Engel des Blutes - L.C. Frey - E-Book
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Engel des Blutes E-Book

L.C. Frey

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Beschreibung

Sie haben seine Frau und sein Kind getötet. Sie haben ihn in den Knast gesteckt. Doch nun ist er zurück. Ein Killer hat den mächtigen Mafiaboss Don Semjonow umgelegt. Der verbrannte Ex-Bulle Stoik soll den Mörder finden. Es gibt nur ein Problem: Dieser Killer sollte tot sein, denn Stoik selbst hat ihn vor sieben Jahren umgebracht. Oder doch nicht? Stoik ist ein Kerl wie ein kaputter Panzer, der allein von Hochprozentigem und seinem Gerechtigkeitssinn angetrieben wird - und zwar in dieser Reihenfolge. Außerdem ist er aber auch der fähigste Ermittler Moskaus. Folgen Sie ihm in die finsteren Gassen der härtesten Stadt der Welt. Ein unbarmherziges Universum voller Verbrechen, zwielichtiger Charaktere und bissigem Humor wartet auf Sie. Für Fans von Lee Childs Jack Reacher, Mark Dawsons John Milton und Craig Martelles Ian Bragg-Thrillern.

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ENGEL DES BLUTES

MOSKAU HARD BOILED THRILLER

L.C. FREY

DARKWING PUBLISHING

IMPRESSUM

Copyright © 2022 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Anne Bräuer, Textbüro Bräuer, Frankfurt am Main, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig. Umschlaggestaltung: Ideekarree Leipzig, unter Verwendung von: scaliger, Anselm Baumgart & weirdmedia (stock.adobe.com)

2203.28.16530.9

Impressum:

Alexander Pohl

Breitenfelder Straße 32

04155 Leipzig

E-Mail: [email protected]

www.Alex-Pohl.de

Die in diesem Roman beschriebenen Personen und Geschehnisse sind fiktiv. Einige der im Buch erwähnten Orte existieren in der Realität, wurden jedoch der fiktiven Handlung dieses Buches angepasst.

Bevor du dich ins Vergnügen stürzt …

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»There is no good and evil, there is only power and those too weak to seek it.«

Lord Voldemort

(Harry Potter and the Philosopher's Stone von J.K. Rowling)

Anfang Dezember veröffentlichte der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny einen Film, in dem er Beweise für kriminelle Verwicklungen der beiden Söhne des Generalstaatsanwalts Juri Tschaika präsentiert. Sie sollen mithilfe der regionalen Staatsanwaltschaften – geführt von Untergebenen ihres Vaters – Unternehmen in der russischen Provinz enteignet haben. Das erbeutete Geld soll nach Griechenland und in die Schweiz geflossen sein, in ein 29-Millionen-Euro-Luxushotel auf der Mittelmeerhalbinsel Chalkidiki und zahlreiche Villen in der Westschweiz.

Und es passierte: nichts.

www.zeit.de

KAPITEL1

1992, BERLIN

BERLIN-SCHÖNEWEIDE, 1992

Der stille Junge hatte die Haustür schon fast erreicht, als er die Schreie hörte.

Er ließ den Haustürschlüssel zurück in die Hosentasche gleiten und drehte sich in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Aus den Augenwinkeln sah er jemanden in die Gasse zwischen seinem und dem nächsten Wohnhaus schießen. Ein Mädchen, etwa in seinem Alter, vielleicht ein bisschen jünger. Ein Mädchen auf der Flucht. Sie war es, die geschrien hatte. Dann die beiden Jungs, ebenfalls rennend, ihr hinterher. Sechzehn, schätzungsweise, aber sie machten auf älter. Lächerlich weite Baggypants und Basecaps, dazu schwere Ketten aus etwas, das vermutlich Gold darstellen sollte, und die ihnen beim Laufen um die Hälse wippten wie groteske Galgenstricke. Rot angelaufene Gesichter, darin Belustigung. Jagdtrieb. Sie lachten.

Als sie am Eingang der Gasse stoppten, hörte der Junge sie keuchen. Vermutlich rauchten die beiden schon seit Jahren, weshalb es dem schreienden Mädchen überhaupt erst gelungen war, sie abzuhängen.

Bloß würde ihre Flucht damit enden, wie der Junge wusste. Das hier war eine Sackgasse. Und die beiden hatten sie reinrennen sehen.

Der stille Junge rauchte nicht und er behängte sich auch nicht mit Ketten, um älter zu wirken. Sein ernstes Gesicht hatte nie wie das eines Kindes ausgesehen, nicht mal, als er ein Baby gewesen war, das behauptete zumindest seine Mamutschka. Schon jetzt, mit vierzehn, war er ein regelrechter Riese. Groß und breitschultrig, mit langen, kräftigen Armen und Händen, die zupacken konnten. In der Schule überragte er sämtliche Schüler und die meisten Lehrer, weshalb die ihn nur selten an die Tafel riefen, was dem Jungen nur recht war. Er stand nicht gern im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Der stille Junge lief zur Gasse hinüber.

Als er um die Ecke bog, sah er die beiden jugendlichen Möchtegern-Gangster in gemächlichem Schritt auf das Mädchen zugehen. Die Goldketten klimperten. Einer rief dem Mädchen etwas zu, das der stille Junge nicht verstand. Das Mädchen wich noch weiter zurück, bis sie mit dem Rücken an die Ziegelwand stieß, und damit war ihr Bewegungsspielraum erschöpft, sie hatte das Ende der kurzen Gasse erreicht. Sie hatte ein hübsches und noch sehr kindliches Gesicht, jetzt allerdings verschmiert von Rotz und Tränen. Tiefschwarzes Haar, das wirr unter ihrem Kopftuch heraushing. Sie mussten sie schon eine Weile gejagt haben, aus welchem Grund auch immer.

Vielleicht auch nur aus Spaß.

Er machte sich nicht die Mühe, die Jungs anzusprechen oder zu versuchen, herauszubekommen, was der Grund für das hier war. Stattdessen trat er dem links stehenden Burschen, der eine dunkelgrüne Bomberjacke trug, kräftig von hinten in die Kniekehle. Gleichzeitig packte er ihn am Kragen der Jacke und riss ihn in Richtung Boden, woraufhin der Kerl übergangslos auf den Beton knallte. Der andere fuhr herum, seine Ketten klimperten und der stille Junge bekam eine davon zu fassen. Er riss daran und das Gesicht des älteren, aber gut einen Kopf kleineren Jungen folgte der Bewegung, die in dem hochgerissenen Knie des stillen Jungen hätte enden sollen.

Doch leider erwies sich der Schmuck als eine sehr billige Fälschung.

