Erinnerungen an die Gegenwart - Moritz Rinke - E-Book

Erinnerungen an die Gegenwart E-Book

Moritz Rinke

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Beschreibung

Unglaubliche Betrachtungen unserer Gegenwart vom Autor des Bestsellers Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel Moritz Rinke kauft sich einen Hochzeitsanzug und macht in Istanbul Revolution. Er besucht mit Christian Wulff einen Therapeuten fürs Karriereende, schreibt für Seehofer Briefe an dessen Ex-Freundin und analysiert das Regierungsinstrument namens SMS. Er durchstreift unsere Gegenwart, wird zu ihrem Chronisten und entdeckt die Farce als höhere Gesellschaftsform. Er trifft den zweiten Mann auf dem Mond, vergnügt sich mit Max Frisch im Stundenhotel, sieht Hölderlin in deutschen Talk-Shows und schiebt Mozart in die iCloud. Zuletzt steht er mit der allgegenwärtigen Krise vor dem Kanzleramt im Schnee. Klug und wortgewandt, witzig und anrührend nimmt Moritz Rinke in seinen Texten die Wirklichkeit in den Blick, findet überall die Tyrannei des Augenblicks und nur in der Fiktion den feinen Moment des Innehaltens und Überdauerns. »Moritz Rinkes Geschichten und Porträts bestechen durch ihre Schärfe, ihren Charme und ihren Witz.« Die Zeit

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Seitenzahl: 224

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Moritz Rinke

Erinnerungen an die Gegenwart

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Moritz Rinke

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoMODERN TIMES1 Raketen nach Ratingen! / Über alltäglichen Terror2 Ich bin Migrationskunde! – Ich möchte endlich ein sozialistisches Handy mit einem kommunistischen Mobiltarif! / Über die Tücken des Internets3 Wenn die Wolke Daten speichert / Über die Zukunft unseres Wissens4 All unsere schönen Daten / Über Facebook5 Der Eisbär antwortete nicht / Ein umweltpolitischer Traum vom Jahr 20416 Vampire in der Küche / Meine persönliche Geschichte der Lebensmittelskandale7 Lass Heide reden! / Idee für einen Dogma-Film über Doping8 Eyjafjallajökull! / Über Asche, Naturkatastrophen und deutsches Unverständnis9 Herrrrrrrmannstraße? / Über die Globalisierung auf dem Flughafen SchönefeldUNTERWEGS MIT DER KANZLERIN1 Die Legende von Ugu, Mabu und Bubu / Unterwegs mit der Kanzlerin2 Die Hunde von Santorini / Achill, Ariadne, Elektra, Diogenes, Hektor, Kassandra, Europa3 Dann schon lieber Angola! / Eine Mail der Kanzlerin aus Luanda4 Noch ein stilles Wasser bitte! / Über die Zukunft Europas im Bord-Bistro5 Das Prosawerk meines Finanzberaters / Über die Sehnsucht nach einer lutherischen Moralkeule6 Wie ich dem Finanzminister Euros verschaffte / Über Wertschöpfung in unserer Gesellschaft7 Mit der Krise vorm Kanzleramt im Schnee / Über eine besondere SuchtFANATIKER DES AUGENBLICKS1 Die Tyrannei des Augenblicks / Über unsere verlorene Zeit2 That’s All Right, Mama / Über die Erinnerungssysteme einer Medienrepublik3 Wir schalten um zur Trauerfeier / Über öffentliche Anteilnahme4 Die Revolution unter den Zeitungsstapeln / Über zerstreute Wut5 Im Haus der untergegangenen Träume / Mit Udo Lindenberg bei Liebknecht6 Die aufgehobene Zeit / Zum Messie-SyndromIM WARTEZIMMER DER WÜRDE1 Das Leben könnte so schön sein! (Erster Brief von Bundesminister Horst Seehofer an seine Exfreundin)2 Menschlein und Mächtchen / Über das politische Amt in Deutschland3 Sehnsucht nach Genscher / Bericht aus der Bundesversammlung4 Die Schokolade aus der Staatskanzlei / Über Transparenz5 Warum nicht gleich den Präsidenten googeln / Über die Gier nach Namen6 Kleiner Zapfenstreich für große Frau / Weltfrauentag7 Im Wartezimmer der Würde / Michael Ballack, Michael Schumacher und Christian Wulff besuchen einen Therapeuten fürs Karriereende – Eine Sprechstunde8 270 Mal bei Rot über die Ampel! / Über den Doktor Theodor zu Guttenberg9 Die Minute der wahren Empfindung / Übers Lügen – oder Wie die Kanzlerin eine SMS bekam und für einen Moment die Wahrheit aufleuchtete10 Meine Frau will aber nicht nach Berlin / Wie Minister in Deutschland ausgesucht werden11 Über Sex und Gesellschaft (Zweiter Brief von Horst Seehofer an seine Exfreundin)12 Die Instrumentalisten und allberechnenden Barbaren / Über deutsche Politiker13 Kinski hätte da nicht mitgemacht! / Über Hype – Ein Abend im Berliner Club der Piraten14 Gedanken übers deutsche Schreddern / Bewusstseinsschreddern!15 Ach, Deutschland … / Aus der Ausländerbehörde im WeddingZUMWINKELN! WE HAVE THE BONI, YOU HAVE THE CRASH1 Zumwinkeln bis der Vorhang fällt / Über die Farce als höhere Gesellschaftsform (Bestandsaufnahme von einem der unmoralischsten Jahre der neueren Zeitrechnung)2 Kleines Sittenbild auf großer Yacht / Fortsetzung der FarceDIE VERRÜCKTEN WERDEN IMMER VERRÜCKTER1 Inferno / Über Buchmessen2 »Sie schreiben wie Rainer Maria Rilke!« / Über den Zufallsgenerator und das Kulturgerenne3 4:4 / Über die geistige Elite4 Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung / Über Präsenz, die alles Unvermögen heiligt, und über den Duft von Paris Hilton5 Sie denken zu kompliziert für eine Talkshow! / Über das Leid mit den Öffentlich-Rechtlichen6 Irgendwann fängt es an zu klingeln / Über die Filmwelt – Tagebuch meiner allmählichen Verwahrlosung als Jury-Mitglied auf der Berlinale7 Stadt der Hühner / Über die Verwandlung der Berlinale-Menschen in Tiere8 Die Errettung des Heinrich von Kleist / Tagtraum, um einen Selbstmord zu verhindern9 Im Stundenhotel mit Max Frisch / Überlebensbücher10 Zwei Päpste und ein Mädchen / Über Marcel Reich-Ranicki11 Sie hätte sich in Rodin verlieben müssen! / Über Paula Modersohn-Becker12 How was it on the moon? / Begegnung mit Edwin Buzz Aldrin13 Das Drama der Meerjungfrauen / Über Theater, Fische, Gräten und Restflossen14 Mein Weg / Die Bundeskanzlerin und das moderne Regietheater15 Fiktion und Wirklichkeit / Über das Romanhafte16 Grabowski statt Grass! / Über deutsche DebattenDAS LEBEN HINTER DEN NACHRICHTEN1 Der Palästina-Blues / Zehn Tage in Ramallah, Jericho und Dschenin2 Für Eylem! /İstanbul-Tagebuch3 So muss 68 gewesen sein! / Über die Gezimenschen in İstanbul4 Wieder in Deutschland … / Über die Frage, wofür wir noch kämpfenNachweis der VeröffentlichungenQuellen
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Die durchdringende Stimme dieser Gegenwart ist nicht zu übertönen, sie scheucht den sanftesten Träumer aus den letzten Winkeln in das unbarmherzige Licht des Tages.

