Grünes Grab: Psychothriller - L.C. Frey - E-Book
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Grünes Grab: Psychothriller E-Book

L.C. Frey

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Beschreibung

Wenn der Traum vom Glück zum Albtraum wird … Emma und die erfolgreiche Schriftstellerin Sophie ziehen in ein schickes Wohnviertel in Frankfurt, die abgeschlossene Elitesiedlung „Elysee“, wo sie mitten unter den oberen Zehntausend wohnen. Doch ihre neuen Nachbarn ahnen nichts von dem düsteren Geheimnis, das die beiden Frauen verbindet. Als ein Kind aus der Nachbarschaft verschwindet, fällt der Verdacht schnell auf Emma. Kann Emma ihre Unschuld beweisen? Welches düstere Geheimnis verbirgt sich hinter den teuren Fassaden dieses Viertels?

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GRÜNES GRAB: PSYCHOTHRILLER

JEDER HAT EIN DUNKLES GEHEIMNIS

L.C. FREY

IMPRESSUM

Copyright © 2022 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Anne Bräuer, Textbüro Bräuer, Frankfurt am Main, Korrektorat: Claudia Heinan. Layout und Satz: Ideekarree Leipzig. Umschlaggestaltung: Ideekarree Leipzig, unter Verwendung von: Pixabay.com

220629.211.7.1

Impressum:

Alexander Pohl

Breitenfelder Straße 32

04155 Leipzig

E-Mail: [email protected]

www.Alex-Pohl.de

Die in diesem Roman beschriebenen Personen und Geschehnisse sind fiktiv. Einige der im Buch erwähnten Orte existieren in der Realität, wurden jedoch der fiktiven Handlung dieses Buches angepasst.

Bevor du dich ins Vergnügen stürzt …

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1

Lisple leiser um mich, wenn ich bei Mondenschein

Schau’ zur schimmernden Flur, höhere Lieder sing’

Und mit Freuden verweile

Bei dem blumigen, grünen Grab.

NOVALIS, AN MEINE STERBENDE SCHWESTER

* * *

Es tut mir leid, habe ich gesagt. Mehrfach. Und das stimmt. Es tut mir wirklich leid, so hätte das alles nicht laufen sollen, auf keinen Fall. Nichts davon.

Und es war meine Schuld, mal wieder.

Ganz allein meine Schuld.

Die Sonne geht gerade unter, als ich aus dem Wald hervortrete. Ich komme mir vor wie eine Sagengestalt, Rübezahl vielleicht oder die böse Hexe aus dem Märchen. Ja, das trifft es besser. Die bucklige Alte mit dem zahnlosen Grinsen und der ekligen Warze auf der Nasenspitze, das würde jetzt zu mir passen: Wart ihr Kinder denn auch alle fein artig? Und gnade euch Gott, falls nicht.

Nachdem ich es hinter mich gebracht hatte, war ich noch eine ganze Weile durch den Wald gelaufen, um irgendwie runterzukommen. Na ja, ziellos umhergestolpert trifft es wohl besser, aber ich musste einfach versuchen, meinen Kopf irgendwie klar zu bekommen, weil Sophie sonst ganz bestimmt etwas merken wird.

Ich muss mich zusammenreißen, sage ich mir immer wieder. Völlig normal wirken, ich darf auf keinen Fall die Kontrolle verlieren. Sogar ein paar der Atemübungen aus dem Yogakurs, den wir früher gemeinsam besucht haben, habe ich probiert. Aber natürlich haben auch die nicht funktioniert. Durch das Herumgerenne im Wald ist mein Gedankenkarussell ja erst so richtig in Schwung gekommen. Wie dumm diese ganze Sache war. Dass mir von vornherein hätte klar sein müssen, wie das nur enden konnte, und jede Menge anderer Was-wäre-wenns und noch mehr Was-wäre-wenn-nichts. Was wäre, zum Beispiel, wenn wir nie nach Élysée gezogen wären? Das zu denken, kommt mir beinahe vor wie Blasphemie; immerhin ist ein Haus in Élysée ja erwiesenermaßen das schönste Zuhause, das man überhaupt für Geld kaufen kann. Pervers viel Geld, um genau zu sein, aber das haben wir ja.

Oder – was wäre, wenn ich Sophie nie kennengelernt hätte?

Uh-oh, ganz dünnes Eis. Nein, diesen Gedanken verbanne ich lieber ganz schnell wieder aus meinem Kopf. Es wäre einfach unfair, so verdammt unfair. Sie liebt mich und ich liebe sie, basta. Daran müssen wir festhalten, das ist eine Tatsache. Eine unerschütterliche Wahrheit. Eine von denen, die sich nicht verbiegen oder interpretieren lassen, für jetzt und immerdar.

Bis dass der Tod uns scheidet.

Es ist schnell dunkel geworden dort drinnen, im tiefen, finsteren Märchenwald. Zwischen den Bäumen, wo der weiche Boden aus verrottenden Nadeln und Blättern meine Schritte verschluckt, als wäre ich gar nicht körperlich anwesend. Ich streiche mir die Haare glatt, fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht und bemerke dabei, dass meine Wangen feucht und heiß sind. Na prima, eine Heulsuse bin ich also auch noch.

Als ich mein Auto erreiche, den kleinen weißen Jeep Wrangler, den Sophie mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hat und der jetzt am Rande des Waldwegs parkt, bin ich fast der Meinung, nun wieder einigermaßen mit der Welt klarzukommen. Dass meine Hände zittern, als ich den Autoschlüssel aus der Tasche hole, ignoriere ich geflissentlich. Bis ich zu Hause bin, wird sich das schon irgendwie gegeben haben. Hoffe ich zumindest.

Ich steige ein.

Dann sehe ich den Zettel.

Also steige ich wieder aus und schnappe mir das Ding, das unter dem linken Scheibenwischer klemmt. Falte es auseinander. Es ist die Hälfte eines DIN-A4-Blatts, offensichtlich hastig aus einem Schreibblock herausgerissen und mit großen und vermutlich absichtlich ungelenk ausgeführten Druckbuchstaben beschrieben, die tief in das Papier eingedrückt sind. Auf dem Zettel steht:

VERPISS DICH, LESBE!

So sehr ich auch darauf starre, die Botschaft bleibt immer dieselbe und sie ist ja nun auch nicht besonders lang. Trotzdem kommt sie irgendwie gar nicht richtig bei mir an. Gar nichts kommt an bei mir, da ist nur diese Kälte, während das Papier vor meinen Augen zu verschwimmen beginnt. Die dunklen Buchstaben beginnen zu tanzen, Blockbuchstaben aus schwarzer oder dunkelblauer Kulitinte, unmöglich zu sagen in dem Schummerlicht, aber unmissverständlich an mich gerichtet.

Nein, denke ich dann. Nicht an mich. Sondern an uns. An Sophie und mich.

VERPISST EUCH, IHR LESBEN!

Ich bemerke, dass meine Finger nicht mehr zittern, als ich den Zettel wieder zusammenfalte und ihn in meine Hosentasche stecke. Dann denke ich, dass das dumm war, weil ich ja jetzt ganz sicher irgendwelche Fingerabdrücke verwischt habe, die vielleicht auf dem Zettel waren. Dann, wie dumm das erst ist, weil so ein Zettel ja nun bestimmt nichts ist, mit dem sich jemals irgendwer je befassen wird, der sich für Fingerabdrücke interessiert. Wie die Polizei zum Beispiel, und auch diesen Gedanken verbanne ich besser ganz schnell wieder aus meinem Kopf.

Nein, keine Polizei.

Auf keinen Fall.

Was mich augenblicklich zu meiner nächsten Frage führt. Soll ich den Zettel Sophie zeigen? Damit sie mir endlich glaubt, dass man uns in Élysée vielleicht doch nicht mit ganz so offenen Armen empfangen hat, wie sie das immer behauptet? Dass es da ein paar äußerst seltsame Zeitgenossen gibt mit ein paar äußerst antiquierten Ansichten, was die Liebe betrifft – und wer weiß, was noch?