Die Kette riss. Glitzernde Kettenglieder aus goldbemaltem Plastik segelten durch die Luft. Dann schlug der andere zu, roh und unvermittelt. Er erwischte den stillen Jungen am Kopf, und damit endete dessen bis dahin vielversprechender Angriff.

Er taumelte benommen zurück, während sich der mit der Bomberjacke bereits wieder aufrappelte und jetzt wie aus dem Nichts den Griff eines Messers in der Hand hielt. Mit hörbarem Klicken schnappte eine zehn Zentimeter lange Klinge heraus.

Dann sprang er, das Messer vorgereckt, auf den stillen Jungen zu, der versuchte, der Klinge auszuweichen, dabei aber gegen ein Hindernis in Form des anderen Jungen prallte. Der, dem er soeben die falsche Goldkette entrissen hatte.

Die Spitze des Messers erwischte ihn im Gesicht und die Welt des stillen Jungen verwandelte sich in eine Hölle der Schmerzen, während sich seine Sicht blutrot einfärbte. Er spürte, wie ihm etwas Heißes und Matschiges über die rechte Wange lief. Er presste die rechte Hand gegen sein verletztes Auge, während das Rot sich zu einem Schwarz verdunkelte, das von aufblitzenden Sternen durchbrochen wurde. Eine Galaxie der Schmerzen, und er fiel mitten hinein.

Die beiden Jungs schrieen auf ihn ein, er verstand kein Wort. Zwang sich, nicht ohnmächtig zu werden. Aus dem Augenwinkel bekam er noch mit, dass das Mädchen aus der Gasse verschwunden war. Immerhin.

Gut für das Mädchen, schlecht für ihn.

Jemand packte ihn von hinten an den Oberarmen. Der stille Junge warf ruckartig seinen Kopf in den Nacken und spürte, dass sein Hinterkopf gegen etwas Knorpeliges im Gesicht des Jungen knallte, der vor Schmerzen und Überraschung aufbrüllte, ihn aber nicht losließ. Der stille Junge hatte mal eine Reportage gesehen über Löwen in Afrika und ein Rudel Antilopen. Er hatte gelernt, dass die Löwen sich immer das schwächste Tier heraussuchen, was sie schon an dessen Gang erkennen können. Und ihm wurde klar, dass er sich soeben zwischen diese Löwen und ihre Beute gestellt hatte.

Nicht sehr clever.

Der Junge sah durch einen Schleier aus Blut nur verschwommen, wie der mit dem Schnappmesser erneut auf ihn zukam. Sie würden sich nicht mit dem zufriedengeben, was sie bisher angerichtet hatten. Jetzt nicht mehr. Sie würden ihn abstechen, gleich hier und jetzt, und ihn dann in dieser Gasse liegen lassen.

Zu seinem eigenen Erstaunen verspürte der stille Junge bei diesem Gedanken keine Panik, nicht einmal einen Anflug von Furcht. Nur diese hämmernden Schmerzen in seinem halb blinden Schädel, die ihn schier wahnsinnig machten. Und den dringenden Wunsch, die beiden Typen an seinem Schmerz teilhaben zu lassen.

Der stille Junge fuhr zusammen, als ein Schuss durch die Gasse krachte.

Dann Stiefeltritte auf dem Asphalt. Verwirrt versuchte er, sich in die Richtung umzuschauen, aus der die Schritte jetzt auf ihn zugerannt kamen, aber irgendetwas mit seiner Sicht stimmte nicht mehr, alles war verschwommen und drehte sich um ihn. Sein rechtes Auge schien überhaupt nicht mehr zu funktionieren, der Schmerz bohrte sich unnachgiebig immer tiefer in sein Hirn.

Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts der Lauf einer Pistole auf und richtete sich auf den Kopf des Jungen in der Bomberjacke, welcher bereits bei dem ersten Schuss sein Messer hatte fallen lassen. »Was soll das werden, ihr Arschlöcher?«, brüllte eine Stimme, die der Junge nur mit einiger Mühe als die seines Vaters erkannte. »Soll ich dir dein Scheißhirn rauspusten, du verfickter Kanake? Soll ich dich fertigmachen?«

Keines dieser Worte hätte der Junge vor jenem Erlebnis in der Gasse mit seinem Vater in Verbindung gebracht, der jetzt seine Dienstpistole an die Stirn des Bomberjackenträgers presste. Etwas plätscherte leise und der stille Junge begriff, dass der andere gerade dabei war, sich einzunässen.

Dann schwanden ihm die Sinne.

Später erwachte der stille Junge im Krankenhaus, mit einem dicken Verband um den Kopf und einem Wattepolster auf dem rechten Auge, auf dem er fortan blind sein würde. Eine Woche später wurde sein Vater während einer Razzia auf das Drogendepot einer berüchtigten Berliner Clanfamilie in Ausübung seines Dienstes erschossen.

Da wurde aus dem stillen Jungen ein stummer Junge.

KAPITEL2

2010, MOSKAU

Aus dem »Moskauer Abendblatt« vom 18. November 2010

MACHETENKILLER NOCH IMMER AUF FREIEM FUSS

Moskau. Soeben teilte der Polizeipräsident Moskaus, Alexander W. Gorodetzki, auf einer Pressekonferenz mit, dass es sich bei den jüngsten Leichenfunden in der Nähe des alten Volksparks höchstwahrscheinlich um ein weiteres Werk des gefürchteten Serientäters handelt, welcher unter dem Namen »Machetenmörder« seit einiger Zeit in Moskau sein Unwesen treibt. Polizeipräsident Gorodetzki gab weiter bekannt, dass die Sonderkommission unter dem General der Miliz, Igor A. Walnikow, mit sofortiger Wirkung um zwanzig erfahrene Ermittler und etliche weitere Kräfte verstärkt wurde. »Wir werden nicht ruhen, bis diese Bestie zur Strecke gebracht worden ist«, so Gorodetzki.

Im Laufe der vergangenen sechs Monate wurden immer wieder Leichenteile in ganz Moskau verstreut aufgefunden, welche man mittlerweile mehreren in Moskau wohnhaften jungen Frauen zuordnen konnte, die im Laufe des letzten halben Jahres verschwanden. Alle Opfer wurden mit demselben Mordwerkzeug, einer Machete, grausam zerstückelt, nachdem sie der offenbar schwer gestörte Täter ermordet hatte. Der Fall gehört zu den aufsehenerregendsten Mordfällen der jüngeren Geschichte Russlands und neben den Einsatzkräften der Polizei beteiligen sich etliche Hobbydetektive aus der Moskauer Bevölkerung an der Jagd auf den »Machetenkiller« – bislang leider ohne Erfolg.

