Ich könnte hier stundenlang sitzen und auf den Rasen schauen - Moritz Rinke - E-Book

Ich könnte hier stundenlang sitzen und auf den Rasen schauen E-Book

Moritz Rinke

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Beschreibung

Dieses Buch ist ein so vergnüglicher wie erhellender literarischer Streifzug durch die Welt des Fußballs. An der Seite eines Fans, der diese Welt innig liebt, sich aber nicht scheut, auch in die finsteren Winkel zu blicken. Moritz Rinke lässt die verschossenen Elfmeterbälle von Uli Hoeneß und Bastian Schweinsteiger miteinander reden und starrt eine Fahrstuhlfahrt lang auf den legendären Hinterkopf von Uwe Seeler. Im Weserstadion stiehlt er mit seinem Sohn heiligen Rasen und verstaut ihn in einer Tupperdose, die er neben die Originalpfeife Bertolt Brechts stellt. Er schlägt sich die Nacht mit Thomas Tuchel in der Berliner Tausendbar um die Ohren und schreibt eine Rede an die Nation im Geiste Hölderlins und Toni Kroos'. In Katar besichtigt er ungläubig die neu errichteten Stadien und erzählt am Beispiel seiner Nichte und deren Freundin, die ein Verhältnis mit Neymar hatte, vom Niedergang des Fußballs.  Moritz Rinke, einer der bekanntesten Dramatiker Deutschlands, Romancier und Stürmer in der DFB-Autoren-Nationalmannschaft, hat seiner Leidenschaft ein Buch gewidmet und uns ein großes Geschenk gemacht.

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Seitenzahl: 206

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Moritz Rinke

Ich könnte hier stundenlang sitzen und auf den Rasen schauen

Lauter Liebeserklärungen an den Fußball

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Moritz Rinke

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Moritz Rinke

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke, u. a. »Republik Vineta«, »Wir lieben und wissen nichts« oder »Westend«, werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (2010) wurde zum Bestseller. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Kolumnenband »Unser kompliziertes Leben« (2023). Moritz Rinke lebt in Spanien und in Berlin.

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Über dieses Buch

In den Straßen Berlins gibt Moritz Rinke sich für die Mittelfeld-Ikone Andrea Pirlo aus und verhindert mit einer riskanten Notlüge, dass sein Sohn Bayernfan wird. Auf einer Gala versucht er das Bein von Klaus Fischer zu berühren, mit dem er das Tor des Jahrhunderts erzielte. Er lässt Jogi Löw ekstatische Weltmeisterbriefe schreiben und Thomas Müller ein Zwiegespräch mit der One-Love-Binde führen. In Katar besichtigt er ungläubig die neu errichteten Stadien und erzählt am Beispiel seiner Nichte und deren Freundin, die ein Verhältnis mit Neymar hatte, vom Niedergang des Fußballs.

Moritz Rinke, einer der bekanntesten Dramatiker Deutschlands, Romancier und Stürmer in der DFB-Autoren-Nationalmannschaft, hat seiner Leidenschaft ein Buch gewidmet und uns ein großes Geschenk gemacht.

