneider.«

»Herr Brettschneider? Torsten Brettschneider?«, fragte es leise am anderen Ende.

Ein Blick auf das Display zeigte eine ellenlange Nummer, die mit null-null-vier-sechs begann. Wo war das denn? Ein Callcenter in Tadschikistan? Die Länderkennung kam mir trotzdem bekannt vor. Es musste die Telefonverkäuferin sein, vor der mich Elisa eben noch gewarnt hatte. Sie hatte in der Tat einen seltsamen Akzent, aber auch eine ziemlich süße Stimme.

Ich wiegelte ab, bevor sie überhaupt mit ihrem eingeübten Verkaufsgespräch beginnen konnte: »Nichts für ungut, aber ich brauche weder Unterhosen noch todsichere Anlagen auf den Caymans.«

Pause.

»Ich will Ihnen nichts verkaufen, Herr Brettschneider. Mein Name ist Åsa Norrland. Ich bin Justiziarin für Auslandsangelegenheiten bei der schwedischen Anwaltskanzlei Svensson in Borlänge.«

»Schwedische Anwaltskanzlei?«

»Ja, Anwaltskanzlei. Wir vertreiben normalerweise weder Herrenunterbekleidung noch Geldanlagen.«

Ich schluckte.

»Tut mir leid. Bei uns rufen so viele Verkäufer an, dass ich dachte …«

»Kennen Sie eine gewisse Lillemor Eriksson?«, überging sie die Entschuldigung meiner Peinlichkeit.

»Wen?«

»Sie war Ihre Großtante mütterlicherseits.«

»Meine was?«

»Die Schwester der Mutter Ihrer Mutter.«

»Danke, ich weiß, was eine Großtante ist, aber ich wusste bis eben nicht, dass ich eine hatte.«

»Hatten Sie, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass sie vor zwei Wochen im Alter von einundachtzig Jahren verstorben ist.«

Wir begingen gemeinsam eine Pause. Sie bestimmt, weil sie pietätvoll das Abebben meines Schmerzes über den unerwarteten Verlust einer Angehörigen zulassen wollte, und ich, weil ich mir das Hirn zermarterte, wer denn zur Hölle Tante Lillemor gewesen war.

»Das tut mir natürlich leid, besonders für Tante Lillemor selbst«, nahm ich das Gespräch unbeholfen wieder auf und versuchte gleichzeitig, meine Unwissenheit elegant zu umschiffen, »aber weshalb erzählen Sie mir das?«

Frau Norrland schien sich durch einen Stapel Unterlagen zu wühlen; am anderen Ende der Leitung raschelte es eine Zeit lang.

Abrupt hörte das Geräusch auf.

»Hier habe ich den Aktenvermerk. Ich darf Ihnen weiterhin mitteilen, dass Sie der letzte lebende Verwandte in direkter Nachkommenschaft von Frau Eriksson und damit ihr Alleinerbe sind.«

»Alleinerbe?«

»Ja.«

»Was heißt das in Zahlen?«, fragte ich vorsichtig, um nicht gierig zu erscheinen.

»Sie hat 17 356 Kronen auf einem Sparbuch.«

»Wie viel ist das in etwa in Euro?« Jetzt wurde es interessant, denn diese Summe klang eher nach gebrauchtem Porsche Boxster als nach Campingurlaub im Sauerland. Ich sah mich schon mit Tanja die Promenade Riminis in meinem silbernen Flitzer entlangfahren und mich dabei an den neidischen Blicken der Passanten und dem Winken braun gebrannter Strandschönheiten in knappen Bikinis ergötzen.

Åsa tippte etwas in ihren Computer.

»Genau 1938 Euro und siebenundzwanzig Cent, Kurs heute«, gab sie zurück.

Es soll ja schöne Ecken im Sauerland geben.

»Na ja, besser als nichts«, sagte ich.

»Das ist noch nicht alles.«

Es raschelte wieder.

»Ja?«, fragte ich ungeduldig und lauschte gespannt in den Hörer. Was hatte mir die anscheinend wenig wohlhabende Großtante Lillemor denn noch vererbt? Einen halben Elch in der Tiefkühltruhe? Ein paar Klafter Brennholz? Eine alte Axt? Ihre Gummistiefel?

Endlich sprach Åsa Norrland weiter: »Sie hat Ihnen außerdem den Storegården in Gödseltorp vermacht.«

»Den was? Storegården? Was ist das? Ein Schrebergarten?«

»Nein, Herr Brettschneider. Das ist ein Gehöft in Mittelschweden, in der Nähe des Örtchens Gödseltorp in Dalarna am Gödselsjö gelegen, mit knapp vierzig Hektar Nutzwald und einigen Nebengebäuden. Der Verkehrswert liegt etwa bei zweihundertfünfzigtausend Euro.«

ZWEI

»Weißt du, was passiert ist?«, rief ich, stolperte in den Flur und ließ die Aktentasche neben der Tür fallen.