Wir müssen uns derweil fragen, wie lange der Killer noch sein Unwesen in Moskau treiben wird, und ob die angekündigten Maßnahmen tatsächlich ausreichend sind, um seiner habhaft zu werden …

KAPITEL3

HEUTE, MOSKAU

Oleg Simakow, zwölf Jahre alt, hatte sich noch nicht so recht entschieden, ob er nun Gangster werden sollte oder doch lieber Radrennfahrer.

Sein Vater war einer gewesen – Radrennfahrer –, bevor mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Sowjetunion auch der Sport im Lande so ziemlich erledigt gewesen war. Früher, so wurde sein Vater nicht müde zu erzählen, wurden die Sportler von allen Mädchen angehimmelt, hatten jede Menge Privilegien und durften sogar ins Ausland fahren. Jetzt betrieb der Vater die Eckkneipe »Zur Kartoffel« am Ende der Kalugaer Gasse.

Natürlich gehörte die Kneipe nicht ihm allein, sondern vor allem der Strugatzkaja, einer stadtbekannten Gang, der mächtigsten in ganz Moskau. Jeder Unternehmer brauchte Kryscha, ein kriminelles »Dach«, das Gewerbetreibende wie Olegs Vater vor konkurrierenden Gangs und allzu großer Behördenwillkür schützte. Diesen Service ließen sich die Gangster von der Strugatzkaja freilich was kosten und es verschaffte ihnen fraglos auch so manche Privilegien, überlegte Oleg. Also doch lieber ein Krimineller werden, mit teuren Wildlederschuhen an den Füßen und einer dicken Rolex am Arm? Dann kamen die Weiber doch sicher von ganz allein.

Während er also über die Vorzüge des einen und die Nachteile des anderen Berufsweges nachsann, zerrte Oleg missmutig und mit ölverschmierten Händen an der Kette seines Fahrrads, die mal wieder abgesprungen war von dem rostigen Scheißding. Er hockte daneben im Dreck und starrte blöde auf das Tretlager, dann auf die Kette, aber diese wollte sich einfach nicht aufziehen lassen, ohne jedes Mal gleich wieder abzuspringen.

»Musst es umdrehen, Junge«, dröhnte eine Stimme in seinem Rücken und Oleg fuhr zusammen. Mist, schoss es ihm durch den Kopf, ich hätte das Rad in den Innenhof schieben sollen. Auf der Straße trieben sich jede Menge Khuliganys, besoffene Penner, herum. Sein Vater hatte es ihm oft genug eingebläut. Spiel im Hof, wenn es sein muss, oder besser, hilf mir endlich, die verdammten Fässer aus dem Keller nach oben in die Bar zu hieven, klang es in Olegs Ohren nach, während er langsam den Kopf drehte und seinen Blick nach oben wandern ließ. Sein Blick wanderte eine ganze Weile, bis er schließlich bei so etwas wie einem Gesicht ankam.

Der Kerl, der jetzt neben ihm stand, war ein Riese.

Nicht bloß, was seine Größe anbetraf, seine ganze Erscheinung schien einem alten Volksmärchen zu entstammen. Gewaltiger, struppiger Bart, eine Frisur, die aussah, als habe er zum Kürzen der Haare einen Rasenmäher mit stumpfen Blättern benutzt, Hände wie Baggerschaufeln. Auf der Pupille seines rechten Auges lag ein milchiger Schimmer. Oleg fand, das ließ ihn auch ein bisschen wie einen Zombie aus einem amerikanischen Gruselfilm aussehen, nur eben einen besonders großen.

Der Mann trug einen dunkelbraunen Anzug aus robuster Schurwolle, obwohl es selbst in diesem schattigen Teil der Kalugaer Gasse schon gut dreißig Grad haben musste. Das Ding drohte bei jeder Bewegung seines Besitzers fast aus den Nähten zu platzen, und das, obwohl es die Größe eines Zirkuszelts zu haben schien. Das einstmals weiße Oberhemd, nun gelbfleckig von Nikotin und wer konnte sagen, wovon noch, war offen bis auf die Brust und hatte schmutzstarrende Kragenränder. In den Untiefen des gewaltigen schwarzen Bartes klebte etwas, das Oleg mit einem Anflug von Ekel als einen Brocken Erbrochenes identifizierte. Der Mann stank wie eine ganze Schnapsfabrik, und das war vermutlich das einzig Normale an ihm. Demnach kam er wohl direkt aus der »Kartoffel«, und das um zehn Uhr morgens. Na ja, wohl dem. Olegs Vater freute sich zu jeder Tageszeit über zahlende Kundschaft.

Der Riese hieß Stoik, jeder im Viertel kannte den.

Vielmehr, jeder wusste, wie er hieß, aber das meiste andere Zeug waren Gerüchte, Geschichten, und Legenden, von denen Oleg nicht sagen konnte, was davon wahr sein mochte und was erfunden. Ein schweigsamer Typ ohne Freunde und Bekannte, jeder hielt sich von dem fern. Er sollte auch im Knast gewesen sein. Das war nun nichts allzu Ungewöhnliches unter den Bewohnern dieser Gegend Moskaus, aber Stoik hatte nicht wegen irgendwelcher Diebstähle oder sonstiger Kleinigkeiten ein paar Tage eingesessen, hieß es, sondern weil er angeblich gleich ein Dutzend Männer auf einmal umgebracht hatte. Ganz allein, erzählte man sich, mit bloßen Händen, und jeder, der Stoiks Hände gesehen hatte, war versucht, das zu glauben.

Stoik gab ein tiefes Brummen von sich und deutet mit einem Zeigefinger wie ein Lampenmast auf das Tretlager des Rads. Furchtsam rutschte Oleg beiseite und der Mann packte das Rad mit einer Hand, wirbelte es herum und stellte es dann auf Lenker und Sattel ab. Dann nahm er die Kette vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, wo sie wie ein filigranes Spielzeug wirkte.

Gebannt sah Oleg zu, wie der Riese die Kette mit erstaunlich geschickten Bewegungen auf das Zahnrad führte und sie einschnappen ließ. Dann betätigte Stoik vorsichtig das Tretlager. Es knackte und ratterte, aber nach ein paar Umdrehungen lief die Kette wieder rund. Stoik hielt das in Schwung geratene Hinterrad mit einer Hand an, dann nahm er das Fahrrad hoch und stellte es wieder richtig herum vor Oleg ab, der langsam aufstand, hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, schreiend davonzulaufen oder den Mann mit unverhohlener Neugier anzustarren, wobei er sich natürlich besonders für das Mysterium des blinden rechten Auges interessierte.