Inhaltsverzeichnis

Motto

Statt eines Vorworts

I Vorbilder, Legenden, Götter

1  Wie ich ein Jahrhunderttor mit Uwe Seeler im Fahrstuhl erzielte

2  Ach, Malente!

3  Vom Versuch, Klaus Fischers legendäres Bein zu berühren

4  Being Pirlo

5  Treffen sich zwei Bälle im Himmel

6  Der Empfindsame

7  Meine Aufnahmeprüfung über Torquato Tasso und Otto Rehhagel

8  Ich wäre so gerne der Messi der Bücher

9  Ein Spieler namens Pasolini

10  »Behalt ick, für immer!«

II Vom Stürmen

1  Ich bin Schönspieler

2  Man muss schreiben, wie Claudio Pizarro spielt

3  Vom Seelenleben der Stürmer

4  Rahn, Müller, Brehme

III Der Fußball und die Deutschen

1  Rede an die Nation im Geiste von Hölderlin und Toni Kroos!

2 Das Zärtliche soll nicht ins Grobe!

3  Wie wir Spiele im Fernsehen schauen

4  Der stumme Schrei

5  Der rote Ball

IV Wo die Dreisam das Wasser des Krummbachs aufnimmt

Die gesammelten Werke von Jogi Löw

V Von den kleinen und den großen Dingen

1  Wie ich meinen Sohn so erziehe, dass er auf keinen Fall Bayern-Fan wird

2  Heute im Weserstadion!

3  Mit dem heiligen Rasen in die Schule

4  Von den kleinen, großen Dingen

5  Im Mutterland der Pokale

6  Heute, 17:15 Uhr, Zeitenwende!

VI Der betäubte Panther

1  Die Köpfe meiner Spieler sind leere Stadien

2  Über Scham

3  Angela Merkel oder Von der Sehnsucht, lächeln zu dürfen

VII Die Qual der Liebenden

1  Drei Tage in Katar

2  Die Qual der Liebenden

3  Die große Umoperation 

VIII Die Wahrheit liegt in der Wüste

1  Liebt ihr wirklich euer Spiel und eure Träume?

2  Das Mentalitätsmonster sagt Adieu

3  Die neue Einsamkeit des Cristiano Ronaldo

4  Außen Gott, innen Kind

Nachweis der Veröffentlichungen

Zitatnachweise

Wenn man den Rasen riecht und darauf auflaufen darf, das kann man schlecht beschreiben. Das ist schon das Schönste, was es gibt im Leben. Ich gehe auch gerne auf die Bühne, ich singe auch gerne, aber Fußball, das ist schon was anderes.

Herbert Grönemeyer

Statt eines Vorworts

Walle, Walle … Nun erfülle meinen Willen! Über neue und alte Leidenschaften

Wenn ich als Kind erkältet war, im Bett lag und nicht zur Schule gehen konnte, erlaubten mir meine Eltern, sofern ich fieberfrei war, die erste Halbzeit abendlicher Fußballspiele im Fernsehen anzuschauen. So kam ich zum Halbfinale der EM 1976. Jugoslawien gegen Deutschland. Zur Halbzeit stand es 2:0 für Jugoslawien und ich lag mit Tränen in den Augen und dem Kicker im Bett. Als der gerade eingewechselte Dieter Müller den Ausgleich zum 2:2 erzielte, weckte mich mein Vater und ich durfte in der Verlängerung noch zwei weitere Müller-Tore zum 4:2 Endstand sehen.

Natürlich bemühte ich mich, in den folgenden Tagen bis zum Finale gegen die Tschechoslowakei weiterhin krank zu sein, hustete künstlich, lag apathisch in meinem Zimmer herum und fühlte mich pünktlich zum Spiel plötzlich besser, sodass mir das Anschauen des Finales bestimmt nicht schaden würde. Ja, ich habe dann wirklich den vergebenen Elfmeter von Uli Hoeneß sehen dürfen, der Ball flog hoch in den Belgrader Abendhimmel. Deutschland hatte verloren, ich musste am nächsten Tag müde in die Schule und übte den Rest der Woche auf unserer norddeutschen Moorwiese zwischen den Kühen Elfmeterschießen.

Oft denke ich an meine Fußballkindertage, wenn mein Sohn an den Wochenenden frühmorgens durch das Wohnzimmer schleicht, um sich heimlich mein Handy zu nehmen und FIFA Mobile Fußballsimulation von EA Sports zu spielen. An Schultagen muss ich ihn aus dem Bett ziehen, am Wochenende wacht er umso früher auf, natürlich wegen FIFA Mobile. Ich muss mich dann entscheiden: Entweder schlafe ich endlich einmal aus und mein Sohn hockt die ganze Zeit neben der Steckdose mit dem Ladegerät und zockt die Soccer-Simulation mit dem für 150 Millionen Dollar gekauften Namen von der FIFA-Verbrecherorganisation. Oder ich sperre mein Handy, dann aber zieht er so lange im Bett an mir herum, bis ich als FIFA-Simulations-Ersatz im Pyjama den Softball durchs Wohnzimmer schieße. Seine Paraden auf Holzdielen, mein schlechtes Gewissen wegen Engelbert, dem Nachbarn unter uns.