Damit sie mir endlich glaubt, dass man sich mit einem Haufen Geld eben vielleicht doch nicht alles kaufen kann?

Aber das geht nicht.

Sophie würde herauskriegen wollen, von wem der Zettel stammt. Sie würde mich fragen, wo und wann ich das Ding gefunden habe. Sie würde der Sache auf den Grund gehen wollen, mit detektivischem Eifer, immerhin ist sie ja Schriftstellerin. Professionelle Puzzle-Löserin, sozusagen. Sie würde alles ganz, ganz genau wissen wollen. Zum Teufel, sie würde den Zettel vielleicht tatsächlich auf Fingerabdrücke untersuchen lassen, das brächte sie zustande.

Vor allem aber würde sie mich fragen, was ich um diese Zeit hier, am Waldrand, zu suchen hatte. Und wenn sie mich das fragt, ganz direkt, und mir dabei in die Augen schaut – nein, ich könnte sie nicht belügen. Nicht so, niemals. Immerhin ist sie meine Frau. Die Frau, die ich liebe. Dann käme auch alles andere raus. Dann würde die Welt untergehen.

Also nein. Ich werde ihr den Zettel nicht zeigen. Stattdessen werde ich das Ding verbrennen und im Klo runterspülen. Ja, das ist ein guter Plan. Weg damit, aus den Augen, aus dem Sinn. Vermutlich war es sowieso nur ein dummer Streich und … Moment.

Könnte der Zettel von ihm stammen?

Wäre das wirklich denkbar?

Unschlüssig kaue ich auf meiner Unterlippe herum, während ich das in Erwägung ziehe. Es wäre lächerlich, klar. Kindisch geradezu. Aber nicht unmöglich.

Nein, ganz und gar nicht unmöglich.

Das ist der Moment, in dem die Panik einsetzt. Ich muss weg hier, sofort. Weg von diesem verräterischen Ort, an dem einem irgendwelche Zettel unter die Windschutzscheibe gesteckt werden, die die Welt untergehen lassen könnten. Einfach so, mit einem Fingerschnippen.

Entschlossen starte ich den Wagen und trete aufs Gas. Höre, wie Erde und kleine Steine gegen die wuchtigen Radkästen meines kleinen Geländefahrzeugs prasseln, als der Motor aufheult und ich den Wagen beinahe gleich wieder abwürge. Dann endlich setzt er sich in Bewegung. Ich komme nur ein paar Meter weit, als ich aus dem Augenwinkel sehe, wie etwas aus dem Dunkel des Waldrandes heraus auf mich zuschießt.

Dann kracht es gegen meine Windschutzscheibe.

2

Das Mädchen war ungefähr elf oder zwölf Jahre alt, als es geschah, ja, das könnte ungefähr hinkommen. Damals spielte es am liebsten im Garten mit seinen Puppen und dem alten Puppenhaus, so auch an jenem Tag. Wie sie das eigentlich immer tat, wenn die Mutter das Mädchen nicht im Haus haben wollte, weil sie ihre Ruhe brauchte. Ruhe war sehr wichtig für die Mutter, besonders, wenn sie ihre Kopfschmerzen hatte. Dann verließ sie die schattige Kühle des Hauses manchmal für Tage nicht, und das Mädchen musste ganz allein draußen spielen.

Aber das machte dem Mädchen nichts.

Es war ein schöner Sommertag.

Die Sonne brach funkelnd durch die Blätter der Bäume und streckte ihre Lichtfinger nach dem Mädchen aus, als wollten sie mit ihm Fangen spielen. Die Bäume kamen dem Mädchen wie Riesen aus dem Märchen vor, und manchmal bildete das Mädchen sich ein, dass der Wind ihren raschelnden Baumkronen Flüsterstimmen verlieh, mit denen sie miteinander sprachen, auch, wenn das Kleinmädchengedanken waren und das Mädchen sich schon fast ein bisschen zu alt dafür fühlte. Es waren vielleicht Pappeln, dort im Garten vor dem Haus. Lange, schlanke Bäume, und uralt.

Das Mädchen mochte sie jedenfalls.

Das Mädchen besaß ein großes Puppenhaus aus Holz, und mit dem spielte es am liebsten. Es war schon sehr alt und echte Handarbeit; eine detailgetreue Miniaturversion des großen Hauses, in dem das Mädchen fast ganz allein mit seiner Mutter wohnte, einer dreigeschossigen Villa im Tudorstil, komplett mit Türmchen und Erkern und Mauern mit dekorativen Burgzinnen.

Und einem Turmzimmer.

An der Vorderseite konnte man das Puppenhäuschen aufklappen und dann in die Zimmerchen hineinschauen. Es gab winzige Stühle, die um einen winzigen Tisch herumstanden, und Lampen und Bettvorleger und Badezimmer mit Waschbecken und winzigen Wasserhähnen, und sogar eine kleine Badewanne mit Klauenfüßen aus Zinn, alles ganz detailgetreu.

Am liebsten spielte das Mädchen Familie.

Dazu nahm es immer dieselben drei Puppen – Papa, Mama, Kind. Die Puppenfamilie verbrachte die meiste Zeit gemeinsam im Esszimmer des Puppenhauses und war überhaupt sehr fröhlich. Dort saßen sie um die lange Tafel, aßen winzige Brote und Früchte aus bemaltem Salzteig und erzählten sich lachend vom Tage, wie eine richtige Familie das eben so tut.

Dem Mädchen wurde dieses Spiel nie langweilig.

Es war nämlich sein Lieblingsspiel.

Das Puppenhaus musste immer auf einer Wolldecke stehen, damit es nicht schmutzig wurde oder feucht vom Gras. Das Mädchen hatte noch andere Puppen, aber die lagen meist nur in einem unordentlichen Haufen am Rand der Decke herum. Das Mädchen brauchte sie ja nicht zum Familiespielen.

An diesem Nachmittag fiel dem Mädchen ein neues Spiel ein. Die kleine Puppenmama würde heute etwas anderes machen als sonst, etwas ganz und gar Außergewöhnliches. Heute würde die Mama nämlich eine Migräne haben. Also ließ das Mädchen die Mama-Puppe von dem Tischchen aufstehen, an dem die Familie zusammensaß. Es schob das Stühlchen, auf dem die kleine Puppe gesessen hatte, zurück und ahmte dabei sogar mit dem Mund das Quietschen der Stuhlbeine auf dem Parkett nach, quieeetsch.

Dann ließ es die Mama eine höfliche kleine Verbeugung machen.

»Auf Wiedersehen, lieber Papa«, sagte das Mama-Püppchen, und dann: »Auf Wiedersehen, liebe Sophie«, dann nahm das Mädchen sie und legte sie auf das Bettchen im Schlafzimmer im ersten Stock.

Doch etwas stimmte nicht mit diesem Bild.

Natürlich, dachte das Mädchen, es war ja noch hell draußen, warum sollte sich die Mama also schon so früh zur Ruhe legen? Also stand das Püppchen wieder auf und für eine Weile wog das Mädchen sie unschlüssig in der Hand. Wohin mit dir, Mama?

Dann fiel es dem Mädchen ein.

Natürlich.

Das Turmzimmer.

Manchmal ging Mama dort hinauf, und wenn sie zurückkam, putzte sie sich stets ganz besonders gründlich die Zähne, doch das Mädchen konnte den leichten Rauchgeruch trotzdem wahrnehmen, der die Mama dann umgab. Das Mädchen fand es eklig, wenn die Mama nach kalter Asche roch. Und ihm fiel auf, dass Mama dann manchmal ganz gerötete Augen hatte und anschließend besonders viel Zeit im Schlafzimmer verbrachte.