»Danke, Bürger Stoik«, murmelte Oleg schließlich und zuckte zusammen, in Erwartung einer Ohrfeige. Was war ihm da für eine dämliche Anrede rausgerutscht – Bürger Stoik! Er wusste nicht mal, was dieser Name eigentlich bedeuten sollte, ein normaler Nachname war das ganz sicher nicht und vermutlich auch kein voller Vorname. Gut möglich, dass es ein übler Schimpfname war, den sein Vater und die anderen Bewohner der Gasse nur hinter dem Rücken des Riesen verwandten.

Der Riese gab ein dumpfes Grunzen von sich, das vielleicht irgendwo tief in seiner Brust als eine Art Lachen begonnen hatte, schwer zu sagen. Also war es wohl doch kein allzu großes Fettnäpfchen gewesen, dachte Oleg erleichtert und als Stoik sich zum Gehen wandte und davonstapfte, hob er den Kopf und sah ihm nach.

Der Riese schwankte, aber nur ganz leicht, was erstaunlich war in Anbetracht des Alkohols, den er geladen haben musste, während er auf den Eingang eines verfallenen Hauses zuging. Dieses, und das wusste ebenfalls jeder im Viertel, bewohnte er ganz allein.

»Bü… Bürger Stoik!«, rief Oleg ihm hinterher und der Riese blieb erneut stehen. Drehte sich um. Langsam, bedächtig, wie Riesen das eben tun.

»Da sind zwei Männer«, krächzte Oleg, der noch nicht ganz wieder Herr seiner eigenen Stimme war. Der Riese runzelte fragend die Stirn. Tektonische Platten, die sich in seinem Gesicht gegeneinander verschoben. »Zwei Männer, ja«, stammelte Oleg. »In Anzügen. Die sind in Ihr Haus reingegangen, ist noch keine zehn Minuten her.«

Stoik blickte ihm fest ins Gesicht, dann nickte er zum Dank für diese Information und ging weiter auf das Haus zu. Jetzt schwankte er überhaupt nicht mehr.

KAPITEL4

Stoik trat in den Schatten des Hauseingangs, dann ging er nach links und stellte sich neben den leeren Käfig des Aufzugs, sah in den Aufzugschacht, dann nach oben. Dabei dachte er über das nach, was der Junge gesagt hatte.

Zwei Männer. In Anzügen.

Irgendwie hatte sich die Beschreibung des kleinen Simakow nicht nach zwei Pennern angehört, die dumm genug waren, ausgerechnet hier einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen. Die Fahrkabine des Aufzugs parkte Stoik immer im ersten Stock, bevor er aus dem Haus ging. Von dort benutzte er die Treppe, um ganz nach unten zu gelangen, wobei man über einen gewaltigen Schuttberg steigen musste. Das ließ sich nicht bewerkstelligen, ohne jede Menge Geräusche zu verursachen, ein perfektes Frühwarnsystem. Die Treppen vom ersten in den zweiten Stock existierten dank Stoiks beherzten Einsatzes eines Vorschlaghammers nur noch in wenig vertrauenerweckenden Bruchstücken, weshalb man praktisch nicht um den Aufzug herumkam, wenn man in Stoiks Wohnung hinein oder diese wieder verlassen wollte. Außerdem hatte er den Rufknopf des Aufzugs im Erdgeschoss mithilfe einer Brechstange entfernt, sodass man den Aufzug nur noch dann ins Erdgeschoss fahren lassen konnte, wenn sich ein Fahrgast im Inneren der Kabine befand. Das mochte umständlich sein, aber es ersparte Stoik unerwünschte Besucher, einmal abgesehen davon, dass es sich inzwischen in der Gegend herumgesprochen hatte, dass es bei ihm ohnehin nichts zu holen gab außer Ärger.

Aber nun stand die Kabine nicht mehr im ersten Stock. Sondern oben, wo sich seine Wohnung befand. Das war ziemlich dreist und es setzte die Kenntnis um die speziellen Gegebenheiten dieses Hauses voraus. Nachdenklich fuhr sich Stoik durch den Bart und wischte dabei geistesabwesend einen getrockneten Krümel fort, der sich dort verfangen hatte. Es war mal wieder eine harte Nacht gewesen in der »Kartoffel« und heute Morgen hatte er die üblichen hämmernden Kopfschmerzen gehabt.

Jetzt nicht mehr.

Ein weiteres Mal trat Stoik an den vergitterten Aufzugschacht heran und spähte durch die verbogenen Gitterstäbe nach oben, dann betrachtete er den Staub zu seinen Füßen. Zwei Spurenpaare, Herrenschuhe, was zu dem passte, das der Junge gesagt hatte. Keine groben Stiefelsohlen oder die löchrigen Sohlen abgenutzter Turnschuhe, eher Anzugschuhe oder so was, vorn spitz zulaufend. Modisch. Ein Paar, das zur Treppe hinauf führte, und das andere zum Aufzug, und keines davon kehrte wieder zurück. Was bedeutete, dass der eine Kerl über die Trümmerberge in den ersten Stock gestiegen sein musste, wobei er sich hoffentlich die teuren Lederschuhe ruiniert hatte, um dann mit dem Aufzug ins Erdgeschoss zu fahren, wo der andere Kerl zugestiegen war, der solange gewartet hatte. Interessant.

Das ließ auf eine gewisse Hierarchie schließen.

Was theoretisch ein Hinweis auf Bullen hätte sein können, aber dann hätte nur einer von ihnen teure Schuhe getragen, wenn überhaupt. Also die andere Alternative, dachte Stoik und seufzte innerlich, während er gegen den Impuls ankämpfte, sich auf der Stelle umzudrehen und abzuhauen. Aber das würde nichts bringen, da konnte er es auch gleich hinter sich bringen.

Diese Typen fanden einen. Immer.

Also stieg er über die Schuttberge, beschmierte seinen braunen Schurwolleanzug mit jeder Menge Staub und gelangte schließlich in den ersten Stock, wo er den Rufknopf des Aufzugs betätigte, der sich daraufhin mit viel Getöse in Bewegung setzte. Prima, nun wussten die da oben auch ganz bestimmt, dass er kommen würde, und sobald er oben war, saß er im Käfig des Aufzugs fest, aber daran war nun mal nichts mehr zu ändern.

Dennoch holte er die Makarow aus seiner Hosentasche. Das Ding wirkte in seinen Händen wie eine Spielzeugpistole. Er entsicherte sie und ließ sie dann zusammen mit seiner rechten Hand in der Außentasche seines Jacketts verschwinden. Für alle Fälle.