Tanja sah mich verständnislos an und dann auf meine leeren Hände. »Ja. Du hast die Baguettes vergessen.«

Auf dem Weg zum Bäcker machte ich mir meine Gedanken. Mein Job, mein neuer Traum von einem eigenen Buch und ein Bauernhof in Schweden. Ich konnte es noch immer nicht fassen. Tante Lillemor. Dunkel zogen verblasste Erinnerungen an diesen Namen auf, aber ich konnte ihn einfach nicht einordnen. Meine Mutter war seit über fünfundzwanzig Jahren tot. Bestimmt hatte sie von ihrer Tante das eine oder andere Mal gesprochen, vielleicht hatte ich sie sogar als Kind einmal persönlich kennengelernt, damals in Schweden, aber es war schlicht und ergreifend zu lange her. Mein Vater hatte Lillemor nie erwähnt. Ohnehin war er seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr oben gewesen und hatte kaum ein Wort über die Heimat seiner Frau verloren, wo er immerhin zusammen mit ihr über ein Jahrzehnt gelebt hatte. Vierzig Hektar Nutzwald. Ob die Einnahmen aus den Holzverkäufen genügten, um sich als Autor eines Männerbildungsromans über Wasser zu halten? Was brauchte man da zum Leben?

»Worzellstang oder Franzosebrot?«, fragte mich die Bäckereifachverkäuferin in breitem Hessisch.

»Franzosenbrot. Zwei. Danke.«

Die beiden Baguettes unterm Arm machte ich mich auf nach Hause. Unterwegs lief mir ein indischer Blumenverkäufer über den Weg, der gerade aus einer Gaststätte kam.

»Rose?«, fragte er und bleckte die Zähne.

Ich erwarb ein langstieliges tiefrotes Exemplar für Tanja. Eine ältere Frau, zwei Lidl-Tüten in der Hand, lächelte mich verschmitzt an.

»Ist die Blume für mich? Danke schön. Wie komme ich zu dieser Ehre?«

Tanja drehte sich um, zog eine schmale Vase aus einem der unteren Küchenschränke, füllte sie mit Wasser, schrägte den Rosenstiel an und platzierte die Blume auf der Fensterbank.

»Na ja«, antwortete ich verlegen, »es ist schon etwas her seit dem letzten Blumenstrauß, Häschen, und außerdem muss ich dir etwas sagen …«

»Von mir aus, aber nur, wenn es schnell geht und wirklich wichtig ist. Ferdinand und Renate kommen in einer halben Stunde, und meistens kommen sie mehr als pünktlich, wie du weißt. Kannst du dich bitte rasch umziehen und das Baguette aufschneiden? Der Tisch ist noch nicht gedeckt, und die Himbeeressig-Vinaigrette für das Vorgericht müsste auch noch gemacht werden.«

Ich starrte ihr auf den Rücken. Sie stand vor der Spüle, ordnete Rucolablätter und Granatapfelkerne halbkreisförmig auf den Vorspeisentellern an und drapierte ein Häufchen saftig glänzender Cocktailtomaten in die Mitte des Arrangements. Wie hingebungsvoll sie sein konnte. Wie erotisch sie das Gemüse liebkoste.

»Ach, ich erzähl’s dir später in Ruhe.«

Ich zog mich um, bereitete eine fruchtige Soße für den Salat zu und schnitt das Brot. Noch während ich die letzten Scheiben des Baguettes vom Laib abtrennte, klingelte es.

Zehn vor halb acht.

Tanja wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch sauber und eilte zur Tür.

Ferdinand: »Tanja. Mensch toll siehst du aus. Neue Frisur?«

Renate: »Hallo, Tanja!« Bussi-Bussi.

»Moin Torsten. Hat sie dich zur Hausarbeit verdonnert?«, lachte Ferdinand, als er die Küche betrat und sportiv auf mich zuschnellte, um mich mit einem festen Händedruck zu begrüßen.

»Nee, nix verdonnert. Soßen sind fast so eine Art Domäne von mir. Oh, du hast ja Wein mitgebracht«, sagte ich und deutete auf den Leinenbeutel, den Ferdinand in der anderen Hand trug.

»Ja. Das ist mein kleines Gastgeschenk. Wir können es ja gleich mal aufmachen. Ich weiß ja, dass du keinen Bordeaux zu Hause hast, du verstehst?«

Er zwinkerte.