Plötzlich wusste das Mädchen, was die Puppe tun würde. Richtig, sie würde nach oben gehen, in das Turmzimmer, um dort zu rauchen, und dabei aus dem schmalen Fenster blicken, genau wie Mama das manchmal tat. Das Mädchen blickte sich nach einem dünnen Stöckchen um, das der Puppe als Zigarette dienen konnte, aber es fand keines.

Also stellte das Mädchen die Puppe ins Turmzimmer, ohne Miniaturzigarette, und lehnte sie an den Rahmen des schmalen Fensters, das es dort gab. Doch das Püppchen verlor sein Gleichgewicht, kippte vornüber aus dem langen Fenster und fiel, plumps, auf den Rasen, drei ganze Puppenhausstockwerke tief fiel es hinab. Der Anblick der Puppe, die mit dem Gesicht nach unten im Gras lag, löste eine beklemmende Übelkeit in dem Mädchen aus, sodass es rasch woanders hinsah.

Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass es so in sein Spiel vertieft gewesen war, dass es gar nicht mitbekommen hatte, wie spät es geworden war. Als das Mädchen den Blick hob, war die Sonne, die durch die Wipfel der Bäume brach, warm und rot wie frisches Blut.

Zwielicht.

Die blaue Stunde, die den Tag von der Nacht trennte, und das war die Lieblingstageszeit des Mädchens.

Doch nun verspürte das Mädchen Hunger, und durstig war es auch. Die Mutter hatte es nicht einmal zum Tee hineingerufen, wie merkwürdig, und wurde es nicht auch allmählich Zeit fürs Abendessen? Selbst, wenn ihre Migräne ganz schlimm war, ließ die Mama das gemeinsame Teetrinken doch sonst nie ausfallen, und das Abendessen schon gar nicht.

Schließlich war sie ja eine gute Mutter.

Das Mädchen ließ ihre Puppe liegen, sprang auf und lief zum Haus, hüpfte die breite Treppe hinauf, und dann betrat es die große Variante des Puppenhauses. Die, welche sich nicht aufklappen ließ an der Vorderseite, und wo so gut wie nie die Familie beisammensaß, und schon gar nicht den ganzen Tag lang. Der Vater des Mädchens war schon seit mehreren Wochen auf Geschäftsreise, wie so oft, irgendwo in Asien vielleicht, das Mädchen wusste es nicht genau. Der Vater des Mädchens war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, er baute nämlich Häuser. Nicht so schöne wie das Puppenhaus, in dem das Mädchen und ihre Mutter lebten, aber dafür sehr viele davon und überall auf der Welt. Er verdiente sehr viel Geld damit, und die Mama und das Mädchen waren sehr stolz auf ihn.

In der Vorhalle des großen Hauses war niemand.

Die langen Vorhänge wogten sanft im Wind, die Fenster waren weit geöffnet. Das war ungewöhnlich, fand das Mädchen, denn Mama verabscheute den kleinsten Windhauch. Sie sagte, vom Zug bekäme man eine Erkältung und einen bösen Schnupfen. Als das Mädchen die breite Freitreppe in den ersten Stock hinaufstieg, funkelten die blutig roten Sonnenstrahlen ihr im Vorübergehen verschwörerisch zu.

Nur weiter, liebes Kind, schienen sie zu sagen. Steig hinauf und sieh, ob du nicht deine Mama finden kannst. Also stieg das Mädchen weiter hinauf, bis in den dritten Stock stieg sie, doch nirgends fand es auch nur eine Spur von seiner Mutter.

Oben angekommen, begann es zu rufen: »Mama, bist du hier irgendwo?«, doch es erhielt keine Antwort. Es war ein sehr großes Haus, und seine dünne Kleinmädchenstimme drang sicher nicht bis in jeden Winkel vor. Jedoch wusste das Mädchen, dass seine Mutter nur sehr wenige Räume der Villa überhaupt je benutzte. Die meiste Zeit verbrachte sie im Schlafzimmer, besonders, wenn sie ihre Migräne hatte. Dann verließ sie das Bett höchstens, um dem Mädchen Essen zu machen und ihm dabei zu helfen, das Puppenhaus am Morgen auf die Wiese zu schleppen, wobei sie stets eine große, dunkle Sonnenbrille trug, weil das Licht ihr sonst in die Augen stach, wie sie sagte.

Doch das Mädchen fand die Mutter nicht im Schlafzimmer, und sie war auch nicht in der Bibliothek, und schließlich klopfte das Kind sogar zaghaft an der Tür zum elterlichen Badezimmer, dann klinkte es und öffnete vorsichtig die Tür.

Doch auch hier war die Mutter nicht.

Als es zurück auf die Galerie trat, hörte das Mädchen das Klopfen zum ersten Mal. Zunächst nur leise und unregelmäßig, doch als das Mädchen ganz still dastand und lauschte, kam es zu dem Schluss, dass das Geräusch von oben kommen musste. Es hob den Kopf, sah die Treppe hinauf. Über ihm befand sich nur der Dachboden und das Mädchen konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was seine Mutter dort oben anstellen und wozu sie so derart unrhythmisch auf irgendwas herumklopfen sollte. Dort oben gab es nur Staub und eklige, fette Spinnen, manche davon tot, nur leere, seltsam verkrümmte, ausgetrocknete Hüllen. Das Mädchen hatte selbst nachgesehen.

Dann kam ihr das Turmzimmer in den Sinn. Vielleicht war die Mama ja dort hinaufgegangen, um zu rauchen?

Das Turmzimmer hatte einen kreisrunden Grundriss und verfügte über einen kleinen Erker mit einem langen, doppelflügeligen Fenster. Dort oben standen nur ein paar mit alten Laken verhüllte Sitzmöbel herum, die nach Mottenkugeln rochen und die das Mädchen ein bisschen gespenstisch fand, was den Raum jedoch nur umso interessanter machte. Der größte Reiz des Turmzimmers bestand überhaupt darin, dass der Papa dem Mädchen strengstens verboten hatte, es jemals zu betreten. Vermutlich hing das mit dem Fenster zusammen, dessen Sims kaum knöchelhoch war. Der Papa wollte sicher nicht, dass sie hinausfiele, drei ganze Stockwerke tief, und unten ins Gras plumpste.

Das unrhythmische Klopfen ertönte erneut.

Nun war das Mädchen sicher.

Ja, das Geräusch kam eindeutig aus dem Turmzimmer.

Für einen Moment stand sie noch unschlüssig am Fuße der schmalen Holztreppe, die nach oben führte, doch schließlich fasste sich das Mädchen ein Herz und beschloss, sich über das Verbot des Vaters hinwegzusetzen. Dem langen Fenster, versprach es ihrem Vater im Stillen, würde es auch ganz bestimmt nicht zu nahe kommen. Doch es musste einfach wissen, was es mit diesem Klopfen auf sich hatte. Ein geheimnisvolles Geräusch unbekannten Ursprungs, in einem uralten, riesigen Haus, das war einfach unwiderstehlich. Das Mädchen würde ein Abenteuer erleben und vielleicht sogar einen richtigen Geist dort oben treffen. Aber kein grusliges, böses Gespenst, sondern einen freundlichen kleinen Flattergeist, mit dem sie sich vielleicht anfreunden könnte. Einen Geist, der vielleicht genauso einsam war wie das Mädchen selbst.

Also stieg sie hinauf.

Als sie das Turmzimmer betrat, stellte das Mädchen enttäuscht fest, dass der Ursprung des geheimnisvollen Klopfens erschreckend trivialer Natur war. Das lange Fenster stand weit offen, und in der leichten Brise schlugen beide Fensterflügel in unregelmäßigen Abständen gegen die Außenwand. Die langen Vorhänge hingen träge an den Seiten des Fensters herab, aber die sahen überhaupt nicht aus wie ein Geist, nicht mal ein kleiner. Also ging das Mädchen doch zum Fenster mit dem flachen Sims hinüber, um es zu schließen. Und als es einmal dort stand, konnte es dann doch nicht widerstehen, noch ein Stückchen näher heranzugehen, und dann noch ein klitzekleines Stückchen, und für einen Augenblick hinauszuschauen. Wer konnte sagen, wann sich wieder eine solche Gelegenheit ergeben würde – und ob überhaupt?