Der Aufzug kam rumpelnd vor ihm zum Stehen, Stoik wuchtete das Gitter beiseite und trat ein, dann betätigte er den Knopf nach oben, dann gab es wieder rumpelndes Getöse, als sich der Aufzug in Bewegung setzte. Oben dann das ganze Prozedere in umgekehrter Reihenfolge.

Die Tür zu seiner Wohnung stand offen.

Nein, korrigierte er sich, nicht einfach nur offen. Jemand hatte sie aus den Angeln gewuchtet und daneben an die Wand gestellt. Immerhin netter, als sie einfach einzutreten, dachte Stoik achselzuckend, aber für sich genommen auch eine klare Botschaft. Er griff nach der Makarow in seiner Anzugtasche.

Dann trat er durch die Türöffnung in seine Wohnung, die – im Vergleich zum maroden Zustand des restlichen Hauses – überraschend sauber und aufgeräumt wirkte. Alle Türen standen weit offen, man hatte offenbar nach ihm gesucht und sich dann wohl entschieden, auf ihn zu warten, als man ihn nicht angetroffen hatte. Klar, dachte Stoik, mit ihm war ja auch schlecht Termine machen, er besaß kein Telefon und den Briefkasten im Hausflur hatte er schon vor Urzeiten abgetreten und das Ding dann in den Aufzugschacht befördert. Über den Luxus einer Sekretärin verfügte er ebenfalls schon seit längerer Zeit nicht mehr.

Er ließ das kleine Bad links liegen, ebenso die winzige, zugemüllte Besenkammer, in der sich nur ein ausgemachter Idiot verstecken würde, weil er dann beim Herausspringen mit Sicherheit in einen Eimer treten oder am Stiel eines Schrubbers hängen bleiben würde.

Ein schneller Blick in die kleine Küche. Ebenfalls leer. Dann den schmalen Flur weiter auf das größte der kleinen Zimmer zu, das ihm gleichzeitig als Schlafstätte und Wohnzimmer diente, weil sich eine riesige Couch darin befand, die er vom Sperrmüll besorgt und dann allein die Treppe emporgewuchtet hatte, als diese noch komplett gewesen war. Außer ein paar Schränken und einem kleinen Tisch befand sich nicht viel mehr in diesem Zimmer, so ziemlich die gesamte Einrichtung der Wohnung stammte vom Sperrmüll, was man ihr auch deutlich ansah.

Auf der Couch saß ein Kerl und hielt eine Teetasse in der Hand.

Stoik konnte ihn im Gegenlicht der Morgensonne, die durch das gardinenlose Fenster hereinknallte, nicht recht erkennen und vermutete, dass genau das die Absicht des Kerls gewesen war, als der sich diese Sitzposition ausgesucht hatte. Im Reflex ließ Stoik die Makarow hervorschnellen, um sie auf den Kerl zu richten, der sich da so dreist auf seinem Sofa fläzte, aber er schaffte es nicht, die Bewegung zu beenden.

Etwas traf den Lauf der Makarow mit metallischem Klang, entriss sie seiner Hand und ließ sie auf den dicken Teppich (ebenfalls vom Sperrmüll, aber noch ausgezeichnet in Schuss!) poltern.

Stoik fuhr herum, um in Erfahrung zu bringen, wer oder was dies metallische Klingen verursacht hatte und wie zum Teufel es dem Angreifer gelungen war, sich von hinten an ihn heranzuschleichen, ohne dass Stoik das mitbekommen hatte, aber da ertönte das ihm wohlvertraute Klicken des Hahns einer Waffe, der gespannt wurde.

Stoik erstarrte.

»Na, na«, sagte der Kerl auf der Couch, der unbegreiflicherweise immer noch lächelte und die Teetasse jetzt auf dem Knie seines rechten Beines abstellte, das er über das andere geschlagen hatte, und der nun seinerseits eine Waffe, die scheinbar wie aus dem Nichts in seiner Hand erschienen war, auf Stoik richtete.

Im selben Moment spürte Stoik den Druck von etwas rundem Kühlem im Genick, von dem er vermutete, dass es sich um die Mündung einer kleinkalibrigen Pistole handelte. Es hätte natürlich auch der Kronkorken einer Bierflasche oder so was sein können, aber das war wohl eher unwahrscheinlich.

Und dann erkannte er den Kerl auf dem Sofa.

Gliedmaßen lang und dünn wie die einer Spinne, das Gesicht ledern und ausgezehrt, eine echte Mumie von einem Mann, was wohl vom Kettenrauchen dieser stinkenden Zigarillos kam, von denen er jetzt ausnahmsweise mal keines im Mundwinkel hängen hatte. Wenn er aufstand, war er fast so groß wie Stoik, mochte aber höchstens ein Drittel von dessen Körpergewicht auf die Waage bringen. Dieses Aussehen hatte ihm einen Spitznamen eingebracht, der eine russische Verballhornung des Namens Clint Eastwood darstellte, dem knochentrockenen Helden zahlreicher Spaghettiwestern.

»Jestwud«, ächzte Stoik und entspannte sich ein bisschen. Nicht unbedingt, weil er Jestwud vertraute, das wäre auch ausgesprochen naiv gewesen. Sondern, weil er begriff, wann eine Situation aussichtslos war. Zwei Kerle mit Waffen, die damit auch umgehen konnten, gegen einen, der unbewaffnet war, das war so ein Fall.

Der Kerl auf dem Sofa nickte zur Begrüßung, legte die Waffe neben sich auf die Sitzfläche und nahm dann wieder die Untertasse zur Hand. Bedächtig führte er die Tasse zum Mund, nippte an dem Getränk und stellte das Ganze dann mit einem angewiderten Gesichtsausdruck auf den kleinen Couchtisch vor sich.

»Dein Tee ist zum Kotzen, Stoik«, sagte er. »Hast du wenigstens Gebäck?«

Stoik schüttelte den Kopf.

»Brötchen? Marmelade? Wurst? Irgendwas?«

Stoik sagte: »Ich hab Kaffeepulver. Instant.«

Jestwud verdrehte die Augen. Der Druck verschwand aus Stoiks Nacken.

»Du wirst das nie begreifen, oder?«, fragte Jestwud. »Das mit der Gastfreundschaft, hier in Russland. Als zivilisierter Mensch hat man immer etwas guten Tee und Marmelade im Haus, falls Gäste kommen. Und etwas Gebäck. Wodka natürlich auch. Zwiebeln, vielleicht ein paar Brötchen. Und du? Nicht mal Zwieback im Haus, zum Teufel. Elender, knausernder Germanski, keine Ahnung von Lebensart hast du.«

Das mit dem Germanski war eine nicht besonders nett gemeinte Anspielung auf Stoiks deutsche Herkunft. Er war als Vierzehnjähriger aus Berlin nach Moskau umgezogen, nachdem sein Vater, ebenfalls ein Polizist, dort im Dienst von irgendeinem Clanmitglied erschossen worden war. Seine russische Mamutschka, welche seinem Vater zuliebe damals nach Deutschland gezogen war, hatte in Berlin nie richtigen Anschluss gefunden und so war sie kurz darauf, den stillen, einäugigen Jungen im Gepäck, zurück in die Stadt gezogen, aus der sie stammte. Nur, um festzustellen, dass auch diese Stadt sich seit ihrem Weggang erheblich verändert hatte.