Leo Lania

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MODERN TIMES

(Zu moderne Zeiten)

1Raketen nach Ratingen! / Über alltäglichen Terror

Zwischen 18 Uhr 30 und 19 Uhr bekomme ich immer Anrufe. Am Mittwoch waren es drei. Beim ersten nannte eine männliche Stimme irgendeine Abkürzung, in welchem Auftrag sie anrufe, und dann fragte die Stimme:

»Führen Sie einen Single-Haushalt?«

»Wollen Sie wissen, ob ich Single bin?«, fragte ich.

»Nein«, sagte die Stimme, »ich will wissen, wie Ihr Reinigungsverhalten ist!«

»Reinigen denn Singles anders als Paare?«, fragte ich.

»Paare waschen mehr! Bei Ihnen wäre die Trockenreinigung sinnvoller, weil die Intervalle zwischen den Waschgängen größer sind!«

»Ach so«, sagte ich, »ich bin aber an Trockenreinigung nicht interessiert, ich treffe nämlich manchmal eine Frau, und dann waschen wir zusammen. Tschüss.«

Beim nächsten Anruf gratulierte mir eine weibliche Computerstimme aus 40822 Ratingen zur BARGELDNOMINIERUNG OHNE HAKEN, ich bräuchte nur die Taste 1 plus die Sternchentaste zu drücken, um die »Gewinnübergabe« vornehmen zu lassen, die Freischaltung zur Gewinnübergabe berechne man mit einem Verbindungsentgelt von 1,99 Euro pro Minute usw., was »bequem« über die Telefonrechnung abgerechnet werde. Die Stimme sagte wirklich »bequem«. Welche Tasten man noch drücken sollte: die 5 plus Sternchen, dann die 2 plus Raute, wieder die 5 plus Sternchen, endgültige Freischaltung mit zusätzlicher SACHPREISOPTION, dann folgte Musik, Musik …