Vorsichtig stellte das Mädchen sich vor den niedrigen Sims, hielt sich mit beiden Händen gut am Fensterrahmen fest und blickte dann hinaus in die Welt. Bis weit hinter das riesige Grundstück blickte das Mädchen, blickte über die Wipfel des dichten Waldes, in dessen Mitte das Haus lag, blickte in die Ferne und bis zum Horizont, hinter dem just in diesem Moment die Sonne mit ein paar letzten Strahlen glühend unterging und dem Mädchen ein letztes Mal an diesem Tag ihre sanfte, ersterbende, blutrote Wärme sandte.

Es war wunderschön.

Dann wandte das Mädchen den Blick nach unten, vermutlich, weil man das eben so macht, wenn man an einer erhöhten Stelle steht, es ist ein ganz natürlicher Instinkt. Einen Moment lang genoss es das Gefühl, sich einzubilden, es würde fallen. Das angenehme Kribbeln in seinem Bauch, bei der Vorstellung, schwerelos durch die Luft zu gleiten wie ein Vogel. Seine Schwingen auszubreiten und einfach davonzufliegen, mitten in die weite Welt hinein.

Dann sah es nach unten.

Sah wirklich hin.

Da unten auf dem Rasen vor dem Haus lag jemand, nur ein winziger Umriss inmitten von endlosem Grün – klein und ganz verdreht, und ein sanfter Wind ließ das geblümte Sommerkleid, das sie trug, sich bauschen. Es war eine Frau, sah das Mädchen. Es war ihre Mutter, da unten im Gras.

Sie liegt da wie eine Puppe, dachte das Mädchen bei sich, während sie hinab starrte und der Tag starb. Wie eine Puppe, die man weggeworfen hatte, weil das Spielen mit ihr keinen Spaß mehr machte.

3

Als ich auf den umzäunten Lehrerparkplatz einbiege, läuft sie mir beinahe vors Auto.

Ein paar der Schüler drehen die Köpfe, als meine Bremsen quietschen, aber die alte Hexe tut so, als hätte sie gar nicht mitbekommen, dass ich sie gerade fast überfahren hätte. Taub ist sie allerdings nicht, das weiß ich. Ich starre sie durch die Windschutzscheibe an, in der linken unteren Ecke breitet sich ein Spinnennetz von Rissen zur Mitte hin aus.

Sehe der alten Martha dabei zu, wie sie da herumsteht, als gehöre ihr die Welt.

Genau, wie sie das früher immer gemacht hat, als sie noch mit Buster Gassi ging, ihrem Pudel. Doch Buster ist fort. Davongelaufen.

Zumindest behauptet sie das.

Auf dem Kopf trägt sie heute eine dieser lächerlichen Plastiktüten gegen den Regen, der vermutlich bald einsetzen wird. Dabei sieht sie aus, als könne sie kein Wässerchen trüben. Nur eine alte Frau, die ihre morgendliche Runde geht.

Dann entdeckt sie mich, oder tut wenigstens so, als hätte sie gerade erst Notiz von mir genommen. Sie lächelt mich an, dieses falsche Miststück. Das Grinsen zieht ihre grellrot geschminkten Lippen auseinander und halb erwarte ich, dass darunter kleine, nadelspitze Zähne zum Vorschein kommen, die endlich das Monster offenbaren, das sie in Wirklichkeit ist.

Doch sie hebt nur die Hand, um mir zuzuwinken.

Wie man das eben so tut unter Nachbarn.

Ich verziehe keine Miene und wünsche ihr im Stillen weiterhin die Pest an den Hals.

Denn ich weiß, was wirklich mit Buster geschehen ist.

Eine Sturmbö fegt über den Platz und die Alte zieht den Kopf zwischen die Schultern und presst die Hand auf die Plastiktüte auf ihrem Kopf, damit die nicht davongeweht wird.

Dann geht sie endlich weiter.

Das alles sieht erschreckend banal aus.

Nur eine alte Frau mit einer dämlichen Plastiktüte auf dem Kopf.

Ich schaue ihr noch ein Weilchen hinterher, bis hinter mir ein scharfes Hupen ertönt. Natürlich, auch andere Lehrer wollen heute Morgen zur Arbeit. Also trete ich aufs Gas und fahre auf den Parkplatz, wo ich eine reservierte Parkbucht habe, direkt neben der von Simon Schwarz. Nur für mich und meinen kleinen weißen Jeep mit der gesplitterten Windschutzscheibe.

Sophie hat veranlasst, dass sie noch heute Nachmittag gewechselt wird. Jemand wird kommen, den Jeep abholen und das erledigen. Und ihn danach wieder zurückbringen, am selben Tag, versteht sich. Schließlich sind wir VIP-Kunden.

Sophie hat ein bisschen geschimpft über den Sprung in der Windschutzscheibe, aber letztlich war sie natürlich vor allem froh, dass der Stein den Lack der Motorhaube nicht zerkratzt oder den Außenspiegel erwischt hat. Oder mich. Natürlich konnte ich ihr das mit dem Zettel nicht sagen, dessen verkohlten Überreste ich gestern Abend tatsächlich im Klo runtergespült habe, und ich musste auch ein wenig improvisieren, als ich ihr erzählte, wo und wann das mit dem Stein passiert ist, aber für mich besteht kein Zweifel, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Zettel und dem Stein. Beides war ein Schuss vor den Bug, oder zwei Schüsse, Stufe eins und Stufe zwei. Die Aussage ist dabei dieselbe und sie kam mit Sicherheit von derselben Person.

Verpiss dich, Lesbe. Verpisst euch alle beide!

Aber nichts davon ahnt Sophie. Was sie betrifft, war ich gerade auf dem Weg zurück von der Stadt, wo ich mir neue Schuhe kaufen wollte, aber leider keine passenden gefunden habe, als es passierte, aus heiterem Himmel. Mitten auf der Landstraße. Einer von diesen blöden Lkws, der vor mir fuhr und dem dann plötzlich ein Stein von der Ladefläche fiel, und ich, ganz in Gedanken, bin vielleicht auch ein bisschen zu dicht aufgefahren, ja, kann schon sein.

Ich war so geschockt, dass ich sofort rechts ranfahren musste und minutenlang nur zitternd auf die Windschutzscheibe starren konnte; zu keiner Reaktion fähig, zumindest dieser Teil ist ja nicht gelogen. Als mein Gehirn dann wieder einsetzte, war der Laster natürlich längst verschwunden, und das Nummernkennzeichen habe ich mir in dem ganzen Tohuwabohu selbstverständlich auch nicht eingeprägt, so ein Pech.

Für mich klang das glaubwürdig.

Ich musste Sophie natürlich hoch und heilig versprechen, mich beim Autofahren besser zu konzentrieren. Meine Gedanken nicht immer so abschweifen zu lassen. Aber was will man machen, so bin ich nun mal. Eine Träumerin. Sophie sagte, das mit der Windschutzscheibe mache rein gar nichts, entscheidend sei doch letztlich nur, dass mir nichts passiert sei. Dass es mir gut geht.

Es hätte schließlich auch ganz anders ausgehen können.

Damit hat sie durchaus recht. Mehr, als sie ahnt.