Ich verstand.

»Bist doch nicht böse deswegen, oder?«

»Quatsch«, entgegnete ich. »Solange ihr nicht auch noch euer Essen mitbringt.«

»Die Vinaigrette ist große Klasse, Torsten. Himbeeressig, stimmt’s?«

»Was du alles herausschmeckst, ist wirklich erstaunlich. Eine ganz sensible Zunge hast du, Ferdinand«, sagte Tanja.

Ferdinand lachte geschmeichelt.

»Danke für die Blumen!«, sagte ich und hob das Glas. »Prost!«

Wir stießen an und nippten am Wein.

»Schmeckt er dir?«, fragte Ferdinand und fügte an: »Ich liebe ihn. Premier Cru und nur siebenundzwanzig Euro die Flasche. Für den Preis nicht zu toppen, was?«

»Hm, der ist echt ganz okay. Fast so wie mein Rioja«, entgegnete ich scherzhaft und fing mir von Tanja einen strafenden Blick ein.

Als Hauptgang hatte Tanja toskanischen Krustenbraten zubereitet, den sie mit Steinpilzrisotto servierte. Es schmeckte fabelhaft.

»Bekomme ich noch etwas Bordeaux?«, fragte ich Ferdinand und hielt ihm auffordernd mein Glas hin.

»Meinst du nicht, du solltest ein bisschen weniger trinken, Torsten?«

Tanja sah mich an. Langsam, ganz langsam zog ein Gewitter in ihrem Gesicht herauf. Aber es war noch weit entfernt. Höchstens ein Wetterleuchten.

»Weniger? Wieso? Ich habe schließlich was zu feiern, Leute!«

Alle blickten mich fragend an. Ich hatte beschlossen, die Bombe platzen zu lassen.

»Was denn?«, wollte Tanja wissen.

»Beförderung?«, fragte Renate und tupfte sich mit der Serviette den Ölfilm von den Lippen.

»Schwanger?«, erkundigte sich Ferdinand und lachte über seinen eigenen Scherz.

»Alles falsch«, sagte ich und machte eine dramaturgische Pause. »Ich habe geerbt!«

Es war einige Sekunden ganz still.

»Was hast du?« In Tanjas Gesicht stand Ungläubigkeit. Sie rückte etwas näher.

»Geerbt!«, wiederholte ich lauter.

»Oh Gott, dein Vater?«, fragte Ferdinand.

»Nein, Tante Lillemor!«

Tanja nahm mir das Weinglas weg und stellte es auf den Tisch.

»Ist das ein Scherz?«

»Nein, ist es nicht«, erklärte ich. »Tante Lillemor ist wirklich tot, und mir hat sie ihren Bauernhof in Schweden vermacht. Mit Wald.«

»Wer ist Tante Lillemor?«, wollte Tanja wissen.

»Sie war die Tante meiner Mutter, und ich bin der Alleinerbe.«

»Na, dann kann man ja nur gratulieren!« Ferdinand hob sein Glas.

»Das ist ein kosmisches Zeichen«, kommentierte Renate und ließ den Blick verklärt in Richtung Zimmerdecke schweifen.

»Fragt sich nur, wofür«, entgegnete Tanja.

DREI

»Dir hat sie den Hof vererbt?«

Mein Vater war fassungslos. Fast bellte er diese Worte in den Hörer.

»Was ist daran so ungewöhnlich? Ich meine, ich bin immerhin ihr letzter lebender Verwandter gewesen. Und bitte schrei nicht so. Mein Bordeauxkopf pocht …«

»Bild dir bloß nichts darauf ein«, fuhr mein Vater in unverminderter Lautstärke fort. »Außerdem, was willst du denn schon mit vierzig Hektar Wald und einem Bauernhof?«

Ich liebte es, wenn mein Vater das »Du« so betonte, als sei ich zu blöd für alles. Er war Diplom-Ingenieur und ich nicht. Manche Dinge ändern sich eben nie.

»Was man halt mit vierzig Hektar Wald und einem Bauernhof so macht. Spazieren gehen, Bäume fällen, verpachten oder dort leben oder alles zusammen, und wenn es nur für eine Weile ist.«

»Leben? In Gödseltorp, diesem Drecksnest? Da willst du nicht tot überm Zaun hängen!«

»Die Stockholmer Schären wären mir auch lieber, Papa, aber die Immobilie ist nun mal in Gödseltorp. Was hast du denn gegen den Ort?«

»Ein Drecksnest bewohnt von Drecksäcken«, knurrte mein Vater.