Zwischendurch bekam ich eine SMS: »Ich bin hier unter meiner Schmusedecke. Kommste? Hast du ihn schon in der Hand? ILONA freut sich auf dich. (1, 86 EUR/MIN)«

Am Festnetz fragte die Computerstimme aus Ratingen, ob man sich für Auto und Wirtschaft (1 plus Raute), Freizeit und Reisen (2 plus Sternchen), Computer und Mobilfunk (3 plus Raute) oder Wellness und Lifestyle (4 plus Sternchen) interessiere. Musik, Musik …

Als ich auflegte, rief eine Frau von der Forschungsgruppe »Allergie in Deutschland« an, ob ich wüsste, dass sich Allergien vermeiden ließen, wenn im Haushalt Hygiene mit Tiefenreinigung herrsche.

Ich fragte: »Haben Sie was mit der Trockenreinigung von vorhin am Hut?«

Habe sie nicht, versicherte die Frau.

»Mit ILONA?!«

Ilona kenne sie nicht, sagte sie.

Letzte Woche war ich beim Parteivorsitzenden der SPD zum Essen eingeladen, einige Künstler saßen um den Vorsitzenden herum und diskutierten über das Sicherheitskonzept in Zeiten des globalen Terrorismus, ein wichtiges Gespräch. Blöderweise musste ich dabei die ganze Zeit darüber nachdenken, ob die TIEFENREINIGUNG nicht doch etwas mit den Verbrechern von der TROCKENREINIGUNG zu tun hat und warum es in Deutschland Spionageprogramme gegen Islamisten und alles Mögliche gibt, aber Gangster aus Ratingen ungehindert die halbe Republik abzocken können.

Jedes Jahr gibt es schätzungsweise 328 Millionen solcher Anrufe. 328 Millionen! Wenn da nur jeder Hundertste auf die 1 plus Sternchentaste drückt! Wir sind vermutlich eine völlig tiefen- und trockengereinigte Republik, in der überall abgezockte Telefonopfer umherlaufen, denen der Innenminister oder der Verbraucherschutz keine Abwehrsysteme und Bundestrojaner zur Verfügung gestellt haben, obwohl die EU-Datenschutzrichtlinien eigentlich eine größere Gegenwehr des Gesetzgebers gegen diesen Telefonterror verlangen!

Der Soziologe Wolfgang Sofsky schreibt in seinem Buch »Die Verteidigung des Privaten«, dass man dem »Ruin der Freiheit« mit allen Mitteln sofort entgegentreten müsse. Das kann man wohl sagen, am besten mit Online-Durchsuchung, GSG-9-Einsätzen in Callcentern und Raketen nach Ratingen.

Und wenn jetzt nichts geschieht, habe ich mir gedacht, dann rede ich mal mit ILONA. Ich kenne ja ein paar Handynummern von Politikern. Danach sind die reif für die Trockenreinigung.

2Ich bin Migrationskunde! – Ich möchte endlich ein sozialistisches Handy mit einem kommunistischen Mobiltarif! / Über die Tücken des Internets

Manchmal sehe ich sie noch im Fernsehen, diese Frau: Groß, schlank, sehr schön, und immer zieht sie tanzend rote Bänder hinter sich her, die sich dann zu einer Schleife vor der Frau verdichten, so als wollte sie sich selbst verschenken. Früher habe ich die Frau sogar auf dem neobarocken Charlottenburger Tor der Straße des 17. Juni gesehen: ungefähr 25 Meter groß, die Beine allein waren bestimmt 15 Meter lang. »Mein ein und Alice« stand da sehr originell in Höhe der Waden, sie warb fürs Surfen im Internet. Ich bin dann durchs barocke Tor durchgefahren und habe an diesen Schlager gedacht: »Auf Wiedersehen, mein schönes Mädchen«, ladda, ladda, ladada dada, so geht, glaube ich, der berühmte Refrain, Henry Valentino.

Ein paar Wochen später habe ich dann in meine Kontoauszüge geguckt: 341, 45 Euro Lastschrifteinzug AOL. Ich rief bei »AOL Deutschland« an und fragte, was das bitte soll, und dann hieß es, dass sei ALICE.

Ich sagte: »Die mit den langen Beinen?«

»Ja«, antwortete die AOL-Kundenberaterin. »Genau die!«, ich hörte sogar einen fast vorwurfsvollen Unterton heraus, so als stünde ich eigentlich der Kundenberaterin nahe, hätte aber ein Techtelmechtel mit ALICE.