Ich schließe den Wagen ab und setze mein Alles-Paletti-Gesicht auf. Das fällt mir ganz leicht, genauso leicht, wie mit den Kids hier an der Schule klarzukommen. Das hier ist schließlich nicht irgendein Gymnasium. Die Schüler stören nie den Unterricht oder verprügeln sich gegenseitig auf dem Pausenhof, und außerdem sind sie alle ziemlich intelligent, was wirklich ein Segen ist – und offen gestanden eine wohltuende Abwechslung zu den Schulen, an denen ich vorher gearbeitet habe. Selbstbewusst sind sie, das schon, und nicht zu knapp, aber niemals vorlaut oder gar rüpelhaft. Es macht Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Und das sollte es auch, auf mein Gehalt als Lehrerin sind wir – bin ich – schließlich nicht angewiesen, deswegen mache ich den Job ja auch gar nicht. Es ist nur so, dass mir irgendwann klar wurde, dass ich wieder einer Arbeit nachgehen wollte, irgendeiner sinnvollen Beschäftigung. Den ganzen Tag zu Hause herumhängen? Da fiele mir die Decke auf den Kopf, und außerdem weiß ich, dass Sophie ihre Ruhe braucht, während sie an ihrem neuen Buch arbeitet. Umso mehr freue ich mich auf unsere gemeinsamen Abende, unter der Decke auf der Couch oder bei einem Glas Wein in der Badewanne (die so gigantisch ist, dass man darin locker ein paar Bahnen schwimmen könnte) oder im Bett, wenn uns danach ist. Es ist immer noch sehr schön mit uns, daran halte ich fest. Und leidenschaftlich, was nach all den Jahren eine echte Leistung ist.

Etwas Besonderes.

Als ich das Schulgebäude durch den Seiteneingang betrete, nickt mir der Wachmann freundlich zu. Er heißt Jan, glaube ich, oder Nils. Keine Ahnung, jedenfalls irgendein einsilbiger Name. Vielleicht auch Lars? Nick?

Vor dem Klassenzimmer bleibe ich wie jeden Morgen einen Moment lang stehen, um mich zu sammeln. Schaue auf meine neue Uhr, eine rosé-goldene Rolex Datejust aus der neuesten Kollektion und natürlich ebenfalls ein Geschenk von Sophie. Ich bin genau rechtzeitig, stelle ich fest, wie so ziemlich jeden Morgen. Ich mag zwar eine Träumerin sein, aber was das betrifft, bin ich sehr zuverlässig. Ich schüttele die elegante Uhr zurück unter die Manschette meiner Bluse. Noch immer schäme ich mich manchmal fast für diesen zur Schau gestellten Reichtum, auch wenn wir es uns ja nun wirklich leisten können, und eine solche Uhr an einer Schule wie dieser kaum auffällt, die Marke ist auch unter den Schülern recht beliebt.

Als ich nach der Klinke greife, überkommt mich für einen Sekundenbruchteil eine albtraumhafte Vorstellung. Die Schüler grinsen mich verstohlen an, und als ich mich zur Tafel umdrehe, steht dort in ungelenken Druckbuchstaben … VERPISS DICH, LESBE!

Aber nein, das ist natürlich Unsinn.

Nicht diese Schüler, nicht an dieser Schule. Ausgeschlossen. Also straffe ich mein Lächeln, öffne die Tür. Wie immer sitzen alle bereits auf ihren Plätzen und schauen erwartungsvoll in meine Richtung, als ich eintrete. Diesmal reagieren sie allerdings ein wenig zögernd auf mein fröhliches »Guten Morgen!«, fast etwas unterkühlt, und mein Herzschlag beschleunigt sich wieder ein bisschen.

Nein, sage ich entschlossen zu mir selbst. Sie können nichts davon wissen, keiner von ihnen. Du bildest dir etwas ein, Emma. Es wäre schließlich nicht das erste Mal.

Es ist schummerig hier drin, beinahe düster. Draußen jagen schwere Regenwolken über einen bestenfalls bleigrauen Himmel. Herbstwetter. Also mache ich das Licht an und die Atmosphäre im Zimmer kippt augenblicklich, als die industriemäßige Helligkeit das Zimmer bis in den letzten Winkel ausfüllt.

Als ich mich wieder zur Klasse umdrehe, fällt es mir auf.

Ein Platz ist leer.

Ich muss nicht nachdenken, wessen Platz das ist, als sich mein Blick richtiggehend festsaugt an der leeren Tischplatte und dem ordentlich unter den Tisch geschobenen Stuhl dahinter.

Jetzt habe ich erst recht den Eindruck, dass mich alle anstarren. Vorwurfsvoll. Anklagend? Dabei ist es ganz normal, dass Schüler hin und wieder nicht zum Unterricht erscheinen. Weil sie krank sind, zum Beispiel. Nichts Schlimmes, natürlich, nur eine Erkältung oder so was, immerhin haben wir Oktober. Kein Grund also für verstohlene Blicke, kein Grund für die zögerliche Begrüßung oder die merkwürdige Stille im Klassenraum heute Morgen. Vermutlich sollte ich die Klasse trotzdem fragen, ob einer weiß, was mit Mia los ist, weil man das eben so macht.

Weil sie das von mir erwarten.

Doch bevor ich dazu komme, der Sache weiter auf den Grund zu gehen, geschweige denn, mit dem eigentlichen Unterricht zu beginnen, klopft es an der Tür zum Klassenraum und Doris, die Sekretärin unseres Direktors, tritt ein. Sie schenkt mir ein Lächeln, das ein bisschen gequält wirkt, dann kommt sie auf mich zu und flüstert mir etwas ins Ohr, so leise, dass ich sie kaum verstehen kann: »Würden Sie bitte Herrn Doktor Weber aufsuchen? In seinem Büro. Ich würde hier so lange übernehmen.«

»Jetzt gleich?«

Sie nickt bestimmt, und ihr Lächeln wird schmaler, verschwindet für einen Moment fast ganz. Ich schaue sie stirnrunzelnd an. Sie will meine Klasse übernehmen? Sie ist ja noch nicht mal eine Lehrerin, geschweige denn hat sie eine Ahnung, wo wir gerade im Stoff stehen. Was aber eigentlich nur bedeuten kann, dass mein Gespräch mit Weber nicht besonders lange dauern wird.

»Okay«, sage ich. »Klar.«

Dann wende ich mich an die zwölfte Klasse und erkläre ihnen, dass ich in ein paar Minuten zurück sein werde und sie bis dahin brav wie die Lämmchen sein sollen. Keiner lacht über meine bewusst gewählte Grundschul-Ausdrucksweise. Okay. Merkwürdig. Das fahle Lächeln auf Doris’ Gesicht kommt mir vor, als wäre es nur aufgemalt und irgendwie schief, aber vermutlich bilde ich mir das nur ein. Wer weiß, was ihr Problem ist.

Als draußen etwas gegen das Fenster klatscht, zucken alle zusammen, mich eingeschlossen, aber es ist nur der Ast einer Kastanie, die dort steht und die jetzt vom Sturm gebeutelt wird, der es allmählich ernst zu meinen beginnt. Die ersten, fetten Tropfen klatschen gegen die Scheibe, dann geht es richtig los.

Da kann sich die alte Hexe mit ihrem Pudel ja glücklich schätzen, ihre dämliche Plastiktüte auf dem Kopf zu haben, denke ich grimmig und wünsche ihr, dass sie trotzdem klatschnass wird und sich eine Lungenentzündung holt, während ich aus dem Zimmer auf den Gang hinaustrete und mich wie gewünscht auf den Weg zum Büro des Direktors mache.

Ich bin mir sicher, dass es sich dabei um nichts Tragisches handeln kann.

Aber das mulmige Gefühl werde ich trotzdem nicht los, während ich durch das leere Schulhaus gehe, und die gedämpften Geräusche des Unterrichts jenseits der geschlossenen Türen wahrnehme, wie aus einem fernen Universum, zu dem ich keinen Zugang habe.

4

Die Tür zum Vorzimmer des Direktors steht ein Stück offen. Doris’ verlassener Schreibtisch thront in der Ecke vor einem wuchtigen Aktenschrank, der leere Bürostuhl dahinter ist an den Tisch geschoben, die Lehne akkurat zur Kante des Schreibtischs ausgerichtet, die Papierstapel auf der Tischplatte sind säuberlich angeordnet. Es wirkt, als hätte hier jemand Feierabend gemacht, der nicht vorhat, heute noch wiederzukommen. Die Vorstellung, dass Doris, die eigentlich dort sitzen müsste, jetzt gerade vor meiner zwölften Klasse steht und sich als Deutschlehrerin versucht, ist absurd. Vielleicht lässt sie die Schüler ja gerade Bilder malen oder einen Aufsatz über ihr schönstes Ferienerlebnis verfassen, auszuschließen wäre das jedenfalls nicht.

