3,99 €
Rowohlt E-Book Theater Zwei Paare treffen sich zum Wohnungstausch. Hannah muss für einige Zeit nach Zürich, um dort Zen-Kurse für gestresste Bankmanager zu geben. Ihr Freund Sebastian soll sie begleiten. Währenddessen zieht bei ihnen Roman ein, ein Informatiker, der berufsbedingt von hier den Abschuss eines Satelliten in das All verfolgen will. Dass Roman von seiner Schweizer Firma gerade entlassen wurde, ahnt er dabei noch nicht; das weiß nur Magdalena, seine Frau, die aber vorerst schweigt. Romans eigene Unwissenheit ist aber nur einer der Konfliktpunkte, um die Moritz Rinkes so liebevoll wie gnadenlos gezeichnete Figuren kreisen. Der altmodisch-melancholische Kulturhistoriker Sebastian erkennt in Roman, einem Fanatiker der Technik und Effizienz, sofort seinen Erzfeind. Zugleich findet Hannah nicht ohne Grund Gefallen an Romans Macherqualitäten. Umgekehrt wird Magdalena von Sebastians Melancholie fast magisch angezogen. Bereits seit längerem schwelende Beziehungskrisen brechen offen aus und eskalieren zu einem Kampf der Kulturen – bis am Ende sogar ein Schuss fällt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 89
Veröffentlichungsjahr: 2013
Moritz Rinke
Wir lieben und wissen nichts
Rowohlt E-Book
Hannah
Sebastian, ihr Freund
Roman
Magdalena, seine Frau
Ein großer, leerer Raum mit Fenster zur Straße. Es ist das Zimmer von Sebastian in Hannahs Wohnung. Bücher stapeln sich. Auf dem einzigen Möbelstück, einem antiken Stuhl: Sebastian, er starrt vor sich hin. Hannah betritt den Raum, einen Koffer tragend. Sie starrt Sebastian an.
SEBASTIAN
Trio … Quartett … Oktett, so nannten die das damals, man sprach sogar vom Kammerorchester …
HANNAH
Du sitzt ja immer noch da! Es kann jeden Moment losgehen …
SEBASTIAN
Papst Alexander der Sechste ließ am Vorabend von Allerheiligen fünfzig ausgewählte Kurtisanen auftreten, splitternackt … Im Vatikan!
HANNAH
Sebastian, bitte … Hast du die Liste fertig?
SEBASTIAN
Die sollten erst Kastanien aufsammeln, die ihnen von Männern zugeworfen wurden, und dann ging es kreuz und quer … Symphonieorchester! … Das musst du dir mal vorstellen, beim Papst! Da wundert einen doch gar nichts mehr …
HANNAH
Schreib bitte auf, in welche Richtung sie laufen müssen, damit sie den Bäcker finden … (Stellt ihm einen Umzugskarton hin und geht ab)
Sebastian bleibt sitzen. – Hannah mit einem riesigen Entsafter, der aussieht wie eine Raumkapsel.
SEBASTIAN
Am meisten interessieren mich die Adamiten. Das war die freieste Gesellschaft, die man sich überhaupt vorstellen kann …
HANNAH
Fang an zu packen …
SEBASTIAN
Wie heißt noch mal dieser Film mit dem kleinen Schauspieler …? Der mit der blonden Frau, die sich dann später getrennt haben?
HANNAH
Sebastian …
SEBASTIAN
Der ist in dieser Sekte … Diese wahnsinnige Szene, die er in dem Film gespielt hat, das war ein Sexgottesdienst für Eingeweihte, das ist bestimmt angelehnt an Alexander den Sechsten, da bin ich mir absolut sicher.
HANNAH
Ich bin begeistert … Wo ist der Originalkarton?
SEBASTIAN
Hannah, ich bleibe hier … Ich kann nicht, ich werde ständig irgendwo hingebracht, wo ich gar nicht hinwill. Stell doch bitte diesen schrecklichen Entsafter ab! Ich werde hier in der Abstellkammer wohnen.
HANNAH
Sebastian, pack bitte deinen Koffer, unsere Tauschpartner sind in einer Stunde da! Und ich weiß nicht, ob die hier wohnen wollen mit einem fremden Mann in der Abstellkammer!
SEBASTIAN
Ich bin hier kein fremder Mann, ich lebe hier! Guck mal, ob deine Tauschpartner online sind, und frag sie …
HANNAH
Die sind nicht mehr online! Es gibt einen Vertrag, wir tauschen Wohnungen, mit Möbeln, aber nicht mit einem Mann in der Abstellkammer!
SEBASTIAN
Ich lass mich nicht einfach umsiedeln!
HANNAH
Du wirst nicht umgesiedelt!
SEBASTIAN
Nein? Ach … Und Frankfurt? Ich sage nur: Frankfurt!
HANNAH
Das war vor einem halben Jahr!
SEBASTIAN
Das war vor vier Monaten! Ich weiß schon gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht vor lauter Kofferpacken. Diese ständige Umsiedelei! Von Frankfurt habe ich mich bis heute noch nicht erholt!