Zu dieser Zeit hatte Stoik, der damals noch einen richtigen Namen besessen hatte, kaum ein Wort Russisch gesprochen und Deutsch hatte er nicht sprechen wollen, denn er hatte schnell gelernt, dass das nicht allzu gut ankam. Daher war es zu seiner Gewohnheit geworden, wenig zu sagen und dafür umso schneller zuzuschlagen, damit man ihn in Ruhe ließ. Das hatte die meiste Zeit ganz gut funktioniert und seine außergewöhnliche Körpergröße war ihm dabei auch recht nützlich gewesen.

Seine Mutter hatte den kurzen Rest ihres weiteren Lebens als Witwe in einem Nebel aus Trauer und Alkohol verbracht und war so einsam gestorben, wie sie gelebt hatte. Da war Stoik sechzehn gewesen, erwachsen für die hiesigen Verhältnisse. Bereit, auf eigenen Füßen zu stehen. Beziehungsweise, sich größeren Füßen anzuschließen. Einer Gang, um sich in deren Rängen hochzuarbeiten oder bei dem Versuch draufzugehen. Doch stattdessen war er dann irgendwie bei der Polizei gelandet. Hatte sein Leben für einen Augenblick auf die Reihe gekriegt. Ein Augenblick, der viel zu schnell verflogen war, und dann der Schock des Erwachens, damals, vor fast sieben Jahren.

Und jetzt das hier.

»Nun setz dich doch, Großer«, forderte Jestwud. »Steh nicht so in der Gegend herum, du machst mich ganz nervös, Menschenskind.«

»Es gibt nur die Couch«, sagte Stoik. Tatsächlich war das Sofa die einzige Sitzgelegenheit im Zimmer.

»Igor«, knurrte Jestwud den anderen Kerl an. »Hol dem Mann hier einen Stuhl aus der Küche, zum Teufel. Und sieh zu, dass du einen findest, der nicht gleich unter seinem Riesenarsch zusammenbricht.«

Stoik, der den Mann namens Igor bislang noch nicht zu Gesicht bekommen, sondern nur dessen Waffe im Genick gespürt hatte, hörte, wie sich eilige Schritte in Richtung Küche entfernten, dann kam ein wuchtiger Kerl mit einem Boxergesicht zurück und stellte den Stuhl in respektvoller Entfernung gegenüber der Couch auf.

Mit einer raschen Bewegung griff er sich die Makarow vom Boden, die er zuvor aus Stoiks Hand geschlagen hatte, öffnete das Schubfach eines Schrankes weit außerhalb von Stoiks Reichweite und legte sie hinein. Dann schloss er das Schubfach wieder und postierte sich selbst davor. Stoik erkannte sein Gesicht jetzt als das eines der namenlosen Leibwächter, die ständig um Don Semjonow, den Boss der Strugatzkaja, herumgeschwirrt waren. Das letzte Mal, dass Stoik mit dieser Gang oder Don Semjonow zu tun gehabt hatte, lag über sechs Jahre zurück, was bedeutete, dass Boxergesicht sich wohl in der Zwischenzeit einen kleinen Patzer geleistet haben musste, wenn er jetzt nur noch auf die Nummer zwei, den Stellvertreter des Bosses, aufpassen durfte.

Stoik setzte sich auf den Stuhl. Der hatte mal Armlehnen besessen, aber Stoiks schiere Körpergröße hatte es notwendig gemacht, diese zu entfernen.

»Stoik«, sagte Jestwud. »Das sieht vollkommen lächerlich aus, wie du da auf diesem Stuhl hockst. Meine Güte. Wie ein Elefant in einer Puppenstube.«

Stoik zuckte mit den Schultern. War ja nicht seine Schuld.

»Und dieser Bart, Menschenskind! Du siehst aus wie ein verfluchter Neandertaler, wirklich. Was ist nur los mit dir? Wann hast du zum letzten Mal deine Klamotten gewechselt oder ein Deo benutzt? Meine Fresse.«

Stoik schwieg. Er erkannte eine rhetorische Frage, wenn er eine hörte.

»Wie auch immer, Stoik. Hör mal, wir haben da ein Problem.«

»Wir?«, fragte Stoik.

»Ja, wir. Die Strugatzkaja, du weißt schon. Jemand ist umgelegt worden.«

»Und?«, fragte Stoik. Dass bei der Mafia hin und wieder jemand umgelegt wurde, war nun wirklich nichts, das den Besuch des zweitwichtigsten Mannes der Strugatzkaja in seiner bescheidenen Hütte erklärt hätte.

»Jemand Wichtiges, Stoik.«

Stoiks Blick wanderte zu dem Leibwächter, Boxergesicht, der jetzt etwas tat, was für einen solchen Kerl ausgesprochen ungewöhnlich war. Er senkte den Blick. Stoik sah wieder zurück zu Jestwud, der, das bemerkte er jetzt, deutlich blasser und irgendwie noch ausgemergelter wirkte, als Stoik ihn in Erinnerung hatte. Und verdammt nervös.

»Scheiße«, stellte Stoik fest, der soeben begriffen hatte, was passiert sein musste. Boxergesicht hatte seinen Job vermasselt. Und zwar gründlich. Sie mussten den Boss erwischt haben, Don Semjonow.

»Wir können hier nicht drüber reden, du musst mitkommen«, sagte Jestwud. »Du schuldest uns was, das weißt du ja, und jetzt ist eben die Zeit gekommen, deine Schulden zu begleichen. Und glaub mir, ich hätte es gern bei einer anderen Gelegenheit gemacht. Aber uns läuft die Zeit davon. Noch weiß es keiner und das muss auch unbedingt so bleiben.«

Das verstand Stoik. Eine führerlose Gang war eine angreifbare Gang. Wenn man eine Schlange köpfen konnte, konnte man sie auch zerteilen und schließlich ganz vernichten, das wusste jeder. Und es würde jede Menge potenzieller Schlangenvernichter auftauchen, sobald sich erst in Moskau herumgesprochen hatte, dass die bis dato fast allmächtige Strugatzkaja ihren Boss verloren hatte.

»Wie ist es passiert?«, fragte Stoik.