Während ich das Vorzimmer durchquere und auf das Büro des Direktors zugehe, versuche ich angestrengt, mir vorzustellen, was Doktor Weber von mir wollen könnte. Vielleicht geht es ja um einen Schüler, der ihm, überwältigt von schlechtem Gewissen, gestanden hat, dass er hinter dem Zettel und dem Steinwurf auf mein Auto steckt, aber das ist wohl eher unwahrscheinlich.

Zumal an dieser Schule – oder zumindest hoffe ich das inständig.

Denn wenn es nämlich tatsächlich der Grund ist, aus dem ich jetzt vor Webers Bürotür stehe, würde das bedeuten, dass ich Sophie doch noch beichten müsste, dass die Sache mit dem Lkw erfunden war und dass das mit dem Steinwurf ganz woanders passiert ist als mitten auf der Landstraße. Ich müsste ihr dann sagen, dass ich dort war, im Wald, und dass ich sie belogen habe. Und vielleicht auch, wieso.

Gar nicht gut.

Ich atme ein.

Dann stoßweise wieder aus.

Wie im Yogakurs.

Es hilft auch diesmal kein bisschen gegen die aufkommende Panik und für einen Moment bin ich fast so weit, umzukehren und fortzulaufen. Einfach loszurennen wie Forrest Gump und nicht wieder damit aufzuhören, bis ich außer Reichweite von allem und jedem bin.

Stattdessen klopfe ich an die Tür. Einmal, zweimal, dann öffne ich entschlossen und trete ein. Bloß keine Furcht zeigen, sagt Sophie immer.

Weber hebt den Kopf, den er über irgendwelche Papiere gesenkt hat, und quält sich ein Lächeln raus, als er mich erkennt. Dann verblasst das Lächeln sofort wieder. »Schön, dass Sie es einrichten konnten«, sagt er, ganz professionelle Höflichkeit. »Würden Sie bitte die Tür schließen?«

Ich nicke. Schließe die Tür. Weber deutet auf den Besucherstuhl, der vor seinem Schreibtisch steht. Jedes Möbelstück in seinem Büro ist aus dunkel gebeiztem Nussbaumholz, sämtliche Sitzflächen sind mit hochwertigem Leder bezogen, sogar der Sitz des Besucherstuhls ist ausgesprochen bequem. An den Wänden reihen sich deckenhohe Regale, in denen sich Bücher, Ordner und lose Schriftstücke stapeln, die aussehen, als hätte jemand versucht, absichtlich den Eindruck von Zerstreutheit zu erwecken, die man gemeinhin Genies nachsagt. Ein paar Auszeichnungen und gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos hängen an den Wänden, auf denen Weber irgendjemandes Hände schüttelt, alles wichtige Leute vermutlich.

Das Leder unter meinem Hintern quietscht nicht mal, als ich mich setze, er muss es wohl gut pflegen. Draußen klatscht der Regen inzwischen in einem Trommelfeuer dicker Tropfen gegen die dreifach isolierte Fensterscheibe.

Der Sturm ist hier.

Weber setzt seine Brille ab, zieht die hohe Stirn unter der Halbglatze kraus, während er mich ernst mustert, und sagt: »Ich fürchte, es gibt ein Problem, Emma. Und zwar ein großes.«

»Wie lange sind Sie jetzt bei uns, Emma? An der Schule, meine ich.«

Natürlich, was könnte er auch sonst meinen? Außer dem subtilen Hinweis darauf, dass wir auch immer noch ein bisschen die Neuen in Élysée sind. Vermutlich würde der Herr Direktor selbst ganz gern dort wohnen, die Eltern seiner Schüler als Nachbarn haben, zu deren Grillpartys eingeladen werden und das alles. In gewisse Kreise aufsteigen, auch außerhalb seiner Position als Schulleiter. Doch höchstwahrscheinlich wird das nie passieren. Ich gehe davon aus, dass Doktor Weber finanziell gut dasteht, obere Mitte, würde ich sagen, durchaus solide. Aber ich weiß auch – zumindest in etwa – wie viel Geld Sophie und unsere Nachbarn in Élysée besitzen. Es sind verschiedene Welten.

Ich überlege. »Ich bin seit etwa sechs Monaten hier, Doktor Weber.«

»Und vorher?«

»Bei ein paar anderen Schulen, wie Sie wissen. Steht ja alles in meiner Bewerbung.«

»Stimmt«, sagt er und nickt, rückt aber immer noch nicht damit heraus, wieso das plötzlich wichtig sein soll. »Aber ich meine, Sie waren vorher noch niemals an einer solchen Bildungseinrichtung wie der unseren, nicht wahr? Ich meine …«

»An einem Gymnasium?«, frage ich – ein bisschen provokant, aber nicht schnippisch. Das niemals. Man darf sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen lassen, sagt Sophie. Sich nicht in die Karten blicken lassen. Das wäre unprofessionell. Nicht unserer gesellschaftlichen Position entsprechend.

»Ich meinte, an einem gehobenen Gymnasium«, erklärt Weber. »Einem, das in aller Regel gewissen Kreisen vorbehalten ist.«

Daher weht also der Wind.

»Nein«, sage ich. Wie er ebenfalls weiß. Zumindest, falls er meinen Lebenslauf überhaupt gelesen hat, bevor er mich eingestellt hat. Nicht, dass auch je nur der geringste Zweifel daran bestanden hatte, dass ich den Job kriegen würde. Die Gesuche mancher Menschen lehnt man einfach nicht ab. Die von Sophie Stratmann, zum Beispiel.

»Ich verstehe«, sagt er und macht eine Kunstpause. Dann: »Welche Beziehung haben Sie zu Mia Neumann, Emma?«

»Welche Beziehung?«, frage ich und denke: Ernsthaft? »Sie ist eine meiner Schülerinnen, Herr Doktor Weber. Wie Ihnen ebenfalls bekannt sein dürfte.« Jetzt mit etwas mehr Nachdruck. Weber mag mein Boss sein, aber ich muss mir von ihm keine Spielchen gefallen lassen. Das muss ich von niemandem. Ich höre Sophie leise applaudieren. Zeig’s ihm, kleine Tigerin!

Wieder nickt er ernst, dann lässt er die Bombe platzen. Und was für eine.

»Und das ist alles, da sind Sie sicher?«

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«, frage ich und die Tigerin in mir beginnt augenblicklich zu schrumpfen. Ich hoffe, dass er es nicht merkt.

»Nun, Emma, mir sind leider ein paar wirklich ungeheuerliche Dinge zu Ohren gekommen. Ich fürchte, dies ist der einzige passende Ausdruck dafür. Ungeheuerlich.«

Ich schlucke. Wovon redet Weber da bloß? Ich kann ihn nur anstarren, wieder kriege ich kein Wort raus. Jetzt nicht mehr. Die Tigerin hat sich aus dem Staub gemacht, einfach so. Miese Verräterin.