Ich lebe ohnehin permanent mit diesem schlechten Gewissen wegen Engelbert, weil mein Sohn täglich als Mini-Manuel-Neuer oder Mini-Kevin-Trapp durch die Wohnung hechtet oder so tut, als wäre er Jamal Musiala und würde von Mats Hummels oder Anton Rüdiger gefoult und gegrätscht werden, es ist ein fürchterliches Gerumpel. Jede Woche bringe ich Engelbert eine Flasche Rotwein runter, wir reden nie über das Gerumpel und seine verpolterten frühen Morgenstunden plus Nachmittage nach der Schule und die ganzen Abende, es ist, als würde ich ihn mit ausgesuchten Spitzenweinen stillschweigend besänftigen.

Wenn ich also Engelbert und mich am Wochenende länger schlafen lassen will, dann spielt und tippt und zockt mein Sohn auf meinem Telefon herum. Ich stelle mir dann vor, wie er auf diese digitalen und simulierten Spielerfiguren starrt, mit ihren abgehackten, unnatürlichen Bewegungen. Ich denke dabei an die Müller-Tore aus meiner Kindheit, Tore aus der fließenden Bewegung, natürliche Tore! Von Dieter Müller oder von Gerd Müller, später sogar von Thomas Müller – alles echte Tore auf einem echten grünen Rasen!

Früher begannen die Spiele an den Wochenenden um 15:30 Uhr vor dem Radio oder um 18 Uhr in der Sportschau, aber nicht um 06:30 in meinem Mobiltelefon! Wenn ich an den Wochenenden irgendwann aufwache, dann reiße ich meinem Sohn sofort das Handy aus der Hand, anders geht es nicht. Ihm zu erklären, dass nun das Spiel abgepfiffen werde, er sich schon seit Stunden in der Nachspielzeit befinde oder wenigstens jetzt Halbzeit sei, Pausentee, Frühstück, Entspannung, Regeneration! – das nützt alles nichts, beim FIFA-Zocken gibt es keinen Abpfiff, beim FIFA-Zocken sind wir in einer endlosen Nachspielzeit, einem ewigen Gameplay.

Er frühstückt dann in fünf Minuten, stürzt sich danach auf seine zwei vollgestopften Fußballkisten, in denen sich – ich schwöre – 56 Trikots befinden, und dann ist endgültig die Zeit des Softballs gekommen. Während ich schon mal die Rotweine für Engelbert sortiere, verwandelt mein Sohn die Wohnung in ein Stadion. Er baut seine TÜV-geprüften Aluminium-Miniprofi-Tore auf, verwandelt Sofaecken in Tribünen mit Fahnen, klickt den Teufelskicker-Podcast bei Spotify auf dem Handy seiner Mutter an, befiehlt seiner kleinen Schwester, viel zu große Erling-Haaland- oder Kylian-Mbappé-Trikots zu tragen und ihm stundenlang Bälle draufzuschießen. Dazu trägt er die bei einem Coca-Cola-Event ersteigerten Originaltorwarthandschuhe von Manuel Neuer und lässt im Hintergrund, oft ohne zu fragen, nervtötende YouTube-Videos wie die von »Fabiano« laufen, der auf seinem FIFA-Kanal mit überdrehter Stimme, begleitet von Sirenentönen, Gongs und dem Teufelskicker-Podcast, alles, was man über Fußball absolut nicht wissen muss, durchquatscht!

Und dann, genau dann, sitze ich da und frage mich, verdammt noch mal, von wem hat er das alles?! Und ich denke an Goethes Ballade vom Zauberlehrling, der den Besen zum Leben erweckt und an den Fluss schickt, um Wasser zu holen, doch dann kann er den Besen nicht mehr stoppen und der Besen schafft unablässig Wassermengen heran, die zu Sturzbächen werden. So war es ja auch bei mir und meinem Sohn. Als er gerade fünf Jahre alt war, brachte ich ihn zweimal zum Training bei Hertha Zehlendorf, er wusste noch nicht einmal, wohin der Ball muss und was überhaupt der Sinn des Ganzen ist, aber ich stand daneben: Walle, Walle … Nun erfülle meinen Willen! / Auf zwei Beinen stehe / Oben sei ein Kopf / Eile nun und gehe / Mit dem Wassertopf … / Dass zum Zwecke / Wasser fließe …

Und nun?