»Nicht hier«, wiederholte Jestwud und stand auf. »Du musst duschen, Stoik, du stinkst wie ein Schwein. Und rasier dir diesen lächerlichen Bart ab. Wie lange brauchst du dafür?«

»Fünfzehn Minuten«, sagte Stoik. Drei für das Duschen, zehn für den Bart, wenn er die Maschine benutzte, mit der er sonst seine Haare stutzte. Zwei Minuten, um das Haus zu verlassen. Auf das Deo würde er verzichten.

KAPITEL5

Stoik schätzte, dass die Villa locker hundert Leute hätte beherbergen können. Der gigantische Prachtbau, ein ehemaliges Verwaltungsgebäude aus sowjetrussischen Zeiten, war mit viel Liebe zum Detail und mit noch mehr Geld aufwendig rekonstruiert worden. Irgendwann aber musste die Glückssträhne des Kerls, dem sie mal gehört hatte, dann wohl geendet haben, weshalb sie danach offenbar in den Besitz von Don Semjonow übergegangen war. Irgendein Beinahe-Oligarch, erzählte man sich. Und dass er Schulden bei den falschen Leuten gehabt hatte. Schulden sind ein anderes Wort für Dummheit, hatte Stoiks Vater bisweilen gesagt, und Stoik stimmte ihm da vollkommen zu. Bloß, dass er ja inzwischen selbst Schulden bei der Strugatzkaja hatte, wenn diese auch nicht direkt finanzieller Natur waren. Es war allein Don Semjonows langer Arm gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass Stoik die sechs Jahre im Knast überhaupt überlebt hatte, und das nicht mal in einem allzu schlechten Zustand, alles in allem. Sie hatten ihm nicht mal den Arm gebrochen oder ein paar Zähne ausgeschlagen oder so was, und das, obwohl er ein »halber Deutscher« und – noch schlimmer – ein ehemaliger Bulle war.

Also folgte Stoik Jestwud, während sie den gewundenen Kiesweg zur breiten Freitreppe beschritten, durch die man auf der Vorderseite ins Gebäude kam. Das Boxergesicht lief ihnen mit gebührendem Abstand und steifem linken Waffenarm hinterher. Dieser Machogang wies ihn als ehemaligen Militär aus, vielleicht auch Geheimdienstler. Und doch war es jemandem gelungen, diesem hartgesottenen Burschen und seinen Kollegen ein gehöriges Schnippchen zu schlagen, dachte Stoik. Interessant. Das Gelände war von einer übermannshohen Mauer umgeben, auf deren oberem Ende man Rollen aus Stacheldraht verlegt hatte, welcher laut Jestwud außerdem unter Strom stand. Stoik verspürte wenig Lust, den Wahrheitsgehalt dieser Worte persönlich zu überprüfen.

Klar, man konnte auch über eine solche Begrenzung kommen, wenn man das wirklich wollte. Aber dann gab es da mit Sicherheit noch jede Menge Kameras und versteckte Auslöser, die in Sekundenschnelle eine ganze Armee schwer bewaffneter Tunichtgute auf den Plan rufen würde. Wie den mit dem steifen Arm, zum Beispiel. Harte Kerle, erfahren, bewaffnet und vollkommen skrupellos. Und dennoch hatte es einer hingekriegt. Das flößte einem durchaus einen gewissen Respekt ein.

Jestwud hatte ihm während der gut einstündigen Fahrt von der »Kartoffel« hierher das Wesentliche über die Sicherheitsmaßnahmen im und um das Gebäude erzählt. Alles in Topform, keiner war hier leichtsinnig mit der Sicherheit des Bosses umgegangen. Als die weit effizientere Taktik hatte Stoik allerdings die Tatsache empfunden, dass Don Semjonow über gut zwei Dutzend solcher Gebäude verfügt hatte, verteilt auf und um ganz Moskau, und niemals einen Unterschlupf zwei Mal hintereinander benutzt hatte, wenn er sich »eine Auszeit gönnte«, wie Jestwud es genannt hatte.

Was bedeutete: Bevor er bei dem entsprechenden Gebäude auftauchte, wusste niemand, dass der Don dorthin unterwegs war, was gleichzeitig eine ziemlich effektive Methode war, die Wachsamkeit der eigenen Leute durch eben diese spontanen Besuche sicherzustellen. Man hätte vor jeder dieser Villen mindestens einen unauffälligen Beobachter postieren müssen, um überhaupt zu wissen, wo der Boss sich befand, und Jestwud war sich sicher, dass selbst ein solcher nicht mehr gesehen hätte als irgendeinen Luxusschlitten, der in das betreffende Gebäude fuhr. Der Don hatte seine Autos gern und oft gewechselt. Was ebenfalls verdammt clever – wenn auch ziemlich kostspielig – war.

Und dennoch hatte es einer geschafft.

»Was genau hat der Don denn hier gemacht?«, fragte Stoik, während er sich das neuerdings glatt rasierte Kinn rieb, das wie die Hölle zu jucken begonnen hatte.

»Na, was wohl?«, sagte Jestwud. »Hat sich eine Auszeit genommen, das sagte ich doch.«

»Aha. Wie viele Mädchen waren hier?«

»Immer nur die eine«, antwortete Jestwud. »Polina. Junges Ding, sehr hübsch. Sie ist noch drin. Ist kurz nach ihm hier angekommen und hat ihn dann gefunden, die Arme. Ist völlig aufgelöst, das Mädchen. Wir mussten ihr was geben zur Beruhigung.«

»Aber sie lebt noch?«

»Natürlich lebt sie noch, Stoik! Wofür hältst du uns, Menschenskind, etwa für Tiere?«

Stoik schwieg. Aber statt auf den Haupteingang zuzugehen, verließ er den Kiesweg, trat auf den penibel gestutzten Rasen und begann dann, das Gebäude langsam zu umrunden, während er seinen Blick über die Fensterfront im ersten Stock gleiten ließ. In Bodennähe, also im Erdgeschoss, gab es auf dieser Seite keine Fenster. Vermutlich aus gutem Grund. Jestwud und der Boxer folgten ihm.

Auf der Rückseite standen, in Sichtweite voneinander, drei weitere Wachposten mit gezückten Uzis und unglücklichen Gesichtern herum, welche Jestwud knapp zunickten und dabei so bedröppelt aus der Wäsche guckten, wie es nur angebracht schien angesichts der Tatsache, dass sie ihren Job so derart grandios versaut hatten.