HANNAH
Nicht diese Diskussion … Nicht jetzt! Wovon leben wir denn?! Und könntest du hier vielleicht irgendetwas reinstellen, bevor die kommen? Lass uns wenigstens das Sofa rübertragen! (Geht ab und kommt sofort mit einer Pistole zurück)
SEBASTIAN
Ich glaube, ich bin die Seele dieser Wohnung geworden … Ich glaube, deine Wohnung mag mich einfach … Ich mag sie auch. Das war jetzt eine kleine, verschlungene Liebeserklärung.
Hannah hält die Pistole auf ihn.
SEBASTIAN
Gerade dieser Raum ist großartig, ich liebe diesen Raum! Hannah, ich überschlage mich ja heute mit Liebeserklärungen!
HANNAH
Und was machen wir damit?
SEBASTIAN
Nimm sie bitte runter, die ist geladen.
HANNAH
Die ist was??
SEBASTIAN
Scharf. Schussbereit … Mein Vater hat mir immer nur gezeigt, wie er sie lädt …
HANNAH
Die liegt seitdem geladen da im Schrank …? Ich dachte, das wäre eine Attrappe …
SEBASTIAN
Erst auf der Beerdigung, als der Sarg sich absenkte, wurde mir klar: Jetzt hat er mir seine schussbereite Napoleon Le Page vererbt, aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie entladen soll.
HANNAH
Versteck die am besten sofort!
SEBASTIAN
(verbittert) Ich habe nichts bekommen, aber die, die ist echt! Er hat auf Kaninchen und Maulwürfe geschossen. Und auf die große alte Affäre meiner Mutter. Claude Gruber, ein Franzose. Eines Tages stand er bei uns in der Tür. Er wollte ihr die Briefe zurückbringen … Ich laufe ins Zimmer und sehe noch, wie mein Vater diese Pistole senkt und das Blut des Franzosen auf die Briefe tropft …
HANNAH
Das ist ja furchtbar, das hast du nie erzählt …
SEBASTIAN
Fast wie bei uns, was? Ich hätte diesem Christian in jener Nacht in die Eier schießen sollen! Ich wäre dir gefolgt, und in dem Moment, als du wieder in seine Arme sinkst, hätte ich ihm …
HANNAH
Wohin damit?? (Legt die Pistole auf den Boden) Mitnehmen geht nicht, damit lassen die uns nie im Leben in die Schweiz einreisen!
SEBASTIAN
Hannah, ich kann nicht … Ich kann nicht!
HANNAH
Ich muss aber! Ich brauche eine Wohnung dort, sie brauchen eine Wohnung hier, also kommst du mit, das haben wir tausendmal besprochen!
Schweigen. Sebastian starrt vor sich hin.
HANNAH
Die Zimmer sahen im Internet doch ansprechend aus? … Ich bin heilfroh, dass wir die überhaupt noch gefunden haben, wochenlang war ja nichts … Und Zürich ist schön.
SEBASTIAN
Zürich ist dekadent! Und dann werden wieder die schwarzen Tage kommen … Ich sitze dort allein herum, und alles in mir wird immer dunkler …
HANNAH
Sag so was nicht … Du schreibst einen Beitrag über nackte Frauen und Männer, das ist doch irgendwie … heiter … unterhaltend …
SEBASTIAN
Es geht nicht um nackte Frauen und Männer … Es geht um das Vorwort für den Bildband von der Academy of Research in Heidelberg, das habe ich doch erzählt! Über den Dionysoskult, über Rausch und Ekstase …
HANNAH
Das meinte ich ja.
SEBASTIAN
In Wirklichkeit geht es um eine Menschheitsverbrüderung … Um eine neue soziale Utopie, das sind nur die Stichworte.
HANNAH
Darüber kannst du dir in Zürich Gedanken machen … Du läufst um den See, denkst nach, und in der Wohnung schreibst du es auf. Das ging ja in Frankfurt auch mit dem Katzen-Aufsatz.
SEBASTIAN
Das war kein Katzen-Aufsatz.
HANNAH
Es ging um Katzen … Um Katzenbilder.
SEBASTIAN
Es ging um die kulturhistorische Bedeutung der Katze am Beispiel der Malerei … Ägyptische Antike … Leonardo da Vinci, Picasso! Meinst du, ich schreibe einfach x-beliebig über Katzen?
HANNAH
Wir können uns jetzt nicht über Bilder mit Katzen unterhalten!
SEBASTIAN
Auf keinen Fall kann man in Zürich über die Sozialgeschichte der Orgie schreiben, das widerspricht sich!
HANNAH
Eben hast du noch gesagt: Zürich ist dekadent, also widerspricht sich das überhaupt nicht, Zürich und Orgie passt, das wird ja wohl für die paar Wochen gehen!
SEBASTIAN
Es sind zwei Monate! Warum lässt du dir kein Hotel buchen?
HANNAH
Für zwei Monate buchen die kein Hotel, das ist unwirtschaftlich!
SEBASTIAN
Das ist eine Frechheit, die sparen auf meine Kosten! Und danach soll ich noch mit zu deinem Einführungskurs nach Basel!