Die ich rief, die Geister / Werd’ ich nun nicht los …

Über den Fußball würde ich jetzt wirklich gerne sagen und es stimmt natürlich nicht: Früher war alles besser … Natürlich nicht technisch, taktisch, athletisch usw., aber ich denke mit Sehnsucht an die fußballreduzierten Zeiten, an die Stille zwischen den Spielen, in der die Vorfreude immer größer wurde: auf die Sportschau am Samstag, auf Die Sportreportage am Sonntag, auf die Erlaubnis der Eltern, ein abendliches Länderspiel schauen zu dürfen, auf die Hanuta-Duplo-Sammelbilder zu den Weltmeisterschaften – viel mehr gab es nicht: keine FIFA-Soccer-Simulation, kein Fußball-Gossip durch nervtötende You-Tuber, keine Trikots mit Preisen von 75 Euro (ohne Hosen und Stutzen!), die mein Sohn natürlich auch immer haben muss. (54 Trikots je 75 Euro plus Hosen und Stutzen, das sind 54 mal 145 Euro, dazu die Original-Manuel-Neuer-Handschuhe, die ständigen FIFA- und UEFA- und Bundesliga- und EM- und WM-Stickerheftkollektionen, das ganze Datenvolumen, das ich für die 99 Folgen der Teufelskicker und diese verdammte FIFA-Simulation dazukaufen muss, die Spitzenweine für Engelbert … Oh Gott!)

Er ist gerade mal neun Jahre alt und spielt schon beim dritten Verein, weil er die bisherigen Vereine für nicht professionell genug befand, dabei ist ein Vereinswechsel eine Mammutaufgabe: Aufnahmeanträge, Anträge auf Erteilung einer Spielberechtigung, Kündigung der Spielberechtigung beim alten Verein, Online-Abmeldung des alten Vereins, Protest gegen die vierwöchige Sperrung meines Sohnes wegen Versäumnis der Online-Abmeldung durch den alten Verein, Nachweis des Einschreibens der Kündigung beim alten Verein, Einreichung einer Ermächtigung der Online-Abmeldung durch den neuen Verein – ja, man ahnt schon, warum man in deutschen Fußballverbänden nicht mehr so richtig zum Fußballspielen kommt …

Aber wäre ich glücklicher, wenn mein Sohn das alles gar nicht mehr wollen würde? Würde ich ihm all diese wasserholenden Besen wieder wegnehmen oder wegzaubern und statt der täglichen Fußball-Überschwemmung durch meinen Sohn wieder im Trockenen sitzen wollen?

Nein!

Ich habe ein Buch über meine Leidenschaft geschrieben, auch wenn es diese Leidenschaft ist, die mich bei meinem Sohn fast in den Wahnsinn treibt. Neulich fragte er mich, ob ich wisse, was Luka Modrić für ein Auto fahre (»einen Bentley Continental GT!«), und ob ich wisse, wie viel der amerikanische Leibwächter von Lionel Messi verdiene (»sieben Dollar in einer einzigen Minute!«). Ich war kurz vor einem Wutanfall, dann atmete ich durch und sagte ihm, er solle sich lieber mit Messis oder Modrićs Schusstechnik beschäftigen anstatt damit, wie viel der blöde Leibwächter verdient oder welches Auto Luka Modrić fährt, den ich bisher immer für den bescheidenen Sohn eines kroatischen Ziegenhirten gehalten hatte.

 

Und ich habe ein Buch über meine Leidenschaft geschrieben, weil sie auch immer für den Wunsch gestanden hat, das Erwachsenwerden und damit das Altern durch ein ewiges Spielen aufzuhalten. Vielleicht ist der Fußball für mich so etwas wie die unendliche Verlängerung der Kindheit. Und bestimmt wollte ich auch einen fußballbegeisterten Sohn, damit wir uns dann in dieser gemeinsamen Leidenschaft für das Spiel wie zwei Kinder begegnen können. Wenn ich zum Beispiel mit ihm zu einer Partie von Werder Bremen gehe und wir gemeinsam im Weser-Stadion sitzen. Wenn der Verein in die Bundesliga aufsteigt, wir auf den Rasen stürmen und mein Sohn ein Stück des sauteuren Hybridrasens aussticht, mit einem entwendeten Buttermesser aus der Loge der Werder-Torwartlegende Dieter Burdenski. Oder wenn wir bei einem befreundeten Goldschmied in seiner Bremer Manufaktur stehen, in der all die großen wunderschönen und so begehrten Pokale des Fußballs für die wichtigsten Final-Spiele aufbereitet, poliert, granuliert und graviert werden. Und wir beide den DFB-Pokal, den schönsten aller Pokale, berühren und in die Höhe stemmen. Dann leuchten seine und meine Kinderaugen.