»Man hat mir zugetragen, dass Sie ein Verhältnis mit Mia pflegen. Ein sehr vertrauliches Verhältnis, Emma. Eines, das weit jenseits dessen liegt, das zwischen einer Schülerin und ihrer Lehrerin als angemessen …«

»Wie bitte?«, schnappe ich, beinahe schon erleichtert. Das ist derart absurd, dass er es unmöglich ernst meinen kann. Es kann sich nur um ein grauenhaftes Missverständnis handeln, dass sich mit Sicherheit ganz einfach aufklären lassen wird. Einfach so, mit einem Fingerschnippen. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, Doktor Weber, oder?«

»Leider doch, fürchte ich.« Er nickt wieder. Langsam, beinahe elegisch. Dazu hat er diesen tief betroffenen Ausdruck in den Augen, der sich jetzt noch verstärkt, so, als verstehe er die Welt plötzlich nicht mehr. Aber vielleicht hat er das nie. »Man hat mir die Sache sehr detailliert auseinandergesetzt. Und es ist mehr als nur das, Emma. Es gibt ein Video.«

»Ein Video. Aha.«

»Ja. Und daher würde ich Sie bitten, sich dieses Video jetzt in meinem Beisein anzuschauen und mir anschließend zu erklären, was Ihrer Ansicht nach darauf zu sehen ist. Würden Sie das tun? Vielleicht klärt sich ja doch noch alles auf, Emma. Das hoffe ich jedenfalls inständig.«

Da ist er nicht der Einzige. Ich kapiere gar nichts mehr.

Weber öffnet die oberste Schublade seines viktorianischen oder edwardianischen oder welcher Epoche auch immer entstammenden Schreibtischs und entnimmt ihr ein Computertablet in einer Echtlederhülle. Die klappt er auf, schaltet das Tablet ein und dreht es dann so, dass ich auf das Display schauen kann. Darauf erkenne ich zunächst gar nichts außer ein paar verschwommenen Flecken und Grünschattierungen.

»Bereit?«, fragt er, als wäre das hier ein Test oder so. Ein Spiel, bei dem ich in kürzester Zeit möglichst viele richtige Antworten geben muss.

Ich nicke, und er tippt auf das Display.

Das Video startet, die verschwommenen grünen Kleckse werden jetzt zu Laubblättern. Lindenblättern vielleicht, oder Birke, so genau kenne ich mich da nicht aus. Deutlich zu sehen ist jedenfalls, dass sich der Hobbyfilmer hinter einem Baum versteckt. Ein Spanner also, denke ich, aber ich kann nicht darüber lachen. Weil ich allmählich zu ahnen beginne, was als Nächstes zu sehen sein wird, auch wenn ich nicht begreife, wie es davon ein Video geben kann. Der heimliche Filmer verändert seine Position und es ist das leise Rascheln der Blätter in den Zweigen zu hören, als er sich bewegt. Fehlt eigentlich nur noch, dass er schwer zu atmen beginnt.

Dann sieht man zwei Menschen, die sich gegenüberstehen.

Fraglos bin einer davon ich.

Der Filmer zoomt ein kleines Stück heran, das Bild wird kurz unscharf, dann wieder scharf. Ich, links im Bild, und mir gegenüber steht Mia Neumann. Das blonde Mädchen ist ein Stückchen kleiner als ich, aber nicht viel. Im Hintergrund der Wald. Offenbar reden wir miteinander, ziemlich angeregt, oder zumindest ich. Ich gestikuliere wild auf sie ein, während sie mir mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf gegenübersteht. Dann hebt sie den Kopf, sagt irgendetwas, und mein Gestikulieren hört für einen Moment auf. Sehe ich wirklich so aus, wenn ich mit jemandem rede? Das ist ja furchtbar, wie ein Gebrauchtwagenhändler auf Speed.

Man hört sogar, wie der Spanner leise atmet (nicht schwer, sondern normal), vielleicht sogar besonders leise, weil er versuchen will, uns auch noch zu belauschen, was aber nicht zu klappen scheint, man kann jedenfalls nicht hören, worüber wir reden. Vermutlich stehen wir dafür zu weit weg.

Es ist ein unwirkliches Gefühl, sich in einer Situation zu betrachten, bei der man selbst die Hauptrolle spielt und bei der man sich unbeobachtet glaubte. Irgendwie verletzend, ein beinahe zerstörerisches Vordringen in meine Privatsphäre.

Und auf jeden Fall ein böswilliges.

Ich sage gerade etwas zu Mia, und sie lässt ihre Arme sinken, gleichsam fährt sie ihre Abwehr herunter, das ist ihrer Körpersprache deutlich anzusehen. Der heimliche Beobachter verändert erneut seine Position, schleicht jetzt um den Baumstamm herum (es ist tatsächlich eine Birke, das erkenne ich nun an dem weißen Stamm), man hört ganz leise das Laub unter seinen Füßen rascheln, als er sich vorsichtig bewegt.

Dann kommen wir wieder ins Bild, Mia und ich, diesmal allerdings sieht man eher meinen Rücken, und ich verdecke sie ein bisschen. Ich berühre Mia sanft an der Schulter, dann ziehe ich sie in meine Arme, was sie bereitwillig zulässt. Ihr blonder Scheitel lugt über meiner Schulter hervor, ihr Kopf zittert leicht, sie weint offenbar. Einen kurzen Moment lang stehen wir so da, und dann ist zu sehen, wie sie zögernd ihre Hände hebt, offenbar, um mich ebenfalls zu umarmen. Das habe ich damals gar nicht mitbekommen, denke ich, und in diesem Moment überfällt mich ein Anflug von unsagbarer Traurigkeit. Und gleichsam eine Art Vorahnung, ein seltsames Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann.

Nicht mal in Gedanken.

Dann ploppen Herzchen über unseren Köpfen auf, die in den Himmel schweben. Offenbar ein grafischer Effekt, den der Hobbyfilmer eingefügt hat, um seine Botschaft zu verdeutlichen.

Und es ist klar, was diese Botschaft nur sein kann.

Man sieht, dass ich eine meiner Hände hebe, um Mia sanft über den Kopf zu streichen. Sie weint jetzt, das weiß ich, aber auf dem Video ist das nicht zu erkennen.

Die Herzchen sind alle davongeschwebt.

Und ja, für einen winzigen Moment könnte man fast annehmen, dass wir kurz davor wären, uns zu küssen oder so was. Ein Paar, das sich gerade heftig gestritten hat und sich nun versöhnt. Aber das ist natürlich vollkommen absurd. Auf so was könnte man nur kommen, wenn man den Kontext nicht kennt. Wenn man vom Kontext nicht die beschissen leiseste Ahnung hat, denke ich, und die Tigerin erwacht nun doch wieder in mir.

Diesen kindischen Unsinn muss ich mir wirklich nicht bieten lassen.

Dann plötzlich geht eine ruckartige Bewegung durch die beiden Frauen auf der Lichtung, und Mia macht sich von mir los. In einer beinahe verzweifelten Bewegung stößt sie mich fort, was jedoch nur dazu führt, dass sie selbst einen kleinen Schritt rückwärts stolpert. Meine ausgestreckten Arme deuten in ihre Richtung, bevor ich sie langsam wieder sinken lasse.

Doch Mia hat sich umgedreht und rennt davon.

Das Video stoppt.

5

»Und?«, fragt Weber mich.

»Was, und?«

»Was sagen Sie zu dem Video, meine ich. Das sind doch Sie und Mia, oder nicht?«

Hätte es irgendeinen Sinn, das zu leugnen?

»Ja«, sage ich. »Das sind wir. Und offenbar wurden wir während einer privaten Unterredung heimlich von einer Person gefilmt. Die Ihnen dann dieses Filmchen zugesandt hat, offenbar in erpresserischer Absicht.« Auf diesen spontanen Einfall bin ich ziemlich stolz. Es lässt die Sache in völlig anderem Licht erscheinen, finde ich.

»So war es nicht ganz«, sagt Weber ziemlich nebulös. »Und darum geht es im Moment auch nicht, Emma.«

»Oh, ich finde aber schon, dass es darum gehen sollte«, sage ich und werde vielleicht auch ein kleines bisschen lauter als unbedingt nötig. Gut so, kleine Tigerin. Weiter so!

