Erlebnisse eines mittelmäßigen Schülers - Jürgen Lange - E-Book

Erlebnisse eines mittelmäßigen Schülers E-Book

Jürgen Lange

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Beschreibung

Als die Generation der frühen 60er Jahre eingeschult wurde, hatten sie mit Lehrermangel und übervollen Klassen zu kämpfen. Was sie jedoch wirklich prägte, waren die autoritären Erziehungsideale ihrer Eltern und Lehrer. Zu Recht werden sie daher auch als Nachkriegsenkel bezeichnet. In seinen Erinnerungen empfindet Jan, unser Protagonist, diese Zeit jedoch nicht als grausam, sondern eher als lustig, denn er kannte es ja nicht anders. Dass er sich trotzdem entwickeln konnte, verdankte er den jungen und liberaleren Lehrern. Zwei von ihnen ist dieses Buch gewidmet.

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Gewidmet Bärbel Neuhaus und Wolfgang Henze

Inhalt

Vorwort

Das deutsche Schulsystem

Der erste Schultag (erster Teil)

Oben eine Schlange, darunter einen Spazierstock

Die Kinder des Babybooms

Die Bremer Stadtmusikanten

Der erste Schultag (zweiter Teil)

Heimatkunde mit Pater Brown

Der Fötus im Weckglas

the man

Daumenapplaus

Französisch Kriegen

Charly

Schule macht Spaß

Spickzettel und Schreckschusspistole

Vanillinzucker

Katzenmusik

Thermodynamik

Fangmittelpaste

Reformationstag

Nenn mir mal ´ne Gewerkschaft!

Einen schönen Tag noch

Das Lied von der Glocke

Der weiße Hai

Rheinlandschaften

Glücksgefühle

Die Früchte meiner Arbeit

Klassensprecherin

Weihnachtskerzen

Vierunddreißig Mark fünfzig

Bundesjugendspiele

Sprinten ins Glück

Das schönste Mädchen der Klasse

Udo der Schläger

Tom fehlt

Die schöne Beatrice

Ich gehe meilenweit

Werkzeugmacher?

Die Wette

Klassenfahrt

Zeiten und Wunder

Schlusswort

I . Vorwort

Beim Stöbern in meiner „Andenkenkiste“ fand ich ein Zeugnisheft aus der Grundschule, worin ganz vorn geschrieben stand:

„Im ersten Schulhalbjahr soll das Kind zunächst schulfähig werden. Der Übergang von der Freiheit des Elternhauses zum geordneten Leben in der Schule ist einschneidend.“

Oh ja, mit der Freiheit war es augenblicklich vorbei. Schulbeginn war nämlich bereits um Punkt acht, und zwar für die nächsten Jahre meines Lebens. Nur in den Sommerferien durfte man noch ausschlafen.

Neben den Nachteilen wie dem frühen Aufstehen kam ich durch den Schulbesuch aber auch in den Genuss einiger Vorteile. Anders als das Zitat suggeriert, war ich glücklich, wenigstens am Vormittag der elterlichen Kontrolle entzogen zu sein. Außerdem erfreute ich mich in der Schule der Gesellschaft einer ganzen Bande von Gleichgesinnten.

In der Grundschule hatten wir bis um zwanzig nach eins Schule, Zeit genug für sechs Stunden Unterricht zu je 45 Minuten unterbrochen von zwei Pausen von 20 und 30 Minuten Länge. Und wie sah dieser Unterricht aus?

Wolfgang Brezinka definiert Erziehung als „das Verhalten von Kindern in einer gewünschten Richtung zu ändern.“

Diese Verhaltensveränderung begann bereits vor der Schule, und zwar im Kindergarten. Diese Einrichtung gibt es seit etwa zweihundert Jahren. Kinder sollen dort wie Pflanzen in einem Garten gehegt und gepflegt werden und sich möglichst viel an der frischen Luft bewegen. Derselbe Gedanke der Waldpädagogik kommt auch in dem Wort Baumschule zum Ausdruck. Zur Zeit der ersten Kindergärten wurden in Preußen auf dem Schulgelände Gärten angelegt, um die Schüler dort in der Pflege und Veredelung von Obstbäumen zu unterrichten.