Nun findet bald die Europameisterschaft in Deutschland statt, die EM im eigenen Lande. Ich werde meinen Sohn bitten, auf die endlose FIFA-Zockerei zu verzichten. Ich werde ihn auch bitten, die nervtötenden YouTube-Videos mit dem endlosen Gequatsche auszuschalten. Dafür werde ich alles daran setzen, mit ihm im Stadion eines der großen Spiele sehen zu können, 90 Minuten pures Glück plus Nachspielzeit auf echtem grünem Rasen – selbst wenn dieses Glück so teuer wird wie seine gesamte Ausstattung plus Spitzenweine für Engelbert. Und dann werde ich ihm an jedem Spieltag der EM eine Geschichte aus diesem Buch vorlesen, denn eigentlich habe ich es ja für uns geschrieben.

IVorbilder, Legenden, Götter

1 Wie ich ein Jahrhunderttor mit Uwe Seeler im Fahrstuhl erzielte

Bei seiner letzten WM 1970 in Mexiko spielte Uwe Seeler als hängende Spitze hinter Gerd Müller. Jenes berühmte Tor, das er im Viertelfinale gegen England erzielte, kenne ich nur von Erzählungen und den alten Aufnahmen bei YouTube. Langer Ball von Schnellinger in den englischen Strafraum und dann Seeler: Aus der rechten Strafraumecke mit dem Hinterkopf zum 2:2! So ein Hinterkopftor hatte es bis dahin noch nie gegeben.

Das erste berühmte Tor, das ich im Fernsehen live miterlebt habe, war das 2:1 von Gerd Müller beim WM-Finale 1974 gegen die Niederlande. 43. Minute, Pass von Bonhof auf Müller, Müller nimmt im Strafraum an, dann Hüftdrehung, Bumms, Tor, Weltmeister, da war ich sechs. Ich erinnere mich auch noch gut an das Jahrhundertfallrückziehertor von Klaus Fischer 1977 gegen die Schweiz, das ich auf unserem weichen norddeutschen Moorboden in Worpswede sofort nachzuahmen versuchte. Und ich erinnere mich natürlich an das Elfmetertor von Andy Brehme im römischen WM-Finale 1990. Seeler-Tore hätte ich gern live gesehen, es waren tolle dabei – im Sitzen, im Stolpern, hoch aus der Luft, wie ein Artist. 1960 schoss er den HSV quasi alleine zur Meisterschaft.

Ich verehrte Uwe Seeler auch noch für etwas anderes: seine Bodenständigkeit und Weisheit. Als er das deutsche Team 1966 als Kapitän ins WM-Endspiel führte, fiel das Wembley-Tor, das bekanntlich keines war. Als er gefragt wurde, warum er denn nicht protestiert habe, sagte er: »Die Königin war im Stadion, und da wollte man nicht groß meckern.« Als ihm im Sommer 1961 Inter Mailand im Atlantikhotel für einen Vereinswechsel eine Million D-Mark Handgeld in einem Koffer überreichen wollte, sagte Seeler Nein und blieb in Hamburg beim HSV. Er liebte den Fußball mehr als das Geld.

Und was wurde nicht schon alles über den Fußball theoretisiert, auch von mir: Der Fußball habe eine mythische Erzähl- und Erinnerungskraft; der Fußball könne etwas, was das Theater und die Oper nur selten herzustellen vermochten, nämlich die Verschmelzung von Publikum, Bühne und Aktion. Das habe ich alles einmal gesagt, aber wie entwaffnend ist dagegen ein Seeler-Satz wie dieser: »Das Geheimnis des Fußballs ist ja der Ball.« Vielleicht muss man gar nicht mehr sagen.