 

»Entschuldigung«, sagte ich, »mir wurden 341,45 Euro abgebucht, das Problem habe doch ich! Und abgebucht hat es AOL DEUTSCHLAND!«

»Das kriegt aber alles ALICE, das ist eine Tochter von HanseNet, die berechnet Ihnen jetzt 1,5 Cent pro Minute, rund um die Uhr. Ihr Router ist auf always on eingestellt, Sie sind also immer online, ob Sie im Internet sind oder nicht, das sind jeden Tag 20,70 Euro. In diesem Monat stehen bei Ihnen schon 210 Euro zu Buche, Sie sind jetzt Migrationskunde, die haben Ihre AOL-Flatrate gekündigt, und mich auch! In zwei Wochen ist hier Schluss, dann fahr ich nach Kuba!«

»Aha«, sagte ich, MIGRATIONSKUNDE, so ein irres Wort habe ich noch nie gehört! Wo kann ich bitte kündigen?«

»Keine Ahnung«, sagte sie, »bei uns nicht, wir sind nicht mehr zuständig, aber ALICE betreut Sie noch nicht, da können Sie erst im Dezember kündigen.«

»Habe ich das richtig verstanden?«, fragte ich, »ich bin MIGRATIONSKUNDE, weil ich mich für 1, 5 Cent pro Minute bis Dezember always on im Bermuda-Dreieck zwischen AOL, ALICE und HanseNet befinde??«

»So kann man das sagen«, erklärte die Beraterin.

»Das ist ja grotesk!«, erklärte ich.

Ich rief sofort bei der T-Com an: »Guten Tag, ich bin woanders Migrationskunde und möchte schnell zu T-Com, bitte ein DSL-Anschluss ohne ALWAYS ON, weil das bedeutet ALWAYS PAY!«

»Haben Sie doch schon seit zwei Jahren, Call & Surf Basic two«, sagte der T-Com-Berater. Scheiße, dachte ich, wusste ich gar nicht, »dann brauche ich unbedingt die Zugangsdaten für meinen Router, damit man das umstellen kann, ich bin nämlich bei ALICE, dieser Schlampe.«

»Sie sind im T-Com-Kundenservice, Zugangsdaten gibt’s nur bei der Bestell-Hotline.«

Dort hieß es: »Bei uns gibt’s alles außer Zugangsdaten und Pizza, Sie müssen beim T-Online-Kundenservice anrufen.«

Ich schwöre, wenn man da anruft, dann geht danach das Telefon nicht mehr.

Ich weiß nicht mehr, ob wir die Welt noch verstehen, und ob diejenigen, die sie mit ihren grauenvollen Übernahmen, globalen Fusionen und intransparenten Always-on-Machenschaften behelligen, sie selbst überhaupt verstehen. So geht es auf jeden Fall nicht weiter, das ist ja so, als hätte sich der Kapitalismus mit dem Kommunismus zusammengetan, und jetzt sitzt man da mit lauter Raubtieren, die nicht zuständig sind.

Vielleicht sollten wir uns alle auf Kuba treffen und noch einmal grundsätzlich reden. Bis dahin muss ich einfach sämtliche Stecker rausziehen.

 

PS: Als ich später zu O2 wechselte, die mit dem blauen Himmel, passierte dies: Ich bekam einen O2-Anruf, ob ich nicht mit ALICE ins Internet wolle?

»Was haben Sie denn bitte mit ALICE zu tun??«, fragte ich panisch.

»Ja, das ist so«, sagte die O2-Stimme, »die Telefónica hat jetzt die HanseNet gekauft und deren Mobilfunktochter ALICE mit O2 verschmolzen.«

Das ist fast wie Stalking. Zwei Stunden später hatte ich ein Drama-Seminar an der Uni, und mitten in meine Ausführungen zum Katharsis-Begriff bei Aristoteles kamen Monster in den Raum gelaufen, dann folgten Frauen mit himmelblauen O2-T-Shirts, angeblich im Kampf gegen »Monstertarife«. Die eine O2-Frau stellte sich sogar guerillamarketinggerecht vor die Studenten und sprach statt von Aristoteles von Alice, ihrer neuen Tochter.

3Wenn die Wolke Daten speichert / Über die Zukunft unseres Wissens

Cloud Computing! Ich dachte zuerst, das sei ein Witz. »Datenverarbeitung in einer Wolke«, hat ein Freund mir erklärt, nachdem ich ihm von meinen Sorgen mit dem iPhone 4 berichtet hatte.