HANNAH
Basel ist auch sehr schön! Das liegt im Dreiländereck, und es sind nicht mal zwei Wochen …
SEBASTIAN
Wenn ich Zürich ist dekadent sage, dann spreche ich vom sehr späten Spätkapitalismus, ja? Von der perversen, völlig degenerierten Macht des Finanzkapitals, das ja offenbar auch in Basel sein Unwesen treibt, sonst würden sie dich da ja nicht hinbestellen, also komm mir nicht mit dem Dreiländereck! Basel ist genauso dekadent!
HANNAH
(setzt sich erschöpft auf ihren gepackten Koffer) – Es ist so anstrengend … Es ist so wahnsinnig anstrengend …
Schweigen.
SEBASTIAN
Hannah, weißt du eigentlich, wie schwer es ist, sich auf neue Umgebungen einzustellen? Auf fremde Geräuschkulissen? Da ist jedes unbekannte Geräusch, das von irgendwoher kommt, wie eine Attacke. Man wird richtig angegriffen vom neuen Geräusch. Und du findest erst Frieden, wenn du so ein feindliches Geräusch eine Zeitlang kennengelernt hast. Erinnere dich, wie ich es hier gemacht habe.
Hannah reagiert nicht.
SEBASTIAN
Diese Geräusche von oben, wenn Frau Lindt … Jeden Tag musste sie ihre Möbel rücken … Am Anfang bin ich fast gestorben, aber dann habe ich bei Frau Lindt geklingelt, um ein Gesicht für die Frau zu bekommen, die in ihrem Leben nichts hat als Möbelrücken. Ich habe mir die feindliche Geräuschkulisse menschlicher gemacht, verstehst du?
Hannah sitzt apathisch auf dem Koffer.
SEBASTIAN
Ein rauschender Baum im Wind, wunderbar … Die Wellen des Meeres, wie beruhigend! Starker Regen, der an die Fenster prasselt, das macht keiner extra, oder ich müsste bei Gott klingeln und fragen, warum der Wind in den Bäumen rauscht oder der Himmel donnert … Aber bei allen menschlichen Geräuschkulissen denke ich erst einmal, das machen die Menschen extra! Und dann muss ich Feindbilder abbauen. Überall klingeln. Mit Frau Lindt Kaffee trinken, irgendwelche Babys im Arm halten, damit ich bemitleidenswerte Existenzen hinter ihrem Krach erkenne. Weißt du, wie zeitaufwendig so etwas ist? Es gehört zum Schreiben dazu, aber es ist die schrecklichste Arbeit, und ich sehe mich schon angsterfüllt irgendwo in Zürich oder in diesem Dreiländereck sitzen und auf die fürchterlichsten Geräusche warten.
Hannah starrt in den Raum.
SEBASTIAN
Frankfurt war der Horror! Wenn du nach Hause kamst, schliefen die Schmitts oben schon, aber was meinst du, was das tagsüber für Monster von Möbelrückern waren, dagegen ist Frau Lindt ein Lamm! In Frankfurt haben alle Möbel gerückt, die Hessen sind so, das muss man als Geistesmensch wissen, da wird den ganzen Tag irgendwas hin und her gerückt, von links, von rechts … Unten … Oben … Rück … Quietsch … Dröhn … Da war ich nur noch überall am Klingeln, um halbwegs menschliche Begründungen hinter diesem ganzen wahnsinnigen Gerücke zu finden …
HANNAH
(vor sich hinsprechend) Dem Katzen-Aufsatz hat es nicht geschadet.
SEBASTIAN
Was …?
Erschöpftes Schweigen.
SEBASTIAN
Hannah, es war kein Katzen-Aufsatz … Es ging mehr darum, wie es diesen Wesen gelingen konnte, Tausende von Jahren bei den Menschen zu leben, ohne sich anpassen zu müssen, als ob sie so etwas wie eine Mission hätten. Ich hatte sogar überlegt, etwas Größeres darüber zu schreiben, aber mir fehlten die richtigen Bücher, das kommt ja auch noch hinzu. Nie hat man die richtigen Bücher dabei, wenn man gezwungen wird, anstatt zu Hause zum Beispiel in Frankfurt bei den Möbelrückern zu arbeiten … Einmal hatte ich in einem Interview mit Woody Allen gelesen, dass sich wohl auch Karl Marx für Katzen interessierte, aber hatte ich meine Marx-Bände dabei? Natürlich nicht!
HANNAH
Marx gibt’s auch digital. (Springt auf) Du sitzt hier den ganzen Tag herum! Jede Woche willst du in der nächsten Woche mit deinem großen Sonstwas beginnen, was uns angeblich Millionen einbringen wird, aber stattdessen schreibst du hin und wieder Vorworte, die nicht mal für einen Blumenstrauß reichen …
SEBASTIAN
Wir reden nicht über Geld, oder? Reden wir jetzt über Geld?!
HANNAH
Dein ganzes Leben besteht aus Vorworten! Und nicht mal die Liste ist fertig … Tolle Unterstützung!
SEBASTIAN
Moment mal … Wie heißt dein Kurs in Zürich? Zen für Banker …?
HANNAH