Ich war einmal in Kairo im Ägyptischen Museum und stand vor der Mumie von Ramses II., dem bedeutendsten Herrscher des alten Ägypten. Unglaublich, dachte ich, was von Ramses II. alles erhalten war: die Haare, die Zähne, die Hakennase, sogar der Penis soll mumifiziert worden sein. Man hatte ihn mit Palmwein abgerieben, in Natron gebadet, mit Kräutern, Myrrhepulver, Bienenwachs und Blüten ausgestopft und in Leinenbinden gehüllt.

Am nächsten Tag war ich Gast des Deutschen Fußballbundes in Frankfurt, Länderspiel gegen Wales. Nach dem Spiel stand ich im Fahrstuhl des Hotels. Die Tür ging auf und Uwe Seeler stieg zu. Er stand direkt vor mir, ganz nah und wiegte leicht den Kopf. Ich starrte ihn voller Ehrfurcht an. Im Fahrstuhlspiegel spiegelte sich Seeler von hinten, und ich schaute vorsichtig an ihm vorbei, um auch Seelers Hinterkopf zu betrachten. Damit hatte er also dieses heilige Jahrhunderttor in Mexiko gegen England erzielt! Flanke Schnellinger, dann Seeler, Hinterkopf, 2:2, Rache für Wembley.

 

In meinen Gedanken fiel dieses Tor jetzt im Fahrstuhl noch einmal. Und ich war Schnellinger, der den Pass auf Seeler spielte. Ich schaute immer noch im Spiegel auf seinen Hinterkopf und dachte an Ramses II., ja, ich schaute so ehrfürchtig auf Seelers Kopf, mal von vorne, mal von hinten, wie ich auf die Mumie des ägyptischen Herrschers geschaut hatte. Am besten mit Palmwein abreiben, dachte ich, in Natron baden, mit Kräutern, Myrrhepulver, Bienenwachs und Blüten ausstopfen und in Leinenbinden hüllen. Seeler muss sich bestimmt über diesen Typen im Fahrstuhl gewundert haben, der so ausgiebig von allen Seiten seinen Kopf anstarrte.

Ich hätte schon längst aussteigen müssen, fuhr aber mit Uwe Seeler weiter. Bis ganz nach oben.

2 Ach, Malente!

Über Franz Beckenbauer

Es war 1978, gleich nach der schandvollen Niederlage gegen Österreich bei der WM in Argentinien, als mein Großvater seinen Schwarz-Weiß-Fernseher von Nordmende hochwuchtete und aus dem Fenster warf, er landete auf dem Max-und-Moritz-Weg in Bremen.

Danach setzte er sich in seinen Sessel und sagte: »Mit Beckenbauer, der Lichtgestalt, wäre das nicht passiert!«

»Beckenbauer …«, sagte ich leise und traurig, immerhin war gerade auch meine Lieblingsserie Familie Feuerstein aus dem Fenster geflogen.

Der Großvater saß lange in seinem Sessel und erzählte von der WM im eigenen Lande, bei der Beckenbauer die Deutschen zum Sieg geführt hatte. Er berichtete von der »Nacht von Malente« in der schleswig-holsteinischen Sportschule nach der ebenfalls schandvollen Niederlage gegen die DDR. Helmut Schön, der Bundestrainer, habe sich schon Zugverbindungen raussuchen lassen, um abzureisen. Paul Breitner, den mein Großvater einen »Maoisten« nannte, habe angeblich schon die Koffer gepackt, aber dann habe Beckenbauer eine Rede gehalten, in einem Waschraum, und danach sei man Weltmeister geworden, gegen die Holländer.

Eigentlich hatte mein Großvater die Schnauze voll von Lichtgestalten, aber bei Beckenbauer machte er eine Ausnahme. Gegen Italien bei der WM 1970 in Mexiko habe Beckenbauer sogar mit verbundener Schulter gespielt. Vorher, 1966, habe England im Wembley-Stadion nur gegen Deutschland das WM-Finale gewinnen können, weil Bobby Charlton ihm die ganze Zeit absichtlich auf die Füße getreten sei.

Ich selbst habe Beckenbauer erst 1990 bewusst wahrgenommen. Als er als Teamchef der deutschen Mannschaft nach dem WM-Sieg gegen Argentinien in dieser lauen römischen Sommernacht ganz allein durch den Mittelkreis schritt, in weißer Hose, die Hände in den Taschen, mit der Goldmedaille um den Hals. Der Großvater hatte recht: eine Lichtgestalt.