Zweifellos gab es fortschrittliche Ansätze in der deutschen Kindererziehung, doch verschwanden sie in der Zeit des Kaiserreichs und der Diktatur. Erst die 68er-Bewegung gab der Erziehung in Deutschland wieder neue Impulse. Dadurch entwickelte und verbesserte sich das Schulsystem, genau wie wir Schulkinder.

Vieles von dem, was hier beschrieben wird, mag dem Leser unwahrscheinlich oder völlig unglaubhaft vorkommen. Doch wir waren Kriegsenkel (Bode). Unsere Eltern und Lehrer wuchsen mit autoritären Idealen auf und viele blieben ihnen ein Leben lang verhaftet. Ihre Leitbilder waren Zucht und Ordnung. Ganz selbstverständlich wurde Disziplin von oben aufgedrückt. Die Geisteshaltung unserer Erzieher betraf das richtige Aussehen und Auftreten; wir empfingen sie durch Regeln wie:

„Die Röcke bedecken die Knie.“

oder:

„Schlüsselkinder sind asozial.“

Ebenso selbstverständlich wurden uns auf bestimmten Geschlechterrollen basierende Vorstellungen anerzogen:

„Eine Mutter ist nicht berufstätig.“

oder:

„Ein Junge weint nicht.“

Jedenfalls wurden wir Kinder des Babybooms eingeschult, lange bevor die 68er-Bewegung Veränderungen zugunsten einer antiautoritären Erziehung bewirken konnte.

Meine Klassenlehrerin in der Grundschule Bärbel Neuhaus und mein Klassenlehrer auf der Realschule Wolfgang Henze gehörten zu einer liberaleren Generation von Lehrern. Ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet, und deshalb widme ich ihnen das vorliegende Büchlein.

Jeder kennt aus seiner Schulzeit bestimmte „Typen“:

Da ist das wunderschöne, aber unnahbare Mädchen, das immer mit den falschen Typen ausgeht; der Sportler, der Nachhilfe in allen relevanten Fächern braucht, da er nicht die hellste Kerze auf der Torte ist. Das wenig attraktive Mathe-Ass, das bereitwillig hilft, um anerkannt zu werden; der Klassenclown, der seine wahren Gefühle hinter einer lustigen Fassade verbirgt, der Schläger, vor dem alle Angst haben, auch manche Lehrer.

Einigen dieser „Typen“ werden wir in diesem Buch wiederbegegnen. Sie sind das verbindende Element, wenn wir uns mit anderen über unsere Schulerfahrungen austauschen. Somit wird jeder Leser, jede Leserin der einen oder anderen vertrauten Figur begegnen.

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Julia und Jürgen

II. Das deutsche Schulsystem

In Deutschland gibt es private Schulen, wie die Waldorfschule oder Schulen von religiösen Schulträgern. 2006 besuchten hier nur sechs Prozent der Schüler eine private Schule, während es zum Beispiel in Spanien über ein Drittel war.

Die Kleinen werden mit sechs Jahren eingeschult und besuchen die Grundschule von der ersten bis zur vierten Klasse. Sind die Kinder zehn Jahre alt, treffen ihre Lehrer im Rahmen eines Gesprächs mit den Eltern des Zöglings die wohl bedeutendste Entscheidung für den Werdegang der kleinen Person. Die Eltern dürfen einen Wunsch äußern und der lautet fast immer „aufs Gymnasium“. Doch wenn der kleine Strolch nur Stroh im Kopf hat, dann hilft auch der frommste Wunsch seiner Eltern nichts.

In der Grundschule werden die Kinder zum ersten Mal benotet, und zwar gleich zweimal pro Jahr. Die beste Note ist sehr gut oder eins, und dann geht es abwärts: gut (2), befriedigend (3), ausreichend (4), mangelhaft (5) und ungenügend (6). Wer alle Fächer mit ausreichend oder besser abschließt, wird versetzt. Zwei Fünfen kann man noch ausgleichen; mit drei Fünfen oder einer Sechs bleibt man sitzen.

Nach der Grundschule besuchen die Schüler einen von drei verschiedenen Schultypen: die eher praktisch ausgerichtete Hauptschule, die Realschule oder das eher theoretische Gymnasium. Alle drei Modelle führen bis zur zehnten Klasse. Wenn die Schüler die weiterführende Schule beenden, sind sie in der Regel 16 Jahre alt, und mit diesem Alter endet die allgemeine Schulpflicht.