»Mama kam doch auch da her.«

»Na und? Wir sind dann nach Deutschland übersiedelt, wenn du dich daran noch erinnerst. Aus gutem Grund.«

»Genau das ist mein Problem, Papa. Ich erinnere mich an nicht mehr viel. Ich war drei Jahre alt damals.«

»Vier.«

»Gut, dann eben vier. Ist ja auch egal. Jedenfalls werde ich das Erbe antreten und da mal hochfahren.«

»Und dein Job?«

»Ich nehme meinen Jahresurlaub.«

»Aha. Und Tanja? Wolltet ihr dieses Jahr nicht auf die Kanaren?«

»Wollten wir. Geht aber nicht, denn wir fahren jetzt ja nach Schweden.«

»Das wird ihr nicht gefallen.«

»Stimmt. Aber wenn es danach ginge, bräuchte ich gar nichts mehr zu machen. Ihr missfällt nämlich in letzter Zeit so ziemlich alles, was ich tue.«

»So schlimm?«

»Weiß nicht. Lassen wir das. Ich komme die Tage abends mal rum und leihe mir deine alten Schweden-Karten – und vielleicht kannst du mir ein wenig über Gödseltorp erzählen?«

»Ja meinetwegen. Drecksnest.«

»Ich hab dich auch gern. Bis dann.«

VIER

Nach dem Telefonat mit meinem Vater fuhr ich zu Ferdinand in die Praxis. Erster Stock in einer Altbauvilla in Sachsenhausen, einem der südlichsten Stadtteile von Frankfurt und zugleich einem der teuersten. Ich hatte mal wieder einen Termin, auch wenn ich mittlerweile meine Zweifel hatte, ob Ferdinand tatsächlich die beste Option gewesen war, denn die Situation zwischen Tanja und mir hatte sich nicht wirklich verbessert, seitdem ich zu ihm auf die Couch ging. Im Gegenteil. Die Gräben wurden tiefer, schien es mir. Doch Ferdinand hatte nur den Kopf geschüttelt und milde gelächelt, als ich das und meine diesbezüglichen Bedenken vor einigen Wochen zur Sprache gebracht hatte. »Weißt du, Torsten«, hatte er erklärt, »in der Psychologie ist es bisweilen wie in der Homöopathie: Am Anfang können sich die Symptome noch verstärken, bevor eine Besserung eintritt. Tanja bekommt langsam den Ur-Mann zurück, den sie mal geliebt hat. Selbstbewusst, das Herz am rechten Fleck und voller Lebensmut und Entscheidungskraft, den Typen, der das Feuer in der Höhle am Brennen hält und die wilden Tiere erlegt, verstehst du? Sie hat nur vergessen, wie das war, und muss sich daran erst wieder gewöhnen, okay?«

Ich drückte auf den patinierten Messingknopf neben der Tür. Weit entfernt erklang das Rasseln einer altmodischen Klingel.

Ferdinand hatte kein Schild montieren lassen, das auf seine Tätigkeit als Therapeut hinwies. Aus Gründen der Diskretion, wie er mir erklärt hatte, als ich ihn einmal darauf ansprach.

Lauter werdende Ledersohlen auf Eiche natur. Ein teurer Klang. Die Tür öffnete sich, und Ferdinand streckte mir lächelnd die Hand entgegen.

Er nahm mir meine Jacke ab, und ich folgte ihm in sein Besprechungszimmer. Warmes Frühlingslicht fiel durch die hohen Scheiben.

»Ein Schlückchen Mineralwasser?«

»Ja, danke.«

Ferdinand schenkte ein. Mit dem Rücken zu mir fragte er: »Und? Hast du dir das mit dem schwedischen Bauernhof noch mal durch den Kopf gehen lassen, oder steht deine Entscheidung fest?«

Er drehte sich um und hielt mir das Glas hin. Ich nahm es, trank einen Schluck, stellte es auf den Sechzigerjahre-Retro-Tisch vor mir und setzte mich auf die schwarze Lederliege.

»Ja, ich will das eigentlich nach wie vor machen.«

»Eigentlich?« Ferdinands Stimme hatte einen väterlichen Ton angenommen. Er setzte sich auf den Sechzigerjahre-Retro-Freischwinger mir gegenüber.

»Tanja wird es nicht gerade lieben«, wandte ich zögerlich ein.

»Nein, wird sie nicht. Anfangs. Aber du wirst sehen, dass sie deine Entscheidung respektieren lernt und dadurch auch wieder den angemessenen Respekt für dich als Ur-Mann empfinden wird. Deine Entscheidung erfordert Mut, aber den scheinst du zu haben. Das ist gut. Ur-Männer haben Mut.«

Ich trank wieder. Ich hatte Nachdurst. Der Bordeaux.