Ja, der Kaiser.

Als ich in der B-Jugend spielte, begann ich, mir alte Beckenbauer-Spiele auf VHS-Kassetten anzuschauen, Großvater hatte sich bald einen neuen Fernseher gekauft und alle deutschen Länderspiele aufgezeichnet. Wie dieser Beckenbauer mit dem Ball am Fuß trabte, fast schwebte! Wie er verteidigte, seitlich anlaufend, den ballführenden Gegner antizipierend, analysierend. Wenn Beckenbauer verteidigte, »arbeitete« er nicht gegen den Ball, wie man heute sagt, sondern auch beim Verteidigen schien er zu schweben. Und diese Pässe! Ich lernte durch Beckenbauer, was die Worte »Außenrist« und »Effet« bedeuteten.

Meine erste Begegnung mit Beckenbauer, 2008, noch vor der Sommermärchen-Affäre, war im Berliner Olympiastadion, ich hatte es irgendwie auf die Ehrentribüne geschafft. Wir wurden einander vom damaligen Bundeskanzler vorgestellt, weil der wegen meines längeren Haars dachte, ich sei Thomas Brdarić von Hannover 96, dem Heimatclub des Kanzlers.

»Mein Großvater hat Sie sehr verehrt, obwohl er Bremer war und Sie Bayer. Er sprach oft von der Nacht von Malente«, sagte ich.

»Ach, Malente«, sagte Beckenbauer.

»Ich spiele aber gar nicht bei Hannover, ich bin Schriftsteller«, fügte ich noch hinzu.

Beckenbauer antwortete nicht.

»So was wie in Malente habe ich mal auf dem Parteitag in Mannheim erlebt, wenn man plötzlich zusammenrückt!«, erklärte der Kanzler.

Danach ließ ich Beckenbauer nicht aus den Augen, ich beobachtete, wie die Menschen ihm begegneten. Wie sie sich vor ihm förmlich verbeugten. Wie die, die ihn persönlich zu kennen schienen, seine Nähe suchten, manchmal tastend, manchmal aufdringlich.

Franz, Franz, der Franz!

Franz Beckenbauer hatte gerade die WM nach Deutschland geholt. Im ZDF hatte es zu seinem 60. Geburtstag eine Gala gegeben. Alle erdenklichen Verdienstorden, Ehrennadeln, Ehrenmitgliedschaften, Staatsmedaillen und Lorbeerblätter hatte er schon erhalten. Wenn man den Fernseher anschaltete, sah man Beckenbauer für: Adidas, Aral, Mitsubishi, Mercedes-Benz, Deutsche Post, Erdinger, E-Plus, O2. Dabei gibt es in der Werbebranche eigentlich eine goldene Regel: drei Marken pro Promi, aber für Beckenbauer schien die nicht zu gelten. Wenn Fußballspiele im Fernsehen gezeigt wurden, analysierte danach fast immer Beckenbauer: Meist lag er richtig, es wurde ihm selten widersprochen. Bei der WM 2006 in Deutschland, dem Sommermärchen, war er weder der kaiserliche Spieler noch der kaiserliche Teamchef, aber trotzdem wieder Kaiser. Man sah Beckenbauer im Hubschrauber von Stadion zu Stadion fliegen und dann auf der Tribüne thronen.

Wahrscheinlich musste das Sommermärchen so enden, wie es endete, um uns und ihm zu verdeutlichen, dass es die Welt, in der Beckenbauer all die Jahre gelebt hatte, eigentlich nicht mehr gab. Die FIFA hatte ihm die WM nicht geschenkt, weil er der Kaiser war, er hatte sich die Stimmen des Organisationskomitees gekauft und sogar selbst viel Geld bekommen, obwohl er immer gesagt hatte, er täte das alles ehrenamtlich.