»In einer Wolke?? Mein altes und mein neues Handy schaffen es ja nicht mal, ihre Daten miteinander zu verbinden oder zu verarbeiten, wie soll das denn in einer Wolke gehen?«

Mein ganzer Bekanntenkreis ist nämlich weg. Die Kontakte werden einfach übertragen, heißt es so schön bei der Kundenberatung im Mobil-Shop. Und dann sind nach dem Kauf und der Datenübertragung ausgerechnet nur die Kontakte auf dem neuen Handy, die man gar nicht braucht und von denen man sich sowieso schon längst hätte trennen müssen. Aber die anderen, die tollen Kontakte, die sind jetzt alle in dem alten Handy oder auf der alten Sim-Karte, und die neue Mini-Apple-Sim-Karte, die passt schon gar nicht mehr in das alte Handy.

»Das ist doch Wahnsinn, bei jedem neuen Handy und dieser bescheuerten Datenübertragung ändert sich mein Leben!«, sagte ich.

»Aber Cloud Computing«, fing der Freund wieder an. »Warte«, rief ich, »ich bin noch nicht fertig mit meinem iPhone-Wahnsinn! Wenn sich meine Bekannten nicht von selbst bei mir melden, sehe ich die nämlich nie wieder! Ich habe versucht, die neue Mini-Sim-Karte mit so einem Scheiß-Plastik-Adapter in das alte Handy zu kriegen, aber danach musste das alte Handy von Spezialisten auseinandergebaut werden, weil die Apple-Karte sich verkeilt hatte. Wenn ich nun mein altes ramponiertes Handygehäuse anschaue, könnte ich weinen. Wer da alles unter den Trümmern liegt!«

»Das wird dir nun nicht mehr passieren«, sagte der Freund. »Wegen Cloud Computing!« Bald nämlich würden wir unsere Daten gar nicht mehr bei uns in den Elektrotrümmern haben, sondern in irgendeinem Rechenzentrum im Internet.

»Also, das ist gar keine richtige Wolke?«, fragte ich.

»Nein, aber theoretisch könnte das Rechenzentrum in Timbuktu stehen, und du mietest dann da online Platz für deine Daten und kannst immer ran.«

»Und wenn der Strom ausfällt? Wie komm ich dann an meine Daten??«

»Keine Ahnung, vielleicht wird die Wolke dann mit Diesel betrieben.«

Das ist total irre. Die Handy-Industrie schafft es nicht einmal, zuverlässig Kontaktdaten von einem Handy auf das andere zu übertragen, und ich soll am Ende meine Romanfassungen und Kontoführungen in Timbuktu in einer Wolke abspeichern? Und wenn dann der Strom weg ist, brauche ich Diesel, um meine Liebesbriefe zu überarbeiten?

Kürzlich stand ich im Museum vor dem handschriftlichen Original von Mozarts »Die Hochzeit des Figaro«. Was wäre denn gewesen, wenn er die Oper in einer Wolke abgespeichert hätte? Was wird überhaupt von unseren Werken und Gedanken bleiben, wenn sie mit jedem neuen Rechner in alten, stillgelegten Computergehäusen festsitzen und wir vielleicht nicht einmal mehr ein passendes Kabel haben, um sie aufzurufen?

Der Regisseur Alain Resnais drehte 1956 einen großen Dokumentarfilm über die französische Nationalbibliothek. Es ist ein Film über das Gedächtnis der Welt. Über die Gabe von Menschen, alte Schriften zu restaurieren. Und sogar von der berühmtesten Bibliothek der Antike in Alexandria wurde noch etwas über Jahrtausende hinübergerettet. Aber wer wird in zweitausend Jahren Zugang zur »Wolke« haben? Wird es dann noch passende Kabel geben, genug Diesel?

Ich stelle mir vor, wie die Menschen der Zukunft vor unseren unsinnlichen Wolken und Rechenzentren stehen und mit den Schultern zucken. Und keiner wird mehr die Gabe haben, uns zu restaurieren.

4All unsere schönen Daten / Über Facebook

In Samuel Becketts Stück »Das letzte Band« wühlt der 69-jährige Schriftsteller Krapp in den Schubladen seiner Vergangenheit; er öffnet Schachteln mit Tonbändern, die vor vielen Jahren von ihm besprochen wurden, und er hält sein Ohr an das Abspielgerät, um sich zu erinnern. »Mein Gott … ah! Das kleine Luder«, dann hält er sich ein anderes Tonband ans Ohr: »Ah! Die kleine Range (…) Ein unvergleichlicher Busen … (…) Leichte Besserung der Darmtätigkeit … Schauerlich diese Ausgrabungen. Eintausendsiebenhundert Stunden von den achttausendundsoundsoviel verflossenen ausschließlich bei Facebook verplempert …«

»Facebook« steht bei Beckett natürlich nicht, das habe ich eingefügt. Bei Beckett heißt es »Kneipe« statt »Facebook«, aber ich kann mir schon vorstellen, wie jetzt der Facebook-Nutzer Maximilian Schrems, ähnlich wie der alte Krapp, über seinen Daten sitzt.