»Ich muss doch irgendwann mal anfangen, meinen Weg zu gehen. Ich meine, mein Buch, mein Traum, mal einen Schnitt im Leben, verstehst du? Mal von vorne anfangen. Tanja und ich, na, du weißt ja. Da läuft nicht mehr viel, auch im Bett nicht. Sie rennt dreimal die Woche vormittags in ihr Fitnessstudio, geht halbtags als Beautyberaterin in diesem Kosmetikladen arbeiten, kommt nach Hause, kocht was und sagt nicht viel. Das war’s.«

»Eine neue Höhle würde euch beiden guttun. Du hast es verstanden, Torsten, du musst es nur noch machen. Frauen wollen einen Ur-Mann, der den Speer in die Hand nimmt und Entscheidungen trifft. Lieber eine falsche als keine.«

»Du glaubst, es wäre ein Fehler, das mit Schweden?«

»Nein, Unsinn«, wiegelte Ferdinand ab und hob beschwichtigend die Hände. »Ich sage nur, selbst wenn es einer wäre, ist es so immer noch besser, als die Sache auszusitzen. Sonst kommt ihr nicht vom Fleck und du auch nicht. Was ist mit deinem Job?«

»Ach ja, es geht. Ich meine, es läuft finanziell nicht übel, aber irgendwie befriedigt er mich nicht mehr so. Frag mal eine Kuh, wie aufregend sie Gras findet, wenn die Wiese überall fettgrün bewachsen ist.«

Ferdinand schmunzelte. »Was machst du, wenn es dir in Schweden so gut gefällt, dass du bleiben willst?«

»Ich habe noch achtundzwanzig Tage bezahlten Urlaub dieses Jahr. Das sind mehr als fünf Wochen. Das sollte doch genügen, um das herauszufinden, oder?«

»Das habe ich nicht gefragt.« Ferdinand hob die Augenbrauen und sah mich durchdringend an.

»Keine Ahnung. Am liebsten würde ich kündigen.«

Bums! Das war so plötzlich aus mir herausgerutscht, dass ich es selbst kaum glauben konnte.

»Kündigen?«, hakte Ferdinand nach.

»Ja und nein, ich meine, es ist ein guter, sicherer Job, und die Raten für die Wohnung …«

»Stopp!«, rief Ferdinand. »Das hatten wir schon oft besprochen. Hör auf dein Bauchgefühl, lass dich von deinen Instinkten leiten, okay? Also, wie ist dein Traum? Raus damit! Ohne Grenzen.«

So hatte ich das Ganze noch überhaupt nicht gesehen. Ich begann zu grübeln. Ferdinand ließ mich dabei nicht aus den Augen.

»Gut«, sagte ich schließlich. »Mein Traum? Ohne Grenzen? Hm, ich habe einen Hof, der zweihundertfünfzigtausend Euro wert ist, ich habe ein wenig auf die Seite gelegt, und davon kann ich die Raten für die Wohnung locker ein Jahr zahlen, und wenn alle Stricke reißen, dann verkloppe ich den Hof da oben, nehme das Geld und komme zurück. So viel Startkapital haben die wenigsten. Ich könnte in Schweden meinen Traum verwirklichen und endlich mein Buch schreiben.«

Ferdinand schenkte mir Wasser nach. Ich trank und grübelte weiter. Die Idee gefiel mir immer besser. Dann kam mir Tanja in den Sinn.

»Das macht Tanja nie und nimmer mit.«

Ferdinand schüttelte den Kopf.

»Das muss sie anfangs doch auch gar nicht. Fahr einen Monat da hoch, alleine. Das wird ihr imponieren, und wenn du das da oben hinbekommst, dann holst du sie nach. Es muss ja nicht für immer sein.«

»Ich könnte ihr sagen, dass das Abenteuer mich stark machen und uns wieder näher zusammenbringen wird …«

»Genau!«, freute sich Ferdinand. »So gibst du ihr auch die Chance, dass sie sich wieder in ihre Rolle als Ur-Frau einfinden kann.«

»Das klingt nach einem echt guten Plan.«

»Aber ja, Torsten. Das Leben ist ein einmaliges Experiment. Wir kommen euch auch öfter besuchen da oben. Mann, Junge, Ur-Mann, was für eine Story! Ich beneide dich darum und wünschte, ich könnte so eine Riesensache machen.«

»Könntest du doch.«

»Ich bin mit meinem Leben und meiner Beziehung aber ganz zufrieden«, konterte er.