»Bitte, Emma. Lassen Sie uns das vernünftig betrachten. Eins nach dem anderen.«

»Also schön, ich habe mit Mia gesprochen, ja. Und was soll das Ihrer Meinung nach beweisen?«

»Nun ja. Es sieht nach einer recht privaten Unterhaltung aus, beinahe schon vertraulich, Emma. Denken Sie nicht?«

»Natürlich sieht es danach aus. Es war ja auch vertraulich.«

»Mitten im Wald, Emma?«

»Das war Mias Idee. Sie wollte sich dort gern mit mir treffen. Das, was sie mir zu sagen hatte, wollte sie nicht in der Nähe des Schulgeländes besprechen.« Oder auf dem Gelände von Élysée, setze ich in Gedanken dazu, wo die Büsche manchmal Augen und die Wände manchmal Ohren haben. »Ich fand ihren Wunsch nach Privatsphäre durchaus nachvollziehbar, also war ich damit einverstanden. Ist das etwa verboten?«

»Das ist es nicht, Emma. Aber es macht leider auch deutlich, dass Sie gerade nicht ganz ehrlich zu mir waren.«

»Wie bitte?«

»Als ich Sie gerade fragte, ob Sie ein besonderes Verhältnis zu Mia Neumann haben, verneinten Sie das. Und ich gehe nicht davon aus, dass Sie regelmäßig Schülersprechstunden an versteckten Plätzen im Wald abhalten.«

Ich schweige. Weiß einfach nicht, was ich darauf antworten soll. Kapiere nicht, was hier gerade läuft. Was er glaubt, das da im Wald passiert sein soll. Ich wünschte, Sophie wäre jetzt hier. Wenn seine Anschuldigungen in Élysée die Runde machen, ob begründet oder nicht, werden die Eltern der Schüler Amok laufen, so viel ist klar. Und zwar gegen uns beide.

»Das Problem ist«, sagt Weber, »dass dieses Video nicht allein bei mir landete. Man trug mir zu, dass es inzwischen bereits unter den Schülern kursiert. Jemand hat es ins Internet hochgeladen und den Link verbreitet.«

Okay, das erklärt zumindest, was vorhin im Klassenzimmer ablief. Ich begreife nur nicht, warum die Schüler dem Video überhaupt eine Bedeutung beimessen. Man sieht, wie ich mich mit Mia unterhalte. Im Wald, okay, wo wir ungestört sind. Wie ich sie in den Arm nehme, weil sie das in diesem Moment offensichtlich gebrauchen kann – na und? Wo ist das verdammte Problem – und wieso scheint jeder außer mir überhaupt eines zu sehen? Ist das nicht normal, dass Lehrer auch nach Schulschluss noch für ihre Schüler da sind, wenn diese Probleme haben und sich an sonst niemanden wenden können? Wenn sie – rein hypothetisch, versteht sich – einen kompletten Psycho zum Vater haben, der ihnen zu Hause das Leben zur Hölle macht, zum Beispiel? Rein hypothetisch natürlich.

»Okay«, sage ich. »Mia kam auf mich zu. Sie hatte offenbar Sorgen, und ich habe ihr angeboten, dass wir darüber reden können. Und ja, das haben wir nicht nur ein Mal gemacht. Später bat sie mich darum, dass wir uns im Wald zu treffen. An einem etwas abgelegenen Ort, ja. Aber auch nicht an einem geheimen Treffpunkt, sondern an einem frei zugänglichen Ort, was ja schon allein die Existenz dieses Videos beweist. Und nicht, damit wir beide dort ungestört rumknutschen können, was dieses Filmchen offenbar suggerieren soll, sondern weil sie einfach jemandem brauchte, mit dem sie über ihre Probleme reden konnte.«

»Und welche Probleme waren das?«

»Ich habe ihr versprochen, das niemandem zu erzählen, das war ihr expliziter Wunsch. Und wissen Sie was? Das habe ich auch nicht vor. Ich schätze nämlich das Vertrauen, das mir meine Schüler entgegenbringen, und möchte es nicht aufs Spiel setzen. Schon gar nicht wegen solch eines himmelschreienden Unfugs.«

»Verstehe«, sagt Weber und starrt nachdenklich auf das Display seines Tablets, das sich inzwischen abgeschaltet hat. Ein schwarzer Spiegel, mehr nicht. Seine Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

»Sie glauben mir nicht«, stelle ich fest.

»Es geht nicht darum, ob ich Ihnen glaube, Emma.« Auch dabei schafft er es nicht, mich anzusehen.

»Aha«, sage ich. »Und worum geht es dann?«

»Es geht darum, dass es eben nicht nach einer bloßen Unterredung zwischen Lehrerin und Schülerin aussieht. Es kommt zu körperlichen Berührungen zwischen ihnen beiden, das ist klar zu erkennen.«

»Ja, das ist richtig. Wir umarmen uns.« Dann wird es mir klar, blitzartig. Alles. Woher der Wind weht, und vielleicht auch, wer ihn wehen lässt. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?«, frage ich leise. »Es ist, weil ich eine offen lesbische Beziehung führe, richtig? Weil ich eine Frau geheiratet habe.«

Er sagt gar nichts, starrt nur weiter auf den schwarzen Spiegel vor sich auf dem Tisch.

»Was genau befürchten Sie eigentlich, hm? Dass ich Ihre Schülerinnen mit dem Lesben-Virus anstecke, und sie dann auch alle zu Lesben werden und die Jungs zu Schwulen?«

»Bitte, Emma …«

Doch ich bin nicht zu bremsen. »Oder denken Sie, dass ich meine Hände nicht bei mir behalten kann, wo ich doch sowieso schon eine Perverse bin? Dass ich mich an Ihrer Schule eingeschlichen habe, um junge Mädchen aufzureißen? Ist es das, wirklich?«

Sein Gesicht ruckt hoch, doch ich sehe in seinen Augen nicht die Spur von Überraschung über das, was ich gerade gesagt habe. Er scheint beinahe damit gerechnet zu haben, vielleicht schon seit Beginn unseres Gespräches. »Nein, Emma«, sagt er dann, eine glatte Lüge. »Das ist ganz sicher nicht der Grund. Es geht mir lediglich darum, die Tatsachen …«

»Sie wollen Tatsachen?«, unterbreche ich ihn. »Okay. Warum bestellen Sie dann nicht Mia ein und fragen sie, was da passiert ist? Ob ich eine heimliche Liebesbeziehung zu ihr, einer minderjährigen Schülerin, habe, oder um was es da im Wald wirklich gegangen ist, falls sie darüber reden möchte. Ich jedenfalls werde das ganz sicher nicht tun.«

Nun rede ich wirklich zu laut, brülle fast. Keine Spur von Contenance. Aber das ist mir inzwischen vollkommen egal.

»Mia ist heute nicht an der Schule«, sagt er mit matter Stimme. In seinem Gesicht ist eine merkwürdige Wandlung vorgegangen. Er ist bleich geworden, sieht richtig kränklich aus. Von seiner vorwurfsvollen Miene ist nicht mehr viel übrig geblieben. Vermutlich, weil er sich inzwischen daran erinnert, wer die andere Lesbe in Élysée ist. Und dass die ihn spielend durch die Mangel drehen könnte. Mit einem Fingerschnippen. Einfach so.

»Dass Mia fehlt, ist mir durchaus auch schon aufgefallen«, sage ich. »Sie hätte nämlich vorhin bei mir Deutsch gehabt.«

Er nickt wieder. »Ihr Vater hat mich angerufen und mich davon in Kenntnis gesetzt, dass sie heute nicht zum Unterricht erscheinen wird. Es geht ihr nicht gut. Eine Erkältung, sagte er. Nichts Schlimmes.«

Wer’s glaubt. Andererseits kein Wunder, denke ich, wenn man einen Typen wie Viktor Neumann zum Vater hat, da ginge es mir auch nicht gut. An keinem Morgen. Der Vater von Mia ist Oberstaatsanwalt, Witwer und alleinerziehend, und außerdem ein ausgemachtes Arschloch, und er hält sich offenbar für so etwas wie den König von Élysée. Der Oberkracher ist jedoch, dass die meisten anderen Bewohner das anzuerkennen scheinen, einfach so. Als würden sie diesem aufdringlichen Kerl was schulden.

---ENDE DER LESEPROBE---