Vielleicht hätte er sagen sollen: »Leute, das irre Geld im Fußball ist ein Monster, es frisst uns alle. Habt ihr wirklich geglaubt, in diesem total verlogenen Fußballgeschäft hätte man uns die WM gegeben, weil ich der Kaiser bin? Aber wisst ihr was? Ihr habt sie durch mich billiger gekriegt! Habt ihr eine Ahnung, was sie Russland oder Katar gekostet hat?! Ja, ich bin so schuldig wie ihr, die ihr diesen Fußball wollt!«

Aber er sagte so gut wie nichts. Er war plötzlich nicht mehr Beckenbauer, sondern Helmut Kohl, der nicht verstehen konnte, dass man jemanden, der Europa geformt und den Deutschen die Einheit gebracht hatte, mit dem Strafgesetzbuch kam.

Dabei hätte man schon damals in Malente nur genau hinschauen müssen: Es ging nicht um die Ehre der Nation, wie mein Großvater glaubte, es ging um Geld. 30 000 D-Mark wollte der DFB als Prämie für den WM-Titel zahlen, aber die Spieler hatten gelesen, dass die Italiener das Vierfache bekommen sollten. Am Ende zahlte der DFB 60 000. Vermittelt hatte das Beckenbauer. Vermutlich war das die Nacht, in der er Kaiser wurde.

3 Vom Versuch, Klaus Fischers legendäres Bein zu berühren

Die Eröffnung des Deutschen Fußballmuseums

Am Tag der Bekanntgabe des größten DFB-Skandals aller Zeiten über die mutmaßlich gekaufte WM 2006 wird zufällig das neue Deutsche Fußballmuseum in Dortmund eröffnet.

Gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof liegt das neue Deutsche Fußballmuseum wie ein riesiges Schiff. Es steht so absurd groß da, als hätte es Klaus Kinski wie in Fitzcarraldo aus dem Meer durch den Ruhrpott gezogen und hier abgestellt.

Am Abend der Eröffnungsgala führt ein langer roter Teppich ins Museumsschiff, auf dem fast nur ältere Männer in schwarzen Anzügen stehen. Manche sprechen mit ernsten Mienen, manche mit aufgeregten Skandalgesichtern in Mikrofone. Ich höre immer wieder die gleiche Zahl: »6,7 Millionen!«, »6,7 Millionen!«, dann Sätze wie »DFB-Präsident bringt Mohamed Bin Hammam ins Spiel!«, »Der Kaiser schweigt« oder »Dreyfus leider tot«. Einer wiederholt mehrmals und zwischendurch nach Luft schnappend: »Epizentrum FIFA, Blatter!«

Eine Reporterin hält mir ein Mikro hin und fragt: »Glauben Sie, der Empfänger war Mohamed Bin Hammam?« Da ich keine Ahnung habe, ob der mittlerweile lebenslang gesperrte FIFA-Funktionär Mohamed Bin Hammam oder jemand anderes der Empfänger der 6,7 Millionen Euro von adidas-Chef Dreyfus war oder ob Franz Beckenbauer, der Kaiser, für sein WM-Organisationskomitee eine schwarze Kasse beim DFB hatte, um vier asiatische FIFA-Funktionäre zu bestechen, wie der Spiegel behauptete, laufe ich einfach kommentarlos weiter. Ich notiere in meinen Notizblock: Arme Seele Fußball. Bei »Seele« denke ich auch plötzlich an Seeler. Wenn doch nur einer wie Uwe Seeler die FIFA wäre.

An mir vorbei läuft der aktuelle Präsident des DFB, er geht so blass über den roten Teppich, als müsste er auf die Titanic und nicht ins vielleicht schönste neu eröffnete Museum der Welt. Nur Bundestrainer Jogi Löw und sein Team aus Oliver Bierhoff und Andy Köpke sehen erfreut aus, sie wirken fokussiert. Ich sehe auch Otto Rehhagel, er lächelt permanent, so als wäre sein Lächeln aus Wachs.

Die Gala sollte von Johannes B. Kerner moderiert werden, doch der hat wegen des DFB-Skandals abgesagt. Ausgerechnet Kerner, denke ich, der doch so gern nach Amokläufen, Massakern und sonstigen schlimmen Ereignissen Interviews führt.

Während der Veranstaltung starren alle auf ihre Handys. Ich fange plötzlich auch an, Mohamed Bin Hammam zu googeln, er gelte als enger Vertrauter des Emirs von Katar. Bin Hammam soll beim FIFA-Exekutivkomitee die WM-Vergabe nach Katar eingefädelt haben. Ihm wird vorgeworfen, den Ethikcode der FIFA