»Du hast vollkommen recht«, gestand ich nach kurzem Nachdenken ein. »Ein Ur-Mann muss tun, was ein Ur-Mann tun muss!«

Ferdinand sprang auf und klopfte mir über den Tisch hinweg auf die Schulter. »Sehr gut, Torsten! Liebe wird aus Mut und Entschlossenheit gemacht. Es wird zuerst Streit geben, klar, aber das ist nur ihre Schutzhaltung als Weibchen, verstehst du? Sie wird dich für deine Konsequenz letztendlich anhimmeln, glaube mir. Was meinst du, wie viele frustrierte Ehefrauen zu mir kommen und sich genau das von ihren Männern wünschen, aber nicht bekommen? Du wärst eine leuchtende Ausnahme. Quasi der Archetyp des Ur-Manns. Ein Held. Durch und durch begehrenswert.«

FÜNF

Es war Montagmorgen, halb zehn.

Ich atmete tief durch. Freiheit! Ein erhebendes Gefühl. Im Café an der Ecke trank ich einen Espresso. Dann schlenderte ich beschwingt nach Hause.

Tanja war noch da. Der Schönheitssalon, in dem sie montags bis freitags Typberatung machte, öffnete erst um zehn.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie erstaunt.

»Ich habe gekündigt, Häschen.«

Es war genau, wie Ferdinand es vorhergesagt hatte. Es gab einen Riesenkrach. Tanja wechselte mehrfach übergangslos vom Zetern ins Heulen, vom Heulen ins starrende Schweigen und wieder zurück ins Zetern. Einzig die Prophezeiung, Tanja würde beginnen, mich für meine Entscheidung anzuhimmeln, ließ etwas auf sich warten. Wahrscheinlich brauchte sie einfach Zeit, um sich daran zu gewöhnen und um diese Gefühle zuzugeben. Ist ja auch nicht leicht für eine Frau, wenn sie ihrem Ur-Mann wiederbegegnet.

Ich hingegen wirkte auf mich ruhig und selbstbewusst. Echte Männer sind so.

Auch als Tanja Hals über Kopf die Wohnung verließ und die Treppe hinunterraste, blieb ich gelassen und sah ihr vom Balkon aus nach, wie sie über die Straße rannte, sich in ihr MINI Cabrio setzte, die Tür zuknallte und beim Kavalierstart fast ein altes Mütterchen mit Rollator überfuhr.

Eine Zeit lang lief ich etwas ziellos in der Wohnung umher. Nicht nur Tanja musste sich erst an diese gravierenden Veränderungen gewöhnen, auch für mich kam das alles doch sehr spontan. Aber ich fühlte mich gut.

Ich beschloss, Ferdinand anzurufen. Ihm hatte ich meine Entschlussfreudigkeit schließlich zu verdanken.

Es klingelte ungewöhnlich lange, bis er abnahm.

Im Hintergrund schluchzte jemand.

»Ich hab’s getan. Aber ich störe gerade, nicht wahr? Ich melde mich nachher noch mal«, sagte ich, als ich die Situation begriff. Ein Patientengespräch.

Ferdinand hielt den Hörer zu. Gedämpft kamen unverständliche Worte an mein Ohr. Dann ganz deutlich: »Ja, es passt gerade nicht so. Ich rufe dich in ungefähr einer Stunde zurück.«

»Alles klar. Bis dann.«

Ich legte auf.

Und jetzt?

Ich wollte nach Schweden. Ich nahm das ernst. Es gab viel vorzubereiten. Zuerst telefonierte ich mit meinem Vater und kündigte ihm mein Kommen für den heutigen Abend an. Ich würde eine Flasche Champagner mitbringen und bat ihn schon mal um die Vorbereitung eines Vortrags über Schweden im Allgemeinen und Gödseltorp im Besonderen.

»Drecksnest. Meinetwegen«, grummelte er zum Abschied.

Dann rief ich Åsa Norrland von der schwedischen Anwaltskanzlei Svensson an.

»Ich komme hoch«, sagte ich.

»Schön«, antwortete sie. »Wann?«

»Ich muss hier noch ein paar Dinge regeln, aber ich denke, Mitte, Ende nächster Woche sollte es klappen.«

»Das freut mich wirklich. Es ist ein schöner Hof, den Sie da geerbt haben. Und über die Details reden wir, wenn Sie hier sind.«

Ihre Stimme war echt sexy und süß. Dieser Akzent machte mich wahnsinnig.

»Soll ich dann zu Ihnen in die Kanzlei nach Borlänge kommen?«

»Ja. Wenn Sie genau wissen, wann Sie losfahren, melden Sie sich einfach, und wir machen einen Termin aus.«

»Okej, det ska jag göra«, sagte ich und freute mich, dass ich noch nicht alles vergessen hatte.

Åsa auch.