Der 24-jährige Schrems ist der erste Nutzer, der über die irische Datenschutzbehörde eine CD mit allen Daten anforderte, die Facebook bisher über ihn gesammelt hat. Es sind ausgedruckt 1200 Seiten, und bestimmt ist Schrems’ Konvolut schon umfangreicher als Krapps letztes Band.

Wie das wohl sein wird, wenn die heute 20-Jährigen irgendwann auf ihr Leben zurückschauen? Werden sie dann bei der irischen Datenschutzbehörde anfragen und eine CD mit 12000000000000 Druckseiten bekommen?

»30. Oktober 2011, vor 5 Minuten: Ich esse Pommes!«. 27 Personen gefällt das. »2. November 2012, vor 3 Minuten: Ich bin gerade in Lüdenscheid!«. 48 Personen gefällt das. »25. Juli 2016, vor 2 Minuten: Ich hab jetzt iPhone 55. Damit kann man sich sogar die Haare föhnen«. 980 Personen gefällt das. Gefällt mir! Gefällt mir! Gefällt mir! Gefällt mir!

Nicht auszudenken, vor welchen Dimensionen von historisch relevanten Datenmengen wir stehen werden! Und nichts wird mehr in der »Timelime« zu löschen sein, wenn bald ALLES FÜR ALLE per Live-Stream übertragen wird: jede Bewegung, jeder Dialog im Netz, jeder angeklickte Link, jede virtuelle Regung, jedes »Gefällt mir«.

Berühmt geworden sind »Samuel Pepys geheime Tagebücher«, weil der Staatssekretär Pepy nicht nur über die Restaurationsepoche unter König Karl II. von England berichtete, sondern auch über seinen Stuhlgang, seine Puderungen und seine sonstigen Neigungen. Nur, was machen wir mit Datenmengen von 800 Millionen Pepy-Nachfolgern? Pepy brachte zehn Bände auf 3000 Seiten heraus, da schaffen die künftigen Facebook-Pepys doch bestimmt jeder tausend Bände?

Irre wird auch sein, wie wir später die Biografien der Politiker oder Dichter verfassen. Bei Martin Walser oder Christa Wolf schreiben die Forscher wahrscheinlich schon jetzt ehemalige Geliebte an, ob sie denn nicht noch alte Briefe des Dichters oder der Dichterin hätten; bei den Jüngeren wird man sich an die irische Datenschutzbehörde oder an die Geheimdienste wenden müssen.

Und werden die Dichterinnen und Dichter dann überhaupt noch selbst wissen, ob die intensivsten Begegnungen ihres Lebens in der analogen oder in der digitalen Welt stattfanden?

Bei Krapp lautet die schönste Stelle auf den Bändern: »Wir trieben mitten ins Schilf und blieben stecken. Wie sich die Rohre seufzend bogen unterm Bug! Ich sank auf sie nieder … Nie erlebte ich eine solche Stille …«

Vielleicht sind das die Krapps von morgen: Millionen, die über ihren Daten aus Irland sitzen und darüber rätseln, was sie draußen oder drinnen erlebt haben und ob sich die Rohre doch eher digital seufzend bogen.

5Der Eisbär antwortete nicht / Ein umweltpolitischer Traum vom Jahr 2041

Beim Einschlafen und Grübeln über die Themen Finanzkrise, Atomausstieg, Ägypten, Syrien, unsere Koalition und das Dioxin in den Eiern ist mir etwas eingefallen, das ich total vergessen hatte: Das OZONLOCH!

Wo ist eigentlich das OZONLOCH geblieben?

Vorm Einschlafen hatte ich mir »2001: Odyssee im Weltraum« von Kubrick angeschaut, ein visionärer Film. Er wurde in den Sechzigern gedreht, spielt mehr oder weniger hinter dem Loch im Weltall, weil man schon nach Alternativen für die Erde sucht. Auch werden die ganze Zeit bunte Pillen gegessen, und nach so etwas wie Gurken oder Biosprossen kann man bei Kubrick lange suchen, wahrscheinlich hatte er schon Ehec, BSE, Dioxin, Glykol & Gammelfleisch etc. vorausgesehen, und nun gibt es eben nur noch Pillen oder Frankenstein-Gen-Fisch. Aber zurück zum vergessenen OZONLOCH.