Nur das Gymnasium und seit den 70er Jahren auch die Gesamtschule verfügen über einen Oberstufenzweig zur Erlangung des Abiturs. Mit diesem Abschluss kann man z. B. eine Lehre bei einer Bank machen oder eben zur Universität gehen.

Der Vorteil des dreigliedrigen Schulsystems ist, dass alle Schüler in einer Klasse in etwa gleich begabt sind. Der Nachteil ist, dass die berufliche Zukunft der Kinder entschieden wird, wenn sie gerade mal zehn Jahre alt ist. Es gibt aber auch Kinder, die ihr Potenzial erst im Laufe der Jugend voll entwickeln. Diese „Spätzünder“ werden vom deutschen Schulsystem nicht eben bevorteilt.

III. Der erste Schultag ( erster Teil )

Jans Mutter begleitete ihren Sprössling an seinem ersten Schultag auf dem Weg zur Schule.

„Pass gut auf, Jan! Morgen gehst du den Weg allein.“

Er passte gut auf, was aber gar nicht so leicht war. In Deutschland gibt es nämlich eine Tradition, die den ABC-Schützen ihren ersten Schulbesuch erleichtern soll: die Schultüte. Die Schultüte ist ein bunter Pappkarton in Form eines Spitzkegels. Sie enthält Schulmaterial und Süßigkeiten. Auch Jan bekam von seinen Eltern an seinem ersten Schultag eine Schultüte geschenkt. Darin befanden sich ein Bleistift, Buntstifte, ein Anspitzer, ein Radiergummi, ein Schreibheft und ein Lineal. Außerdem gab es etwas Obst, Nüsse und Schokolade.

Der Karton ist so groß, dass er unbedingt mit beiden Hände getragen werden muss. Wenn man selbst nur einen Meter zwanzig groß ist, dann ist eine 75 cm große Schultüte schon gewaltig. Doch alle Last ist gering, wenn es sich um die Schultüte handelt, denn dieses Statussymbol unterscheidet den Erstklässler vom Kindergartenkind.

Es gibt noch einen Brauch für Schulanfänger in Deutschland. Nachdem die Kinder mit einer überdimensionierten Schultüte zum Schulbesuch überredet worden waren, half eine leuchtend orange Baseballkappe dabei, denselben nicht vorzeitig zu beenden. Autofahrer sollten nämlich durch dieses Signal auf dem Kopf der Schulanfänger vor deren nicht immer vorschriftsmäßigen Verhalten im Straßenverkehr gewarnt werden. Damit die Schulanfänger ihre Kappe auf ihrem täglichen Schulweg auch tatsächlich trugen, wurde sie ihnen in einer feierlichen Zeremonie übergeben. Gleich in der ersten Woche erschienen in Jans Klasse zwei Ordnungshüter in Uniform.

„Gebt ihr uns euer Wort, die Schulkappen auch jeden Tag zu tragen?“

„!“

IV. Oben eine Schlange, darunter einen Spazierstock

In Deutschland werden Schulanfänger i-Männchen genannt, weil sie früher ihre Schreibübungen mit diesem Buchstaben begannen. Unter ihnen gab es Rechtshänder und Linkshänder. Letztere bevorzugen ihre linke Hand, besonders wenn Kraft oder Schnelligkeit gefordert ist. Beim Handball macht der Rechtshänder die Schrittfolge links, rechts, links, springt dann mit dem linken Bein ab und wirft den Ball mit der rechten Hand. So spannt der Handballer einen Bogen vom linken Fuß bis zu den Fingern der rechten Hand, um mit dem ganzen Körper seine maximale Wurfkraft zu entfalten. Beim Linkshänder ist es genau andersherum: rechts, links, rechts und Wurf mit der Linken. In der Wissenschaft wird die Präferenz der rechten oder linken Hand durch die Dominanz der gegenseitigen Hirnhälfte erklärt. Der Anteil der Linkshänder an der Bevölkerung liegt bei 10 bis 15 Prozent.

Jan war Rechtshänder. Allerdings war er nicht schon immer Rechtshänder. Bis zu seiner Einschulung war er noch Linkshänder. Dann kam der Schreibunterricht, und da hieß es dann:

„Den Stift in die rechte Hand!“

Und diese Anweisung galt für alle Schülerinnen und Schüler. Also nahm er den Stift in die rechte Hand und machte dieselben Übungen wie alle anderen in der Klasse auch.

„Oben eine Schlange, darunter einen Spazierstock.“