»Jaså, du pratar svenska?«

»Ja, men bara lite grann. Jag har glömt det mesta. Aber als Kind konnte ich es mal richtig. Wir haben einige Jahre in Schweden gelebt, bevor wir nach Deutschland zurückgingen, und mit meiner Mutter habe ich bis zu ihrem Tod nur Schwedisch gesprochen. Ich denke, nach ein paar Wochen kommt das schon wieder zurück.«

»Das klingt noch sehr schön«, lobte mich die süße Schwedin. »Das sind doch ideale Voraussetzungen.«

»Sagen Sie, kennen Sie Gödseltorp und die Menschen dort?«

Åsa schwieg einen Moment, dann sagte sie diplomatisch: »Ich würde sie mal als eigen bezeichnen.«

»Eigen?«

»Ja, eigen. Aber nett«, fügte sie rasch an, als hätte sie Angst, dass ich es mir anders überlegen und meine geplante Reise absagen könnte.

»Also, Sie bekommen die Dokumente vorab per E-Mail. Die Originale sind in der Post. Ich brauche zwei Exemplare unterschrieben zurück. Beachten Sie die Regelung mit dem Hausverwalter …«

»Ja, ja, okay, ich schau mir das an, über Details können wir später reden«, freute ich mich.

»Wie Sie meinen. Hej då och lycka till!«

Um 20:00 Uhr weckte mich Linda Zervakis mit der Tagesschau. Ich musste auf der Couch eingeschlafen sein, als ich mich nach dem Telefonat mit Åsa Norrland kurz hingelegt hatte, um Sendungen zu schauen, in deren Genuss man als normaler Arbeitnehmer nur kommt, wenn man Grippe hat.

Seltsam. Ferdinand hatte sich doch melden wollen. Jetzt war er bestimmt nicht mehr in der Praxis.

Und Tanja war noch immer verschwunden.

Ich duschte eilig, zog mich an und fuhr zu meinem Vater. Neben der kühlen Flasche Champagner hatte ich das ausgedruckte Exposé des geerbten Bauernhofes dabei und eine ganze Menge Fragen an meinen alten Herrn im Gepäck. Unterwegs versuchte ich es noch zweimal auf Ferdinands Mobilnummer, aber es sprang immer sofort die Mailbox an.

Mein Akku piepste.

Das Ladegerät lag zu Hause.

Ich machte das Telefon aus.

»Na, auch schon da?«, sagte mein Vater, als er die Tür öffnete, dann drückte er mich an sich. »Komm rein.«

Ich folgte ihm in die Küche und stellte den Champagner auf den Tisch.

»Lust auf Luxusbrause?«

Wortlos öffnete mein Vater den Vitrinenschrank und holte zwei Kristallgläser hervor.

»Meinst du, es gibt wirklich Grund zum Feiern?«, fragte er skeptisch.

Ich pulte die Aluminiumfolie vom Korken und begann, das Drahtgeflecht zu lösen.

»Warum denn nicht? Ich habe immerhin gestern eine Immobilie im Wert von einer Viertelmillion geerbt.«

»In einem Drecksnest.«

Der Korken knallte, und ich beeilte mich, den Flaschenhals über die Gläser zu bekommen.

»Drecksnest hin, Drecksnest her. Ich habe geerbt, und heute habe ich einen großen Schritt gemacht. Ich habe gekündigt.«

»Du hast was?«, rief er und machte dabei den gleichen Gesichtsausdruck wie Tanja vor ein paar Stunden. »Bist du behämmert?«

Ich schenkte noch etwas in beide Gläser nach, wartete, bis der Schaum sich gesetzt hatte, und reichte meinem Vater seinen Champagner.

»Auf die Zukunft«, sagte ich in einer Mischung aus Überschwang und Feierlichkeit und hielt mein Glas in die Höhe.

Widerwillig stieß er mit mir an.

»Du bist echt verrückt, Sohn. Das war doch ein guter Job. Und jetzt? Was willst du machen?«

Er nippte am Champagner.

»Ich werde Schriftsteller.«

Er prustete den Champagner über den Küchentisch. Der Mund war ihm offen stehen geblieben, und in seinen Augen waren viele Fragen zu lesen. Zum Beispiel: »Was habe ich falsch gemacht?«, oder: »Warum ich?« Er brauchte einige Momente, um sich wieder zu sammeln.