Ich schlief ein und träumte, ich säße in meiner Heimat an der Weser im Jahre 2041: Gewaltige dahinschmelzende Eisberge flossen an mir vorbei. Einmal sah ich sogar einen Eisbären auf einem der Berge, er sah mich genauso irritiert an wie ich ihn.

»Sag mal, ist das die POLSCHMELZE, von der immer gesprochen wurde?«, fragte ich. Der Eisbär antwortete nicht.

Jetzt tauchte plötzlich der Urenkel von Jacques-Yves Cousteau, dem Tiefseeforscher, aus der Weser auf, der gerade mit einem Fernsehteam Haie filmte.

»Bonjour«, sagte ich. »Passen Sie bitte auf! Haie in der Weser kommen mir spanisch vor, vielleicht sind die alle durchgedreht?«

»Merci«, antwortete Cousteau und tauchte ab.

Ich lief befremdet durch meine alte Hansestadt. Wie lebhaft Bremen geworden war! Früher hatte es hier nur stumme, grußlose Bremer gegeben, doch nun war alles anders: Migrationsdruck und die Unbewohnbarkeit weiter Teile der Erde hatten Bremen zu einem neuen Kalifornien gemacht, natürlich auch wegen der KLIMAVERÄNDERUNG. In der Straßenbahn gab es ein einziges Geschrei. Die Menschen gestikulierten wie früher in einem sizilianischen Bus. Nun mal nicht nostalgisch werden, dachte ich im Traum, du hast immer für eine multikulturelle Öffnung plädiert, auch in Bremen. In der Bahn saßen vorwiegend Afrikaner, die das Klima hier liebten, und Amerikaner, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen hatten verlassen müssen. Dazu kamen die ganzen Holländer, die Bremen zu ihrer neuen Heimat erklärt hatten, nachdem die Niederlande 2022 endgültig untergegangen waren und man noch jahrelang Tulpen auf dem Meer über Amsterdam hatte schwimmen sehen.

Irgendwann stieg eine junge Frau zu. Wie schön sie war! In meiner Jugend hatte ich nie etwas mit einer Bremerin gehabt, ich war von Natur aus schüchtern, die Bremerinnen waren stumm, wie sollte da ein anregendes Gespräch zustandekommen? Als die Frau mir plötzlich gegenübersaß, dachte ich, jetzt oder nie, ich war immerhin schon 73!

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Yetunde«, antwortete sie.

»Bremerin?«

»Ja.«

Dann schickte mir mein iPhone 44444 alle Yetundes aus Bremen per Infrarotsendung auf meine WAP-Brille, und drei Minuten später wusste ich alles über jene Yetunde.

Leider stieg sie aus. Tja, das ist aber jetzt wie früher, dachte ich. Nun weißt du zwar alles über sie, aber gesprochen hast du schon wieder nicht mit der Frau. Ich hatte noch überlegt, ob ich sie per Infrarot über Facebook anstupsen sollte, aber dann ermahnte ich mich: Du bist 73, hör endlich auf mit der Anstupserei! Außerdem hast du eine 12-jährige geklonte Tochter.

Ich träumte, dass ich im Traum aufwachte und mir ein Frühstücksei von BIOHÜHNERN kochte, die ich in heimlicher, kulturkonservativer Verzweiflung züchtete und die meine Tochter ansah wie Dinosaurier.

6Vampire in der Küche / Meine persönliche Geschichte der Lebensmittelskandale

Eigentlich wollte ich hier über »50 Jahre Sportschau« schreiben, aber jetzt habe ich mich doch für »30 Jahre Lebensmittelskandale« entschieden.

Alles begann am Mittagstisch meiner Oma mit den wachstumssteigernden Östrogenen, da war ich dreizehn, aß immer sonntags in Bremen bei den Großeltern, und meine Großmutter sagte eines Tages zu meinem Großvater: »Kalbfleisch kommt nie wieder auf den Tisch, basta!«

Kurze Zeit später setzte meine Oma meine heißgeliebten Nudeln wegen des Hühnerkots im Flüssigei ab. Gleichzeitig trank mein Opa Frostschutzmittel, weil er dachte, es sei Wein, er hatte danach ein sogenanntes Glykol-Problem. Der Larvenbefall von Seefischen mit Nematoden brachte das Kalbfleisch 1987 unerwartet auf unseren Tisch zurück, aber die Fische waren weg. 1989 trauerte meine Großmutter wegen der Listerien-Bakterien um ihre geliebten Leberpasteten, aber mein Großvater kannte kein Pardon, »Das ist das Ende der Pasteten, meine Liebe!«

1993 nahm meine Oma, nicht ohne Schadenfreude, das Kalbfleisch meines Opas wegen des ersten Auftauchens von sogenanntem Gammelfleisch wieder vom Teller. Stattdessen wurde Lachs gegessen, aber nur bis zum Skandal des getesteten Bakterienlachses, der offenbar das Immunsystem außer Kraft setzte. Danach gab es wieder Nudeln. Und Schwein – bis zum ersten Tag vom Schweinemast-Skandal.