Schlecht, dachte Stoik, wenn sie die Sache jetzt wirklich noch geheim halten wollen. Wieder drei Zeugen mehr, und alles potenzielle Informationslöcher, jetzt, wo die Dinge ins Wanken geraten könnten. Wäre er an Jestwuds Stelle gewesen, hätte er die alle in irgendeinen Keller gesperrt, bis die Sache ausgestanden und man damit an die Öffentlichkeit gegangen war, verdient hätten sie es ohnehin für ihre Nachlässigkeit.

»Was ist das?«, fragte Stoik und zeigte auf einen weiteren Weg, der, halb verborgen hinter ein paar Büschen, zu einer kleinen Absenkung auf der Gebäuderückseite hinführte, wo sich ein breites, verschlossenes Stahltor befand, das einen sehr stabilen Eindruck machte.

»Garage«, sagte Jestwud. »Man braucht einen Drücker für das Tor vorne und einen zweiten für das hier, den Zugang zur Tiefgarage. Es schließt sich automatisch wieder hinter einem. Drinnen ist ein Aufzug, so kommt man ins Haus.«

»Hm«, brummte Stoik. »Wer hat alles so einen Drücker?«

»Nur Polina«, sagte Jestwud. »Und der Boss, natürlich.«

»Kameras?«, fragte Stoik.

»Klar. Jede Menge. Über der Einfahrt zur Garage, vorn am Tor natürlich auch und den ganzen Weg bis hierher, ein paar sind zusätzlich in den Bäumen versteckt. Weitwinkel, denen entgeht nichts.«

»Auch im Gebäude?«

Jestwud nickte. »Außer in den Schlafzimmern natürlich.«

»Verstehe. Keine weiteren Eingänge außer dem hier und dem vorne?«

»Nein, nur diese beiden, der ehemalige Dienstboteneingang ist zugemauert. Aber wie gesagt, man braucht einen Drücker, um überhaupt so weit zu kommen. Und man muss an den Wachleuten vorbei.«

»Wie bist du dann reingekommen?«

»Ich hab auch einen Drücker, aber nur für das Außentor.«

»Aha. Könnte einer es von innen arrangiert haben? Einer der Wachleute?«

»Sehr unwahrscheinlich, die Männer sind alle grundsolide und persönlich vom Don ausgewählt. Und sie werden verdammt gut bezahlt.«

»Vielleicht hat sie jemand anderer noch besser bezahlt?«

Jestwud schüttelte den Kopf. »Sie wissen genau, was passiert, wenn das rauskommt, und sie wissen, dass so was letztlich immer rauskommt. Außerdem ist es bis jetzt noch komplett ruhig, was die Konkurrenz betrifft.«

»Das heißt, es hat sich noch kein anderer Clan gemeldet und seine Vorherrschaft über Moskau erklärt?«

Jestwud schüttelte erneut den Kopf. Es war unschwer zu übersehen, dass er fröstelte, obwohl es überhaupt nicht kalt war.

»Gehen wir rein«, sagte Stoik.

KAPITEL6

Don Semjonow lag auf dem Parkett mitten in der Diele und beinahe hätte man glauben können, dass der Tatort gerade von der richtigen Polizei untersucht wurde. Es gab bewaffnete Aufpasser, wenn natürlich auch ohne Uniform, und sogar einen Kerl in einem weißen Schutzanzug, der, den Rücken zu Stoik, auf dem Boden herumrobbte und Fähnchen verteilte, überall dort, wo sich Körperteile befanden oder Blut hingespritzt war.

Es gab jede Menge Fähnchen.

Als der Kerl sie bemerkte, stand er auf und drehte sich um. Stoik erkannte ihn. Ein kleiner, bebrillter Mann, den sie damals in der Abteilung Schwerverbrechen immer die Made genannt hatten, eine Beschreibung, die seine Körperfülle und sein blasses Gesicht mit den stechenden, dunklen Augen regelrecht zu provozieren schienen, zumal in diesem weißen Schutzanzug mit der lächerlichen Kapuze auf dem Kopf. Er war ein polizeilicher Spurensicherer gewesen. Ein ziemlich guter, sehr penibel, was man in diesem Job auch und vor allen Dingen sein musste. Damals, in einem anderen, fraglos schlechter bezahlten Leben.

Auch die Made erkannte seinen ehemaligen Kollegen sofort wieder. Da waren sie nun also, die beiden Ex-Bullen, beide jetzt mit neuen Jobs. Der eine besser bezahlt als vorher, der andere gar nicht. Wie das Leben so spielte.

»Stoik«, sagte die Made, und der nickte nur, weil er sich nicht mehr an den wirklichen Namen des Mannes erinnern konnte und ihn vor den anderen nicht »Made« nennen wollte. Stoik warf einen Blick auf das, was da überall verstreut auf dem Boden lag, und sah dann schnell wieder in das Madengesicht. Es war der deutlich wohltuendere Anblick.

Dann senkte er den Blick wieder langsam zu dem Toten hinab, nachdem er einigermaßen sicher war, dass sein nicht eingenommenes Frühstück jetzt nicht mehr auf dem schnellsten Weg aus seinem Körper rauswollte.

»Wie zum Teufel ist das denn passiert?«, fragte er die Made, nachdem er sich die Bescherung eingehend betrachtet hatte.

»Weiß ich noch nicht«, sagte sein Ex-Kollege. Natürlich, dachte Stoik. Das Wie herauszufinden, war ja auch nicht die Aufgabe des Kriminaltechnikers, sondern es würde aller Voraussicht nach seine, Stoiks, Aufgabe werden.

»Aber er war schon tot, als …?« Stoik musste nicht weitersprechen. Was man mit Don Semjonow angestellt hatte, war in gewisser Weise ziemlich offensichtlich. Es hatte vor allem mit den schweren Eisennägeln zu tun, die man ihm an diversen Stellen durch diverse Körperteile getrieben hatte. Die Körperteile lagen dabei in einiger Entfernung voneinander entfernt, wie ein bizarres Puzzle, das zu lösen jemand mitten drin keine Lust mehr gehabt hatte. Vollkommen psycho.

Stoiks Blick suchte und fand den Kopf der Leiche. Dieser war mit einem der Eisennägel am Boden fixiert worden, indem man den Mund geöffnet und den Nagel dann durch den Mundraum und das Genick getrieben hatte, sodass das leblose Gesicht des Toten den Betrachter mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, beinahe wie ein grotesker Scherz, falls man krank genug für diese Art von Humor war – auf jeden Fall war es ein deutlich sichtbares Zeichen der Respektlosigkeit gegenüber dem Toten. Stoik erinnerte es unwillkürlich an das Gemälde »Der Schrei« von Edvard Munch. Keine schöne Assoziation, auch wenn ihm der Madenmann soeben versichert hatte, dass Semjonow nicht allzu sehr gelitten hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---