»Das meinst du doch nicht wirklich ernst, oder?«

»Doch. Todernst. Ich habe auch schon eine super Buchidee und habe bereits mit dem Manuskript begonnen.«

»Das ist ja toll, Torsten. Du schreibst also einen Bestseller und alles wird gut?«

»Klar. Warum denn nicht? Und wenn ich zwei oder drei Veröffentlichungen brauche, um davon leben zu können, wäre das doch auch zu verkraften, oder?«

Noch immer sah mich mein Vater an. Nun war allerdings etwas in seinen Augen, das mich wirklich aufbrachte. Nicht etwa Zorn oder Ärger, nein, es war Mitleid. Ich tat meinem Vater leid. Etwas Schlimmeres gibt es nicht.

»Mann, Papa. Glaubst du denn, ich würde mir keine Gedanken machen und hätte keinen Plan B?«

Die Augen meines Vaters sagten: »Genau das glaube ich.«

Er schenkte sich mit fahrigen Händen nach.

»Und was sagt Tanja dazu?«

»Wir haben uns gestritten.«

»Wie überraschend …«

»Danke für deinen Kommentar. Jedenfalls ist sie wutentbrannt abgedüst, und ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«

Mein Vater trank das halbe Glas leer.

»Sie hat einen anderen. Glotz nicht so fassungslos. Ich habe damit meine Erfahrungen.«

»Wen soll Tanja denn schon haben?«, fragte ich mit einem Unterton, der beiläufig klingen sollte.

Mein Vater zuckte mit den Schultern.

»Das Internet ist voll von unzufriedenen Frauen, die einen Seitensprung suchen.«

»Woher willst du denn das wissen?«, wunderte ich mich.

»Ich bin nicht einmal Mitte sechzig, habe viel Zeit und einen PC mit Internetanschluss. Meinst du, ich sei bereits senil und impotent?«

»Aber Papa …«

»Was?«

»Na gut, ich meine, du bist alleine …«

»… und Frührentner und deshalb tote Hose oder was?«

»Nein, aber das …«

»… hättest du deinem Alten nicht zugetraut, oder?«

»Nein«, antwortete ich. Hatte ich tatsächlich nicht.

»Siehste. Und Tanja traust du das auch nicht zu?«

Ich dachte nach. Die Antwort lautete ebenfalls eindeutig: Nein! Aber das war anscheinend äußerst naiv von mir.

»Und wenn es so wäre, dann könnte ich es auch nicht mehr ändern.«

»Das stimmt allerdings. Jetzt nicht mehr. Ich sage ja auch nicht, dass es so ist, nur, dass du dich nicht wundern solltest, wenn sie zu ihrem Liebhaber gefahren ist.«

Es lief mir eiskalt den Rücken runter. Zugegeben, Tanja und ich hatten ein paar Problemchen, aber die Vorstellung, dass sie deshalb in diesem Augenblick in den Armen eines südländisch anmutenden Mittzwanzigers schmachtete, der sich auf die Zielgruppe unzufriedener und unbefriedigter Hausfrauen bis Mitte dreißig spezialisiert hatte, ließ mich erschaudern. Ja, vielleicht ließ sie sich von ihm im Moment die Seele aus dem Leib vögeln und schrie seinen Namen, während er ihr zärtlich ins Ohr biss. »Giuseppe, Giuseppe, oh ja. Gib’s mir! O, il mio cavallo italiano!«

Ich schenkte mir nach. Jetzt auch mit fahrigen Händen.

»Ich werde mit ihr reden.«

»Mach das, mein Sohn.« Damit griff er hinter sich und legte mir einen Stapel gefaltete Papiere vor die Nase. »Hier sind alle Schweden-Karten, die ich noch besitze. Die vägkarta solltest du dir besser neu kaufen, denn die ist aus den Siebzigern, und ich denke, dass die Schweden mittlerweile ein paar Straßen mehr haben als früher. Die Regionalkarten von Gödseltorp kannst du mitnehmen. In dem Drecksnest ist wahrscheinlich in den letzten zwanzig Jahren weniger passiert als in Grönland. Da gibt es wenigstens Packeis, in Gödseltorp nur Pack!«

Ich faltete die Lokalkarte des Dörfchens auseinander. Sie bestand vor allem aus zwei Farben: grün und blau. Grün waren die Wälder rund um den Ort, und davon gab es reichlich, und blau war der Gödselsjö, der See, an dem der Ort vor ein paar Hundert Jahren gegründet worden war.

»Das ist ja eine Sackgasse, wo der Ort liegt. Der Weg hört einfach auf, dead-end quasi.«

»Das kannst du laut sagen«, murmelte mein Vater. »Mehr dead als end.«

»Und was ist das für eine Markierung?«, fragte ich und zeigte auf einen gelben Punkt, der bedeutend jüngeren Datums schien und erst unlängst an den Rand des Ortes geklebt worden sein musste.

»Das habe ich für dich markiert. Es ist der alte Hof von Lillemor, der Hof, den du geerbt hast.«