Pestizide auf Paprika, Mineralöl in Hühnereiern und Salmonellen in Schokolade hatten meine Großeltern nicht so tangiert, aber die Nitrofurane im Geflügel bekümmerten meine Oma, sie verursachen die allerschlimmste Krankheit, die niemals mit Namen ausgesprochen wurde. Ähnlich war es beim Tetracyclin im Putenfleisch, das angeblich auch zu Zahnausfall führen konnte, sowie bei Semicarbazid in Deckeldichtungen und Schraubgläsern, das sich offenbar vampirartig auf die Lebensmittel stürzte, auf Gurken, Konfitüren, Fruchtsäfte, eingelegtes Gemüse, Soßen, Honig, Ketchup, Mayonnaise – meine Oma räumte die ganze Küche leer, und es gab erst einmal nur wieder Leberpasteten.

Mein Opa hatte nach seinem Glykol-Problem angefangen, nur noch Wasser mit Fruchtsirup zu trinken, bis eines Tages im Sirup das Hormon MPA gefunden wurde, das angeblich zeugungshemmend wirkte.

»Jetzt reicht’s«, rief Opa, »erst Krebs!«, er sprach es wirklich aus, »dann keine Zähne mehr und Vampire in der Küche! Und nun auch noch zeugungsunfähig?!«

»Willst du etwa noch ein Kind??!«, schrie meine Oma hysterisch.

Irgendwann habe ich dann nicht mehr bei den Großeltern gegessen, sondern irgendwo draußen in der Welt, aber die Lebensmittelskandale dauerten an, es gab sogar immer mehr. Und ab der Jahrtausendwende hatten wir dann eindeutig mehr Lebensmittelskandale als Nazi-Skandale, das sollte etwas heißen in Deutschland. Früher hatten sich meine Großeltern noch manchmal über Hitler unterhalten, aber mittlerweile ging es laut der Familienberichte nur noch um Pasteten, Nudeln, Eier etc.

Mein Opa vertrat am Ende sogar die Theorie, dass es einfach um eine ausgeglichene Gifteinnahme ging, mal dieses Gift, dann jenes Gift, denn die hoben sich gegenseitig auf. »Alles gut mischen!«, sagte er, also fast wie bei Wertpapieren an der Börse.

Mein Opa erreichte ein stattliches Alter, meine Oma lebt immer noch.

7Lass Heide reden! / Idee für einen Dogma-Film über Doping

Es war der Skilangläufer Johann Mühlegg, der mich zu meinem ersten Kurzfilmdrehbuch inspirierte. Mühlegg wie auch Jörg Jaksche, der Radrennfahrer. Von Mühlegg bis Jaksche ist einiges über unsere Leistungsgesellschaft ans Licht geraten, auch der Fall des Tour-de-France-Helden Jan Ulrich, der ebenfalls beim spanischen Arzt Eufemiano Fuentes mit Eigenblut gedopt worden sein soll. Dieser Eufemiano Fuentes ist die Hauptfigur im Film, so eine Art Doktor Frankenstein des Dopings mit seinen Epo-Blutbeuteln.

Der Film spielt im Morgengrauen, aus allen Trophäenschränken der Welt brechen die Goldmedaillen ihrer Besitzer aus und rollen über die Straßen zum 70. Geburtstag des Doktors, ihrem Epo-Vater. Neben den rollenden Goldmedaillen fliegen auch gelbe Trikots heran, die manchmal um die Medaillen herumsausen wie Gespenster. Der Film ist mit Gruselmusik unterlegt nach dem Motto: da kommt noch was.

Als alle eingetroffen sind, erhebt sich der Epo-Vater an der Festtafel und sagt: »Schön Kinder, dass ihr alle gekommen seid!« Zuerst steht die Medaille des berühmten siebenmaligen Tour-de-France-Gewinners Lance Armstrong auf und sagt: »Auf Papa!« Bevor aber irgendjemand Flüssigkeit zu sich nehmen kann, flattert das Siegertrikot der Rundfahrt Paris – Nizza von Jaksche in die Luft und sagt: »Nun ist die Nacht der Wahrheit gekommen, Vater, der ich dich nur noch einmal so nenne, du hast uns betrogen, wir sind nicht die Geschöpfe Gottes, wir sind nur aus deiner Epo-Kiste, du Schuft.«

Harter Moment, wie der Vater-Sohn-Konflikt im Dogma-Film Das Fest.